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Die Gartenlaube (1875)/Heft 45

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[749]

No. 45.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.



Der Doppelgänger.
Erzählung von Levin Schücking.
1.

„Ihr habt Euch doch durch all die böse Zeit Eure wunderschönen Eichen gerettet, Meyer Jochmaring; es ist eine Pracht, wie weit sie mit den alten Aesten ausgreifen, bis über den Wasserspiegel hinaus.“

Diese Worte sprach eine schlanke und zierlich gewachsene, einfach gekleidete junge Dame, deren Züge eine auffallende aristokratische Schönheit zeigten, zu einem reckenhaften alten Bauern, der in einer grauen Zwillichjacke und dunkeln manchesternen Kniehosen mit Zinnschnallen neben ihr auf einer Bank unter den gerühmten Eichen saß.

Sie hatte Recht; diese Eichen waren von merkwürdiger, malerischer Schönheit; sie standen auf dem Baumanger hinter einem sehr langen strohgedeckten Bauernhause, das ganz pittoresk auf einer Art breiten Halbinsel lag. Ein schmaler Fluß umgab nämlich das Gehöft mit seinen fünf oder sechs verschiedenen Gebäulichkeiten und trat ziemlich dicht an die Rückseite des Wohnhauses heran.

„Mein Vater,“ fuhr die Dame fort, „gäbe viel darum, wenn er eine solche Baumgruppe in seinem Parke hätte.“

Der Bauer sah mit einem zufriedenen Blicke zu dem dichtbelaubten Geäste auf und sagte dann lächelnd: „Es ist wahr, die Bäume sind schön. Und was Euer Vater in seinem Parke hat, das sind auch schöne Bäume; aber es ist meist um des schnellen Wachsens willen gepflanzt und ist kein solches Eichenholz. Und was Eure Wälder angeht, nun ja, damit kann sich Unsereins nicht messen; ich hab’ mir sagen lassen, daß vierzig- bis fünfzigtausend Morgen Wald zum Fürstenthume gehören, aber solche Eichen sind jetzt auch da nicht mehr zu finden. Waren schon da, waren viele da, zu Eueres Großvaters Zeiten; seitdem aber …“

„Seitdem,“ sagte mit einem Seufzer das junge Mädchen, „hat der Sturm der Zeit sie mit fortgenommen.“

Der Bauer nickte. „An diese da,“ fuhr er dann fort, „kommt mir der Sturm der Zeit nicht. Nur wenn ein Meyer stirbt auf dem Jochmaringhofe, dann geht eine von ihnen mit ihm zu Grabe, dann wird eine von ihnen gefällt, daß er in seinem eigenen Holze weggetragen werden kann; wenn eine Axt wider Eichenholz klingt auf dem Hofe des Meyer’s von Jochmaring, dann ist’s ein Zeichen, daß der Meyer todt ist.“

„Ich weiß es,“ sagte die Dame. „Ihr haltet die alten Bräuche in Ehren. Und ein alter Brauch ist’s auch, denke ich, daß der Meyer Jochmaring zu seinem Fürsten steht und ihm hilft, wo er vermag, und so wieder der Fürst dem Meyer; Ihr wäret damals von den Franzosen nicht losgekommen, als Euer Sohn sich vor der Conscription verborgen hatte; wäre der Fürst nicht selbst hingereist, um den General Dusaillant zu bewegen, daß sie Euch losließen.“

„Ja,“ sagte der Bauer, „der Fürst ist selber darum hingereist und hat’s gutzumachen gewußt. – Ich habe ihm die Reisekosten ersetzt,“ setzte er dann hinzu.

Ueber die Züge der Dame legte sich ein Ausdruck von Unwillen; sie mochte Undank, vielleicht auch einen Ton von Sarkasmus heraushören aus dieser Antwort. Doch sprach sie nicht aus, was sie leicht erröthen machte; sie fuhr nur fort:

„Er hat das wohl schwerlich verlangt, denn der alte Brauch ist, daß Einer zum Andern steht, ohne darüber abzurechnen.“

„Und Ihr beginnt doch zu rechnen,“ sagte der Bauer mit verschmitztem Lächeln.

„Ich wollte es Euch nicht vorrechnen, sondern nur daran erinnern, weil ich mich gern erinnere, und es nichts Geringes ist, solch uralter Zusammenhang der Dinge und der Menschen. Sind doch nun schon tausend Jahre vergangen, seitdem die Enkel Wittekind’s auf der Stelle sitzen, auf der wir noch heute wohnen und die wir seitdem als unser Erbgut inne gehabt haben, und ebenso lange ist’s her, daß die Enkel Dessen, der mit Wittekind als seinem Gefolgsherrn in die Schlacht zog, auf diesem Hofe sitzen und daß Beider Blut getreulich zusammengehalten hat.“

„Das ist an Dem, Prinzeß, das ist wahr,“ sagte der Bauer kopfnickend; dann aber die Brauen zusammenziehend, setzte er hinzu: „Aber Ihr Leute vom Schlosse da drüben erinnert Euch immer dessen am lebhaftesten, wenn Meyer Jochmaring den Beutel aufthun soll. Nehmt’s nicht ungütig, Durchlaucht!“

„Ihr seid boshaft,“ versetzte die Durchlaucht leicht erblassend und die Lippen beißend; „glaubt Ihr, der Gang zu Euch sei mir leicht geworden? Ihr solltet mir ihn nicht erschweren!“

Eine Pause folgte. Der Bauer räusperte sich, zog eine kurze Pfeife aus der Seitentasche, und dann wie in Gedanken, daß er sie doch in Gegenwart der Durchlaucht wohl nicht anzünden dürfe, steckte er sie rasch wieder ein und sagte: „Für Euren Bruder, den Prinzen Adolf, also?“

„Für ihn, wie ich Euch sagte, da die Franzosen ihn trotz der Militärfreiheit, die ihm als einem deutschen Fürstensohne gebührt, zum Dienste zwingen, zu ihrer Garde d’Honneur, wie sie es nennen, worin sie die Söhne der angesehensten Leute im Lande aufnehmen, damit, wie sie sagen, ihr Kaiser eine [750] Ehrengarde habe; in der That aber, um sich ihrer als Geiseln für die Treue und Ruhe des Landes zu bemächtigen.

„Ja, ich weiß,“ versetzte der Bauer, „sie lassen sie eintreten; sie ziehen sie dann nach Frankreich hinüber und dort …“

„Müssen sie auf eigene Kosten leben, ihre Equipirung, ihre kostbaren Uniformen sich selbst anschaffen.“

„Es mag Geld, viel Geld kosten,“ sagte der Meyer, „und doch gäb’ ich’s, weiß Gott der Herr, mit Freuden für meinen Anerben hin, wüßt’ ich ihn als Garde d’Honneur sicher in Frankreich. Unsereinem nehmen sie die Söhne ohne so viel Umstände fort und schicken sie nach Spanien oder schleppen sie nach Rußland in den Tod und elendiglichen Untergang, daß es einen Stein erbarmen könnte.“

„Es ist wahr,“ versetzte die Prinzessin, „der armen Menschen Schicksal ist fürchterlich, aber Ihr könnt doch noch von Glück sagen, Jochmaring, daß Euer Anerbe nicht hat nach Rußland ziehen müssen, sondern nur nach Spanien.“

„Nur nach Spanien!“ echoete der Meyer mit bitterer Betonung. „Nun ja, die meisten von dem jungen Volke aus dieser Gegend haben nach Spanien müssen. Aber wie viel werden zurückkommen?“

„Euer Anerbe wird zurückkommen, Meyer – vertraut auf Gott!“ sagte die Prinzessin fast zärtlich, indem sie die Hand auf des alten Mannes Schulter legte. „Ihr habt ja Nachrichten von ihm, denk’ ich.“

„Die hab’ ich,“ sagte der Bauer. „Nachrichten durch Einen, der zurückgekommen ist.“

„Und dann,“ fuhr die junge Dame fort, „berichten ja auch die Zeitungen, daß der Kaiser die Truppen aus Spanien sammt und sonders herbeikommen läßt, um sie hier in Deutschland im Kriege zu gebrauchen.“

„Damit sie hier wider ihre eigenen Landsleute fechten.“

„Das müßt Ihr dann Gott anheimstellen,“ entgegnete die Prinzessin, „es hat Niemand eine Ahnung, was aus dem ganzen Kriege wird, und ob es den Alliirten nicht bald gelingt, uns wieder zu freien Menschen zu machen.“

Der Bauer seufzte. „Ja, das sagt Ihr wohl so, Prinzeß,“ sagte er. „Zu freien Menschen! Es kommt nur darauf an, wie die Freiheit aussehen wird. Des Einen Freiheit ist nicht des Andern Freiheit. Für Euch im Schlosse, da ist die Freiheit, daß Euer Vater wieder der regierende Herr ist wie vormals und seine Soldaten hält wie vormals, wenn’s auch nur ein gar kleiner Trupp ist, und daß all’ die Räthe und Schreiber von vormals wieder oben aufkommen, und die alten Heberegister und Bücher wieder gelten, worin die Hand- und die Spanndienste und die Wart- und Lehngelder geschrieben stehen, was jeder Meyer und jeder Kotten leisten muß – Jahr aus, Jahr ein. Das ist Eure Freiheit. Die ist nun schon lange zu End’, und jetzt hat der Franzose Freiheit im Lande, daß er uns die Söhne nehmen darf zu seinen Kriegen und den letzten Groschen aus den Taschen zu seinen Steuern. Wenn die Alliirten das abstellen können, so will ich Gott danken, aber zuerst frag’ ich, ob denn nun einmal die Freiheit an die Bauern kommen soll – und obwohl ich denke, daß es Zeit wär’, so hab’ ich doch kein Zutrauen darauf. Und so lange – seht, Prinzessin Durchlaucht, es war eine schöne und friedliche Zeit, als Euer Vater noch unser Herr war in unserem eigenen Lande für uns, das seine eigenen Manieren und Bräuche hatte, seine eigenen Bauerntage und Holzgedinge und die Schmalgänge und die Markengerichte, und wenn Euer Großvater und Euer Vater seine Jagden hielt mit fremden fürstlichen Herrschaften und das junge Volk aus den Bauernschaften aufgeboten war zum Treiben und wir am schönen Herbstmorgen lustig durch die Wälder hallohten, mit den Halbmonden und Hifthörnern der fürstlichen Jäger in die Wette – sicherlich, das war Alles recht schön und lustig dazumal, und weil der Mensch es nicht besser kannte, ließ er sich’s gefallen, aber das nehmt mir nicht übel, wenn jetzt die alte Plackerei und Schinderei von Neuem beginnen sollten – lieber möchte ich, daß die Axt klänge an einen dieser alten Eichenstämme da.“

Nachdem der Meyer von Jochmaring diesen energischen Protest gegen die Glückseligkeiten der guten alten Zeit gesprochen, stand er auf.

„Jetzt will ich gehen und Euch das Geld holen,“ sagte er. „Dreihundert Thaler. Es ist all mein Erspartes, was die böse Zeit mir übrig gelassen hat, und Ihr sollt es haben. Prinzeß, weil Ihr Euch nicht umsonst an Meyer Jochmaring gewandt haben sollt.“

„Ich danke Euch, Meyer,“ versicherte die Prinzessin, „der Jäger soll Euch morgen einen Schuldschein bringen.“

„Dessen bedarf’s zwischen dem Fürsten und Meyer Jochmaring nicht,“ versetzte der Bauer und ging in’s Haus.

Bald nachher kam er, aus der Seitenthür des langen Hauses schreitend, zurück und trug einen leinenen Beutel in der Hand. Eine ältliche Person in der Tracht einer herrschaftlichen Dienerin kam mit ihm aus dem Hause und blieb unfern von der Prinzessin stehen, als der Bauer dieser seinen kleinen Schatz überreichte. Sie nahm ihn und reichte dem Meyer die Hand.

„Ich danke Euch, Meyer Jochmaring, von Herzen.“

„Nicht zu danken, Durchlaucht! Gebt es Eurem Mädchen zu tragen, denn es ist schwer.“

Das Mädchen nahm den Beutel, legte ihn zum bequemeren Tragen auf ihren Arm, und die Prinzessin trat nun mit ihrer Dienerin den Heimweg an.

Es war natürlich, daß sie sich auf diesem Heimwege in keiner mittheilsamen Stimmung befand, das junge Mädchen, das einen für ihre Lebensstellung so demüthigenden Gang hatte machen müssen. Auf ihrer schönen kindlich vorgewölbten Stirn lag ein sorglicher Ausdruck, ein bitterer Zug um den kleinen Mund mit den feingeschweiften rosigen Lippen. Das Elend des Vaterlandes und die in dieser schweren Zeit so oft eintretenden, vor den Augen der Welt sorglich gehüteten Verlegenheiten des Vaterhauses mußten schwer auf ihrem jungen Herzen liegen, und es mochte ein schlechter Trost für sie sein, sich zu sagen, daß solcher Perioden in der Geschichte ihres Hauses mehr als eine gewesen. Daß es in den guten alten Zeiten in den meisten kleinen Fürstenhäusern, auf den jetzt so stolzen und stattlich mit breiten Thürmen sich erhebenden Edelhöfen der ersten Geschlechter nicht besser ausgesehen, daß sie sammt und sonders durch die Jahrhunderte im eigentlichen Sinne des Wortes sich durchgeschlagen mit Noth und Kummer, im Hader um Pfennige mit den Hörigen, im Drucke der Verpflichtungen gegen Juden und Christen, das wußte sie ja nicht einmal. Was sie wußte, war, daß sie um des sorgenerfüllten Vaters, um des bedrängten Bruders willen den sauern Gang gemacht – und mit diesem Gedanken wappnete sich ihr kleiner Stolz, verband sie die Wunde, aus der ihr fürstliches Selbstbewußtsein blutete.

Sie ging mit ihrem Mädchen, nachdem sie den mit einem Hürdenzaune umgebenen Hof verlassen, einem Fußpfade nach, der sie bald in den kühlen Schatten eines Laubholzwaldes brachte, in welchen die Sonne ihre wechselnden und mit den leise vom Winde bewegten Blättern spielenden Lichter warf.

Es war merkwürdig still im Walde; denn die Jahreszeit, in welcher das laute Gezwitscher der Vögel den Forst belebt, war vorüber, und daß der Herbst nahte, bewiesen die gelben Blätter und die Schalen der Buchnüsse, die, von den Eichhörnchen ausgekerbt, auf dem Pfade lagen. Rechts und links an den Brombeerstauden hingen die reifen, glänzend schwarzen Früchte und dunkelrothe Dolden an den Wasserholderbüschen. Die Prinzessin aber sah wenig auf die Scenerie, die sie umgab; sie eilte elastischen Schrittes dahin, zuweilen nur ein Wort mit ihrer Begleiterin wechselnd, die, den Zipfel ihres schwarzen Umschlagetuches zur Verhüllung über ihre Bürde gebreitet, auf dem Fußpfade ihr folgte.

Plötzlich, bei einer Wendung des Weges, blieb sie stehen.

„Marianne,“ sagte sie erschrocken, „kennst Du den Mann?“

Sie blickte vorwärts auf eine männliche Gestalt, die sich über das etwa hundert Schritte vor ihr befindliche Drehkreuz lehnte, welches hier die Grenze andeutete, wo der Busch des Meyers Jochmaring endete und die fürstlichen Waldungen begannen.

„Wie sollt’ ich ihn kennen – es ist ein Fremder,“ versetzte ebenso erschrocken das Kammermädchen der Prinzessin.

„Mein Gott, was thun? … Wir sind mit unserm Gelde ganz unbeschützt und allein –“

„Was kann er von unserm Gelde wissen?“ sagte Marianne, den Zipfel ihres Tuches tiefer über ihre Last ziehend.

„Freilich – und ich zittere doch an allen Gliedern. Aber es ist dumm von mir. Was kann uns bei hellem Tage geschehen!?“

[751]

Die junge Dame schritt, Muth fassend, weiter; Marianne ein wenig dichter hinterdrein. Der Fremde stand, als ob er sie mit scharfem Auge fixirte und ihr Herankommen abwartete. Es war eine hochgewachsene Gestalt mit gebräunten Zügen und einem damals von Civilisten noch nicht getragenen Schnurrbarte, seine Tracht aber war die bürgerliche eines Mannes von Stand, von einer gewissen Sorgfalt zeigend und modischen Schnittes, was am meisten dazu diente, der Prinzessin Sorge um diese plötzliche Begegnung zu entfernen. So kam sie bis dicht an das Drehkreuz. Der Fremde richtete sich aus der gebückten Stellung, worin er sich darauf gestützt hatte, auf, und ihr ein paar Schritte entgegentretend, sagte er, indem er die junge Dame eigenthümlich fixirend beobachtete, in einem Tone, der etwas Brüskes hatte:

„Geht der Weg nach Stockheim hier oder dort hinaus?“

Sei es, daß es in dem Klange des Organs, oder daß es in einem Tone der Anrede lag, wie die Durchlaucht ihn von Denen, welche sie umgaben, nicht gewohnt war – sie erschrak von Neuem heftig dabei und fühlte ihren Muth auf eine arge Probe gestellt. Der Weg nach Stockheim war derselbe, den sie zu wandern hatte. Antwortete sie das dem Fremden, so hatte sie den unbekannten Menschen zum Begleiter. Dabei war es schwer, ihm die Bürde zu verbergen, unter der Marianne einherschritt. In diesem öden stillen Walde, worin man auch keiner Menschenseele sonst noch zu begegnen hoffen durfte! Die Prinzessin warf ihrer Begleiterin einen Blick der Angst zu. Warum sprach diese einfältige Marianne nicht, warum hatte sie nicht die Geistesgegenwart, rasch zu antworten: „Der Weg nach Stockheim ist der, den wir gekommen sind. Folgen Sie ihm nur geradeaus!“?

Aber nein, Marianne sah nur ganz erschrocken stumm darein und überließ es ihrer Prinzessin, die Antwort zu geben. Diese versetzte mit einem Stoßseufzer und einem scharfen Blicke in des Mannes Gesicht:

„Der Weg nach Stockheim ist dieser, den wir gehen.“

Sie konnte nicht anders. Als Prinzessin durfte sie nicht lügen. Sie hätte es auch gar nicht gekonnt, wenn sie gewollt hätte.

Zum Glücke gab ein Blick in die Züge des Fremden ihr eine gewisse Beruhigung darüber, daß er doch wohl, wenn er auch mitten im Walde vor ihnen auftauchte, nicht unmittelbar sich mit einem räuberischen Angriffe auf ihren kostbaren Transport trug. Er war etwa dreißig Jahre alt, wenigstens so gebräunt und von Wind und Wetter mitgenommen, daß man ihn dafür halten mußte; seine Züge waren männlich und edel geschnitten, die Schläfen stark eingedrückt, was dem Gesichte ein sehr langgezogenes Oval gab, und aus seinen blauen Augen, unter den breiten, fast immer halbgeschlossenen Lidern her, blickte ein scharfer, kluger Geist. Es schaute etwas Forschendes, Verschlossenes und sehr Selbstbewußtes aus diesem Kopfe, dessen Studium fesseln mußte, wenn er auch nicht verhieß, daß der Charakter dieses Mannes anziehen müsse – eher mußte ein junges Mädchen, wie unsere Prinzessin, die Empfindung haben, der melancholische und weltverachtende Zug, der auf seiner Lippe lag, sei etwas, das man fürchten müsse, weil es am Wehthun Freude zu haben schien.

Das Alles sah die Prinzessin freilich nicht auf den ersten forschenden Blick, den sie in seine Züge geworfen; sie beobachtete es, während er jetzt neben ihr blieb, mit ihr sprach und dabei so merkwürdige Dinge sagte, daß sie nicht anders konnte, als zuweilen mit einem Seitenblicke nach der Miene aufzuschauen, die er dabei machte.

„Sie müssen sich also, da wir denselben Weg haben, schon meine Begleitung gefallen lassen,“ hatte er ihr geantwortet.

Da sie geschwiegen, hatte er, neben ihr fortschreitend, gefragt:

„Diese Wälder sind schön. Wer gehört ihnen?“

Sie blickte zu ihm auf.

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Ich meine, wer der unglückliche Glückliche ist, den diese weiten Forsten als Besitzer festhalten und sich mit ihrem Schutze gegen Holzdiebe und Wilderer zu plagen zwingen?“

„Ah, so meinen Sie es!“ antwortete lächelnd die Prinzessin.

„Nun ja, so meine ich es. Der Mensch gehört viel mehr den Dingen als die Dinge dem Menschen. Finden Sie es nicht lächerlich, wenn irgend eine schwächliche gebrechliche Menschengestalt durch den Wald oder über die Flur schreitet und glaubt, das Alles gehöre ihr? Just als ob die Raupe, die über ein Eichenblatt kriecht, spräche: dieser Baum ist mein. Die Araber haben ein Sprüchwort: Wenn der Hahn kräht, glaubt er, die Sonne ginge seinetwegen auf. Die Wälder, die Fluren, die Güter, das Alles steht noch nach tausend Jahren so, wenn der Mensch, der um seiner Nahrung willen an sie gefesselt und gekettet war, wie die Raupe an ihr Eichenblatt, längst da ist, wo Raupe und Blatt sind.“

„Was thut das,“ antwortete die Prinzessin jetzt, „der Mensch bleibt doch Herr über sein Eigenthum, wenn er auch sterben muß; nach ihm kommt der Sohn, die Familie – –“

„Um in demselben Banne zu liegen. Die Wälder werden – Sie haben nur keine Auskunft darüber gegeben – dem Fürsten von Idar gehören; können Sie leugnen, daß er ein armer Mann ist, der durch seinen Besitz an sein winziges Städtlein, an seine unwohnliche alte Väterburg mit schauerlich kalten zugigen Corridoren und ungemüthlichen weiten, schlechtbeleuchteten Gemächern, mit breiten, ungesunden Wasserflächen als Gräben umher, gefesselt ist, und daß tausend Bande mit viel Verdruß und wenig Genuß ihn an diesen Besitz fesseln, dem er gehört und der ihn nicht fortläßt? Versetzen Sie sich in die Seele eines solchen beneideten Eigenthümers! Denken Sie, wie er an dunklen Regentagen in einer der tiefen, durch die plumpen alten Burgmauern gebrochenen Fensterbrüstungen steht und den bleiernen Himmel anstarrt, die melancholischen Windesstimmen um seine Thürme blasen hört! Meinen Sie, solch ein Mensch hätte nicht auch ein Gemüth? Nicht eine Sehnsucht nach lichten, schönen, sonnigen Fernen? Aber seine Burg, seine Wälder, seine Wiesen, seine Torfmoore, seine Schäfereien, seine räucherigen Pachthöfe haben ihn und lassen ihn nicht los. Und neben ihm, in den anderen Fensterbrüstungen sitzen blassen Antlitzes mit von langer Weile abgespannten Zügen, blauen Streifen unter den matten Augen seine drei oder vier unverheiratheten Töchter, die trägen Hände über unnützen Stickereien oder Häkeleien in ihrem Schooße gefaltet. Auch sie blicken zu dem bleiernen Himmel, dessen Wolken ihnen die Ferne umhüllen, wie ihres Lebens Hoffnungslosigkeit ihnen ihre Zukunft grau verhüllt, empor; auch sie horchen auf das melancholische Wehgeheul des Windes – glauben Sie, in diesen armen Mädchen pulsirte nicht auch der Lebens- und Glücksdrang, die Sehnsucht nach Glanz und Liebe, nach einem freien Sein unter freien Menschenseelen? Glauben Sie, diese armen gefangenen Wesen möchten nicht auch gern so lustig, muthwillig und lebensfroh aus den Augen blicken, wie in diesem Augenblicke Sie mit Ihren glänzenden Augensternen thun, mein werthes Fräulein?“

Die Prinzessin hatte anfangs, leicht erbleichend, sich sehr versucht gefühlt, über diese Reden des wunderlichen Philosophen an ihrer Seite empört zu werden; dann hatte es sie zu ergötzen begonnen, und jetzt, bei dieser direct persönlichen Wendung seiner Predigt brach sie in ein lautes fröhliches Gelächter aus.

„Nun,“ sagte er, „Sie lachen über diese armen Wesen, die in ihrem alten Schlosse festsitzen, weil sie ihm gehören, weil das Eigenthum sie zwischen seinen eisernen Stangen festgeklammert hält. Sie sollten nur einmal solch eine unglückliche, weder der Welt noch sich selber nützende Prinzessinnenexistenz führen – nur einmal ein Jahr lang.“

Die Prinzessin lachte abermals laut auf und wandte sich dann mit einem höchst verschmitzten Blicke und den Finger auf den Mund legend zu ihrer Begleiterin um.

Marianne sah sehr bestürzt aus und lächelte jetzt doch auch.

„Wo haben Sie solche Prinzessinnenexistenzen studirt, wenn man fragen darf?“ sagte die junge Dame dann.

„Ich bin schon durch manche Hütte und manches Fürstenhaus hindurchgegangen,“ versetzte der Fremde sehr ernst.

„Und,“ fiel die Prinzessin ein, „haben Sie beim Durchgang durch eines dieser Fürstenhäuser sich nie versucht gefühlt, eine dieser sehnsüchtig schmachtenden Seelen aus ihrer Gefangenschaft zu befreien und in die Freiheit mit hinauszunehmen?“

„Nein,“ sagte der Fremde schmerzlich lächelnd, „denn ich selbst bin nicht frei.“

„Nicht frei, verlobt?“ fuhr die Prinzessin fort, die mit diesem seltsamen Menschen nun vollends schon im Tone des neckenden Spottes glaubte reden zu können.

„Verlobt? Nein. Aber mein Herz ist gefangen; es liegt im Zauberbanne eines einzigen Blickes, der mir einst wurde [752] und mir nun mit Flammenschrift tief in die Seele geschrieben steht, der mich, und lebte ich eine Ewigkeit, nicht mehr verlassen wird.“

„Ah, das lautet ja über alle Maßen romantisch,“ rief die Prinzessin aus, „ein einziger Blick, der die Macht hatte, Sie auf ewig zu binden – welche Magie eines Blickes! Und wer war die Zauberin, welche Ihnen einen solchen Blick zuwarf?“

„Die Zauberin war eine arme spanische Nonne, in einer Kutte von rauher brauner Wolle, und sie warf mir den Blick zu, hülfeflehend und von Todesangst erfüllt, als in ihr brennendes Kloster, aus dem sie sich flüchten wollte, einer meiner Cameraden sie zurückschleuderte; sie warf ihn mir zu, von den Flammen ergriffen, nicht mehr zu retten, denn zwischen ihr und mir schoß eine lohende Balken- und Sparrenmasse nieder.“

„Ah,“ rief die Prinzessin stehen bleibend aus. „Ist das Wahrheit, was Sie da erzählen?!“

„Es ist die Wahrheit, Fräulein. Ich wüßte nicht, weshalb ich Ihnen, die ich nicht kenne und vielleicht nie wiedersehe, Lügen erzählen sollte.“

„Und das arme Geschöpf verbrannte?“

„Es verbrannte wie ein halbes Dutzend ihrer Schwestern. Ich konnte nichts mehr zu ihrer Rettung thun. Das Einzige, was ich thun konnte, war, mein Pistol zu nehmen und meinen Cameraden, der so cannibalisch gehandelt hatte, die Hirnschale zu zerschmettern.“

„Mein Gott, mein Gott!“ rief die Prinzessin ganz außer sich aus. „Aber,“ sagte sie dann sich fassend, „ich bin sehr thöricht, daß ich mich so darüber entsetze. Wenn dies Alles wahr wäre, würden Sie es nicht so der ersten besten wildfremden Person, die Ihnen hier im Walde begegnet, erzählen.“

Der Fremde schritt eine Weile schweigend und ohne zu antworten neben ihr. Es war, als ob er schon an ganz andere Dinge dächte; plötzlich sagte er:

„Glauben Sie nicht, daß, wenn man lange in großer Einsamkeit gelebt und Alles hat schweigend in sich verschließen müssen, man einmal sich vom Drange der Gesprächigkeit fortgerissen fühlen und Dinge, die man besser verschweigt, erzählen kann, einem Menschengesichte gegenüber, von dem man sympathisch berührt wird?“

Er heftete dabei einen eigenthümlichen, gedankenvollen und schwermüthigen Blick auf die Züge der Prinzessin.

„Wenn Sie meine Geschichte nicht glauben,“ fuhr er dann nach einer Weile fort, „nun wohl, dann desto besser! Denken Sie, ich hätte Ihnen etwas vorgeplaudert, um Sie auf diesem Wege zu unterhalten! – Ist das die Margarethenlinde? Ich will nicht ganz bis Stockheim, sondern nur bis zur Margarethenlinde.“

„Noch nicht,“ versetzte die Prinzessin, „sie steht eine Strecke weiter unten. Also Sie wollten mich nur unterhalten? Wähnen Sie etwa, daß Sie dazu besonders angenehme Gegenstände gewählt?“

Er sah sie fragend an.

„Bin ich Ihnen unangenehm damit geworden?“ fragte er.

„Mußten Sie das nicht mit solchen Schreckgeschichten?“

„Wenn ich sie erleben mußte, können Sie sie auch anhören.“

„Wenn ich nun aber nächstens wieder bleich und mit von Langweile abgespannten Zügen die melancholischen Windesstimmen um unsere alten Schloßthürme blasen höre – wenn ich dann noch im Geiste den herzzerreißenden Schrei der in die Flammen geschleuderten Nonne aus dem Wehklagen des Sturmes heraushören, mir ihren Blick des Entsetzens vorstellen, mir ihre von grausiger Angst erfüllten Augen ausmalen muß …“

„Ah – Sie? In Ihren Schloßthürmen? Sind Sie denn …“

„Da ist Ihre Margarethenlinde. Was wollen Sie dort? Haben Sie da ein Rendezvous? – Es soll dort auf der Lichtung einst eine Hexe verbrannt worden sein. Wissen Sie, daß Sie mit Ihren Feuergeschichten auf seltsame Combinationen bringen? Leben Sie wohl! –“

„Aber“ – sagte er rasch, als sie sich zum Weitergehen von ihm wenden wollte – „ich bitte Sie, wer sind Sie?“

„Eine der unglücklichen verzauberten Prinzessinnen, von denen Sie mit so gerührter und wehmüthiger Theilnahme gesprochen haben. Ich bin die Prinzessin Elisabeth von Idar.“

„Unmöglich – Sie?“ rief er aus, doch mit einem so ruhigen Ton und so wenig überraschter Miene, daß, wenn Prinzessin Elisabeth von Idar sich diesen Moment als Strafe vorbehalten hatte, sie sich um den Genuß, ihn grenzenlos zerknirscht und bestürzt zu sehen, vollständig betrogen sah.

„Wahrhaftig,“ fuhr er fort, „so wäre es thöricht von mir, Sie um Verzeihung bitten zu wollen, Durchlaucht. Was ich gesagt habe, paßt so wenig auf Ihre strahlende, blühende Jugend und den frischen Lebensmuth, der Ihnen aus den Augen flammt, daß ich kein Wort darüber verlieren darf. Sie die Prinzessin Elisabeth! Ich habe von Ihnen gehört. Sie sind das Juwel Ihres Hauses, der gute Genius darin, die Egeria des Fürsten, der Liebling Aller, sogar des Meyers Jochmaring; in der That, der Meyer Jochmaring, dessen kühles und weise abwägendes Gemüth das Schlimmste, was einem Menschen begegnen kann, darin erblickt, wenn er irgend etwas auf Erden überschätzt – dieser eingefleischte Realist von Bauer schwärmt für Sie. Er schwärmt so für Sie, daß er mir eine wahre Sehnsucht erweckt hat, Sie einmal wenn auch nur ganz von fern zu erblicken. Und nun finde ich Sie hier – hier, wo man doch sonst nur Märchenprinzessinnen zu finden erwarten darf, tief im einsamsten Walde, und die Zeit, in welcher ich an Ihrer Seite schreiten durfte, habe ich damit zugebracht …“

Die Prinzessin unterbrach diese mit einer merkwürdigen Ruhe und Sicherheit gemachten Complimente.

„Woher kennen Sie denn den Meyer Jochmaring so genau – wer sind Sie?“ sagte sie mit einem Tone, durch dessen Strenge doch nun die Andeutung klang, daß er im Begriff sei, ihr fürstliches Bewußtsein zu verletzen.

„Wer ich bin? Ich bin, der ich bin. So heißt es in der Bibel. Genügt Ihnen das? Nein? Sie wollen den Namen wissen, der mich hat, dem ich gehöre, wie Meyer Jochmaring seinen alten Eichen? Wohl, ich will Ihnen meine Karte geben, weil ich Ihnen damit sehr viel geben kann …“

„Sehr viel? Ist der Name so berühmt oder so vornehmen Klanges?“ fiel sie spöttisch ein.

„Nein, nichts davon. Aber ich gebe Ihnen mit dieser Karte einen großen Beweis meines unbedingten Vertrauens.“

Er hatte sein Taschenbuch hervorgezogen und überreichte jetzt der Prinzessin die daraus genommene Karte.

„Das zu können,“ fuhr er fort, „freut mich. Es darf diese Karte Niemand sehen – Niemand hier meinen Namen wissen. Es brächte mein Leben in Gefahr.“

„Ah – wie wäre das möglich?“

„Daß ich Ihnen dies gesagt habe, Durchlaucht, genügt, nicht wahr?“ entgegnete er ernst.

„Es genügt,“ versetzte sie, flüchtig dem voll und groß auf ihr ruhenden Auge begegnend – „ich werde Sie sicherlich nicht verrathen, wenn es so ist – und nun Adieu! – leben Sie wohl!“

Mit einer leichten Verneigung des Kopfes, mit einem Lächeln, das ausdrücken konnte, wie diese ganze Begegnung ihr trotz seiner letzten merkwürdig tragischen Versicherung doch mehr einen scherzhaften als ernsten Eindruck hinterlasse, nahm sie Abschied von ihm und schritt davon.

(Fortsetzung folgt.)




Ein „zweites“ Theater.


Das Gastspiel der Mitglieder des Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters an der Neustädter Hofbühne in Dresden versetzte mich so recht in die besten Zeiten des Wallnertheaters, als Helmerding, Reusche und Neumann, dieses unvergleichliche Kleeblatt, durch geistreiche, bewegliche Darstellung und unversiegbaren Humor, allabendlich Triumphe feierten. Helmerding ist noch der Alte, das heißt einer der besten Schauspieler (nicht nur Berlins, sondern Deutschlands und der Jetztzeit überhaupt); Reusche wurde an die Hofburg egagirt, für den Schauspieler das wünschenswertheste Ziel; Neumann, dieser liebenswürdige

[753] 

Die Mitglieder des Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters in Berlin.
Originalzeichnung von Herbert König.

[754] Komiker lebt und wirkt wohl noch in der Stadt der Intelligenz. Ich bekenne es gern und offen, diese Schauspieler der sogenannten „zweiten“ Theater, mit ihrem rastlosen Fleiße und beharrlichen Streben, mit ihrer unverwüstlichen Lebhaftigkeit, mit ihrer scharfpointirten Auffassungsweise, die ihre Charaktere frisch und unverfälscht von der Straße, aus dem Volke und der Gesellschaft auf die Bühne bringen, haben mich immer mit hohem Interesse erfüllt und mir eine Art Respect abgenöthigt, was ich von den Schauspielern gewisser „erster“ Theater nicht immer behaupten kann. Der Brenn- und Kernpunkt eines Theaters, welches auf eigenen Füßen zu stehen gezwungen ist, also keines Zuschusses sich zu erfreuen hat, ist ein fortwährender Kampf um die Existenz. Und damit das Ganze nicht gefährdet werde, muß der Einzelne all sein Können, all seine Kräfte einsetzen. Schon dadurch ist den Vorstellungen solcher Bühnen eine Energie aufgedrückt, ein exactes Wesen, ein Ringen und Kämpfen, das an Genialität grenzt, und den Zuschauer, immer und immer fesselnd, mit sich fortreißt.

„Wollen Sie, meine Herren und Damen, am Ersten Ihre Gage haben, so müssen Sie zuerst sorgen, daß ich sie Ihnen zahlen kann.“ Diese allgemein verständliche Bemerkung, die der Director als letzten Trumpf ausspielt, wenn es einmal auf der Generalprobe noch nicht nach Wunsch geht, ist der beste und wirksamste Schlüssel, das Räderwerk aufzuziehen und in die nöthige Bewegung zu setzen, wenn es einmal an Oel fehlt und die Maschine in’s Stocken geräth. Der letzte, der unbedeutendste Schauspieler sucht dann aus seiner kleinen Rolle das Menschenmöglichste zu machen, und geht überglücklich in die Coulisse ab, wenn sich die Stirn des Herrn Director nach und nach wieder entwölkt oder wenn sein noch eben blitzeschleuderndes Auge ihm gar einen Blick der Milde angedeihen läßt. Wie anders an gewissen Theatern ersten Ranges, wo der alte Schlendrian das Bürgerrecht erlangt hat und nie mehr zu verscheuchen ist, wo zwar ein Hofcavalier an der Spitze steht, statt seiner aber einige erste Mitglieder, im gemeinen Leben Virtuosen genannt, das Scepter führen. Wo Vornehmthuerei das charakteristische Kennzeichen des Gebahrens auf der Bühne ist und das Ganze mit dem Schleier unendlichster Langeweile überzieht, wo Eigensinn, Eigendünkel und Neid es nie zu einem wirklichen Zusammenspiel kommen lassen und das Protectionswesen ängstlich und mit Erfolg bemüht ist, jedem wahren Talente den Weg zu verkümmern, wo jährliche Geldzuschüsse, die sich oft zu enormer Höhe steigern, dem Spiele der Darsteller den Stempel beamtlicher Behaglichkeit und Sorglosigkeit aufdrücken, sodaß jener Hofschauspieler von dem Moment an, da er die lebenslängliche Anstellung in der Tasche hatte, beschloß, nie mehr eine Rolle zu lernen. Doch um der Wahrheit die Ehre zu gehen, dieses eben geschilderte Treiben gehört zum großen Theil einer früheren Zeit an und ist seinem Verscheiden nahe. Auch bei den Hoftheatern weht eine frischere Luft, da man einsieht, daß es so nicht mehr fortgehen kann. Begeistertes Kunstinteresse, energisches Streben sind auch hier heimischer geworden und haben jenes bequeme Sichgehenlassen und Pochen auf eine bevorzugte Stellung, Ueberhebungen, die noch vor wenigen Jahren die meisten Hoftheater kennzeichneten, glücklich aus dem Felde geschlagen.

Bei dem Gastspiele der Mitglieder des Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters entwickelten sich nun all jene Eigenschaften, die als charakteristische Kennzeichen eines (Notabene) guten zweiten Theaters angedeutet wurden, auf’s Glänzendste, sodaß sie das sonst so vorsichtige, nicht eben allzu entgegenkommende Dresdener Theaterpublicum in der That elektrisirten. Da der Berliner Gastspiel-Cyklus nur aus Wiederholungen der drei Operetten: „Mademoiselle Angot“, „Die Fledermaus“ und „Der Carneval in Rom“ bestand, weil das anfangs im Aussicht genommene höchst amüsante „Giroflé-Girofla“ aus wohlbegründeter Rücksicht nicht zur Aufführung gelangte, so konnte dieses Unternehmen gerade dem Eingeweihten für Dresden, und noch dazu an einer Hofbühne, als etwas gewagt erscheinen. Doch die Art und Weise, wie diese leichte, wenn auch nicht geistlose Waare von den Darstellern auf den Markt gebracht wurde, versöhnte selbst den verwöhntesten Theaterbesucher und schmolz bald die eisgepanzerten Herzen der Prüden und Delicaten. Diese Vorstellungen, welche ohne Ausnahme von einer rühmenswerthen Wohlanständigkeit beherrscht wurden, triumphirten vollständig über das landläufige Vorurtheil, als „passe“ dergleichen nicht, selbst ausnahmsweise nicht, auf eine Hofbühne.

Helene Meinhardt und Karl Swoboda, welche die Mitte auf unserer Zeichnung einnehmen, sind unter den Darstellern in erster Linie zu nennen. Helene Meinhardt, eine überaus zarte, feinorganisirte Erscheinung mit einem klugen Vogelgesichte, ist die zierlichste Mamsell Angot, die man sehen kann. Alles an ihr ist Geist und Leben, ihr Gesten- und Mienenspiel werden vom feinsten Verständnisse geleitet, und selbst im ausgelassensten Momente verläßt sie nie die angeborene Grazie, nie jener instinctive Tact für Das, was sich ziemt und was darüber hinausgeht. Sie verschmäht jene in die Augen springende Drolerie, die namentlich von ihren österreichischen Colleginnen gepflogen wird und den gebildeten Zuschauer so sehr verletzt; im tollsten Treiben bleibt sie immer das liebenswürdige Persönchen, das bei aller übersprudelnden Laune ihrer Würde eingedenk ist.

Karl Swoboda ist wohl einer der vorzüglichsten Spieltenöre am deutschen Theater. Seine Spiel- und Gesangsweise ist lebhaft, feurig, oft hinreißend, in den höchsten Momenten des Affectes „wie aus einer Pistole geschossen“. Und dabei hält er immer Maß, ist aber auch immer der Erste im Gefechte, wann und wo es gilt, und außerdem, was nicht wenig sagen will, ein Künstler vom seltensten Pflichtgefühl. Nie sieht oder hört man diesem Feuerkopfe ein Nachlassen der Kräfte, ein Erschlaffen an, nie, was bei so Vielen der Fall, läßt er sich von der Rolle tragen oder wird gar von den Wogen mit fortgerissen; stets trägt er den Kopf hoch, ist „allezeit voran“ – immer thut der Mohr seine Schuldigkeit.

Vom übrigen hervorragenden Personal sind die Damen Preuß, Elise Schmidt und Bertha von Czepscanyi zu nennen, Erstere eine anmuthige Persönlichkeit mit sympathischer Stimme und Vortragsweise, Fräulein Schmidt vorzüglich in derbkomischen Rollen, Fräulein von Czepscanyi eine graziöse Salondame mit der frappanten Physiognomie einer Vollblut-Ungarin. Und nun komm’ Du heran, mein „fideles Gefängniß“, mein unsterblicher Gefängnißwärter, „Du Bursch’ von unendlichem Humor“! Wer Dich einmal nur sah, muß mit Wallenstein rufen: „Max Scholz, bleibe bei mir, geh’ nicht von mir, Max!“ Max Scholz, den wir auf unserm Bilde zweimal bringen, als Larivaudière, den geldstolzen alten Lüstling, der überall am Narrenseile herumgeführt wird, und als Gefängnißwärter, den nie nüchternen Schmeerbauch, der vor Rührung Punsch weint und sein Gefängniß für das fidelste der ganzen Welt erklärt – dieser geborene Komiker darf als eine Hauptstütze des Berliner Unternehmens bezeichnet werden. Genannter Gefängnißwärter in der „Fledermaus“ ist geradezu eine classische Leistung, ein moderner Falstaff vom Scheitel bis zur Sohle, ein durch und durch in Spirituosen aller Art verkommener Kerl, dem man trotzdem nicht gram sein kann, wenn man das homerische Gelächter hört, das ihm von den Logen und aus dem Parterre wie von der Galerie zuströmt und in das man nach Herzenslust mit einstimmt.

Vorzüglich unterstützt wurde der treffliche Komiker von seinem Collegen Vollmann, der den Director dieses fidelen Gefängnisses darstellte und, von einer Festlichkeit kommend, ebenfalls den Kopf voller hatte, als ihm lieb war. Die Situation zwischen dem Vorgesetzten und seinem Untergebenen, welche Beide in einer höchst bedenklichen Lage vorführt, indem der Eine sich Nichts vergeben, der Andere sich Nichts merken lassen will, war von so außerordentlicher Wirkung, daß die Spielenden oft vom Beifall des Publicums unterbrochen wurden. Hervorzuheben unter den Darstellern sind noch Robert Guthery, Brandt und Richard Hagen, die, Jeder in seinem Genre, zur Vorzüglichkeit des Ganzen redlichst mitwirkten.

Die drei Hauptfactoren, denen die Leitung des Instituts anvertraut ist, sind der Director Emil Neumann, der Capellmeister Arno Kleffel, ein nicht nur anerkannt tüchtiger Dirigent, sondern auch ein trefflicher Liedercomponist im Schumann’schen Genre, und der Regisseur Tetzlaff. Das Zusammenspiel, welches bei den Vorstellungen dieser Gesellschaft eine so schmeichelhafte Anerkennung gefunden hat, ist die Frucht mehrjährigen Strebens, dessen sich seit Uebernahme der Direction Emil Neumann befleißigte, indem er stets von der Ueberzeugung durchdrungen war, daß

[755] ein gutes, einheitliches Zusammenspiel, bei welchem Jeder, auch der Inhaber der kleinsten Rolle, ja selbst jeder Statist und Chorist, mitwirkt und mitspielt, die Seele aller dramatischen Aufführungen ist. Mehrere Jahre hindurch führte er die Regie aller Stücke selbst, und erst seit einem Jahre greift Herr Tetzlaff in dieselbe ein, dabei gänzlich den Grundsätzen des Directors folgend, die von dem Fleiß und dem Eifer der Mitglieder auf’s Beste unterstützt werden. Nur unter einer solchen Bühnenleitung kann es gelingen, dem Publicum Vorstellungen zu bieten, die nicht zu den alltäglichen zu zählen sind.

Als treue Wacht steht dem Institute ein Consortium zur Seite, das aus drei Mitgliedern der Berliner Geld-Aristokratie besteht, von denen der rührige A. Hofmann, bekannt als Verleger des Kladderadatsch und – Millionär, den Vorsitz führt, wozu ihn seine genaue Kenntniß des Theaters, wie die Verbindung mit Schriftstellern und Journalisten wohl berechtigen.

H. Kg.



Zwei deutsche Jubelfeste in Weimar.
Von Robert Keil.
2. Zum Goethe-Feste 7. November 1875.

Noch werden die Festklänge von Karl August’s hundertjährigem Regierungsjubiläum nachklingen, wenn sich bereits der Jubel eines zweiten großen Weimarischen Festes mit ihnen vermischen wird, – eines Festes, das, mit dem ersten auf das Innigste verbunden, nicht allein für Weimar, sondern für ganz Deutschland ebenso hohe, fast noch höhere Bedeutung hat; die Säcularfeier von Goethe’s Eintritt in Weimar.

Auf die Einladung des Herzogs fuhr Goethe im November 1775 von Frankfurt nach Weimar, um als Gast Karl August’s einige Zeit an dessen Hofe zu weilen. Im Auftrage desselben begleitete ihn dahin ein junger Cavalier, welcher während seines Aufenthaltes in Frankfurt bereits

Großen Fluss hab ich verlassen,
Einem kleinen mich zu weihn;
Sollte der doch eine Quelle
Manches Guten, Schönen sein.
Weimar. d. 15. Jun. 1826. Goethe

mit Goethe und dessen Eltern so befreundet geworden war, daß er in einem später zu erwähnenden Briefe Goethe seinen Bruder, Goethe’s Eltern seine Eltern nannte. Es war der Weimarische Kammerjunker von Kalb, nach von Seckendorff’s Schilderung „ein geistreicher Mann von guter Figur, von dessen Charakter man aber nicht das Beste sagte“. Schon damals die volle Gunst des Herzogs genießend, wurde er, als sein Vater, der Kammerpräsident von Kalb nach Kalbsrieth sich zurückzog, von Karl August trotz den Bedenken und Vorstellungen des Ministeriums zum Kammerpräsidenten ernannt und fungirte als solcher bis zum Jahre 1782, wo er wegen übler Amtsführung entlassen werden mußte. Wie hätte er damals, im November 1775, ahnen können, daß der junge Frankfurter Rechtsanwalt, der junge Dichter Goethe, welchen er im Wagen nach Weimar geleitete, schon nach sechs Jahren sein Nachfolger im Vorsitz der Kammer werden sollte! –

Am Morgen des 7. Novembers 1775, mit dem Glockenschlage fünf Uhr, trafen sie in Weimar ein, wo Goethe zunächst im Hause des alten Kammerpräsidenten von Kalb freundlichste Aufnahme und Wohnung fand. Dort saß noch denselben Tag Wieland, der Erzieher des jungen Fürsten, der Gesellschafter und Freund der Herzogin-Mutter, welcher unlängst seiner Alceste wegen von Goethe in der Farce „Götter, Helden und Wieland“ so hart angegriffen war, bei Tafel mit Goethe zusammen und wurde „ganz verliebt in den herrlichen Jüngling“. „Meine Seele“ – schrieb er am 10. November – „ist so voll von Goethe, wie ein Thautropfen von der Morgensonne. Der göttliche Mensch wird, denk’ ich, länger bei uns bleiben, als er anfangs selbst dachte, und wenn’s möglich ist, daß aus Weimar etwas Gescheites wird, so wird es seine Gegenwart wirken.“ Größer noch und schöner, als Wieland ahnte, ist seine Prophezeiung in Erfüllung gegangen, und Goethe selbst war sich dessen vollbewußt. Als er einundfünfzig Jahre später, im Jahre 1826, dem Rath Kräuter, seinem ehemaligen Privatsecretär, ein Bild Frankfurts zum Geschenk machte, schrieb er, der Uebersiedlung vom Main zur Ilm gedenkend, unter das Bild seiner Vaterstadt die oben im Facsimile wiedergegebenen ebenso wahren wie schönen Verse. Mit jenem 7. November 1775 begann, bei innigstem Freundschaftsbunde des Fürsten und des Dichters, die Genie-Periode; mit jenem Tage begann die große Zeit, welche Weimar für alle Zukunft zur classischen Stätte weihen sollte; mit jenem Tage begann nicht für Goethe und Weimar allein, nein, für die gesammte deutsche Literatur eine neue Epoche. Mit dem 7. November des jetzigen Jahres aber vollendet sich seitdem ein Jahrhundert, und mit Leonore im Tasso können wir sagen:

Die Stätte, die ein guter Mensch betrat,
Ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt
Sein Wort und seine That dem Enkel wieder.

So feiert Weimar diesen hundertjährigen Gedenktag, wie einst vor fünzig Jahren den goldenen Jubeltag des greisen Dichters; so feiert ihn Weimar, ja die ganze deutsche Nation gleich jenem unvergeßlichen 4. September 1857, als von der Goethe-Schiller-Doppelstatue vor dem Weimarischen Theater die Hülle fiel. Begehen auch wir diese bedeutsame Säcularfeier, indem wir uns jene ewig denkwürdige Zeit vor hundert Jahren in treuem Bilde zu veranschaulichen suchen!

In frischer, feuriger Jugend, erst sechsundzwanzig Jahre alt, trat Goethe in Weimar ein, nach Heinse’s Schilderung „ein schöner Junge, der vom Wirbel bis zur Zehe Genie und Stärke, ein Herz voll Gefühl, ein Geist voll Feuer und Adlerflügeln.“ Sein Götz von Berlichingen hatte alle Herzen im Sturme erobert; über seinen Werther waren unzählige, sentimental fühlende Herzen in Thränen zerflossen; sein Name war auf Aller Lippen. Und dieser so rasch berühmt gewordene, allgefeierte junge Frankfurter war zugleich in seinem ganzen Wesen das, was sein Schauspiel, sein Roman sagte, und bezauberte über dies durch das gewinnendste, in jedem Zuge den Stempel des Genies tragende Aeußere. Der schlanke und doch nervige, stolze Gliederbau, die prachtvolle Stirn, die glühenden Augen, die gebieterische Nase und die zauberischen Lippen schienen ihres Gleichen nicht zu haben. So schildert ihn Wieland als einen

– schönen Hexenmeister
Mit einem schwarzen Augenpaar,
Zaubernden Augen mit Götterblicken:
Gleich mächtig zu tödten und zu entzücken.
So trat er unter uns, herrlich und hehr,
Ein ächter Geisterkönig, daher,
Und Niemand fragte: Wer ist denn der?
Wir fühlten beim ersten: ’s war Er.

Voll Genialität, voll Lebensdrang und Lebenslust und dabei doch mit stillem, nachzitterndem Schmerz über den Verlust seiner Frankfurter Braut Lili mußte der junge schöne Mann auch in den Weimarischen Kreisen rasch alle Herzen gewinnen. „Wie ein Stern,“ sagt Knebel, „ging er auf. Jedermann hing an ihm, besonders die Damen. Er hatte noch die Werther’sche Montirung an, und viele kleideten sich darnach. Er hatte noch von dem Geiste und den Sitten des Romans an sich, und dieses zog an, sonderlich den jungen Herzog, der sich dadurch in die Geistesverwandtschaft seines jungen Helden zu setzen glaubte.“ [756] Er war des jungen, achtzehnjährigen Fürsten Gast nicht blos, er war sein Freund, sein Bruder. Sie aßen zusammen, oft schliefen sie in demselben Zimmer, bisweilen Goethe mit im Fürstenhause, später bisweilen der Herzog in Goethe’s Gartenhause, und beide verband das traulich-brüderliche „Du“. Und wie Goethe von ihm herzlich aufgenommen wurde, so vom ganzen Hofe, namentlich auch von der achtzehnjährigen Herzogin Louise und von der erst sechsunddreißig Jahre alten, lebensheitern, kunstliebenden Herzogin-Mutter Amalie. Seine glänzenden Talente, sein frisches, geistsprudelndes Wesen und seine Ausgelassenheit rissen Amalien vom ersten Augenblicke an hin, und einige Monate später trat sie in einem Briefe an den Minister von Fritsch als beredte Vertheidigerin von Goethe’s Talenten, seinem Genie, von seiner Moral, seiner Religion auf, „welche die eines wahren und guten Christen sei, welche ihn lehre, seinen Nächsten zu lieben und es zu versuchen ihn glücklich zu machen.“

Bald war er, wie er selbst in einem Briefe vom 22. November bemerkte, im Treiben und Weben des Hofes, und da ihm zur Uebertäubung des geheimen Schmerzes um Lili Zerstreuung Bedürfniß war und das Hofleben ihm zugleich Gelegenheit zu Studium von Leben und Menschen gab, stürzte er sich, seinem Genius vertrauend, in den Strudel der buntesten Vergnügungen. Er that es nach seiner Art, im Style der Sturm- und Drangperiode, rücksichtslos und unbekümmert um das „Geträtsch“ und Nasenrümpfen des sittsamen Weimarischen Publicums. Wohl mag die Bemerkung des guten Wieland in einem Briefe an Merck vom Jahre 1776 nur Wahrheit sein: „Goethe hat freilich in den ersten Monaten die Meisten (mich niemals) oft durch seine damalige Art zu sein skandalisiert und dem diabolus prise über sich gegeben.“

Im Zimmer des ihm befreundet gewordenen Friedrich Justin Bertuch (des Uebersetzers von „Don Quixote“, nachmals Begründer des Landes-Industrie-Comptoirs) konnte der fast immer „wüthige“ Goethe sich das schöne lange Haupthaar lösen und mit bacchantischem Uebermuthe sich auf dem Boden wälzen, und als wenige Wochen nach Goethe’s Ankunft sich die beiden Grafen Stolberg, die Freunde des Frankfurter Dichters, auf ihrer Rückreise aus der Schweiz in Weimar einfanden, wo sie bis 3. Dezember verweilten, steigerte sich der Uebermuth bis zu genialer Tollheit. Auf Bertuch’s Stube hielt man das Gelag, warf die Trinkgläser zum Fenster hinaus, nahm Aschenkrüge, die in einem altdeutschen Grabhügel aufgefunden worden, zu Pokalen und trank daraus Thuiskons’s Gesundheit. An seine Schwester Auguste schrieb Graf Christian Stolberg von Weimar aus: „Hier wird’s uns recht wohl. Wir leben mit lauter guten Leuten, mit unserm Wolf (Goethe) und den hiesigen Fürstlichkeiten, die sehr gut sind, gehen auf die Jagd, reiten und fahren aus und gehen auf die Maskerade.“ Jagden und Ausflüge, Makenbälle, Schlittenpartieen, Schlittschuhlaufen auf dem Schwansee, Concerte, Bälle, Trinken und Spielen, durchgeistigt vom sprudelnden Witz und Humor und verbunden mit derben Neckereien des witzigen Hoffräuleins von Göchhausen, füllten die Monate November und December 1775 wie die ersten Monate des Jahres 1776 aus. „Ich treib’s hier toll genug; wir machen des Teufels Zeug,“ schrieb damals Goethe an Freund Merck nach Darmstadt und der ganze junge Hofkreis, welchen Karl August um sich versammelte, und vor allem der Herzog selbst mit, betheiligte sich in Herzenslust daran.

Es war die Zeit der genialen Schrankenlosigkeit; die jugendliche Gesellschaft der Schöngeister, fortgerissen von Goethe’s und Karl August’s ungestümen Drang, die Fessel althergebrachten widerwärtigen Zwanges zu brechen, gab sich der tobendsten Ausgelassenheit hin, und Niemand nahm freudiger daran Theil, als der Herzog selbst und sein Bruder Constantin. Die schönen Geister Weimars liebten es aber auch, in launisch-satirischen Gedichten, „Matinées“ genannt, einander ihre Eigenschaften, Gewohnheiten, Arten und Unarten in oft derbem Scherze vorzurücken, und gerade in einer solchen Matinée von Einsiedel hat ein glücklicher Zufall uns das frischeste Bild des damaligen genialen Kreises und seiner einzelnen Mitglieder erhalten.

Friedrich Hildebrandt von Einsiedel, geboren 1750, der Spielgenosse und Jugendfreund Karl August’s, durch poetische und musikalische Begabung ausgezeichnet und wegen seiner harmlosen, muthwilligen Scherze, seiner gemüthlichen, gutmüthigen Heiterkeit nur l’ami genannt, hat im Januar 1776 unter dem Titel „Schreiben eines Politikers an die Gesellschaft am 6. Januar 1776“, mit der Unterschrift „Mephistopheles“, jene Matinée geschrieben, welche die Hauptpersönlichkeiten des weimarischen Kreises in scherzhaften Knittelversen anschaulich und lebhaft schildert. Das Original kam in Goethes’s Hand, welcher die Namen der einzelnen darin behandelten Personen mit Bleistift darunter verzeichnete. Nur der ihn selbst behandelnde Theil des Gedichts ist durch Aufnahme in Riemer’s „Mittheilungen über Goethe“ bisher davon bekannt geworden. Die äußerst charakteristische Stelle lautet:

Dem Ausbund aller, dort von Weiten,
Möcht’ ich auch ein Süpplein zubereiten,
Fürcht’ nur sein ungeschliff’nes Reiten;
Denn sein verfluchter Galgenwitz
Fährt aus ihm wie Geschoß und Blitz.
’s ist ein Genie, von Geist und Kraft:
(Wie eb’n unser Herrgott Kurzweil schafft)
Meynt, er könn’ uns all’ übersehn,
Thäten für ihn ’rum auf Vieren gehn,
Wenn der Fratz so mit Einem spricht,
Schaut er Einem stier in’s Angesicht,
Glaubt, er könnt’s fein riechen an,
Was wäre hinter Jedermann.
Mit seinen Schriften unsinnsvoll
Macht er die halbe Welt itzt toll,
Schreib ’n Buch von ein’m albern Tropf,
Der heiler Haut sich schießt vor’n Kopf:
Meynt Wunder was er ausgedacht,
Wenn ihr einem Mädel Herzweh macht.
Paradirt sich drauf als Doctor Faust,
Daß ’m Teufel selber vor ihm graußt.
Mir könnt’ er all gut seyn im Ganzen,
(Thät mich hinter meinen Damm verschanzen)
Aber wär’ ich der Herr im Land’,
Würd er und all sein Zeugs verbannt.

Mehr war von jenem merkwürdigen Gedichte bis jetzt nicht bekannt.

In den Mittheilungen über Weimar, Goethe und Corona Schröter, aus den Tagen der Genieperiode, welche ich soeben unter dem Titel „Vor hundert Jahren, Festgabe zur Säcularfeier von Goethe’s Eintritt in Weimar“ erscheinen lasse, wird aber jenes Knittelversgedicht zum ersten Mal vollständig veröffentlicht. In demselben Tone wie Goethen behandelt darin Mephistopheles auf das Ergötzlichste auch die Genossen von Wedel, den Autor von Einsiedel selbst, von Knebel, Wieland, Hofrath Albrecht und endlich auch den Herzog Karl August, Letzteren mit den Worten:

Nun denk’ man sich ’en Fürstensohn,
Der so vergißt Geburt und Thron,
Und lebt mit solchen lockern Gesellen,
Die dem lieben Gott die Zeit abprellen;
Die thun als wärn sie seines Gleichen,
Ihm nicht einmal den Fuchsschwanz streichen,
Die des Bruders Respect so ganz verkennen.
Tout court ihn Bruder Herz thun nennen,
Glaub’n es wohne da Menschenverstand
Wo man all Etiquette verbannt.

Neben diesem charakteristischen Scherzgedichte, welches uns den genial-lustigen Kreis wie im Spiegel zeigt, sind uns aber noch zwei andere Documente erhalten, die in ihrer Zusammengehörigkeit ein treues Bild des Herzogs, Goethe’s und des ganzen damaligen Lebens und Treibens bieten.

Unweit der weimarischen Stadt Bürgel liegt romantisch in Felsen, Fichten- und Buchenwaldung das Dörfchen Waldeck. Eine Försterei, einen geräumigen Hof einschließend, mit Hirschgeweihen über der Thür und Wetterfahnen auf dem Dache steht noch unverändert dort, wie einst vor hundert Jahren. Damals bewohnte sie der wackere Förster Slevoigt mit seinen zwei hübschen, anmuthigen Töchtern. Bertuch, der talentvolle junge Weimaraner, welcher, bereits durch seine Dichtungen bekannt, im Jahre 1773 nach seiner Vaterstadt zurückgekehrt war, hatte das Herz der ältern Tochter gewonnen, und der gute Melchior Kraus, der Frankfurter Maler, welcher ebenfalls dem Weimarischen Kreise angehörte, warb um die Gunst der jüngern Schwester. Mehr seinen Töchtern als sich selbst zu Liebe, hatte der Förster rauhgestaltete Felspartieen, Gebüsch und Waldstrecken durch Brücken, Geländer und sanfte Pfade gesellig wandelbar gemacht. Bertuch hatte mit seinem Mägdelein Rasen- und Moosbänke [757] und Hüttchen und romantische Plätzchen angelegt, und Kraus hatte von der Wald- und Berggegend Zeichnungen gefertigt, auf denen man die beiden Mädchen in weißen Kleidern auf jenen anmuthigen Wegen in Begleitung der beiden jungen Männer erblickte. Als vor einigen Monaten Melchior Kraus Frankfurt und Goethen besucht hatte, hatte dieser die Zeichnungen gesehen und war auf die wildromantische Gegend von Waldeck aufmerksam geworden. Jetzt nahte das Weihnachtsfest heran. Bertuch und Kraus gedachten es in der lieben Försterfamilie zu verleben. Der Herzog folgte einer Einladung an den Hof Herzogs Ernst des Zweiten von Gotha, Goethen aber, der „in verbreiteter Wirthschaft und Zerstreuung von Morgens zur Nacht umgetrieben worden“, drängte es, einige Tage fern vom Hofleben einfache schöne Natur zu genießen; er zog Waldeck vor. „Ich bin hier“ – schrieb er von Weimar aus an Lavater – „wie unter den Meinigen, und der Herzog wird mir täglich werther und wir einander täglich verbundener. Morgen gehe ich über Jena nach Waldeck, wilde Gegenden und einfache Menschen zu sehen.“

Mit von Kalb, von Einsiedel und Bertuch ritt Goethe am 23. December 1775 über Jena nach Waldeck, wo er mit ihnen im traulichen Försterhause wohnte, und schon am Abende des ersten Tages begann er einen Brief an Karl August, der mit den sich daran schließenden, ebenfalls für den Herzog bestimmten Tagebuchsnotizen nicht nur das damalige Sein und Wesen des Dichters und das burschikose Leben in der einsamen Försterei, sondern vor Allem auch die Innigkeit lebhaft veranschaulichte, welche das Verhältniß zwischen Goethe und Karl August schon nach so kurzem Zusammenleben gewonnen hatte.

(Schluß folgt.)




Die Schäden der modernen Cultur.
5. Auf den Diensteid.

Von den verschiedensten Seiten ist bereits darauf hingewiesen, wie verwerflich und nachtheilig bei Zeugenaussagen die Verpflichtung der Beamten auf ihren Diensteid ist, denn nur zu häufig kommt es vor, daß solche Zeugen den Eid zu leicht nehmen und unwahre Aussagen machen. Polizeidiener, Executoren und Nachtwächter kommen namentlich in großen Städten öfter in die Lage, vor Gericht gegen Angeklagte zu zeugen. Sie nehmen ihre Aussage auf ihren Diensteid, und schon in der häufigen Wiederholung solcher Fälle liegt die Gefahr, daß der Respect vor dem Eide schwindet, daß er aufhört etwas Heiliges zu sein. Zudem giebt es Richter, welche auf die Aussage eines Beamten, welche dieser auf den Diensteid genommen hat, mehr Werth legen, als auf die eines anderen unbescholtenen Zeugen, als ob das Gewissen dieses weiter wäre als das des Beamten, der vielleicht schon hundert und mehr Aussagen auf seinen Diensteid genommen hat und dies, schon weil es sein Beruf mit sich bringt, als eine Geschäftssache auffaßt.

Wir wollen an einem bestimmten Falle zeigen, wohin dies bei gewissenlosen Beamten führt, und daß es solche leider giebt, wird wohl Niemand in Abrede stellen. Aus leicht zu errathenden Gründen ändern wir die Namen. – –

Der Kaufmann Kuntze kehrte eines Abendes aus einer Gesellschaft spät heim. Da er den Hausschlüssel vergessen hatte, pochte er an den Fensterladen seiner paterre gelegenen Wohnung, um seine Frau zu wecken, damit sie ihm den Schlüssel durch’s Fenster reiche, wie sie dies schon öfter gethan hatte. Die Frau hörte ihn jedoch nicht; er rüttelte deshalb stärker an dem Laden.

 „Was machen Sie hier?“ rief plötzlich eine barsche Stimmte hinter ihm.
 Erstaunt blickte er sich um, denn Strolche durchstreiften um diese Zeit nur zu oft die Straßen; er beruhigte sich jedoch sofort, als er einen Polizeibeamten hinter sich stehen sah, dessen Herantreten er nicht gehört hatte. Mit kurzen Worten gab er den Zweck seines Pochens an.
 „Sie wohnen hier?“ unterbrach ihn der Beamte. „Wer sind Sie denn?“
 Kuntze nannte seinen Namen.
 „Das kann Jeder sagen,“ fuhr der Polizeidiener in schroffem Tone fort. „Wissen Sie wohl, daß ich Sie wegen nächtlicher Ruhestörung sofort zur Polizeiwache führen kann?“
 „Durch das Pochen an das Fenster habe ich Niemand gestört,“ warf Kuntze ein.
 „Ruhig!“ herrschte ihn der Beamte an, den wir Bredow nennen wollen. „Ob Sie dies gethan haben oder nicht, darüber habe ich zu entscheiden und wenn ich Sie nicht zur Wache führen soll, so werden Sie wohl wissen, was Sie zu thun haben. Angenehm wird es Ihnen wohl nicht sein, wenn Sie wegen Ruhestörung bestraft würden.“
 Kuntze verstand diese Worte und die in ihnen liegende Aufforderung zu einem Geldgeschenke sehr wohl, da er sich aber bewußt war, nichts Unrechtes gethan zu haben, sagte er kurz:
 „Ich kann mich wegen meiner Handlungsweise rechtfertigen und brauche nicht zu befürchten, zur Wache geführt zu werden.“
 „So?“ unterbrach ihn Bredow mit höhnender Stimme. „Sie brauchen sich also nicht zu fürchten? Nun sollen Sie zur Wache. Folgen Sie mir!“
 „Sehr gern,“ bemerkte Kuntze und pochte noch einmal an das Fenster, um seiner Frau zuzurufen, wohin er gehe.
 „Sie sollen mir folgen,“ rief Bredow heftig, faßte ihn hinten am Rockkragen und stieß ihn vorwärts.
 „Lassen Sie mich los! Ich habe mich nicht geweigert, Ihnen zu folgen,“ rief Kuntze entrüstet.
 „Das wollte ich mir auch verbitten!“ antwortete der Beamte und stieß ihn noch heftiger, ohne ihn loszulassen.
 Kuntze würde um Hülfe gerufen haben, allein auf der menschenleeren Straße würde ihn Niemand gehört haben; er befürchtete auch, daß ein Bekannter ihn in dieser Lage sehen könne, was für ihn als geachteten Mann, der sich nie das Geringste hatte zu Schulden kommen lassen, doch peinlich gewesen wäre.
 Sie langten in der Polizeiwache an. Die Hausflur war dunkel. Kuntze trat sehr vorsichtig auf, weil er die Räumlichkeit nicht kannte.
 „Vorwärts!“ rief Bredow und stieß ihn so heftig, daß er mit dem Kopfe gegen die Wand fuhr.
 Jetzt rief der Gepeinigte um Hülfe.
„Ruhig!“ unterbrach ihn der Beamte, faßte ihn mit beiden Händen am Halse, um seine Stimme zu ersticken, und stieß ihn wiederholt heftig gegen die Wand. Dann öffnete er die Thür des Wachzimmers und drängte ihn hinein.
 An einem Tische saß der Polizeiwachtmeister Meisen. Bredow trat zu ihm und sprach leise zu ihm. Der Wachtmeister warf auf Kuntze einen prüfenden, drohenden Blick.
 „Hier heran!“ rief er befehlend.
 Kuntze trat näher. Er zitterte vor Erregung über die Mißhandlung, welche ihm widerfahren war. „Ich habe mich zu beschweren …“ begann er.
 „Ruhig! Warten Sie, bis Sie gefragt werden!“ unterbrach ihn der Wachtmeister barsch.
 „Ich habe den Menschen wegen Ruhestörung auf der Straße arretirt,“ sprach Bredow. „Er versuchte einen Fensterladen aufzureißen, und als ich ihn verhaften wollte, bot er mir einen Thaler, wenn ich davon abstehe; außerdem widersetzte er sich seiner Verhaftung.“
 Unwillkürlich trat Kuntze einen Schritt zurück; er war sprachlos über diese Unwahrheit und Frechheit. „Das ist nicht wahr. Sie haben mich aufgefordert, Ihnen etwas zu geben.“ rief er.
 „Was habe ich gethan?“ fragte Bredow, indem er heftig vor ihn hintrat. „Gelogen habe ich? Hier – hier?“ Er schlug Kuntze so heftig in’s Gesicht, daß dieser zurücktaumelte.
 Diese neue Mißhandlung brachte den Kaufmann fast außer sich. „Morgen werde ich mich beim Polizeidirector beschweren,“ preßte er hervor.
 „So? Sie wollen noch drohen?“ unterbrach ihn Bredow immer wüthender, schlug auf’s Neue auf Kuntze ein und stieß ihn mit dem Kopfe gegen die Wand.

[758] „Ich verlange Schutz von Ihnen,“ rief der Gemißhandelte, sich aufraffend und zu dem Wachtmeister tretend. „Sie sind mein Zeuge. Nehmen Sie zu Protokoll, daß dieser Mann mich geschlagen und gestoßen hat! Ich verlange es.“

„Sie haben nichts zu verlangen,“ entgegnete der Wachtmeister aufspringend. „Wie können Sie hier so frech auftreten!“

Noch einmal erklärte Kuntze, daß er sich beschweren werde; nun fielen beide Beamte über ihn her, mißhandelten ihn in der brutalsten Weise und überhäuften ihn mit den rohesten Schimpfworten. Ganz erschöpft sank er auf einen Stuhl; er glaubte, diese Schmach nicht überleben zu können.

Der Wachtmeister zeichnete seinen Namen, Stand und Wohnort auf, dann nahm er Bredow’s unwahre Aussage zu Protokoll.

„Nun können Sie gehen,“ sprach der Wachtmeister.

Kuntze war fast ohnmächtig und kaum im Stande, sich zu bewegen. In einem elenden, verzweiflungsvollen Zustande langte er in seiner Wohnung an. Sein Gesicht blutete; sein Kopf war mit Beulen bedeckt. Ermattet sank er nieder, und es währte lange, ehe er die Kraft gewann, seiner Frau Alles zu erzählen. Er hatte öfter von Mißhandlungen durch Polizeibeamte gehört, aber nicht daran geglaubt, weil er nur sehr selten von deren Bestrafung etwas vernommen – jetzt zweifelte er nicht mehr. Noch während der Nacht ließ er einen Arzt holen und die Verletzungen im Gesichte und am Kopfe untersuchen; so elend er sich auch am folgenden Morgen fühlte, fuhr er doch sofort zum Polizeidirector, um die Bestrafung der Schuldigen zu beantragen. Noch trug er ja deutlich die Spuren der Mißhandlung an sich. Er erzählte Alles, wie es sich zugetragen.

Der Polizeidirector hörte ihn mit sichtbaren Zeichen des Zweifels an, richtete einige Fragen an ihn, die er durchaus der Wahrheit gemäß beantwortete, und sprach dann: „Ich kann nicht glauben, daß Beamte im Stande sind, so sehr ihre Pflicht zu vergessen; ich werde übrigens den Vorfall streng untersuchen.“

Kuntze glaubte der Versicherung des Polizeidirectors. Die beiden Schuldigen mußten bestraft werden, denn er besaß das Zeugniß seines Arztes über seine Verletzungen. Außerdem mußte der Richter seinen Worten glauben, denn er war ein durchaus unbescholtener und geachteter Bürger.

Tage vergingen, ohne daß er das Geringste über den Erfolg seiner Beschwerde erfuhr – da erhielt er eine Vorladung zum Untersuchungsrichter. Ruhig folgte er derselben, konnte es sich doch nur um seine Aussage über die ihm widerfahrenen Mißhandlungen handeln. Um so erstaunter war er, als er durch den Untersuchungsrichter erfuhr, daß Meisen und Bredow die Anzeige der versuchten Beamtenbestechung und der Widersetzlichkeit gegen Beamte bei der Staatsanwaltschaft gegen ihn eingereicht hätten. Er stellte natürlich beides in Abrede, erzählte den wahren Hergang, aber nicht ohne die höchste Erregung und selbst nicht ohne Verwirrung, weil er diese Frechheit der Schuldigen nicht erwartet hatte.

Auch der Untersuchungsrichter schien ihm keinen Glauben zu schenken, denn er ermahnte ihn, die Wahrheit offen einzugestehen, da der Richter in dem offenen Geständnisse einen Milderungsgrund finden werde.

Kuntze begab sich, ehe er heim eilte, zu einem tüchtigen Rechtsanwalte, um dessen Hülfe in Anspruch zu nehmen. Auch ihm erzählte er den ganzen Hergang vollständig der Wahrheit gemäß. Der Advocat fragte ihn, ob er denn keinen einzigen Zeugen habe, ob ihm Niemand auf der Straße an jenem Abende begegnet sei, und als er dies verneinte, nahm das Gesicht des Anwaltes einen immer bedenklicheren Zug an.

„Das ist sehr schlimm,“ sprach er. „Sie haben keinen einzigen Entlastungszeugen, und die beiden Polizeidiener werden vor Gericht ihre Anschuldigung wiederholen und dieselbe auf ihren Diensteid nehmen.“

„Dann begehen sie einen Meineid,“ rief Kuntze.

Der Advocat zuckte mit den Achseln. „Sie haben den Fehler begangen, daß Sie sich mit einer Beschwerde an den Polizeidirector gewandt; dieser wird nachgeforscht haben, und um ihre eigene Schuld zu verbergen, haben die Polizeidiener die Anklage gegen Sie erhoben. Sie sind nicht der Erste, dem es so ergeht, und werden auch nicht der Letzte sein.“

„Leben wir denn in einem Staate, in dem es kein Recht mehr giebt?“ fragte Kuntze. „Ich, der ich unschuldig bin, soll verurtheilt werden? Es ist nicht möglich. Und welche Strafe könnte mich treffen?“

„Es steht Gefängnißstrafe auf dem Vergehen, dessen Sie angeschuldigt sind, doch kann auch auf Geldstrafe erkannt werden, wenn mildernde Umstände vorhanden sind.“

„Gefängniß!“ rief Kuntze. „Um Gotteswillen! Ich würde zweifeln, ob es noch Gerechtigkeit auf Erden giebt.“

„Ich habe oft daran gezweifelt,“ warf der Anwalt ein. „Ich habe gehört, wie Polizeidiener die frechsten Lügen aussagten und auf ihren Diensteid nahmen; ich wußte, daß es Lügen waren, und doch mußte ich schweigen, weil ich keine Beweise gegen sie hatte.“

Kuntze stand regungslos da. „Retten Sie mich – retten Sie mich!“ rief er dann leidenschaftlich.

„Ich werde Alles für Sie thun, was in meinen Kräften steht,“ versicherte der Anwalt. – –

Wochen vergingen. Es waren bange und kummervolle Wochen für Kuntze. Endlich erhielt er die Anklage. – Sehr bald war auch der Tag der Gerichtsverhandlung erschienen. Der Richter, der als Vorsitzender des Gerichtshofes dieselbe leitete, galt für einen ehrlichen Mann, weil er stets nach seiner wirklichen Ueberzeugung das Urtheil sprach, und die Beisitzenden des Gerichtshofes glichen ihm auf ein Haar. Aber er war ein Bureaukrat im strengsten Sinne des Wortes, der jeden Beamten für einen ehrlichen und unfehlbaren Mann und Jeden, der nicht Beamter war, wo möglich für das Gegentheil hielt. Er erachtete es für eine Unmöglichkeit, daß ein Beamter vor Gericht die Unwahrheit aussagen könne; weil er selbst nicht dazu im Stande gewesen wäre, deshalb galt ihm auch die Zeugenaussage eines Beamten mehr als die zehn anderer Zeugen. Dabei ließ er sich in zweifelhaften Fällen von der Ansicht leiten, daß das Ansehen der Beamten unter allen Umständen aufrecht erhalten und unterstützt werden müsse, denn eine Mißachtung der Beamten galt ihm so viel wie Zerfall des Staates und Beginn des Weltunterganges.

In Begleitung seines Vertheidigers erschien Kuntze in dem Gerichtssaale und nahm auf der Anklagebank Platz. Sein Gesicht war bleich, denn schon seit Tagen hatte er nicht eine ruhige Stunde mehr gehabt. Er raffte alle Kräfte zusammen, um ruhig zu bleiben. Das Verhör begann. Er stellte natürlich die ihm zur Last gelegten Vergehen in Abrede und erzählte den Hergang der Wahrheit gemäß. Der Vorsitzende unterbrach ihn mehrere Male in sichtlichem Unwillen.

„Sie thäten besser, wenn Sie Ihre Schuld offen eingeständen,“ bemerkte er endlich. „Denn das Märchen, welches Sie uns vortragen, dürfte doch wenig Glauben finden.“

„Ich habe nichts einzugestehen, da ich die volle Wahrheit gesprochen.“

„Der Wachtmeister hat Ihr Vergehen an dem Abende in Ihrer Gegenwart sofort zu Protokoll genommen – weshalb haben Sie nicht dagegen protestirt?“

„Ich habe es gethan – statt der Antwort erhielt ich einen Schlag ins Gesicht.“

„Schweigen Sie!“ unterbrach ihn der Vorsitzende. „Durch solche Behauptungen, denen die Unwahrheit auf der Stirn geschrieben steht, verbessern Sie Ihre Lage nicht.“

In übler Stimmung brach er das Verhör ab. Bredow wurde als erster Belastungszeuge in den Saal gerufen. Mit ruhigem, festem Schritte denn er war früher Unterofficier gewesen – trat er ein. Mit freundlichen Worten forderte der Vorsitzende ihn auf, den Hergang zu erzählen. „Ich brauche Sie wohl nicht darauf aufmerksam zu machen, daß Sie streng bei der Wahrheit zu bleiben haben, denn Sie wissen, daß Sie Ihre Aussage auf Ihren Diensteid zu nehmen haben,“ fügte er hinzu.

„Ja, das weiß ich,“ bestätigte der Zeuge. Sein Gesicht hatte einen unverkennbaren Ausdruck der Rohheit; die glanzlosen Augen traten aus dem Kopfe hervor; das ganze Gesicht war geröthet und aufgedunsen, wie es bei Trinkern zu sein pflegt.

Kuntze’s Vertheidiger erhob sich und stellte den Antrag, daß die beiden Zeugen, welche nach den Aussagen des Angeklagten die Schuldigen seien und deshalb in dieser Angelegenheit unzweifelhaft interessirt wären, ihre Zeugenaussage nicht auf ihren Diensteid zu nehmen hätten, sondern für diesen Fall beeidet würden. [759] Der Staatsanwalt erklärte sich dagegen, und der Gerichtshof lehnte diesen Antrag ab.

Bredow erzählte nun den Hergang ganz mit den Entstellungen wie in der Anzeige. „Als ich ihn vor dem Hause traf, ihn pochen hörte,“ sagte er, „und ihn fragte, was er dort mache, erhielt ich die Antwort: ‚Das gehe mich nichts an, ich habe mich darum nicht zu kümmern‘.“

„Sagte der Angeklagte nicht, daß er in dem Hause wohne?“

„Nein,“ entgegnete Bredow.

„Ich habe es ihm gesagt,“ warf Kuntze ein. „Ich habe ihm auch gesagt, daß ich meine Frau wachpochen wolle, weil ich den Hausschlüssel vergessen habe.“

„Sie haben zu schweigen!“ unterbrach ihn der Vorsitzende unwillig. „Unterbrechen Sie den Zeugen noch durch ein einziges Wort, so lasse ich Sie hinausbringen, und die Verhandlung wird ohne Sie fortgesetzt.“

Bredow fuhr in seiner Erzählung fort: „Als ich an ihn herantrat, rief er mir zu, ich möge mich zum Kukuk scheeren, sonst werde er mir den Weg zeigen, dabei nahm er eine drohende Haltung an. Als ich ihn verhaften wollte, sagte er, ich möchte kein Thor sein; er wolle mir einen Thaler geben, und als ich diese Bestechung zurückwies und ihn am Arme erfaßte, um ihn zur Wache zu führen, stieß er mich heftig vor die Brust. Auf der Wache benahm er sich ebenso widersetzlich gegen den Wachtmeister.“

„Gab er schon auf der Wache an, daß Sie Geld von ihm verlangt hätten?“ fragte der Vorsitzende.

„Bewahre! Er sagte nur, daß er mich nicht habe bestechen, sondern mir den Thaler habe schenken wollen.“

„Der Angeklagte behauptet, daß Sie ihn in’s Gesicht geschlagen und mit dem Kopfe gegen die Wand gestoßen hätten. Er hat ein Zeugniß seines Arztes beigebracht, welches einige Verletzungen im Gesichte und Anschwellungen am Kopfe nachweist.“

„Ich habe ihn nicht geschlagen; er stieß mich auch auf der Wache vor die Brust und sogar den Wachmeister, als dieser ihn beruhigen wollte. Als ich ihn zur Wache brachte, stolperte er auf der dunklen Hausflur und stieß mit dem Kopfe gegen die Wand. Daher mögen die Verletzungen rühren.“

„Sie nehmen Ihre Aussage auf Ihren Diensteid?“

„Ja.“

Bredow ließ sich auf der Zeugenbank nieder, und Meisen wurde in den Saal gerufen. Er sagte ziemlich dasselbe wie Bredow aus und behauptete, daß Kuntze Bredow und ihn zurückgestoßen habe. „Ich habe in seiner Gegenwart das Protokoll aufgenommen,“ fügte er hinzu, „und wie ich es dort niedergeschrieben habe, so ist es.“ Auch er nahm seine Aussagen auf den Diensteid.

Nun erhob sich der Vertreter des Staatsanwaltes, ein noch junger Assessor. Er schilderte die Vergehen des Angeklagten noch einmal mit den stärksten Farben, betonte als Erschwerung, daß er hartnäckig geleugnet und sogar versucht habe, die Zeugen, welche obendrein Beamte seien, anzuschuldigen, und fügte hinzu, daß er um so härter bestraft werden müsse, weil er sich zu den Gebildeten zähle; er beantrage deshalb nach den beiden Paragraphen 333 und 113 des Strafgesetzbuches eine Gefängnißstrafe von vier Monaten.

Mit starrem Blicke hatte Kuntze ihm zugehört; bleich sprang er auf, als er die Worte: „vier Monate Gefängniß“ vernahm. Er schien sprechen zu wollen; sein Vertheidiger bat ihn leise, zu schweigen.

Dieser bot darauf Alles, was in seinen Kräften stand, für Kuntze auf. Er schilderte das unbescholtene Leben desselben und hob die Achtung, welche er genoß, hervor. Er wies darauf hin, daß die vom Arzte bestätigten Verletzungen Kuntze’s nicht dadurch entstanden sein könnten, daß derselbe gestolpert und mit dem Kopfe gegen die Wand gefallen sei; er betonte, daß Bredow bereits früher wegen Uebertretung der Amtsgewalt und Mißhandlung eines Verhafteten eine Disciplinarstrafe verbüßt habe, und beantragte schließlich die Freisprechung des Angeklagten und wenn das Gericht zu dieser sich nicht entschließen könne, wenigstens nur eine Geldstrafe. Der Gerichtshof zog sich für wenige Minuten zur Berathung zurück, dann verkündete der Vorsitzende das Urtheil, es lautete: zwei Monate Gefängniß.

Kuntze schrie laut auf – sein Vertheidiger suchte ihn zu beruhigen und bat ihn, ihm zu folgen. Mit spöttischem, höhnendem Blicke schritten die beiden Zeugen an ihm vorüber.

Nur schwer vermochte Kuntze sich zu fassen. Der Anwalt brachte ihn in seine Wohnung und versprach, für ihn zu appelliren.

Diese Verurtheilung, die allgemeine Entrüstung hervorrief, zog noch für einen Anderen eine Bestrafung nach sich. Wenige Tage nach der Mißhandlung hatte Kuntze dieselbe dem Redacteur einer Zeitung erzählt und dieser den Vorfall mit Nennung der Namen in seinem Blatte veröffentlicht. Es wurde gegen ihn die Anklage der Verleumdung erhoben und er von demselben Richter zu einer vierzehntägigen Gefängnißstrafe verurtheilt. Es fiel bei ihm in’s Gewicht, daß er bereits zweimal wegen Preßvergehen bestraft war. Bei der Verkündung des Urtheils bemerkte der Richter, daß diese Strafe immer noch sehr milde sei, weil er sich nicht gescheut habe, zwei Beamten eine Mißhandlung nachzusagen, für welche dieselben, wenn sie sich wirklich zugetragen hätte, unfehlbar bestraft sein würden; übrigens habe die Presse einen ganz anderen Beruf, als derartige Mittheilungen zu bringen, selbst wenn sie wahr wären, denn dadurch werde das den Beamten schuldige Ansehen beeinträchtigt und gefährdet. Der Herr Richter, der diesen wohlwollenden Redacteur verurtheilte, dürfte auch den gegenwärtigen Artikel als eine Gefährdung der Beamtenwürde mit bedenklichen Blicken betrachten. Allein wer die entarteten Glieder eines Standes anklagt, der klagt damit noch nicht den Stand selbst an. Allen Respect vor den Beamten des Staates – aber die faulen Stellen des Beamtenthums müssen bloß gelegt, die schlechten Glieder derselben abgehauen werden.

In der zweiten Instanz wurde Kuntze’s Strafe in eine Geldstrafe verwandelt.

Und die beiden Polizeibeamten? Dieser sogenannte Beamteneid, den wir besser mit einem anderen Worte kennzeichnen müßten, schien nicht allzu schwer auf ihrem Gewissen zu lasten. Sie sind noch Beide im Amte.
Friedrich Friedrich.




China und Japan in Deutschland.


Was früher in Jahrhunderten und Jahrtausenden nicht erreicht wurde, nämlich eine feste und dauernde Handelsverbindung aller, auch der am entferntesten von einander wohnenden industriellen Völker der Erde, das hat die Erfindung der Dampfschiffe in wenigen Jahrzehnten leicht zu Stande gebracht. Es giebt wohl heutzutage kaum einen Handelsplatz, an welchem nicht unaufhaltsam aus allen Zonen und Ländern die Schätze des Industriefleißes zusammenströmen, und es sind nicht mehr die Haupthafenplätze allein, in denen sich diese Fülle solcher Waaren aufhäuft, nein, die immer mehr anwachsende Zahl der Schienenverbindungen hat vor Allem die Hauptstädte zu den Mittelpunkten des internationalen Handelsverkehrs gemacht.

In dieser Beziehung ist wohl bei wenigen Städten die von Tag zu Tag wachsende Bedeutung als Haupthandelsplatz so sehr in die Augen fallend, wie bei Berlin, welches sicher nach vielen Seiten hin gegenwärtig als Haupthandelsplatz des deutschen Reiches gelten kann. Oft bis in die entgegengesetztesten Gebiete hinein kann die Wahrheit dieses Satzes bewiesen werden. Was giebt es beispielsweise Entgegengesetzteres, Unvermittelteres, als die Hauptstadt des neuen deutschen Reiches und – China und Japan? Und dennoch, obgleich beide durch unendliche Länder- und Wasserstrecken von einander getrennt sind, ist Berlin der Hauptstapelplatz japanesischer und chinesischer Industrie- und Kunstwaaren, nicht nur für ganz Deutschland, sondern auch für Oesterreich, Dänemark, Schweden, ja sogar für einen großen Theil von Rußland.

Freilich soll damit nicht behauptet werden, daß etwa über Hamburg oder irgend einen andern Hafenplatz nicht auch dergleichen Waaren ihren Eingang in das deutsche Reich fänden,

[760] aber eine so große und ausgedehnte Ausstellung von japanesischen und chinesischen Waaren, wie in Berlin von der Firma Rex u. Comp. (in der Jägerstraße Nr. 50) dauernd unterhalten wird, dürfte auf dem ganzen Continente nicht mehr vorhanden sein. Der „Preußische Staatsanzeiger“ hat bereits früher auf diesen Bazar hingewiesen. Da aber die genannte Zeitung einen sehr kleinen Leserkreis hat, so glauben wir eine Pflicht gegen Handel und Industrie zu erfüllen, wenn wir in diesem Volksblatte den Gegenstand noch einmal eingehender berühren. Es ist sehr lehrreich, einen Gang durch die hier mit allen den Tausenden von Artikeln aus jenen großen Reichen angefüllten Lagerräume zu unternehmen; wir können uns dabei über die eigenthümliche Kunstrichtung und die oft bizarren Formen der Industrieerzeugnisse beider Länder ein deutliches Bild verschaffen.

In erster Linie brilliren China und Japan in der Herstellung eines noch von keiner Nation bisher auch nur annähernd erreichten Lackes, welcher auf Drechsler- und Tischlerarbeiten jeder Art, wie Dosen, Schalen, Theebretter, Theekasten etc. etc. mit bewunderungswürdiger Kunst aufgetragen ist und eine so unverwüstliche Dauerhaftigkeit besitzt, daß man getrost den stärksten Spiritus darauf gießen kann, ohne die feine Politur auch nur im Geringsten zu gefährden. Es gehört viel dazu, um den Lack in vollendetster Form und so fest auf die Holzfläche zu bringen, daß das Ganze wie aus einem Gusse erscheint; wenn wir einen solchen Gegenstand in die Hand nehmen, ahnen wir nicht, daß die ursprüngliche Fläche wohl gegen neunmal theils mit Thonmasse und Pflanzenpapier, theils wiederholt mit Lack überzogen worden ist, bis sie endlich jenes sich stets gleich bleibende Aussehen erhält, das von allen Witterungseinflüssen, jeder Ausdehnung und Zusammenziehung durch die Temperatur unberührt bleibt. Wir Europäer sind noch nicht in das Geheimniß dieser Lackbereitung eingedrungen, und es wird auch wohl noch manches Jahr vergehen, bis wir solche Waaren in gleicher Güte herzustellen im Stande sind. Man weiß eben in jenen asiatischen Ländern die Geschäftsgeheimnisse, welche sich vom Vater auf den Sohn durch viele Generationen vererben, sehr streng zu bewahren, und es giebt noch viele Fabrikationsarten daselbst, denen wir bei all unserer Kunst noch nicht haben auf die Spur kommen können. Es ist uns z. B. die Bearbeitung jenes Bronzemetalls, aus dem die Chinesen ihre Musikbecken, sowie ihre weithin tönenden Tamtams oder Gongs verfertigen, noch gänzlich unbekannt geblieben, und so oft es auch schon versucht worden ist, den prachtvollen Ton jener Metallplatten nachzuahmen, wir haben dies bis jetzt noch nicht zu Stande gebracht.

Auch jenes unnachahmliche feste Papier, worin die Chinesen und Japanesen nicht nur alle ihre Waaren bei der Versendung auf’s Sauberste einpacken, sondern welches sie auch bekanntlich zur Herstellung von Fächern, Ballons, Laternen, Schirmen, Kleidern und sogar zu Bindfäden und Seilen gebrauchen, ist von uns noch nicht in gleicher Güte dargestellt, und Thatsache ist es, daß das chinesische Lithographiepapier für unsere Lithographen und Kupferdrucker ein höchst werthvolles Material bildet.

Außer diesen Vorzügen, welche durch die Güte der Waaren aus China und Japan gegenüber den unserigen an den Tag treten, giebt es noch eine Anzahl von solchen, welche durch die außerordentliche Billigkeit allgemeines Erstaunen erregen. Da sehen wir beispielsweise Körbe aus dem feinsten durchbrochenen Bambusgeflecht, Arbeitskörbe für Damen, in jeder Wirthschaft praktisch zu gebrauchen und in Garnituren von vier verschiedenen Größen zusammengestellt. Solche Garnitur würde für unsere europäische Lohnverhältnisse mindestens vier bis sechs Thaler kosten, in einem Lande wie China aber, wo die sehr genügsame arbeitende Bevölkerung fast nur mit Reis ihr Leben fristet und die ganze Unterhaltung für eine Arbeitskraft nur wenige Groschen täglich beträgt, werden diese Körbe so außerordentlich billig hergestellt, daß sie selbst nach der weiten Seereise und unter Zuschlag des Verdienstes für kaum den vierten Theil der obigen Summe verkauft werden. Nehmen wir eine andere Art von Gegenständen: die Elfenbeinschnitzereien aus China und Japan! Wenn wir hier und da in einem Kunstmuseum prachtvoll geschnitzte Elfenbeinbecher mit Ornamenten und Figuren, Kasten, Fächer mit durchbrochener Arbeit bewundern, so schätzen wir gewöhnlich den Werth dieser Sachen nach der großen Arbeitszeit und Geschicklichkeit, die wir darauf verwendet sehen, sehr hoch.

Wie aber sind wir erstaunt, wenn wir als Preis etwa für ein fein geschnitztes Schachspiel von zweiunddreißig Figuren eine Summe nennen hören, welche ein europäischer Künstler für die Anfertigung einer einzigen Hauptfigur beanspruchen würde und müßte! Es ist geradezu unglaublich, zu welch billigen Preisen diese Handschuhkästen und Bilderrahmen, Serviettenringe und Visitenkartenschalen, Pyramiden und Becher hergestellt werden. Gleichfalls zu den hervorragenden und durch hohe Schönheit in Form und Ausführung sich auszeichnenden Gegenständen gehören die japanesischen und chinesischen Bronzewaaren; wir finden hier neben den gediegensten Ornamenten und Vasen bis zu dreißig Zoll Höhe auch manche ebenso praktische wie interessante kleine Gegenstände vertreten; so z. B. Leuchter, Blumenhalter, Schildkröten und Figuren als Briefbeschwerer, Elephanten, Hirsche, Fische, Vögel etc. mit Reiter – sämmtlich als Räuchergefäße dienend; ebenso verdienen die mit Silber ausgelegten Bronzen (niello) besondere Beachtung, und finden wir in diesem Genre höchst werthvolle Objecte, aus dem früheren Besitze reicher Daïmios (Junker) herstammend.

Eine beiden Ländern, China und Japan, eigenthümliche Art von Kunstarbeiten sind die eingelegten Kupfersachen, die sogenannten Cloisonnés. Welch unermüdliche Arbeit gehört nicht dazu, einen aus Kupfer getriebenen Gegenstand, eine Schale, Vase, Urne, Schüssel oder Thierfigur mit einer großen Anzahl von feinen gelben Drähten, die in Kreisen, Ovalen, Vierecken, Schlangenlinien etc. darauf gelöthet werden, zu schmücken, alsdann auf das Kupfer und in die wie gelbe Grenzlinien glänzenden Drahtfiguren die Emailmasse je nach der Wahl der dazu bestimmten Farben einzufügen, das Ganze zu brennen und hernach zu schleifen und zu poliren! In diesen Cloisonnés verdient Japan den Vorzug, denn in diesem Lande kennt man das selbst für China noch undurchdringliche Geheimniß, die Masse, statt sie aufzulöthen, durch einen gewissen Pflanzensaft so fest auf den Kupfergrund zu kleben, daß alle nachherigen Arbeiten den Zusammenhang nicht stören. Man ahmt diese Cloisonnéarbeiten in Europa auch nach, aber ohne die Güte der asiatischen zu erreichen und zu viel theureren Preisen.

Allgemein bekannt sind die chinesischen und japanesischen Porcellane, unter denen an Werth die mächtigen vier bis sechs Fuß hohen bemalten Vasen obenanstehen. Wer die unendlichen Schwierigkeiten kennt, welche das Brennen so großer Porcellanmassen verursacht – in Folge dessen ja auch die Majolika-Industrie, das heißt die Herstellung gebrannter thönerner Gegenstände mit Porcellanglasur, entstanden – dem werden in der Form tadellose chinesische und japanesische Porcellanvasen von der angedeuteten Größe einigen Respect einflößen, um so mehr, als auch hierin unsere europäische Industrie, so vollendet sie auch ist, nicht in der Billigkeit der Preise mit den Asiaten concurriren kann. Kleinere chinesische und japanesische Porcellane, wie Fruchtschalen, Zuckerschalen, werden gewöhnlich erst bei uns mit inländischer Montirung, Bronzefuß und Einfassung versehen, wie wir denn überhaupt bei vielen der echt chinesischen und japanesischen Artikel erst noch eine gewisse Europäisirung vornehmen sehen, welche sie unseren vielfachen gesellschaftlichen Bedürfnissen anpaßt; denn allerdings sind jene Gegenstände in ihrem Vaterlande ursprünglich nicht für alle die hunderterlei Dienste, zu denen wir sie hier bestimmen, angefertigt; es findet deshalb mit ihnen manchmal jene Art der Umwandlung statt, wie wir sie bei den Gegenständen des Hildesheimer Silberfundes so glücklich im Anpassen an unsere Bedürfnisse haben vornehmen sehen. Ja, man ist sogar einen Schritt weiter gegangen. Da es weder möglich ist, die so überaus billigen chinesischen und japanesischen Arbeitskräfte, noch auch die vorzüglichen oben angeführten Eigenschaften vieler von ihren Arbeiten hier in Deutschland einzubürgern, und da manche ihrer bizarren und originellen Formen sich nicht recht für unsere Gebrauchsverhältnisse eigneten, so hat die Berliner Geschäftsthätigkeit durch ihre Vertreter, welche sie an den Haupthandelsplätzen von Japan und China, wie Yokohama, Yeddo, Hiogo, Hongkong, Kanton und Tientsin hält, deutsche Formen und Zeichnungen, deutsche Muster und Modelle einführen lassen, und

[761]

Aus dem Thierleben der Alpenwelt.
Illustrationsprobe aus der Monatsschrift „Deutsche Jugend“.



der Erfolg war ein so glücklicher, daß wir jetzt in japanesischer und chinesischer Originalausführung und Billigkeit Gegenstände jeder Art, Schalen und Büchsen, Dosen, Documentenkasten, Schmuckschränke, Karten-, Boston-, Handschuhkasten etc. erhalten.

So sind auch die deutschen Formen schon theilweise bei dem chinesischen Porcellan eingebürgert, wenngleich sich die urchinesischen Zuschnitte in Schüsseln und Tellern, Tassen und Töpfen immerhin noch in ihrer ganzen originellen Reinheit erhalten haben, und wir leiden in der That keinen Schaden durch diese Verschwisterung heimischen Geistes mit fremdländischer Billigkeit und Vorzüglichkeit; es dient dieser Umstand im Gegentheil dazu, jene Sachen, die sich theilweise schon ein halbes Heimathsrecht bei uns erworben haben, immer mehr und mehr in unseren Kreisen einzubürgern. Von der Dauerhaftigkeit vieler chinesischer und japanesischer Sachen, namentlich der Cloisonnés, Lackwaaren, Kupferwaaren und Porcellane kann man sich beim Anblick der Antiken, die noch aus den Dynastien Taming, Kangtsé und Chienlung stammen, überzeugen. Diese Sachen vor Allem zeigen, daß auf echt chinesische Kunst und Kunstformen ein Zeitraum von etwa einem [762] halben Jahrtausend fast gar keinen Eindruck ausübt, denn dieselbe Originalität des Aeußeren, dieselbe Sauberkeit der Ausführung, dieselbe Form und Größe herrscht sowohl bei diesen werthvollen Antiken, deren Alter übrigens wohlverbürgt ist, wie bei den heutigen Sachen.

Die chinesischen Stoffe, namentlich Nanking und die durch die Mode vor einigen Jahren eingeführten Bastroben sind allbekannt, ebenso wie die chinesischen seidenen Cachenez, Shawls und Taschentücher, weniger bekannt mögen dagegen die grasleinenen, fast durchsichtigen Taschentücher, die in Seide gestickten Fächer und Kaminschirme, sowie die außerordentlich reich gestickten seidenen Tischdecken sein. Aber auch Deutschland und speciell Berlin leistet Hervorragendes auf dem Gebiete der Stickerei, und diese Erzeugnisse werden von den Fremden, als eine Specialität der deutschen Reichshauptstadt, gern in die ferne Heimath mitgenommen; darum wollen wir in dieser Hinsicht den langzöpfigen Söhnen Asiens keinen Vorrang einräumen.

Aber das wollen wir ihnen schließlich denn doch gern noch einmal zugestehen, daß viele von ihren Producten, ihre sämmtlichen lackirten Holzgegenstände, ihre Papier-Erzeugnisse, ihre Porcellane, ihre Elfenbeinschnitzereien bis jetzt an Billigkeit, Güte und Dauerhaftigkeit weder von uns, noch von irgend einer anderen Nation erreicht worden sind und daß, wenn der gute Einfluß, welchen deutscher Geist und deutsche Idee bereits bei manchen ihrer Fabrikate ausgeübt haben, sich so bewährt, wie wir es hoffen, beiden Ländern dadurch dauernd genützt werden wird.

Vorläufig aber wären wir dadurch wieder einmal eine Stufe weiter gelangt zu dem großen Endziele aller Handelsphilosophie: zur gegenseitigen Verschmelzung der nationalen Leistungsfähigkeiten der einzelnen Völker.




Helene.
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Fortsetzung.)


Moskau, den 17. April.

Frühlingswehen! Wie wohlthuend, wie erfrischend es heute mein Haupt berührt hat! Alle Kräfte in diesem Lande wirken so gewaltsam, die Contraste sind immer wieder da und oft überwältigend. Als ich am 26. Februar zum zweiten Male in die alte Zaarenstadt einzog, bescheiden genug in dem riesigen, von vier neben einander gespannten Pferden gezogenen Postwagen, hielt der Winter noch unerbittlich mit eisernen, eisigen Banden das Land gefesselt. Es war inmitten der Butterwoche, die den Fasten vorangeht und allen wunderlichen, geräuschvollen Volksbelustigungen gewidmet ist. Diese Volksmenge, die, in ihre Schafpelze eingehüllt, die Bärte von Eiszapfen starrend, sich zu den Belustigungen des Festes drängt und sich an Rutschpartie, Schlittenfahrten oder in der sich in schwindelnder Höhe drehenden Schaukel ergötzt, Branntwein trinkt und Blinnis (Pfannkuchen) ißt, bietet einen grotesken Anblick dar, der sich mir unvergeßlich eingeprägt hat.

In solchem Geräusche, in so buntem Getümmel auf der eisigen Hülle des Winters fand ich bei meiner Ankunft die alte „heilige“ Stadt, und heute – wie anders stellt sich Alles dar! Ich habe soeben eine wundervolle Spazierfahrt mit Frau Bamberger gemacht und muß sagen: es ist schön, dieses Moskau im goldenen Glanze der Frühlingssonne, die in Blitzfunken sich auf den seltsam, einer Zwiebel ähnlich geformten und vergoldeten Kuppeln des altehrwürdigen Kreml spiegelt. Ueber Moskau liegt heute eine feierliche, nicht einmal von einem Glockentone unterbrochene, ahnungsvolle Sabbathstille, denn es ist Ostersonnabend. Mit dem Schlage Mitternacht wird die große Glocke des Kreml im Thurme Iwan’s Weliki, die nur dieses eine Mal im Jahre ihre eherne Stimme mächtig erhebt, das Osterfest ankündigen.

Donnerstag Morgen haben wir in der Erlöserkirche der großen Ceremonie der Fußwaschung beigewohnt. Nachmittags sind in allen Kirche die zwölf Evangelien gelesen, und nach Beendigung dieser Feier strömten aus allen Gotteshäusern die Andächtigen hervor, deren Jeder noch die brennende Kerze trug, welche die Zuhörer bei der Vorlesung flehend in der Hand gehalten.

Gestern, als am Charfreitage, hat man feierlich die Grablegung in den Kirchen begangen, und heute ist gleichsam die Ruhe des Todes an die Stelle alles Festgepränges getreten, um bis Mitternacht zu währen, wo die Auferstehungsglocken rufen werden.

Bamberger’s, die vom ersten Tage meines Hierseins an sich in Freundlichkeiten gegen mich erschöpfen, haben die Einladung einer russischen Familie, in der Osternacht mit ihnen der Kirchenfeier beizuwohnen, einzig und allein meinetwegen angenommen, weil sie mir die Gelegenheit verschaffen wollten, das Fest kennen zu lernen.

Wie gut sind sie gegen mich! Wie wohl fühle ich mich in diesem Hause, wo man mich wie eine liebe Verwandte und nicht wie eine Fremde angenommen hat, zwischen Deutschen, wo ich fast nur die Sprache der Heimath höre, wo deutsches Familienleben herrscht und man von den Gebräuchen des Landes nur gerade diejenigen angenommen hat, welche dazu dienen, das Leben hier behaglich zu machen! Immer, wenn ich die Rede auf meine Abreise lenke, dringt Frau Bamberger in mich, an dieselbe vor der Hand nicht zu denken.

Trotz alledem, trotz aller freundlichen Eindrücke, welche mich die letzten unangenehmen Erlebnisse in Woronesch vergessen machen sollen, liegt es auf meinem Herzen wie ein schwerer Alpdruck. Die erquickende, milde Frühlingsluft heute hat mir wohlgethan, wie noch nichts vorher, das Fest mit seinen fremdartigen Kirchengebräuchen regt mich an und beschäftigt meine Geist, aber mit vollem Herzen bin ich doch nicht dabei, und nur um meine liebenswürdigen Wirthe nicht zu verletzen, gebe ich mir alle Mühe, meinen wirklichen Seelenzustand zu verbergen. Seit an jenem verhängnißvollen siebenundzwanzigsten Januar Hirschfeldt in solcher besorgnißerregenden Aufregung Abschied von mir nahm, habe ich nichts wieder von ihm gesehen noch gehört. Keine Zeile, obgleich er sich die Erlaubniß dazu erbat, hat er mir geschrieben. Wo mag er leben? Was mag aus ihm geworden sein? Diese Frage verfolgen mich im Wachen wie im Träumen mit quälender Angst. Soll ich niemals wieder etwas von ihm erfahren? Hat er mich ganz vergessen oder ist ihm ein Unglück zugestoßen –?

Ich mußte vorhin innehalten mit dem Schreiben; auf- und abwandernd in meinem reizenden Zimmer, dessen Fenster die prachtvollste Aussicht gerade auf den Kreml gewähren, habe ich versucht, Ruhe und Selbstbeherrschung wieder zu gewinnen. Was soll ich thun!? Vor mir liegt ein Brief meines jüngeren Bruders, der in Köln ein Handelsgeschäft begründet hat und mich mit Bitten bestürmt, dieses Land zu verlassen und zu ihm zu kommen an den heimathlichen Rhein. Unter anderen Verhältnissen, so sehr ich meine Selbstständigkeit liebe, würde ich wohl kaum die Kraft haben, ein so verlockendes Anerbieten auszuschlagen und doch – jetzt –?

Warum nur habt ihr es mir angethan und meine Seele in Fesseln geschlagen, ihr dunkeln, wunderbar blickenden Augen! Mein ganzes Sein sträubt und empört sich gegen die fremde Gewalt, die meinen Willen unterjochen, meine Thatkraft lähmen möchte. Vielleicht ist der Brief meines Bruders ein Fingerzeig von oben, mit dessen Hülfe es mir gelingt, die verlorene Energie wiederzugewinnen, und er soll nicht lange mehr unbeantwortet bleiben. Einen Entschluß muß ich fassen, denn so gütig Bamberger’s mir begegnen, es würde meiner Natur widerstreben, ihre Gastfreundschaft durch unbegrenztes Ausdehnen meines Besuches zu mißbrauchen.


Den 18. April.

„Christ ist erstanden.“ Im ganzen russische Reiche, von Nord bis Süd, ruft heute Jeder diesen Festgruß freudig dem Andern zu, der ihm den Bruderkuß darauf nicht schuldig bleibt. „Er ist wirklich erstanden“, tönt es Antwort von allen Seiten.

Alles beglückwünscht sich; überall sieht man frohe Gesichter; überall herrscht Feststimmung. Ich habe meine Hausgenossen, welche ausgefahren sind, um sich des schönen Wetters zu erfreuen und das muntere Treiben in den Straßen anzusehen, gebeten,

[763] mich allein zurückzulassen. Sie sind in dem Wahne gegangen, daß die ungewöhnliche Anstrengung der Nacht mich zu sehr ermüdet habe, und jetzt bin ich allein mit meinem ungestüm pochenden Herzen und suche es, wie so oft schon, durch Niederschreiben des Erlebten zu beruhigen.

Wir fuhren in die Erlöserkirche, bekanntlich eine der prachtvollsten und größten der ganzen Stadt. Das Innere des mächtigen Gebäudes strahlte in feenhafter Beleuchtung. Der Glanz Tausender und aber Tausender von Lichtflammen warf seine funkelnden Reflexe auf die Ornamente, Säulen und Mosaiks, die man nirgends so prachtvoll sieht, wie in Rußland. Der Kaukasus und Ural liefern zu diesem Schmucke der Kirchen ihre mannigfach gefärbten Steinarten, vom glänzend tiefblauen Lapis-Lazuli bis hinab zum sanft grünen Malachit und schneeweißen oder in den verschiedensten Nüancen geäderten Marmor. Wie strahlten im Glanze der Lichter die von Gold, Edelsteinen und Perlen starrenden Heiligenbilder, die man an solch einem hohen Festtage möglichst überdeckt mit all’ den Schätzen an edeln Metallen und Steinen, die in den russischen Kirchen aufgehäuft sind, wie fast an keinem Orte der Welt!

Der Priester tritt in reich geschmückten, glänzenden Festgewändern mit seinen Gehülfen hinter dem Vorhange, der das Allerheiligste verdeckt, hervor und zwischen die hohen, zu beiden Seiten aufgestellten Leuchter mit den riesigen Wachskerzen, er erhebt die Hand zum Segen über die nach Tausenden zählende Versammlung. Feierliche, erwartungsvolle Stille! Fast der Hauch des Athems ist hörbar, bis langsam um Mitternacht die Uhr ihre zwölf Schläge hören läßt. Augenblicklich fällt das Geläute sämmtlicher Glocken ein, wozu die Riesenglocke des Kreml das Signal giebt, und im vollen, vielstimmigen Chore braust der Oster-Hymnus durch das Gotteshaus. Bei dem orthodox-griechischen Cultus fehlt alle Musik, selbst die Orgel, und es ist daher der Kirchengesang zu einer so wunderbaren Vollkommenheit ausgebildet worden, daß Alle, die ihn nicht gehört haben, sich schwerlich einen Begriff davon machen können. Mich riß er vollständig hin. Ich vergaß, wo ich war, vergaß, daß ich, die Tochter eines fernen Landes, einer anderen Religion, hier unter Fremden stand. Mit den Uebrigen niederknieend, das Haupt geneigt, glaubte ich den Chor der lobpreisenden Engel zu vernehmen, den jubelnden Lobgesang, der über die Welt dahinrauscht, allen Seelen das hohe Wunder zu verkündigen, welches zu ihrem Heile geschehen ist.

Bis zwei Uhr dauerte der wunderbare nächtliche Gottesdienst. Unmittelbar nachdem der Geistliche den letzten Segen gesprochen, wandte er sich glückwünschend zu dem nächsten seiner andächtigen Zuhörer, dem er das Osterei reichte, und seinem Beispiele folgten in der kommenden Minute sämmtliche Anwesende.

„Christ ist erstanden,“ tönt es von Mund zu Mund, und Niemand, die Damen nicht ausgenommen, darf auf das Erschallen dieses Festgrußes die Wange zum Kusse weigern. Von Hand zu Hand gehen die vielfach verzierten, bunt bemalten Ostereier. Die Zeit der Todesruhe, der Enthaltsamkeit, der andächtigen Beschaulichkeit ist wie mit einem Schlage vorüber. Der Festmorgen ist angebrochen, und jetzt gilt es, für die lange streng beobachteten Fasten sich in jeder Weise schadlos zu halten. Man muß an diese grellen Contraste gewöhnt sein, um sich hineinzufinden. In meiner Seele zitterten noch die Weiheklänge der Osterbotschaft zu lebhaft nach, als daß ich von dem plötzlich mich umgebenden Festtrubel nicht hätte verletzend berührt werden sollen. Ich sehnte mich fort, doch ein prüfender Blick auf das endlose Gedränge belehrte mich, daß an Erfüllung meines Wunsches noch nicht zu denken sei.

Mit einem Gefühle ängstlicher Beklommenheit sah ich mich gezwungen, von Minute zu Minute in landesüblicher Weise Glückwünsche zu empfangen und zu erwidern. Um mich dieser mir peinlichen Sitte möglichst zu entziehen, ließ ich wie verloren meinen Blick über das Gewühl hingleiten, als plötzlich – unwillkürlich umklammerte ich mit der Hand Frau Bamberger’s Arm, die sich erschrocken zu mir hinwendete.

„Was ist Ihnen nur, meine Liebe?“ fragte sie ängstlich. „Sie sehen zum Erschrecken blaß aus. Die schwüle Luft betäubt Sie.“

Ich neigte zustimmend den Kopf. Um nichts in der Welt hätte ich sie den wahren Grund meiner augenblicklichen Fassungslosigkeit ahnen, hätte ich sie entdecken lassen mögen, was mich innerlich bewegte.

Ich hatte ihn gesehen – Hirschfeldt. Schön und lebensfrisch, wie in seinen besten Tagen, stand er in einer Gruppe von Damen und Herren, mit denen er sich lebhaft unterhielt, als unsere Blicke sich plötzlich begegneten und er wie verwirrt das Gespräch abbrach. Das war nur eine Secunde – dann war vor meinen Augen Alles wie ein Traumbild verschwunden.

Willenlos ließ ich mich von Frau Bamberger weiterführen, indem ich nur versuchte, sie mit leisen Worten zu beruhigen, ihr zu sagen, daß mir bereits wieder wohl sei. Um keinen Preis durften wir Aufsehen erregen. Sie war übrigens durchaus nicht verwundert; ohnmächtige Damen sind bei der Osterfeier, in der von Weihrauch schweren Luft, keine ungewöhnliche Erscheinung. So weit ich im Grunde von einer solchen Schwachnervigkeit entfernt bin, ließ ich diesmal den Verdacht ruhig über mich ergehen, und es bewirkte wenigstens das Gute, daß meine freundliche Beschützerin energisch strebte, mit mir aus dem Gewühl in’s Freie und nach Hause zu gelangen.

Ich fühlte mich unendlich erleichtert, als wir, wieder daheim gekommen, noch einige Stunden der Ruhe vor uns hatten. Wenn auch keinen Schlaf, so fand ich doch jetzt, von allem Zwang befreit, hinreichend Zeit, ohne Störung über das Erlebte nachzudenken.

„Er ist hier; er ist vollkommen wohlauf, aber er hat keinen Augenblick gefunden, um sich nach mir zu erkundigen“ – das ist der Grundgedanke, der sich mir aus allen anderen mit beißender Schärfe immer wieder herausschält, und er hat mich während der bitteren Stunden dieses Morgens von allen Zweifeln, von ich weiß nicht welchen widersinnigen Hoffnungen, die ich halb unbewußt vielleicht doch noch in einem Winkel meines Herzens nährte, geheilt. Der Brief an meinen Bruder liegt vollendet vor mir; in einigen Wochen werde ich bei ihm sein und in der deutschen Heimath hoffentlich den verlorenen Seelenfrieden wiederfinden. Ich will – –

Spät Abends.

Ja, was wollte ich doch? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, daß, als meine Feder das Wort niedergeschrieben hatte, ich durch einen anmeldenden Diener unterbrochen wurde, der, bei mir eintretend, einen Namen aussprach, welcher in dem Augenblick, da ich ihn vernahm, so lähmend auf mich wirkte, daß ich nicht die Kraft zu irgend welcher Erwiderung fand. Ich winkte nur zustimmend mit der Hand, und zwei Minuten darauf stand der Träger jenes Namens auf der Schwelle des Empfangzimmers mir gegenüber.

Blühend, frisch, mit einem strahlenden Lächeln und doch ein wenig unsicher näherte er sich und streckte mir die Hand entgegen. Ich drückte die meinige fest an mich, denn die zwei Minuten hatten genügt, mir meine Besinnung zurück zu geben und meinen Stolz zu wecken. „Es freut mich, Herr Hirschfeldt,“ sagte ich in dem Tone, mit dem man wohl einen guten Bekannten empfangt, „hier in Moskau wieder mit Ihnen zusammen zu treffen.“

Er wich zurück, in seinen Augen eine erschrockene Frage.

„Ich glaubte,“ fuhr ich unverändert fort, „Sie mit meinen Gedanken weit eher in Petersburg suchen zu müssen.“

„Ich bin auch dort gewesen,“ erwiderte er langsam und halb zerstreut, wie ein Mensch, der, wesentlich von anderen Gedanken in Anspruch genommen, sich erst auf das besinnen muß, was er sagen will.

„Und jetzt? Aber bitte, möchten Sie nicht zuvor Platz nehmen? Werden Sie jetzt längere Zeit hier in Moskau bleiben?“

Er schob den Sessel, auf den ich hingedeutet hatte, mit hastigem Rucke bei Seite und stand im nächsten Augenblick nahe vor mir, bleich, rasch athmend. „Helene,“ fragte er und sah mich unbeschreiblich traurig an, „Fräulein Helene, warum sprechen Sie zu mir wie zu einem alltäglichen Bekannten, der einmal so ganz zufällig Ihren Weg gekreuzt hat? Blieb mir denn nicht das Versprechen Ihrer Freundschaft wenigstens?“

Ich gab mir alle erdenkliche Mühe, ihm mit äußerlich bewahrter Ruhe und durchaus in dem vorhin angeschlagenen Tone zu erwidern. „Es kann wohl nicht Ihr Ernst sein, sich auf eine Freundschaft zu berufen, die während der verflossenen [764] Wochen, ja Monate Sie nicht einmal bewegen konnte, mich durch eine Zeile von Ihrem Ergehen zu benachrichtigen, und doch,“ fügte ich, jedes Wort langsam betonend, hinzu, „doch wäre das nach unserer letzten Trennung vielleicht nicht zu viel Rücksicht gewesen. Das Vergnügen Ihres heutigen Besuches verdanke ich doch wohl nur der zufälligen Begegnung dieser Nacht.“

Hirschfeldt wurde womöglich noch um einen Schatten bleicher. Ich sah, wie er die Hände zusammenpreßte. In seinen Augen verrieth sich, plötzlich aufflammend, eine heftige Bewegung. „Wollen Sie mir gestatten, Helene,“ sagte er und bemühte sich vergebens, seiner Stimme Festigkeit zu geben, „Ihnen zu erklären, warum ich nicht geschrieben habe, warum ich Ihnen nicht schreiben konnte?“

Ich erwiderte keine Silbe, vermochte mich aber nicht von jenen wie mit magnetischer Gewalt auf mich gerichteten Blicken loszureißen.

„Es war mir unmöglich,“ nahm der junge Mann tief aufathmend wieder das Wort, „Ihnen im sorgfältig berechneten Tone kühler Freundschaft zu schreiben, Helene, weil – – ich Sie liebe.“

Ein Schauer überlief mich, mein Athem stockte, und willenlos preßte ich die Hand auf’s Herz. Hatten denn wirklich meine Ohren mich nicht getäuscht!? Einen Moment, nur ein paar Secunden schloß ich die Augen, dann siegte die Kraft meines Willens auch über diesen Anfall von Schwäche.

„Spielen wir keine Komödie miteinander!“ stieß ich mit fast übermenschlicher Anstrengung heraus. „Unter uns wäre das wohl am wenigsten angebracht.“


(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Ein immergrünes Blatt für die Jugend. (Mit Abbildung, S. 761.) „Beisammen sind wir Alle. Was treiben wir nun?“ Das ist nicht selten die Frage Abends am kindergeschmückten Familientische, und sie ist nicht immer leicht zu beantworten, denn die Ansprüche an Unterhaltung sind so verschieden, wie die Alters- und Bildungsstufen all’ der lieben Leutchen, die da beisammen sitzen. Und doch ist Harmonie für alle Wünsche möglich, wenn von oben her die schönste, die Herzensbildung gepflegt wird, welcher es die höchste Freude ist, sich an der Freude des Andern zu erfreuen. Die liebste Familienfreude kann aber keine andere sein, als die an den Kindern, und so ist die liebste Sorge die für ihre Geistes- und Herzensbedürfnisse. Wo aber sucht man sie anders als im Buch- und Bilderladen? „Bilder- und Geschichtenbücher“, danach verlangt Jung und Alt. Zu den „Geschichten“ gehört von Haus aus Alles, was nicht „Bild“ ist, also auch Märchen, Sagen, Fabeln und das große Allerlei in Prosa und Reim. – Eine Zuckerdüte ist gewiß in aller Kinder Augen eine gute Gabe Gottes, aber wenn auf die Frage des Kindes: „Hast Du mir was mitdebingt?“ der Vater antworten kann „Ja, mein Kind, ein Bilderbuch“ – so wird der Zuckerdütenjubel um das Zehnfache überstiegen. Fühlt nicht Jeder selbst im alten Herzen die Freude noch nachklingen über das erste Bilderbuch?

Trotz aller Freude der Ueberraschung bleibt aber schon beim Kinde die Kritik über das Buch nicht aus, wenn sie sich auch nicht in Recensionen Luft macht. Wie das Kind, nach tausendfältigen Erfahrungen der Mütter, ganz genau erkennt, wer es wirklich lieb hat und nicht blos so thut, wie es fremden Personen gegenüber gar bald seine Aermchen öffnet oder seine Abneigung zu erkennen giebt, ebenso nehmen die „Schicksale der Bücher“ schon ihren Anfang beim Kinde. Das rechte Bilderbuch bleibt, wie das rechte Spielzeug, dem Kinde lieb, auch wenn es nach und nach noch so beschmutzt und zerrissen ist, ja dann erst recht. Es kann’s vielleicht über Anderes und Neues eine Zeitlang vergessen, aber es sucht und greift immer wieder danach. Selbst die feinsten Bilderbücher, welche von den Eltern sorgfältig aufbewahrt und nur bisweilen, wie Zucker, gegeben werden, lassen sie gleichgültig, wenn kein Herz aus ihnen zu den Kindern spricht: sie bleiben „Zucker“ und werden nie tagtäglich labendes Brod.

Wie wird aber solches Brod gemacht? Nicht am Schreibtisch allein. Die beste Anleitung dazu geben die Kinder selbst, das Beste ist ihnen immer abgelauscht worden. An der Art und Weise, wie die Kinder einander selbst erzählen ist allein die höchste Einfachheit der Darstellung zu studiren. Aber noch mehr, das Kind hat seinen eigenen und sehr kleinen Kreis der Anschauungen und Vorstellungen. Dieser darf nie überschritten werden, wenn das Kind an dem Erzählten oder bildlich Dargestellten Freude durch Verständniß desselben haben soll. Endlich verlangt die eigenthümliche kindliche Logik Beachtung – genau wie die Volkslogik bei Werken der Volksdichtung, ganz besonders in den Volksmundarten. Dem Kind, wie dem Volk, darf nichts Anderes in den Mund gelegt werden, als was sich innerhalb seines Gesichtskreises befindet und wie es seiner Denkfähigkeit entspricht.

Bis zum vierten und noch fünften Jahr ist das Kind weit mehr Gegenstand erheiternder Darstellung für die Alten, als daß ihm selbst viel dargestellt werden könnte. Ihm gehört das Bilderbuch und der mündliche Erzähler. Aber die bei und an ihm gemachten Studien kommen bei der folgenden höheren Stufenreihe zur Geltung. Mit raschem Uebergange nämlich, nach wenigen Schuljahren, kommt bei den Kindern die Leselust, die bis zur Lesewuth sich steigern kann. Jetzt geht ihnen das Thor der „Jugendschriften“ auf. Der Andrang des Gebotenen ist stark, die Kritik schwerer. Dennoch hat auch diese Jugend ihre Lieblinge, und man wird finden, daß es Diejenigen sind, welche nicht blos durch Wort oder Bild den Gesichtskreis derselben erweitern, sondern Verstand und Gefühl mit gleicher Klarheit und Wärme zu packen verstehen. Für die Wahl der Gegenstände breitet sich mit jedem Jahre vorwärts ein größeres Feld aus, aber immer wird es das Wie, die Art der Darstellung bleiben, wodurch magnetische Kraft in ein Jugendbuch kommt.

Trotz der außerordentlichen Fruchtbarkeit der Presse auf diesem Gebiete ist die Zahl der Lieblinge der Kinderwelt nicht bedeutend. Die Kunst hat in dieser Beziehung die Literatur überflügelt, offenbar weil die Künstler ihre Bilder meistens dem Leben ablauschen, während nur gar zu viele Schriftsteller zu viel aus sich und zu wenig aus der Kinderwelt schöpfen. Bietet nun schon die Herstellung eines guten Buches für die Jugend so große Schwierigkeiten, um wie viel mehr eine Zeitschrift, welche es sich zur Aufgabe stellt, eine „Jugend- und Familien-Bibliothek“ zugleich zu bieten. Dies geschieht von der aus dem gediegenen Verlage von Alphons Dürr in Leipzig hervorgehenden, in Monatsheften erscheinenden Zeitschrift „Deutsche Jugend“.

Um seinen jungen Freunden von allen Jahresstufen das ihnen Gehörige aufzutischen und in Wort und Bild nur Gutes, ja womöglich nur das Beste zu leisten, hat der verdiente Herausgeber die redactionelle Leitung in eine literarische (Julius Lohmeyer) und artistische (Oscar Pletsch) geschieden und als Hauptrubriken des Inhalts festgesetzt: Erzählungen, Märchen und Fabeln; Geschichts- und Naturbilder; Gedichte, Balladen und Lieder; endlich Vermischtes. Da ferner die Verlagshandlung den ernsten Willen und die Mittel hat, nur die auf diesem Felde bewährtesten Schriftsteller und Künstler an ihr Unternehmen heranzuziehen, so mußte wohl ein Werk zu Stande kommen, das dem deutschen Verlage und der illustrirten Literatur zur Ehre gereicht, und es verdient, der deutschen Familie als ein Schmuck des Abendtisches von dauerndem Werthe, der namentlich unter den Tannenbäumen des nächsten Weihnachtsfestes nirgends fehlen sollte, ganz besonders empfohlen zu werden.

Für die Vortrefflichkeit der technischen Ausführung der Illustrationen mag die beistehende Abbildung zeugen.




Die freien Hülfscassen und der Reichstag. Zu Anfang der Herbstsession des Reichstages kommt die gesetzliche Regelung des Hülfscassenwesens auf die Tagesordnung. Da das Reichskanzleramt zu diesem Behufe sorgfältige statistische Erhebungen über die Zwangscassen angeordnet hat, während eine gleiche Sorgfalt für die Tausende von freien Kranken-, Sterbe-, Invaliden-, Altersversorgungs-, Wittwen-, Waisen-, Aussteuer- und anderen Hülfscassen unterlassen worden, dadurch aber ernste Gefahr für die Existenz oder wenigstens die gedeihliche Entwickelung der letzteren hervorgerufen ist, so macht es sich dringend nothwendig, dem Reichstage und der Oeffentlichkeit eine statistische Uebersicht der gesammten freien Hülfscassen des deutschen Reiches am Schlusse des Jahres 1874 zu überreichen.

Ein Verein von bekannten Volksvertrauensmännern fordert deshalb die „Vorstände aller auf genossenschaftlicher Selbsthülfe beruhenden Hülfscassen“ zur Beantwortung folgender Fragen auf:

1.) Welchen Namen führt die Casse? 2) Wo besteht dieselbe? 3) Wann ist dieselbe gegründet? 4) Besteht gemeinsame Mitgliedschaft oder Vereinigung mit einer anderen Gesellschaft und mit welcher? 5) Welche Art Unterstützungen gewährt die Casse? 6) Wie viel Mitglieder hatte sie Ende 1874? 7) Wie viel Einnahmen im Jahre 1874? 8) Wie viel Ausgaben im Jahre 1874? 9) Welchen Vermögensbestand 1874?

Die Beantwortung dieser Fragen wird mit Datum und Unterschrift mindestens eines Vorstands- oder Ausschußmitgliedes oder Cassenbeamten versehen und muß, wenn sie dem sehr wichtigen Zweck der Sache dienen soll, spätestens bis zum 10. November an den Anwalt der deutschen Gewerkvereine, Dr. Max Hirsch, Berlin SW, Bernburgerstraße 13, eingesandt werden.




Kleiner Briefkasten.

M. St. in R. Wenn wir auch dem „Römerzuge“ Kaiser Wilhelm’s mit großer Sympathie gefolgt sind, so dürften wir doch im Hinblick auf die zeitraubende Herstellungsweise unseres Blattes und den Umstand, daß alle Tagesblätter bereits eingehende Berichte über die Tage von Mailand gebracht haben, mit einer solchen Schilderung allzu sehr post festum kommen. Uebrigens gehören derartige Themata aus der Geschichte der Gegenwart, die wir nur in einzelnen Momenten berücksichtigen können, vorwiegend in’s Bereich der Leipziger Illustrirten Zeitung, die ihre Mission, eine Chronik der Zeit zu sein, mit so vielem Geschick erfüllt. – Auch die Errichtung des Berliner Stein-Denkmals, so freudig wir dieselbe begrüßen, glauben wir übergehen zu können, nachdem die Gartenlaube ihrer patriotischen Verehrung des großen Freiherrn durch eine Reihe von Artikeln über Stein’s Leben (Jahrgänge 1855 und 1859 mit Portrait) und sein Denkmal bei Nassau (Jahrgänge 1868 und 1872 mit Abbildungen) bereits hinlänglich genügt haben dürfte.

Springbrunnen! Auf die große Menge von Springbrunnen-Anfragen (circa 500) in nächster Nummer die Antwort.