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Die Gartenlaube (1875)/Heft 44

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[729]
Helene.
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Fortsetzung.)


Der Schreck raubte mir nahezu die Kraft, ihm auch nur ein Wort zu erwidern, und doch begriff ich, daß ich meine Besonnenheit nicht verlieren durfte.

„Wir sind hier ganz ungestört,“ sagte ich mit einer Stimme, deren Beben zu unterdrücken mir unmöglich war. „Kommen Sie in jene Fensternische! Es wird uns Niemand stören.“

Ich hatte, während ich sprach, meine Hände leise aus den seinigen gezogen; ich ging ihm voran, setzte mich auf einen kleinen Sessel in der erwähnten Nische und winkte meinem Begleiter, mir gegenüber Platz zu nehmen, aber er schien viel zu erregt dazu. Er wanderte ruhelos vor mir auf und ab und konnte sichtlich das befreiende Wort nicht finden. Was mochte nur vorgefallen sein, um ihn seiner gewohnten Selbstbeherrschung zu berauben?

„Was ist geschehen?“ begann ich nochmals. „Beruhigen Sie sich, mein Freund, und sagen Sie mir Alles!“

Er trat plötzlich zu mir, und über seine zuckenden Mienen glitt es wie ein flüchtiger Sonnenblick.

„Ihre Stimme schon,“ sprach er, „Ihre milde, ruhige Stimme ist wie das leise, besänftigende Wehen des Windes gegenüber dem tobenden Sturme, der alle Tiefen meiner Seele aufwühlt. Ja, Helene, ich will fügsam und geduldig sein wie ein Kind und Ihnen Alles berichten. Haben Sie nur ein wenig Nachsicht mit mir, denn wenn auch Sie – doch hören Sie! Kein unnützes Wort mehr!“

Er stand gegen das Fenster gelehnt. Sein Blick schweifte secundenlang über die melancholische Schneelandschaft hinaus, die sich jenseits der krystallklaren Scheiben kalt und todt ausbreitete. Er schien nach Fassung zu ringen.

„Sie können sich denken,“ fuhr er fort, die Augen langsam mir wieder zuwendend, „in welcher peinlichen Unruhe die letzten Tage mir hingegangen sind. Auch diesen Morgen durchschritt ich nach einer schlaflosen Nacht, müde im Herzen, mein Zimmer, als plötzlich die Thür hastig geöffnet wurde. Ich glaubte, der Hereintretende sei mein Diener, und hielt es kaum der Mühe werth, mich nach ihm umzusehen. Als ich es dennoch that – wie könnte ich Ihnen schildern, wie es mich durchfuhr! – stand mir gegenüber auf der Schwelle – Constantin Feodorowitsch.“

Noch jetzt, indem er den Namen aussprach, erblaßte Hirschfeldt. Ich preßte athemlos die Hand auf mein heftig klopfendes Herz und las ihm buchstäblich die Worte von den Lippen.

„Aber nicht der Constantin, den Sie kennen,“ setzte er seinen Bericht fort, „dessen schlanke Gestalt Sie stets nur in der gewähltesten Toilette gesehen haben, dessen schönes, kaltes Gesicht, wenn Sie es erblicken, nie die Maske gesellschaftlicher Convenienz fallen läßt. So wie er vor mir stand, zeigte sein Anzug alle Spuren der Unordnung und Vernachlässigung: das Halstuch fehlte trotz der Kälte ganz; sein Haar hing unfrisirt über die finster gefaltete Stirn herab; sein Antlitz legte Zeugniß ab von heftigen, kaum überstandenen Seelenkämpfen.

‚Mein Herr,‘ stieß er in eisigem Tone hervor, ‚ich habe nothwendig mit Ihnen zu reden.‘

‚Erklären Sie sich!‘ antwortete ich, gegen den mich innerlich lähmenden Schreck mühsam kämpfend.

‚,Nicht hier – ich muß vor jeder Störung sicher sein.‘“

„Ich öffnete,“ fuhr Hirschfeldt, in dessen Zügen sich alle Eindrücke der aufregenden Scene lebhaft widerspiegelten, fort, „ohne ein Wort der Erwiderung die Thür zu meinem Schlafzimmer, und als auf meine stumme Einladung Constantin es ablehnte, voranzuschreiten, that ich es. Mein unheimlicher Gast folgte mir und schloß hinter uns die Thür zu, schweigend ging er dann an den Tisch, zog aus seiner Tasche einen Revolver und legte ihn vor sich nieder.

‚Sehen Sie diese Waffe?‘ sagte er immer noch mit seiner entsetzlichen Ruhe. ‚Jeder Lauf derselben ist mit zwei Kugeln geladen, und ich gebe Ihnen mein Wort: Einer von uns Beiden wird nicht lebend das Zimmer verlassen, wenn Sie sich weigern, das zu thun, was ich von Ihnen verlange. Aber seien Sie ruhig!‘ fügte er mit einem seltsamen Heben der Lippen hinzu, ‚ich werde nicht Sie erschießen, sondern mich, und man wird meinen Leichnam hier, in ihrer Wohnung finden.‘“

Der Erzählende hielt einen Augenblick, wie um Luft zu schöpfen, inne. Jeder Blutstropfen hatte, indem Hirschfeldt das Geschehene gleichsam noch einmal durchlebte, sein Antlitz verlassen; seine Hände ballten sich zuckend. „Sie müssen zugeben, daß der Plan mit teuflischer Berechnung ersonnen war,“ begann er seinen Bericht auf’s Neue, „und ich las in den Zügen des bleichen Mannes vor mir, der seine schlanke, weiße Hand keinen Augenblick von der Mordwaffe entfernte, daß er ihn buchstäblich zur Wahrheit machen würde.

‚Was wollen Sie von mir?‘ fragte ich entsetzt.

‚Ich weiß jetzt Alles,‘ sagte Constantin. ,Wéra hat mir Alles bekannt. Lesen Sie!‘

[730] Er reichte mir einen Papierstreifen, auf dem mit halbverwischten Buchstaben geschrieben stand: ‚Ich habe mich meinem Bruder anvertraut; thue, was er von Dir verlangt! Wéra.‘

Obgleich die Schriftzüge, mit zitternder Hand hingeworfen, kaum lesbar waren, erkannte ich sie nur zu gut. Fragend richtete ich den Blick auf das stolze, unbewegliche Gesicht mir gegenüber, während eine plötzlich auftauchende Ahnung mich innerlich empörte. O, warum, warum hatte nicht ich eine gleich tödtliche Waffe in der Hand, wie er!

,Meine Schwester hat die Unbesonnenheit gehabt,‘ erwiderte mein Gegner auf die stumme Frage, immer mit der gleichen eisigen Entschlossenheit, ,Ihnen eine Menge Briefe zu schreiben. Diese befinden sich noch in Ihren Händen und damit die Ehre, die ganze Zukunft Wéra’s. Ich verlange, daß Sie mir dieselben ausliefern.‘

Unsere Blicke trafen einander in diesem Augenblicke sprühend, kalt und hart wie Stahl. Und, Helene“ – Hirschfeldt ergriff meine Hand in krampfhafter Erregung – „auf die Gefahr hin, daß Sie mich mit Ihrer Verachtung strafen, Sie sollen ein volles, rückhaltloses Bekenntniß von mir empfangen; der Dämon in mir erwachte. Man sollte mit Gewalt und List nicht einen Sieg über mich gewinnen; ich sprach, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Lüge aus. Ich sagte: ,Die Briefe, Wéra’s Briefe sind längst sämmtlich vernichtet.‘ Aber – die Wirkung meiner Worte war eine andere, als ich erwartet hatte. Die gleichsam in Constantin’s Zügen versteinerte Ruhe löste sich; es zuckte darüber hin wie ein Strahl warmen Lebens, während seine Blicke noch immer mit Adlerschärfe, aber nicht mehr mit dem gleichen Hasse, an den meinigen hafteten.

,Alle vernichtet?‘ wiederholte er halb erstaunt, halb fragend, ‚Alle?‘

Wéra’s Bruder stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, der, aus tiefster Seele kommend, fast einem Schrei glich, und plötzlich stürzte er auf mich zu, fiel mir um den Hals und rief in leidenschaftlicher Erregung: ,Sie haben diese Briefe zerstört; Sie wollten also keinen unwürdigen Gebrauch davon machen, wie ich fürchtete; Sie sind nicht der Elende, für den ich Sie hielt – o, verzeihen Sie, daß ich Sie verkannt habe!‘ Was ich in diesem Augenblicke empfand, wie erbärmlich ich mir selber erschien dem Vertrauen dieses stolzen Herzens gegenüber, in welchem die Idee an eine Täuschung meinerseits nicht einmal auftauchte – wie könnte ich es in Worten ausdrücken!

‚Constantin Feodorowitsch,‘ sagte ich, schob ihn leise zurück und sah ihm fest in die Augen, ,die Briefe sind nicht zerstört.‘ Mit weit geöffneten Augen, aus denen der Schrecken leuchtete, starrte er mich an.

,Gedulden Sie sich einen Augenblick!‘ fügte ich hinzu. ,Von der Minute an, da Sie mir nicht mehr drohend gegenüber stehen, habe ich Ihnen auch nichts mehr vorzuenthalten oder zu verheimlichen.‘

Ich ging an meinen Schreibtisch, nahm aus dem verborgensten Fache desselben ein Packet, zündete eine Kerze an und kehrte zu meinem Gaste zurück.

,Hier, lesen Sie!‘ Ich hatte das erste der zierlichen Billete, die das Packet enthielt, mit den Augen überflogen und reichte es dann Constantin. Als auch er gelesen, hielt ich es an die Flamme der Kerze, die es bis auf ein winziges Atom schwarzer Asche verzehrte, und so weiter – weiter, bis das letzte der feinen Blättchen ein Raub des gierigen Elementes geworden war, welches in dem kurzen Zeitraume einer Viertelstunde so viele Versicherungen ewiger Liebe und Treue vernichtete.“

Ein Ton unendlicher Bitterkeit durchbebte die Stimme des Erzählenden bei diesen letzten Worten, und die Augen mit der Hand beschattend, verharrte er in düsterem Schweigen, während unsägliche Spannung fast meinen Pulsschlag stocken machte. Ich hätte ihm gern ein Wort der Theilnahme gesagt, aber ich brachte es nicht über die Lippen. Nach wenigen Augenblicken schon hatte Hirschfeldt die momentane Schwäche überwunden. Er strich das Haar von der Stirn, athmete tief auf und fuhr rasch fort, als dränge es ihn, in seinem Berichte vorwärts zu kommen:

„Ich stand ihm gegenüber; meine Arme hatten sich unwillkürlich ineinander verschränkt, und ich will es glauben, daß einiges von der Bitterkeit, die mir das Herz zusammenpreßte, finster auf meiner Stirn lag, als ich ihm sagte: ,Das war der letzte Brief, Constantin Feodorowitsch. Ihre Schwester kann ruhig schlafen und Sie auch – zu fürchten haben Sie mich nicht mehr.‘

Er sah mich an, lange, unaussprechlich traurig – ich hatte seine sonst so kalt blickenden Augen dieses Ausdruckes niemals für fähig gehalten. Endlich reichte er mir die Hand.

‚Sie sind doch ein edles Herz,‘ sprach er, ‚hören Sie mich an! Wenn vorhin mein Mißtrauen Sie beleidigt hat, so will ich Ihnen jetzt einen Beweis meines Vertrauens geben. Ich werde nichts mehr von Ihnen verlangen, ohne daß Sie alle Gründe dafür kennen. Kommen Sie und setzen wir uns! Ich will einmal denken, Sie seien mein Bruder, denn zum ersten Male in meinem Leben verlangt meine Seele nach einem solchen.‘ Ich that, wie er wollte, beinahe betäubt von seinen Worten, denn ihre ungewohnte Weiche, fast möchte ich sagen: Demuth weckte in mir die Ahnung von etwas Furchtbarem. Und ich sollte mich nicht täuschen.“

Hirschfeldt blickte um sich, wie um noch einmal die feste Ueberzeugung zu gewinnen, daß kein sterbliches Ohr uns belauschen konnte. Er war während seiner Erzählung in nervöser Unruhe mehrmals in meinem Zimmer hin und her geschritten, hatte sich gesetzt und war wieder aufgesprungen. Jetzt schob er einen Sessel neben den meinigen und begann, indem er sich darauf niederließ und sein Haupt dicht zu mir neigte: „Sie, Helene, müssen im Stande sein, mein Thun klar zu beurtheilen, und darum giebt es keine Gewalt im Himmel und auf Erden, die mich hindern könnte, Ihnen, Ihnen allein auf der Welt mitzutheilen, was ich erfahren habe. Indem ich es thue, lege ich meine Ehre in Ihre Hand, aber ich weiß, daß ich sie keiner sicherern Obhut anvertrauen kann.“

Vielleicht hätte ich seine Mittheilung, bei der es sich augenscheinlich um das Geheimniß eines Dritten handelte, zurückweisen sollen, aber meine Seele rang in dieser Stunde in zitternder Aufregung, als gälte es hier ein Urtheil über Leben und Tod zu vernehmen. Ueberdies: wußte ich nicht, daß keine Macht der Welt mir, was ich erfahren sollte, wieder über die Lippen bringen würde? Als Erwiderung auf die unausgesprochene Frage in meines Freundes Auge nickte ich leicht und legte meine Hand ruhig lächelnd in die seine, die er mir dargereicht hatte.

„Hören Sie, was ich durch Constantin erfahren!“ begann er wiederum. „Ich weiß nicht, ob Sie jemals davon gehört haben, daß seine Familie aus Polen stammt. Nun wohl, in dem Generale Adrianoff, seinem und Wéra’s Vater, hat das polnische Blut sich nicht verleugnen können. Trotz großer Auszeichnungen, mit denen der Kaiser ihn überhäuft, hat er sich in geheime Verbindungen eingelassen, von denen man sich in die Ohren flüstert, daß sie durch das ganze Reich verzweigt sind; er soll sich bei dem letzten Aufstande stark compromittirt haben. Seine und seiner Gemahlin lange, etwas räthselhafte Abwesenheit während dieses Winters erklärt sich dadurch. Es scheint mir sogar, als wäre er in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt worden, bis die vorläufig angestellte Untersuchung ein Resultat für oder gegen ihn ergeben hat. Mit dieser Untersuchung aber – und da liegt eben der Knotenpunkt der Verwickelung – ist von oben her Niemand anders betraut als Oberst Luschinoff, der für Wéra seit längerer Zeit schon bestimmte Verlobte. Constantin argwöhnt sogar, daß er sich eigens zu dem Amte gedrängt hat, um der Herrschaft über die Familie sicher zu sein, um den Widerstand zu brechen, den Wéra seinen glühenden Bewerbungen bisher entgegen gesetzt, und seine Absicht ist ihm nur zu gut gelungen.

Constantin wurde durch seine Mutter unterrichtet, daß die Beweise von seines Vaters Schuld in Luschinoff’s Händen sind. Ein Federstrich dieses Menschen wird genügen, die Familie zu vernichten und dem Elende preiszugeben. Für den General steht Freiheit, ja, vielleicht sein Leben, sein Vermögen, die Existenz seiner Familie, Alles auf dem Spiele, und Alles – kann seine Tochter retten, da Luschinoff sich bereit erklärt, in dem Augenblicke, in dem sie ihm ihre Hand bewilligt, die Beweise von ihres Vaters Schuld zu vernichten.“

Hirschfeldt hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: [731] „Bis hierher war Constantin in seinem Berichte gekommen, als es mir unmöglich wurde, ihn nicht zu unterbrechen. ‚Wie?‘ rief ich aus, meiner innersten Empörung Worte leihend, ‚man wird die Hand Ihrer Schwester dem Elenden geben, der sie durch eine ehrlose Pflichtverletzung erkaufen will?‘

Der Rittmeister trocknete die feuchten Perlen von der Stirn und: ‚Es muß sein,‘ erwiderte er. ‚Es giebt keine andere Rettung. Der Abgrund gähnt zu unseren Füßen, und die Heirath ist vollkommen passend. Luschinoff steht Wéra an Rang und Vermögen gleich; er liebt sie leidenschaftlich – warum sollte sie nicht glücklich werden neben ihm?‘

‚Und Ihre Schwester?‘ rief ich fast außer mir; ‚weiß sie um den schmählichen Handel?‘

Es entging mir nicht, wie meine Worte Constantin verletzten, aber ihm das zu ersparen, war mir unmöglich; er hatte durch die Logik seiner Auseinandersetzungen über das Glück Wéra's zu sehr mein Gefühl empört. Aber leidenschaftslos theilte er mir mit, wie er seit langer Zeit seine Schwester insoweit zur Mitwisserin des Geheimnisses gemacht, als er sie eine die ganze Familie bedrohende Gefahr ahnen ließ, die sie durch ihre Heirath abwenden solle und müsse. Sie hatte sich in Verzweiflung gegen die Zumuthung gewehrt, aber seit gestern war das anders geworden. Ihre Krankheit, die Nähe des Todes, der Zuspruch des Priesters hatten sie weich und schwach gemacht oder, wie Constantin sich ausdrückte, ihr die Besinnung zurückgegeben. Zudem mochte dessen Sorge und Angst um sie das müde gequälte Herz gerührt haben – genug, die Geschwister hatten sich unter einander verständigt.

Wéra, fast noch vom Fieber geschüttelt, zum Tode matt, versprach ihrem Bruder Alles, nur schwebte immerwährend wieder mein Name auf ihren Lippen. Das Wort, das sie mir gegeben, ängstigte sie; ihre Briefe befanden sich in meinen Händen, – da war Constantin fortgestürzt, um ihr Beides und damit den Frieden und die Beruhigung, ohne welche sie nicht genesen könne, wieder zu verschaffen – um jeden Preis.

Die Briefe hat das Feuer vor seinen Augen verzehrt, und jetzt beschwor er mich, auch Wéra’s Seele zu befreien, indem ich selbst jedes bindende Versprechen ihr zurückgebe. Es überlief mich bald heiß, bald kalt, und mein Kopf brannte fieberhaft.

‚Constantin Feodorowisch,‘ sagte ich ihm, und ich hätte es um die Welt nicht hindern können, daß meine Stimme einen gebieterischen, vielleicht sogar drohenden Ton annahm. ‚Prüfen Sie wohl Ihr Herz, und gestehen Sie sich selber ein, wie viel von Ihrer Schwester Entschluß Sie der Ueberredung und Drohung verdanken! Sind Sie sicher, daß dieselbe Ihnen nicht eines Tages fluchen wird für die That dieses Morgens?‘

Wéra’s Bruder schüttelte den Kopf. ‚Als Mann von Ehre wenigstens haben Sie mich kennen gelernt, und als solcher will ich Ihnen antworten,‘ erwiderte er. ‚Ich habe meiner Schwester ein Bild vor Augen geführt von der Zukunft, die ihr bevorsteht, wenn sie bei ihrem früheren Widerstande gegen die Verbindung mit Luschinoff beharren sollte, von der Zukunft ohne die Stellung in der Gesellschaft, die sie einzunehmen gewohnt ist, ohne Rang, Reichthum und Ehre, und sie hat schaudernd den Blick davon abgewendet. Begreifen Sie denn nicht, daß Wéra in ihrer Schönheit und Lieblichkeit nur gedeihen kann im Sonnenschein des Ueberflusses? Den rauhen Stürmen des Lebens preisgegeben, würde sie bald entblättert und verwelkt dahinsterben.‘

So sprach Constantin. Mechanisch griff ich nach einem Blatte Papier, welches neben mir lag, und ebenso mechanisch fast schrieb ich einige Worte des Abschiedes an Wéra darauf. Ich gab es ihrem Bruder und sagte ihm. ‚Ihre Schwester ist vollkommen frei. Sollte ich im Leben ihr wieder begegnen – kein Wort oder Blick wird sie an die Vergangenheit mahnen.‘

Mein seltsamer Gast nahm hastig das Blatt und athmete auf, wie von Bergeslast befreit, dann hielt er mir seine Hand entgegen. ‚Mit Haß im Herzen bin ich zu Ihnen gekommen, und nun ich gehe, besitzen Sie meine Achtung – wenn Sie wollen, meine Freundschaft,‘ sagte er.

Ich nahm schweigend die dargebotene Hand, aber erwidern konnte ich ihren Druck nicht. Nie im Leben hatte ich so deutlich gefühlt wie in jenem Augenblicke, welch eine tiefe, tiefe Kluft mich von ihm trennt für immer und ewig, und als die Thür sich hinter seiner hohen Gestalt wieder geschlossen hatte, als ich allein stand inmitten des Zimmers, da mußte ich mich selber fragen, ob das Erlebte Traum oder Wahrheit sei. Ich griff mit der Hand an die Stirn, bemüht, den verwirrten Gedanken da drinnen wieder eine bestimmte Richtung zu geben, aber sie wollten mir nicht gehorchen. Ich prüfte auf- und abwandernd meinen Schritt, ich sah auf jeden bekannten Gegenstand rings um mich her – Alles war dasselbe geblieben und nur ich ein Anderer geworden. War ich nicht ein Feigling, der sich gewaltsam hatte entreißen lassen, was er noch vor nicht gar langer Zeit sich vermaß, der ganzen Welt abzutrotzen? Warum nur mußte auch Constantin ein so feiner Kenner des menschlichen Herzens sein, daß er die tödtliche Waffe nicht gegen meine, sondern gegen die eigene Brust zu richten drohete? Ich würde seiner Kugeln gespottet und lachend Leben gegen Leben gesetzt haben. Ja, lachend – der Tod würde mir in diesem Augenblicke nur ein erlösender Freund gewesen sein, der aller Qual ein willkommenes Ende gemacht hätte.“

Hirschfeldt schwieg. Er ging auf und ab und fuhr hin und wieder mit der Hand durch die langen verwirrten Haare. Seine letzten Worte erschienen mir wie nur unwillkürlich laut ausgesprochene Gedanken; ja, ich begann zu glauben, daß er meine Gegenwart gänzlich vergessen habe, als er plötzlich wieder vor mir stehen blieb und seine Augen auf mich richtete. Ich fuhr zusammen vor dem Ausdrucke qualvoller Unruhe, der mich aus ihrer dunkeln Tiefe fast hülfesuchend anschaute.

„Helene,“ sagte er, und seine Stimme klang so weich, fast gebrochen, daß sie wie ein fremder Ton mein Ohr berührte, „ein verschmähter, abgesetzter Liebhaber bin ich heute vor Ihnen erschienen. Ein Gegenstand, den man als abgenutzt bei Seite geworfen hat. Und wissen Sie, was dabei das Schlimmste ist, was meine Seele gänzlich ihres Gleichgewichts beraubt hat?“ Er neigte, da er meine bestürzte Miene sah, das Haupt näher zu mir und fügte leiser, kaum verständlich, hinzu: „Es ist das niederschmetternde Bewußtsein, mein Schicksal verdient zu haben. Hätte Constantin mir auf Ehre und Gewissen die Frage vorgelegt, ob ich die feste Ueberzeugung noch in mir trage, daß ich seine Schwester glücklich machen könne, ich hätte sie mit – ‚Nein!‘ beantworten müssen. Da ist’s heraus, und nun schauen Sie mich nicht mit so erschrockenen Blicken an! Ich rede nicht irre. Ich bin vollkommen gesund, körperlich wenigstens, und weiß, was ich sage. Der Sturm, der in den letzten Stunden die Tiefen meiner Seele aufgewühlt hat – er reinigte wenigstens die Luft nach all’ der schwülen Gewitterstille der letzten[WS 1] Wochen und gab mir Klarheit, vollkommene Klarheit zurück.“

Ich wollte ihm beruhigend zureden, ihn bitten, zu versuchen, dieser Aufregung, die ihn verzehrte, Herr zu werden, aber seine Worte hatten auch in mir einen solchen Sturm erweckt, daß ich den rechten Ausdruck nicht finden konnte, und immer wieder mochte er in meinen Blicken die unausgesprochene Frage lesen, die, mir das Herz bedrückend, doch nicht den Weg über meine Lippen fand.

„Verlangen Sie jetzt keine Auseinandersetzungen mehr von mir!“ sagte er düster und hielt mir seine Hand hin. „Lassen Sie mir die beglückende Hoffnung, Helene, daß wenigstens Ihre Achtung mir noch geblieben ist, daß ich den Glauben daran mit mir fortnehmen kann!“

„Fort?“ wiederholte ich entsetzt. „Sie wollen fort von hier, von Woronesch?“

„Ja, je eher, desto lieber!“ antwortete Hirschfeldt. „Ich habe soeben schon mein Urlaubsgesuch eingereicht. Die Mauern dieser Stadt erdrücken mich. Hinaus muß ich, andere Luft athmen, andere Menschen sehen, wenn ich nicht an mir selbst verzagen soll.“

„Aber wohin werden Sie gehen?“

„Ich weiß es nicht und habe noch kaum ernstlich darüber nachgedacht,“ lautete seine Antwort. „Vielleicht wende ich mich zuerst nach Petersburg. Bestimmt kann ich es nicht sagen; Sie wissen, ich habe oft Aufforderungen gehabt, dahin zu kommen. Aber, nicht wahr, Helene, die Hoffnung bleibt mir doch, daß, wenn ich eines Tages als ein anderer Mensch zurückkehre, ich Sie hier wiederfinde?“

Groß, ängstlich und fragend blickte er mich an, und ich fühlte, wie sich mir jeder Blutstropfen zum Herzen drängte, als [732] müsse ich daran ersticken. Ich versuchte zu lächeln, um meinen tödtlichen Schmerz darunter zu verbergen, und hatte doch kaum Kraft zu der langsamen, matt klingenden Erwiderung: „Das glaube ich kaum. Ich fürchte, die Verhältnisse hier werden sich auch für mich unerträglich gestalten.“

„Aber, mein Gott,“ rief Hirschfeldt erschrocken, „wenn Sie Woronesch verlassen, wo soll ich Ihre Spur wiederfinden? Wohin – Sie werden mir doch gestatten, daß ich Ihnen schreiben darf, nicht wahr? – wohin soll ich meine Briefe richten?“

„Bei den Herren Otto Bamberger und Comp. in Moskau werden Sie immer meine Adresse erfahren können, oder die Herren werden Briefe für mich in Empfang nehmen. Sie erinnern sich doch, daß ich Ihnen einmal mittheilte, bei meiner Übersiedelung nach Rußland sei ich an diese Geschäftsfreunde meines Bruders empfohlen worden und habe auch einige angenehme Tage in der Familie des älteren Bruders verlebt, bevor ich meine Reise nach Selo-Lazowoskaja antrat?“

Hirschfeldt nahm eilend seine Brieftasche heraus, notirte sich hastig die Adresse und dann – er sah mich so seltsam wie noch nie an. Ich glaubte, er wollte mir etwas sagen, plötzlich aber ergriff er meine beiden Hände, bedeckte sie mit Küssen und in der nächsten Minute schon war er fort, hinausgestürmt. Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe, sank auf den nächsten Sessel und verharrte in einem Zustande dumpfer Betäubung.

Wie lange ich so zugebracht, ohne zu denken, ohne zu hoffen oder zu fürchten, immer im Geiste nur das eine Wort mir mechanisch wiederholend: „Er ist fort“ – ich weiß es nicht, aber als ich wieder zu mir kam, waren die Kerzen, die den Saal erleuchteten, tief herabgebrannt.

Es herrschte beinahe Finsterniß um mich und empfindliche Kälte. Ein Frösteln überlief mich; ich zog den großen Shawl, in den ich vorhin eingehüllt gewesen, dicht um meine Schultern und kehrte in die bewohnten Räume des Hauses zurück. Auf dem Corridore begegnete mir Olga Nikolajewna, und ihre glänzend blauen Augen richteten sich im Halbdunkel des Ganges so funkelnd und lauernd auf mich, daß ihre geschmeidige, leicht und geräuschlos an mir vorüber huschende Gestalt mich unwiderstehlich an ein gewisses sammetfüßiges, im Rufe der Falschheit stehendes Hausthier erinnerte. Ich nahm gar keine Notiz von ihr und hatte das deutliche Bewußtsein, daß all ihr Thun und Treiben mir unsäglich gleichgültig sei, seit die beiden Menschen, deretwegen ich ihre Intriguen gefürchtet, dem Bereiche derselben entrückt waren.

Als ich, den Salon betretend, Zenaïde Petrowna’s gelangweiltes und übellauniges Gesicht vor mir sah, mußte ich mit Verwunderung mir die Zeit in’s Gedächtniß zurückrufen, in welcher dieses Stirnrunzeln mich erschreckt hatte. Nach Allem, was ich heute erlebt und erfahren, schien jene Zeit in nebelgrauer Ferne hinter mir zu liegen. Die verächtliche Weise, in welcher die Dame geruhte mich zu behandeln, machte nicht den geringsten Eindruck auf mich. Aber es war mir doch eine Erleichterung, endlich, wenn auch erst spät am Abende, mein Zimmer betreten und durch das Aufschreiben des Erlebten meine Seele einigermaßen von ihrer Unruhe befreien zu können.


Den 9. Februar.

Vierzehn Tage sind nahezu vergangen, seit ich diesen Aufzeichnungen das letzte Wort hinzufügte. Warum hätte ich schreiben sollen? Nichts irgend Erwähnenswerthes hat sich seitdem zugetragen; ein Tag schlich langsam nach dem anderen dahin. Der heutige war insofern für mich wichtig, als er über mein Schicksal hier entschieden hat. Ein Entschluß, den ich schon längere Zeit mit mir herumgetragen, ist endlich heute zur Ausführung gekommen: ich sagte Madame Branikow, daß ich ihr Haus zu verlassen wünsche, sobald ich eine passende Reisebegleitung nach Moskau gefunden habe. Man löst hier in Rußland dergleichen Verhältnisse sehr schnell, ohne viele Umstände und ohne sich an gewisse Zeit zu binden.

Erstaunt sah die Dame mich an. Sie muß also doch nicht geglaubt haben, daß ich das erste Wort in dieser Sache sprechen würde, um einem Verhältniß ein Ende zu machen, welches mehr und mehr unhaltbar wurde. Da ich nach wie vor mich bemüht, meine Pflicht zu thun, mag sie geglaubt haben, ich wolle bleiben, aber das war eine Täuschung.

Seit Zenaïde Petrowna in Gemeinschaft mit Olga sich einer unehrenhaften Handlung schuldig gemacht, seit sie meinen Brief unterschlagen hat, beherrscht die Letztere sie, besitzt vollständig ihr Ohr und träufelt demselben einen Tropfen Gift nach dem andern ein. Dabei habe ich längst die zweifellose Gewißheit, daß sie hinter dem Rücken seiner Gemahlin ein Verhältniß mit Iwan Alexandrowitsch unterhält, welches zu verbergen sie sich übrigens sehr wenig Mühe giebt. Daß die häuslichen Verhältnisse mir unter solchen Umständen täglich unerträglicher werden, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Ich räume Olga das Feld; mag sie den Triumph genießen, der mir den ganzen Abend heute aus ihren Augen entgegenfunkelte. Ich habe dem älteren Herrn Bamberger geschrieben, und nachdem er mir geantwortet, daß er und seine Frau mich erwarten, daß sie mich bäten, bis anderweitig ein passendes Engagement für mich gefunden sei, ihr Haus als das meinige zu betrachten, habe ich diesen Morgen mit kühler Ruhe Madame meinen Entschluß mitgetheilt. Anfangs, wie gesagt, verrieth ihre Miene Erstaunen, und dann, als ich sie wiedersah, suchte sie auf alle Weise eine gewisse Befriedigung zur Schau zu tragen und überhäufte Olga mit Liebenswürdigkeiten.

Ich kann nicht beschreiben, wie gleichgültig mich das Alles läßt. Nichts in meiner Umgebung erregt mir ein Gefühl des Bedauerns, wenn ich bedenke, daß ich davon scheiden muß; einzig der Abschied von Masche wird mir nicht leicht werden.

Und Wéra? – Arme Wéra! – Sie ist in ihrer Genesung so weit vorgeschritten, daß in einigen Tagen ihre Verlobung gefeiert werden soll. Madame Adrianoff ist etwa vor einer Woche zurückgekehrt und hat sogleich die Verbindung ihrer Tochter mit Herrn Luschinoff bekannt gemacht. Kein Mensch hat eine Ahnung, welch’ eine Tragödie bei dieser Verlobung hinter den Coulissen spielt, und weil Niemand die Wahrheit kennt, sind die unsinnigsten Gerüchte über Wéra’s Krankheit und Verlobung in Umlauf. Eine Tochter ihres Landes und Standes, deren Vorurtheile doch schließlich auch die ihrigen sind, wird sie die goldene Kette tragen müssen bis an’s Ende; möge ihr dieselbe den Nacken nicht zu wund drücken! Das ist das Einzige, was ich für sie wünschen und hoffen kann.

(Fortsetzung folgt.)




Federzeichnungen aus Oesterreich.[1]

1. Der Wiener Prater.

Der Prater ist dem Wiener an’s Herz gewachsen, und wollte man ihm seinen Prater nehmen, es bliebe sicher ein Stück von seinem Herzen daran hängen.

Was für Paris das Boulogner Gehölz, das ist für Wien der Prater; er ist so weltberühmt wie jenes und steht ihm an Schönheit nicht nach, wie vielleicht überhaupt keinem Parke der Welt. Von der Stadt aus gelangt man zu ihm durch die Praterstraße, früher Jägerzeile, die belebteste Straße des zweiten Bezirkes von Wien, der Leopoldstadt, und nächst der Ringstraße und der Mariahilfer Hauptstraße die längste, breiteste, imposanteste Straße von Wien überhaupt. Sie mündet in den Praterstern, einen ungeheuren Platz, der gleichsam den Vorhof des Praters bildet, der sich von ihm in westlicher Richtung in die unabsehbare Ferne dehnt. Der Praterstern ist ein Ausgangs- und zugleich wichtigster Knotenpunkt für den Verkehr der Omnibusse und der Pferdeeisenbahn, deren Schienen das Pflaster nach allen Richtungen hin durchschneiden. Strahlenförmig strecken sich von diesem Platze aus sieben Straßen in die

[733]

Am Lusthause des Wiener Praters.
Nach der Natur aufgenommen von Theodor Breidwiser in Wien.

[734] Weite, zum Theil einen Ausblick in unbegrenzte Fernen bietend. Drei mächtige Alleen laden zum Eintritt in den Prater, in welchen man nur wie durch ein Pförtchen gelangen kann, denn quer vor den Eingängen führt ein Viaduct der Nordbahn vorbei, unter welchem man erst durchschlüpfen muß, ehe man in den Prater selbst gelangen kann. Zum Glücke kann man das Durchschlüpfen mit erhobenem Haupte und in sehr großer Gesellschaft besorgen; es geht nicht gar zu enge zu. Betreten wir von den drei Alleen zuerst die rechtsseitige, d. h. die Hauptallee, im Volksmunde der „Nobelprater“ genannt! Ein menschliches Auge vermag das Ende dieser Baumreihen nicht abzusehen. Die von den Kronen mächtiger, Jahrhunderte alter wilder Kastanienbäume gebildete Wölbung verjüngt sich perspectivisch, bis sie mit dem Horizont zu verschmelzen scheint. Zu beiden Seiten der sehr sorgfältig gepflegten Fahrstraße, und durch breite Gräben, von ihr geschieden, ziehen sich Alleen für Reiter und Fußgänger hin. Und so sieht man denn im Nobelprater bei nur halbwegs günstiger Witterung Alles zu Fuß, zu Pferde oder auf Wagen vertreten, was nicht durch Krankheit oder Geschäfte an die dumpfe Stube gekettet ist. Es giebt unendlich viele Menschen in Wien, die immer Zeit haben. So kommt es, daß der Prater eigentlich nie leer ist, er hat sogar seine Liebhaber, deren Gefühle auch dann nicht erkalten, wenn die Bäume von Eis oder Schnee starren.

Den Glanzpunkt im Leben des Nobelpraters bildet alljährlich der 1. Mai, mit der berühmten Praterfahrt, auf welche der Wiener nicht wenig stolz ist und die jedenfalls eine der sehenswerthesten Specialitäten der heiteren Kaiserstadt an der Donau vorstellt. In jedem Hause, wo man es thun kann, wird die schönste Familienkalesche herausgesucht und auf den Glanz hergerichtet zu diesem Ereignisse. Der wirkliche „Gawlier“ und der über Nacht aufgeschossene Börsenbaron, der reiche Bandfabrikant vom Brillantengrund, und die Fleischhacker und Selcher von allen Gründen rivalisiren da mit dem Glanze, den sie und den ihre Gattinnen und Töchter zu entfalten in der Lage sind. Sie Alle aber werden geschlagen von jenen armen Geschöpfen, jenen unglücklichen Evastöchtern, bei denen die Toilette Alles ist und doch nichts weiter, als das Firmenschild, um den Käufer zu locken. In endloser Reihe rasseln die prunkvollen Equipagen an mehr als hunderttausend Spaziergängern vorbei, die ihrerseits Kritik üben an den Staatscarossen, den Lakaien, den Pferden und den Insassen.

Welch ein buntes, welch ein bewegtes Bild! Die höchsten Spitzen der Gesellschaft in fast unmittelbarer Berührung mit den untersten Ausläufern derselben. Privatcarossen werden vom Zuschauerpublicum noch einer fachmännischen Kritik unterzogen, ebenso ihre Insassen; Fiaker werden schon mit einem Achselzucken aufgenommen, während Comfortables (Einspänner) der höhnischen Vernichtung grundsätzlich ausgesetzt sind. Das demokratische Bewußtsein der Menge lehnt sich auf dagegen, daß Jemand sich in so einem „Krippeng’spiele“ an der Praterfahrt betheilige; er soll doch, wie wir Alle es thun, die Praterfahrt zu Fuße mitmachen, wenn er sich nicht mindestens zwei Pferde leisten kann. Mit einigen Abschwächungen bietet der Prater nach dem 1. Mai bis in den Hochsommer hinein täglich dasselbe glänzende Bild. Das Endziel des Nobelpraters ist das sogenannte Lusthaus. Da kehren Reiter, Equipagen und Fußgänger, wenn Letztere sich so weit vorgewagt haben, da es doch eine gute Stunde vom Eingange in den Prater liegt, wieder um.

Unser Künstler hat uns in trefflicher Zeichnung dieses Endziel veranschaulicht, und zwar gerade in einem Momente, in welchem unsere Kaiserin, die schönste Frau im weiten Oesterreich, die jugendlichste der Großmütter und unter diesen sicher die kühnste Reiterin, mit ihrem Sohne, dem Kronprinzen Rudolf, es kaum erreicht hat und schon wieder verlassen will. Der berittene Sicherheitswachmann hat während der belebten Saison seinen stehenden Posten hier, um keine Unordnung in dem lebhaften Wagenverkehr eintreten zu lassen. Das Lusthaus ist ein Pavillon, nach welchem im vorigen Jahrhunderte der kaiserliche Hof Ausflüge zu unternehmen pflegte, und in welchem er sich dann allerlei Lustbarkeiten ergab. Der Prater selbst ist kaum seit hundert Jahren dem Volke zugänglich. Früher rollten nur kaiserliche Gespanne und höchstens solche adeliger Geschlechter zwischen seinen Baumriesen dahin, und hier war es, wo die humane Erfindung der herrschaftlichen „Lauffer“ zur vollen Entwickelung gelangt ist. Ein solcher „Lauffer“ hatte in einer schönen Livrée, auf welche er stolz sein konnte, vor der Equipage seiner Herrschaft zu laufen.

Fußgänger kommen, wie schon angedeutet, in der Regel nur in geringer Anzahl bis zum Lusthause, denn auf dem Wege dahin befinden sich das erste, das zweite und das dritte Kaffeehaus. Drei gewaltige Gartenetablissements für viele Tausende von Gästen berechnet, die von Weitem schon durch den dröhnenden Schall der Militärmusik herbeigelockt werden. Kaffeehaus! ein verschämter, aber unrichtiger Name. Es fällt keinem Menschen ein, da Kaffee zu trinken; da wird männiglich Bier, viel Bier, sehr viel Bier getrunken.

Wenden wir uns nun in die mittlere unter den drei in den Praterstern mündenden Alleen! Die Riesendame, der Kraftmesser, die Elektrisirmaschine, das Ringelspiel, die Schaukel, die Schützenstände (jeder Schuß zwei Kreuzer), die Thierbändigerin, die ägyptische Jungfrau, die das Wahrsagen versteht, der Kasperl, die Museen für „Kunst und Wissenschaft“, die Stereoskopenbuden, die Maschinen zur sinnreichen Erforschung des Körpergewichtes, die Kuh mit sechs Füßen, der Hippodrom, die italienische Operngesellschaft, die auf dem Seile zu tanzen versteht und die sich lediglich darum eine Künstlergesellschaft nennt, weil sie auf ihren Gesang selbst nicht viel hält, weiße Mäuse, dressirte Flöhe, lebende Bilder, der große Haifisch, der kleinste Zwerg, der echte Patagonier – sie Alle sagen uns, daß wir jetzt im „Wurstelprater“ sind. Der „echte Patagonier“ ist seinen Kunstgenossen ein gefährlicher Concurrent. Geben Sie ihm noch ein Douceur, so beißt der „echte Patagonier“ einer Taube den Kopf ab zum Beweise seiner Echtheit. Der „echte Patagonier“ saß mir einmal im Stellwagen gegenüber; er war schmutzig, aber europäisch gekleidet und handhabte den Lerchenfelder Dialekt mit erstaunlicher Routine. Er war sehr herablassend und gütig gegen mich, und als ich mich trotz alledem nicht auf das Vergnügen seiner Bekanntschaft entsinnen konnte, schlug er mich cordial auf die Schulter und sagte stolz: „Kennen’s mi no nit? Ich bin ja der Patagonier vom Prater!“ Ich kannte ihn freilich noch immer nicht, allein ich war stolz auf diese Bekanntschaft.

Ohrenzerreißend, sinnebetäubend ist der Spectakel, der im Wurstelprater geschlagen wird. Jede der hundert und aber hundert Hütten, welche diese pyramidale Merk- und Sehenswürdigkeiten enthalten, hat ihren eigenen Ausrufer, einen Rufer im Streite, der mit glühendem Eifer seine Nachbarn zu überschreien bemüht ist. O du grundgütiger Himmel, und wie schreien diese Leute! Ich glaube, sie können es sogar auf der Börse nicht besser. Mit dem Schreien ist es aber noch nicht einmal abgethan.

Nirgends zeigt sich die Unerschöpflichkeit der menschlichen Phantasie in verblüffenderem Lichte, als hier in der Verschiedenartigkeit der Lärminstrumente, durch welche die Welt gefesselt werden soll. Die meisten dieser Instrumente wurden freilich mit einem allerdings nur schwach durchschimmernden musikalischen Hintergedanken angefertigt, aber bei Leibe nicht alle. Da z. B. ist in einer Hütte ein Wolf zu sehen, das ist nicht viel, aber man muß nur verstehen aus einem Wolfe etwas zu machen. Zunächst hängen vor der Hütte gewaltige Gemälde, die der Welt zeigen, was sibirische Wölfe zu leisten im Stande sind, wenn sie hungrig sind und ihnen ein Schlitten mit Reisenden in den Wurf kommt. Wirken schon diese Gemälde aufstachelnd auf das Gemüth der neugierigen Menge, so werden wir doch geradezu von einem gelinden Schauder erfaßt, wenn wir aus der Hütte heraus das Geheul von hundert Wölfen hören. Der Eigenthümer des einen in der Hütte gemächlich schlafenden Wolfes hat sich eine große Orgel bauen lassen, die, anstatt der ihm fehlenden Wölfe, das Geheul ausstößt. Die Orgel ist in ihrer Art ein Kunstwerk, und selbst geübte Ohren kommen im ersten Augenblicke nicht auf die Täuschung.

Auf jede Schaubude fast kommt ein Wirthshaus. Da fliegen die Kellner, und da überstürzen sich, mit langen Messern herumfuchtelnd, die „Italiener“, die den Gästen unter unaufhörlichem Rufen: „Salamucci, Salami, Salamini duci, duci!“ Veroneser und Ungarischen Salami und Schweizer Käse verkaufen. Sie werden von den Wirthen geduldet, ja gern gesehen, weil die Leckerbissen, die sie verkaufen, dursterregend sind. Die Wirthshäuser haben durchweg poetische Namen und [735] poetische Schilder; eines derselben trägt sogar das Freimaurerzeichen zur Schau. Noch Eins! Der Name des Wurstelpraters hat weder mit der Salami im Besonderen, noch mit der Wurst im Allgemeinen etwas zu thun. Wurstel ist der Hanswurst, der, aus dem Weichbilde der Stadt vertrieben, hier eine Pflegestätte gefunden und bis auf den heutigen Tag ein äußerst dankbares Publicum sich erhalten hat. Hier wird noch immer unter großem Halloh im Kasperl-Theater der Jude verbrannt und der Teufel gefoppt.

Noch hätten wir der dritten, der linkseitigen Allee des Praters zu gedenken, sie ist jedoch für uns von keinem Belang. Sie dient als Zufahrtsstraße zu den Donaubädern und hatte im Weltausstellungsjahre den heute nicht mehr in Betracht kommenden Zweck, den Zugang zum Westportale zu vermitteln.

Das Weltausstellungsjahr! Wie es ein Unglück war für ganz Oesterreich, so auch für den Prater. Denn in diesem Jahre, besser für dieses Jahr, wurde der Prater – verschönert. Lassen Sie mich schweigen davon! Der Prater ist zum Glücke nicht umzubringen, und er ist auch heute noch schön, trotz der an ihm verübten „Verschönerungen“, obschon die Maler, die sonst schaarenweise ihre Naturstudien in ihm zu machen liebten, ihm seit seiner Verschönerung aus dem Wege gehen. Am härtesten hatte der Wurstelprater zu leiden. Er wurde unbarmherzig „regulirt“ und sogar sein Name wurde mittelst eines Decretes abgeschafft; er heißt nunmehr officiell „Volksprater“. Gewisse Dinge lassen sich aber nicht wegdecretiren; kein Wiener weiß etwas von einem Volksprater; er kennt nur seinen Wurstelprater, und so wird es wohl bleiben bis in alle Ewigkeit. Leider lassen sich die „Verschönerungen“ auch nicht so ganz übersehen. Man hat ihm einen vornehmeren äußeren Zuschnitt angethan, und wenn, wie ich von ernsten Forschern gehört habe, auch frische, kerngesunde Bauernmädchen ihre sehr beachtenswerthen Reize haben können, so weiß ich doch, daß diese Mädchen, in ein elegantes, großstädtisches Gewand gehüllt, sich doch ziemlich eckig und unbeholfen ausnehmen. Unser Wurstelprater ist so ein kerngesundes Bäuernmädchen, das sich nie in ihr neues Gewand schicken wird. Es müßte denn sein, daß sie demoralisirt wird; mit der Demoralisation kommt dann schon auch der Schliff. Dafür aber würden wir etwas weniger höflich, als entschieden danken.

Balduin Groller.




Epische Briefe.

Von Wilhelm Jordan.
IX. Rettung der Edda. Ihre Schöpfungssage. (Schluß.)

Mit Ymir zugleich war auch eine Kuh Namens Audhumbla entstanden, deren Milch[WS 2] ihn ernährte. Sie beleckte die salzigen Eisblöcke; da kamen am Abend des ersten Tages Menschenhaare zum Vorschein, am folgenden ein Menschenhaupt, und am dritten hatte sie einen ganzen Mann hervorgeleckt. Der hieß Bur, das ist der (erste) Geborene, und hatte einen Sohn Bök, das ist der Erzeuger, und dieser zeugte mit einer Riesentochter drei Söhne: Odin, Vili und Ve, die drei den Himmel und die Erde beherrschenden Götter.

Odin ist die Luft, der alles durchwehende und bewegende Lebenshauch, Vili das Licht (vergleiche die gothische Bibelübersetzung des Ulfilas, Ev. Marc. 1, 32 sa-uil, Sonnenlicht), Vé der bei den Germanen männliche Träger der Rolle der Vesta, das Feuer als heiliges Wesen, besonders auf dem Hauptaltar des Heiligthums, dem véstallr. Sein Name ist im Deutschen erhalten in Weihnacht und Weichbild, entstanden aus Uihpilti, Weihbild, das ist Bild des Wih auf der Rathsstätte, dem Marktplatze, als Symbol der Gerichtsbarkeit des Bezirks, später durch die sogenannten Rolande ersetzt.

Für die Kuh Audhumbla sind schon viele, und zum Theile abenteuerliche Erklärungen versucht worden. Die vollbefriedigende Lösung des Räthsels finden wir sogleich, wenn wir uns an die Mythologie der arischen Geschwistervölker wenden. Die Kühe, welche dem indischen Himmelsgott Indra von den Dämonen geraubt werden und die dem griechischen Lichtgott Apollon entführten Rinderheerden bedeuten die von den Winden der heißen Jahreszeit verscheuchten Wolken und ihre nährende Milch ist der Regen. Audhumbla, das ist die schatzfeuchte, in ihrer Feuchtigkeit Schätze bergende, ist ebenfalls die Wolke „mit der Brust voll Segen“, wie sich ein neuerer Dichter, Anastasius Grün, glücklich ausdrückt. Wo Eis und Schnee rasch wegthauen, namentlich im Gebirge, da bildet sich eine Wolke. Dem Beschauer kehrt sich das Verhältniß von Ursache und Wirkung um: ihm scheint die Wolke das Eis aufzuzehren. Noch jetzt ist in den Alpen manche Redewendung üblich vom Nebel, der den Schnee frißt, von der Wolke, die den Gletscher kleiner leckt. Erst mit der Befreiung des Bodens von den Eismassen, das ist der Sinn der Sage, ist dem menschlichen Leben eine Stätte bereitet.

Wie Zeus mit seinen Göttern die Titanen und Giganten besiegt, so erschlagen Odin und seine Brüder den Riesen Ymir und seine ganze Nachkommenschaft bis auf Einen, Bergelmir, der sich, ein nordischer Noah, mit seiner Frau im Boote rettet und Stammvater eines neuen Riesengeschlechtes wird, der Jötune. Ymir’s Leiche werfen sie in den gähnenden Abgrund und machen aus seinem Blute das Wasser, aus dem Fleische die fruchtbare Erde, aus den Knochen die Felsgebirge, aus den Zähnen und Kinnbacken die Feldsteine. Seine Hirnschale stellen sie auf als Himmelsgewölbe; sein Gehirn werfen sie in die Luft als die drohenden Wolken; mit seinen Augenbrauen aber umhegen sie als Wohnung und feste Burg für die Menschen den „Garten der Mitte“. Der poetische Gedanke dieser Schöpfungssage ist die Uebereinstimmung des Naturganzen mit der kleinen Welt des Menschenleibes.

Nun erst erfolgt die Erschaffung des ersten Menschenpaares, nach den zwei Bäumen, aus denen es gebildet wird, einer Esche und einer Ulme, Ask und Embla genannt; ein Ursprung, der auch bei den Griechen anklingt; denn an die Frage nach Jemandes Herkunft knüpft sich bei Homer zuweilen der Spruch:

Schwerlich stammst du vom Stein, von der Eiche der uralten Sage.

Die bei Nectar und Ambrosia glückseligen und unsterblichen Olympier sehen die Welt ein für alle Male befestigt und geordnet zu ihren Füßen liegen. Die altgermanischen Götter lassen es zwar an Schmausereien und Trinkgelagen auch durchaus nicht fehlen; aber sie sind nicht unsterblich und haben harte Arbeit täglich neu zu beschicken, um die Ordnung zu erhalten und sich selbst vor dem Untergange zu schützen. Diesen aber können sie nur verzögern und werden ihm einst dennoch verfallen. Wie sehr ihr Amt auch ein sittliches ist; wie der Kampf nicht nur gegen die Naturgewalten, sondern auch gegen das moralische Böse geführt wird, und deshalb die besten der Menschen zum Heere der Gotteskämpfer als einherische Helden Odin’s nach Walhall gekoren werden, wenn sie schon im Leben treue Streiter für die göttlichen Satzungen gewesen sind: das leuchtet überzeugend hervor aus den Eddalehren vom Untergange der Welt in der Götterdämmerung und von ihrer Wiedergeburt. Hier, wo ich die germanische Mythologie nur insoweit zu berühren habe, als es nothwendig ist, um die Entwickelung des Epos begreiflich zu machen, kann ich auf dieselben nicht näher eingehen. Man findet sie aber unter der Ueberschrift „Die Götterdämmerung“ aus den in beiden Edden zerstreuten Bruchstücken zu einem Gemälde zusammengefügt in meinen „Strophen und Stäben“ Seite 250 bis 260.

Der Unterschied der urverwandten griechischen und germanischen Göttersage ist eben der des griechischen und nordischen Himmels. Unter jenem sind die titanischen Gewalten der Urzeit dauernd bezwungen, der Wechsel der Jahreszeiten, gemildert zum harmonischen Reigen der Horen. Unter diesem bricht das Chaos alljährlich wieder herein. Das Leben der Natur ist ein wilder Kampf. Nach beinahe völliger Vernichtung durch den Winter ringt es sich nur mühsam neu empor aus Eisgängen, Ueberschwemmungen und Stürmen, von denen der Süden kaum eine Ahnung hat. An die unfernen Ränder Mittgarts, der geordneten Wohnwelt, sind die Giganten verwiesen. Dort lauern sie, ewig bereit zur Zerstörung, Feinde von Allem, was den Himmel mild [736] und die Erde wohnlich macht, Dämonen des nächtlichen Winters, der empörten Meereswogen, der unwirthbaren Felsengebirge mit ihren Wildwassern und Bergstürzen. Unablässig rütteln sie an ihren Schranken und Fesseln, und einst wird es ihnen gelingen, alle Bande zu zerreißen.

Unter einem heiligen Baume befand sich nach altgermanischer Sitte, die Gerichtsstätte. Auch der Amtsort der Götter, wo sie den täglichen Erhaltungskampf berathen, liegt unter einem gewaltigen Baume, der mit seinem Wipfel hinausragt über Walhall und mit seinen Wurzeln hinabreicht in die tiefsten Tiefen der Unterwelt. Ueber die Brücke des Regenbogens reiten sie nach diesem Thingbaume, der rauschenden Esche Yggdrasil.[2] Sie ist ein Symbol des gesammten Naturlebens, ein zweites geistiges Bild der geordneten Schöpfung, der allernährende Lebensbaum, den wir schon in der persischen Sage kennen gelernt, an dem aber auch von allen Seiten das Verderben frißt. Fast könnte man glauben, er habe unserem Schiller vorgeschwebt als

Der Baum, auf dem die Kinder
Der Sterblichen verblüh’n,
Steinalt, nichts desto minder
Stets wieder jung und grün.

Die zu den Menschen hin reichende Wurzel des Lebensbaumes wird begossen aus dem neben ihr sprudelnden Brunnen der Urd, in dem diese selbst und ihre beiden jüngern Schwestern wohnen, die drei Nornen, den griechischen Moiren, römischen Parzen durchaus entsprechend. Urd ist das Gewordene, die Vergangenheit, Werdandi das Werdende, die Gegenwart; Skuld das Sollende, Kommenmüssende, die Zukunft, dann auch die Ursache der kommenden Strafe, die Schuld.

Bei der zweiten Wurzel des Weltbaums, die zu den Riesen hinreicht, befindet sich die Quelle Mimir’s, der selbst ein Riese ist und ihre Urzeitkunde besetzt, aber keine ihrer zerstörenden Eigenschaften. Er ist ein germanischer Prometheus, und wie sein Name, verwandt mit momoria, Gedächtniß, ausdrückt, die personificirte Erinnerung an die uranfänglichen Dinge vor der Erschaffung des Menschen. Nicht ganz unzugänglich ist dies in seinem Gedächtnisse lebenden Wissen der Forschung; denn der Gott des Geistes, der grübelnde Odin, erwirbt es, muß aber eines seiner Augen verpfänden, um es zu erlangen durch einen Trunk aus Mimir’s Lauterborn. Es ist das eines jener Räthsel der Edda, und eines der allerschwierigsten. Ich will Ihnen diese „Rune“ noch aufgeben und zugleich lösen, kann es Ihnen aber kaum verdenken, wenn Sie dabei etwas wie Schwindel verspüren sollten.

Allein, heißt es, saß die Norne Urd an ihrem Brunnen, als Odin, der grübelnde Ase, kam. Da schaute sie ihm in’s einzige Auge und sagte:

„Alles, Odin, auch wo Du dein Auge
Verborgen, ist mir offenbar geworden.
Im lauteren Borne Mimir’s verbargst Du’s
Und Meth trinkt Mimir an jedem Morgen
Aus Walvater’s Pfand. – Wißt ihr’s zu deuten?
Heimdal’s Horn auch weiß ich verheimlicht
Unter der heiligen, hoch in des Himmels
Reinheit ragenden rauschenden Esche.
Schäumende Ströme seh’ ich sprudeln
Aus Walvater’s Pfand. – Wißt ihr’s zu deuten?“

Heimdal hat das Amt eines Himmelswächters der Nacht. Sein Horn ist die Mondsichel. Auf diesem Horne wird er gellend blasen, wann am jüngsten Tage die Mächte der Vernichtung ihre Fesseln brechen. Aber dieses Horn ist, als Mond, zugleich etwas anderes. Odin, als Himmelsgott, hat zwei Augen, die Sonne und den Mond; weil aber in der Regel nur eins derselben deutlich wahrnehmbar ist, heißt er auch der Einäugige. Die Verpfändung des einen dieser Augen, des Mondes, an Mimir hat zum Naturanlaß das Untertauchen und verschwinden des Mondes im Meere. Mimir nun mit seinem Brunnen ist ein Wassergeist. Das Wasser, aus dem alles Leben hervorgegangen, gilt auch in der germanischen Mythologie als Urquell der Weisheit und besonders Brunnennymphen, Schwanenjungfrauen und Meerweiber, vor allen Mimir selbst, besitzen die Gabe der Weissagung. Indem nun der Verpfändung des Auges der Grund angedichtet wird, daß Odin dafür der Weisheit Mimir’s theilhaftig werden wolle, geht der Mythus von der Natur auf das geistige Gebiet über. Die Kunde nämlich, die der grübelnde Gott durch den Trunk aus Mimir’s Brunnen erlangt, ist die vom einstigen Untergange der Welt. Den Eintritt desselben wird einst Heimdal’s Horn verkündigen, das als Mondsichel zugleich Odin’s Auge und sein dem Mimir gegebenes Pfand ist. Da der langgezogene Ton dieses Horns das Hervorstürzen der Wasser- und Feuerstrudel des jüngsten Tages meldet, so ist dieser Ton für die Seherin dieser stürzende Strom selbst, und so kann sie sagen, sie sehe ihn fluthen aus Walvaters Pfande. Endlich aber bedeutet Horn auch Trinkgeschirr; mithin kann Mimir aus Odin’s Pfand auch Meth trinken.

Das Räthsel beruht also auf der kühnen Vertauschung einer dreifachen Wortbedeutung in Verbindung mit einer symbolisirten Naturanschauung und der Lehre von der Götterdämmerung. Es ist für den germanischen Geist besonders dadurch charakteristisch, daß dieser übermüthige Witz sein verwegenes Spiel treibt mit der furchtbarsten aller Tragödien, der des Weltunterganges.

Aus dem Brunnen der Urd, das heißt aus der Quelle der Vergangenheit, das lehrt die Sage vom Weltbaum, soll das Leben seine Verjüngung schöpfen. Darin liegt zugleich die Mahnung, daß ein Volk nicht in gesunder Kraft bestehen könne, ohne beständig zu trinken aus dem Born der Ueberlieferung von seiner Vorzeit. Beherzigen wir dieselbe! Es ist eine Schande, wenn immer noch viele von uns zwar die Mythologie der Griechen und Römer an den Fingern herzuzählen wissen, in unserer eigenen aber sich fremd fühlen wie in böhmischen Wäldern. Denn wer sich mit ihr vertraut macht, der wird bald erkennen, daß wir alle Ursache haben, stolz zu sein auf unsere Vorväter, deren Göttersage an Tiefsinn der Naturbetrachtung hinter keiner anderen zurücksteht, alle aber weit übertrifft in jener stolzen, bei gewaltigstem Ernste doch zugleich bis zum Uebermuth heiteren Ergebung in das tragische Menschenloos, also in unbeugsamer Tapferkeit der Gesinnung, vermöge deren der germanische Stamm sich schon im Jugendalter berufen erwies zur Herrschaft über die Erde, die er nun mit Riesenschritten nicht erobernd, sondern erwerbend antritt.




Aus dem Leben eines deutschen Vorkämpfers.


Als im Februar 1874 alle dem Gedankenkampfe der Zeit nicht abgewendeten Kreise von der Kunde erschüttert wurden, daß David Friedrich Strauß nicht mehr unter den Lebenden sei, hatte die „Gartenlaube“ sofort ihren Lesern die Hauptthat des verewigten Zeitgenossen zu charakterisiren gesucht und Weiteres über sein Leben und Wirken für fernere Darlegungen sich vorbehalten. Seitdem ist die Redaction vielfach durch Zuschriften aus dem Publicum an dieses Versprechen erinnert worden, es geschah aber nicht ohne Absicht, wenn der Verfasser des hier folgenden Charakterbildes, zwischen dem Vorsatze und seiner Ausführung eine längere Frist verstreichen ließ, da er von kundigen Freunden des Verstorbenen noch manche genauere Aufschlüsse über denselben erwartete, die inzwischen denn auch zur Genüge dargeboten wurden.

Um Strauß und die geschichtliche Bedeutung seiner ersten Wirkungen zu verstehen, muß man vor Allem scharf den Charakter der Zeit in’s Auge fassen, aus der er hervorgewachsen ist. Es war dies jene Zeit, wo der sogenannte patriarchalische Absolutismus, dieser metternichisch-bundestägliche Fürsten-, Adels- und Kastenstaat, mit eiserner Gewalt auf Deutschland lag, wo er soeben wieder einmal neu aufflammende Regungen des erwachenden Volkszornes, sowie einer freier aufstrebenden Literatur niedergeworfen hatte und nun von Neuem alle seine Kraft zusammenballte zur Einschüchterung, Entnervung und Herabdrückung des gefürchteten Volksgeistes.

Die Absicht wurde erreicht, ein Grabesschweigen herrschte auf deutschem Boden, aber nur Eines konnte von den selbstsüchtigen Gewalthabern nicht ausgelöscht und todtgeschlagen

[737] werden: das warme Lebenslicht der deutschen Forschung. Von der Oberfläche verscheucht, arbeitete der Gedanke mit um so größerer Inbrunst auf den tiefer liegenden Gebieten der ernsten Wissenschaft, und erzeugte hier eine jugendfrische, von neuen Standpunkten des Denkens, neuen Methoden des Prüfens ausgehende Bewegung, die weithin die Seelen in ihre Kreise zog und die Keime einer Empörung in sich trug wider alle Knechtschaft und Unterdrückung. Ein Geist des Widerspruches war in den Reihen der Denkenden erwacht, aber er befand sich noch im Zustande der Verschwommenheit, des unklaren Zusammenhanges mit den despotischen Mächten, von denen er sich losringen wollte. Vergegenwärtigen wir uns jetzt das

David Friedrich Strauß auf dem Todtenbette.
Nach einer photographischen Aufnahme.

Regen dieser merkwürdigen Dreißiger Jahre, so müssen wir uns sagen: überdeckt von unerträglichen Zuständen gährte in ihrem Schooße das Feuer eines großen Umschwunges der Gedanken, sie waren jedoch noch von einem Zittern beherrscht vor der Gefährlichkeit ihrer eigenen und nächsten Folgerungen. Die Zeit war ideen- und bewegungsschwanger, aber es fehlte ihr der selbstvertrauende Muth, und gleichsam unbewußt harrte sie eines Wortes, das den einschnürenden Zauber lösen, einer That, welche dem dunklen Drange nach Befreiung seine Ziele weisen sollte. Dieses Wort hat Strauß gesprochen, diese That hat er 1835 in seinem „Leben Jesu“ vollzogen.

Wer dieses Buch niemals in der Hand gehabt, möge sich keine irrige Vorstellung von demselben machen. Es ist keine Spur einer publicistischen Absicht, eines Angriffes auf bestehende Einrichtungen des Staates oder der Kirche darin; es ist eine streng gelehrte, streng nur innerhalb der gelehrten Forschungsinteressen sich bewegende Arbeit. Auch das Leben Jesu erzählt es nicht, sondern unterwirft nur die biblischen Erzählungen und Mittheilungen über dieses Leben einer erneuerten Besichtigung und Prüfung. Unbefriedigt und abgestoßen von den gezwungenen und abgeschmackten, oft sogar recht heuchlerischen Deutungen der damaligen Rationalisten, die sich unablässig bemühten, die in jenen Berichten enthaltenen Wundergeschichten als natürliche Vorgänge zu erklären, war Strauß durch seine Untersuchungen zu einem ganz anderen Einblick, einer ganz anderen Erkenntniß gekommen: er entdeckte, daß wir es in jenen evangelischen Erzählungen gar nicht mit Geschichtsurkunden aus der Zeit und Umgebung Jesu zu thun haben, überhaupt nicht mit Geschichtsbüchern im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Nicht Erzählungen wirklicher Ereignisse, thatsächlich so geschehener Vorgänge seien uns in diesen neutestamentlichen Schriften überliefert, sondern nur Erzeugnisse der dichtenden Volksseele, Aufzeichnungen der Vorstellungen, Sagen und Mythen, wie sie im Bewußtsein der urchristlichen Gemeinden über die Person, die Erscheinung und den Tod ihres Stifters allmählich sich gebildet hatten, und wie sie von den Verfassern der vier Evangelien bereits in der Gemeinde vorgefunden und aus der mündlichen Ueberlieferung in gutem Glauben aufgenommen wurden. Daraus erklärt Strauß das Wunderhafte und Uebernatürliche dieser Geschichten, daraus auch ihre vielfachen unlösbaren Widersprüche, ihr durchgreifendes Abweichen von allen bekannten Gesetzen natürlichen Geschehens, daher ihre so genaue Uebereinstimmung mit jenen Prophezeiungen des Alten Testaments, in denen das zukünftige Erscheinen des Messias verkündigt und im Voraus beschrieben wird.

Der Gedanke, welcher dieser Betrachtungsweise zu Grunde lag, war an sich selber kein neuer; er lag gleichsam in der [738] Luft der Zeit; die jungen Richtungen der Alterthumsforschung hatten ihn schon zu lichtvoller Geltung gebracht in Bezug auf die wunderhaften Geschichts- und Religionsbücher der altclassischen Völker und zum Theil auch des Alten Testamentes. An die neutestamentlichen Erzählungen von der Geburt, dem Leben, dem Tode Jesu aber, von seinen Wunderthaten, seiner Auferstehung und Himmelfahrt hatte sich eine solche historische Kritik noch nicht mit durchgreifendem Blicke herangewagt; es war das noch ein ganz apartes, mit eigens dafür geschliffener Brille angesehenes Bereich von Geschichten, an dem zwar endlos herumgedeutelt wurde, von dem eine ungläubige Frivolität vornehm sich abwendete, das ein befangener Freisinn der verständigen Auffassung möglichst annehmbar zu machen suchte, dessen Ursprung und Entstehungsart jedoch bis zu Strauß kein Deuter entziffert, von dem noch kein bisheriger Erklärer gesagt hatte: gewiß, hier ist ein heiliger Boden, aber der heilige Boden religiösen Anschauens, menschlichen Dichtens, ein erhabenes Phantasiegebilde des erlösungsbedürftigen Menschengemüths. Nicht ein von Einzelnen willkürlich erfundenes und gemachtes, sondern ein dem Volksgeiste entsprossenes Gebilde, eine poesievolle Wiederspiegelung der Lebensgeschichte und des Bildes Jesu, wie es lange nach seinem Tode die begeisterte Gemeinde sich gedacht und, den kindlichen Begriffen jener Zeit gemäß, reich mit Wunderkräften und überweltlichen Vorgängen, mit aller Verherrlichung einer anbetungsbedürftigen Liebe ausgestattet hatte.

Das hatte Strauß gesagt, und von Bedeutung schon wäre es gewesen, wenn das Aufleuchten dieser einfachen, jetzt den Gebildeten so geläufigen und doch damals so neuen Entdeckung nur in einer kurzen und schlagenden Gedankenfolge sich angekündigt hätte. Strauß aber war nicht mit einer hingeworfenen Behauptung aufgetreten, er bewies seine Auffassung, bewies sie mit unbeugsamer und unwiderstehlicher Consequenz, und es war natürlich, daß er damit tief hineingreifen mußte nicht blos in das Gedankenleben, sondern auch in die wirklichen Verhältnisse einer noch halb traumhaften, aber zu Entscheidungen sich spitzenden, des Erweckungsrufes gewärtigen Epoche. Die Folgen ergaben sich von selber, ohne daß er sie beabsichtigt und berechnet hatte. Auf der Unantastbarkeit der evangelischen Berichte ruhte ja die Autorität des sogenannten „positiven“ Kirchenglaubens, auf diesem Glauben die gebietende Macht der Priester- und Theologenkirche. Aus der Kirche aber und ihren von oben her decretirten, den Gewissen aufgenöthigten Glaubenssätzen hatte wiederum der absolutistische Polizeistaat sich eine Art geistiger Unterlage zurecht gemacht, aus der er sein „Recht“ herleitete, kraft deren er als „göttliche und von Gott so gewollte Ordnung“ sich hinstellte, und jeden Widerspruch oder Widerstand gegen sich als Empörung wider Gott und sein „Wort“ bezeichnete.

Es war eine fest in sich verschlungene und geschlossene Kette gegenseitig sich helfender und ergänzender Bedrückungen zum Vortheile einzelner Personen und Stände, ein System, das nicht blos äußerlich das Volk regierte, sondern dessen Geist auch durch die Erziehung den Geschlechtern in die Seelen geimpft wurde, so daß sein Einfluß mehr oder weniger auch die Gewohnheiten der Menschen bestimmte, mehr oder weniger auch die Klarheit ihres Blickes trübte, mehr oder weniger als eine lähmende und hemmende Schranke auch vor dem denkenden Erkennen der Beherrschten stand. Von Strauß ist diese Schranke durchbrochen worden. Absehend von allem Herumzerren an den fühl- und sichtbaren Folgerungen der hergebrachten Regierungweise, war er bis zu dem Kern derselben, bis zu den geschriebenen Grundlagen der Staatsreligion, des Glaubens an übermenschliche Einsetzungen und Offenbarungen vorgedrungen, hatte er diese Grundlagen als eine Glaubensdichtung nachgewiesen – als eine Glaubensdichtung, die zwar eine der tiefsten und ehrwürdigsten Blüthen der Vorzeit sei, die zwar große und erhabene Lehren, ewig gültige Wahrheiten in sich trage, deren sagenhafte Einkleidungen, Vorstellungen und Mittheilungen aber nur der Geschichte der Mythologie, der Religionsgeschichte an einem bestimmten Punkte ihrer Entwickelung angehören und nicht mehr bestimmend und begrenzend sein können für das Denken, Forschen und Leben der heutigen Menschheit.

Indem Strauß also die ungeheure, mit allen Künsten mühseliger Auslegung und Umhüllung nicht zu verdeckende Kluft zeigte zwischen dem Gesichtskreise der biblischen Erzähler und der ganzen Weltanschauung unserer beinahe zweitausend Jahre älteren Gegenwart, hatte er, ohne das zu beabsichtigen, nicht blos die Axt an die Stütze des bestehenden weltlichen und geistlichen Bevormundungsregiments gelegt – denn das war oft schon geschehen – , sondern er hatte diese Stütze bereits durchschnitten. Eine Grundsäule der willkürlichen Gewalt, die angebliche „Göttlichkeit“ ihres Rechtstitels, war vor dem Auge der fortschreitenden Wissenschaft zu einem haltungslosen Schatten verflüchtigt, und nur noch eine Frage der Zeit konnte das Wanken und der Zusammensturz dieses volkswidrigen Gebäudes sein, da es fortan noch als eine grundlos bestehende Thatsache mit äußerer Gewalt sich behauptet konnte. Wo die Forschung die überirdische Herkunft von hohen Götterbildern so erfolgreich bestritt, welche eine inhumane Herrschsucht in ihren Dienst gezogen und zu Scheuchpuppen für das Volk gemacht, da konnte es nicht fehlen, daß ein solcher Vorgang den Muth entzünden und den „beschränkten Unterthanenverstand“ antreiben mußte, nun auch die sichtbaren Erdengötter und die von ihnen geschaffenen Einrichtungen nach ihrer Existenzberechtigung zu fragen. Mit scharfem Morgenhauche war ein Geist entschiedener Kritik, einer unerbittlich auf den Grund der Dinge gehenden Untersuchung erweckt, der über das Feld der Theologie hinaus verjüngend und belebend in alle mit dem Staats- und Gesellschaftswesen zusammenhängenden Gebiete des Wissens drang und durch alle Maßregelungen nicht wieder zu ertödten war. Eine neue Sprache erklang nun bald aus den Werkstätten der Wissenschaft, eine neue Weise kühnen Urtheilens, ein neuer, frisch und doch warm aus den Herzen quellender Ton des Angriffs gelangte in der Literatur zur Geltung. Im Jahre 1835 war das streng gelehrte Buch von Strauß erschienen; von 1838 an hatten es die Bundestagsregierungen und die gesammte deutsche Reactionswelt in Ruge’s „Halleschen“ und „Deutschen Jahrbüchern“ schon mit einer Gedankenbewegung zu thun, welche sodann in der Revolution von 1848 als eine Macht ihnen gegenübertrat und seitdem nicht wieder gestorben ist. Das hatte das gesunde Lebenslicht deutscher Forscher- und Denkerarbeit in einer Epoche vollführt, wo man das Leuchten ihm verbieten, es in die engsten Wege zwängen, aus ihm den zitternden Diener eines kleinlichen und anmaßenden Despotismus hatte machen wollen.

Im ersten Augenblicke freilich, das heißt in den ersten Jahren nach dem Erscheinen des Buchs, war der Eindruck der Strauß’schen Beweisführung nur ein Eindruck bestürzter Ueberraschung auf der einen, des Zorns und Entsetzen auf der andern Seite. Man fühlte den schneidigen Hauch, der von dieser Forschungsweise aus ein Altes und Liebgewordenes erbarmungslos von dannen fegte, nicht aber auch sofort die dahinter sich regende, jung und lebenswarm aus tiefster Innerlichkeit strömende Erlösungskraft eines neuen Freiheits- und Humanitätsbewußtseins, das hier durch Abrechnung mit der Vergangenheit ein großes Hinderniß sich aus dem Wege räumte. Der Schlag war so jäh gekommen; wie ein Blitzstrahl war er plötzlich in die geistige Welt herniedergefahren; keine Ankündigung, keine der Reclamen und wiederholten Journalnotizen, wie sie heutzutage üblich sind, hatte darauf vorbereitet und die Gemüther in Spannung versetzt. Und Niemand kannte diesen Autor außerhalb des Kreises seiner nächsten Umgebungen, ohne die gebräuchlichen Vorspiele war er fix und fertig mit einer Leistung auf den Platz getreten, von der jeder Kenner sich sagen mußte, daß allein die dazu gehörigen Studien das volle Leben eines Mannes auszufüllen vermöchten. Wer war er, wo weilte er? So frug man längere Zeit hindurch namentlich in Norddeutschland. Nur wenige wußten es und diese gaben keine Auskunft. Nachdem Strauß das entdeckte Geheimniß der mythenbildenden Volksphantasie auf die religiösen Urkunden des Christenthums angewendet hatte, gerieth er selber in die Lage, ein Gegenstand der Legende zu werden. Und sie war nicht geneigt, ihre Sagen zu seinen Gunsten zu dichten. Gab es doch nicht gar Viele in dieser verzagten und kleinmüthigen Zeit, die zu dem Glauben sich erheben konnten, daß ein so schonungsloser Riß von innerlichen und sittlichen Beweggründen aus erzeugt sein könne, und zwar von den reinsten, die es giebt, von dem Drange des Gewissens und der Wahrheitsliebe.

[739] Bald jedoch wurde das Dunkel gelichtet; es gab damals zwar noch keine Eisenbahnen und Telegraphen, noch keine eigentliche Presse mit einem Heer von Correspondenten, die heute so geschäftig jeder Neugier des Publicums entgegenkommen; es drangen Aufschlüsse und Berichtigungen langsamer durch, aber sie konnten doch zuletzt nicht ausbleiben, wenn es der Welt irgend darum zu thun war. Zu allgemeinem Erstaunen erfuhr man denn auch nach Kurzem, daß der so viel und so eifrig besprochene, über Nacht so berühmt gewordene Verfasser des „Leben Jesu“ ein kaum dem Jünglingsalter entwachsener Mann von nicht viel über siebenundzwanzig Jahre sei. Gebildete Reisende, die ihm begegnet waren, schilderten ihn als eine anmuthige Persönlichkeit, eine jugendliche Gelehrtenerscheinung, die hohe Achtung erwecke und nur das directe Gegentheil der widerwärtigen Häßlichkeiten zeige, welche ein blinder Ingrimm so gern ihr angedichtet hätte.

Wir erinnern uns dieser in den Kreisen der damaligen akademischen Jugend mit besonderem Eifer erlauschten Mittheilungen noch sehr deutlich, und es stimmt mit ihnen vollständig das Bild überein, welches jetzt Professor Zeller in Berlin aus seiner eigenen Erinnerung von dem damaligen Strauß entworfen hat. „Schon in seiner äußeren Erscheinung,“ so heißt es in dieser Schilderung, „entsprach Strauß durchaus nicht der Vorstellung, welche sich wohl die Meisten nach seinem Werke über ihn gebildet hatten, und Wenige würden hinter den feinen Linien des jugendlichen Gesichtes, der leicht vorgebeugten Haltung des Kopfes, dem sinnig gesenkten Auge, das mit seinem eigenthümlichen, auf Schwäche des Organs hindeutenden Aufschlage den Eindruck einer fast jugendlichen Schönheit machte, den kühnen, seinen Gegenstand mit wissenschaftlicher Kälte erbarmungslos zergliedernden Kritiker gesucht haben. Gelang es Einem, ihm persönlich näher zu treten, so fand man einen geistvollen, vielseitig gebildeten Mann, und im vertrauteren Kreise einen lebendigen, heiteren, liebenswürdigen Gesellschafter und einen vortrefflichen Erzähler, mit dem feinsten Verständnisse für alles Naive und Humoristische, nach der gemüthlichen wie nach der komischen Seite, zugleich aber eine zarte, feinfühlige, künstlerisch angelegte Natur, die sich in der Reinlichkeit und inneren Geschlossenheit ihres Wesens ihre Kreise nicht stören lassen mochte, der jedes persönliche Hervortreten eine gewisse Ueberwindung kostete und die bei einer rauhen Berührung sich leicht verletzt und scheu in sich zurückzog. Daneben zeigten sich aber freilich auch scharf ausgeprägt schon jene Züge eines männlichen Charakters, die an dem öffentlichen Auftreten des Schriftstellers zunächst in’s Auge fielen: ein rasch und kräftig auflodernder Zorn, ein entschieden durchgreifender Wille, ein wissenschaftlicher Muth, der, wenn es sein mußte, der Meinung der ganzen Welt Trotz bot.“

So stellte sich den Umgebungen die schön aufgeblühte Erscheinung des jungen Denkers und Forschers dar, den die gährend nach entscheidenden Wendungen ringende Epoche in tiefer Stille und Abgeschiedenheit für eine ihrer großen Aufgaben bereitet hatte. Was die Natur ihm an Gaben, Eigenschaften und hohen Antrieben verliehen, das hatte in ihm frühe schon die Gunst der Atmosphäre und der Verhältnisse zur Reife gebracht, aus denen er hervorgegangen war. Ein Sohn des lieblichen und poesievollen Schwabenlandes, das Deutschland so viele bahnbrechende Geisteshelden gegeben, hatte er in seinem lieblichen Heimathsstädtchen Ludwigsburg eine glückliche Kindheit verlebt, bis er im vierzehnten Lebensjahre (er war am 27. Januar 1808 geboren) den gründlichen Bildungsweg der jungen schwäbischen Gelehrten und Theologen auf jener Klosterschule in Blaubeuren betrat, die damals eine besonders fruchtbare Saatstätte des neuen wissenschaftlichen Geistes war. Neben anderen bedeutenden Männern lehrte an diesem Gymnasium in den zwanziger Jahren noch in seiner vollen Lebensfrische der große und anregungsreiche Bauer, der nachherige Begründer der so bedeutsam gewordenen Tübinger Schule. Und um solche Lehrer schaarte sich dort ein wahrer Kranz von hochbefähigten und begeisterten, witzigen und strebsamen Jüngern, unter denen der junge Strauß nicht der Letzte gewesen. Als dieser vom Elternhause auf das Blaubeurer „Kloster“ gekommen war, erschien er als ein scheuer, von dem lärmenden Treiben seiner Cameraden verschüchterter, an Heimweh leidender Knabe. Als er aber 1825 zur Universität überging, war er zu einem voll mit dem Geiste des classischen Alterthums genährten, von der Liebe zum Idealen und einem tiefen Wahrheitsstreben beseelten Jüngling herangereift, der Altersgenossen und Lehrern, bei all seiner Heiterkeit und Liebenswürdigkeit, unverkennbar Achtung einflößte. Und wenn man auch allerdings, wie sein Freund und Schulgenosse Vischer erzählt, in der stolz aufgeschossenen Jünglingsgestalt mit den altdeutschen Haaren und dem Johanneskopfe den künftigen Kritiker nicht vermutet hätte, so zeigte sich doch das Bedeutsame schon „in dem Ernste der wissenschaftlichen Arbeit und der Selbstständigkeit des Urtheils, in der geistigen Originalität und dem entschiedenen Wesen“. Einem Menschen wie Strauß sind natürlich die dem jungen Theologen aus den Zweifeln aufsteigenden Kämpfe und inneren Stürme nicht erspart geblieben. Ein tiefes und warmes Gemüthsleben, ein feinfühliger ästhetischer Sinn und eine nicht gewöhnliche dichterische Anlage und Begabung – er hat von früher Jugend an viele reizende Gedichte verfaßt – trieben ihn zunächst in eine schwärmerisch-fromme, romantisch-mystische Richtung, aus der ihn nur das Fortschreiten seiner wissenschaftlichen Arbeit erlöste, da sie ihn zur Beschäftigung mit Schleiermacher führte und später zum Studium der Hegel’schen Philosophie, dem bewegungskräftigsten Denksysteme der Zeit, das außerordentlich anziehend und bestimmend auf ihn wirkte. So war er nicht blos mit reichem und tiefem positivem Wissen ausgestattet, sondern auch schon fest auf seine große Lichtbahn gewiesen, als er 1830 glänzend die theologische Prüfung bestand und zunächst Pfarrvicar im Dorfe Klein-Ingersheim wurde.

Von besonders pikantem Interesse ist sicher die Mittheilung, daß Strauß als junger Prediger sehr beliebt in seiner Dorfgemeinde war. Zeller erzählt, daß seine Vorträge sich bei aller Gediegenheit des Inhalts durch eine musterhafte Volksthümlichkeit auszeichneten; er hielt sich an den praktisch-religiösen Gehalt der biblischen Lehren und behandelte ihn, von einer ansprechenden Stimme unterstützt, klar, lebendig und in der schlichtesten Weise. Doch gestattete ihm sein wissenschaftlicher Drang nicht lange dieses beschränkte Wirken. Zur Wallfahrt nach Berlin trieb es ihn, zu den Männern, denen er so viel zu danken hatte. Hegel aber starb an der Cholera, nachdem Strauß im October 1831 kaum den Boden der Hauptstadt betreten hatte; er blieb auf den Umgang der hervorragenden Hegelianer beschränkt und auf Schleiermacher, dessen Anschauungen über die neutestamentlichen Bücher schon nicht mehr die seinigen waren. Hier unter den großen wissenschaftlichen Anregungen, in der kritikerfüllten Luft Berlins entstand im Geiste des unbekannten jungen Schwaben der Plan zu seinem „Leben Jesu“. Nach sechs Monaten war er wieder in der Heimath als Docent oder „Repetent“ am Tübinger „Stift“, wo er nun mit glänzendem Erfolge vor einem außerordentlich zahlreichen und begeisterten Auditorium philosophische Vorlesungen hielt. Seine ungewöhnliche Befähigung zum akademischen Lehrer stellte sich hier in einer Weise heraus, von der seine damaligen Zuhörer noch heute nicht ohne tiefe Ergriffenheit sprechen können. „Diese Vorlesungen,“ sagt Zeller, „wirkten wie ein wohlthätiger Regen auf dürstendes Erdreich.“ Nach drei Semestern jedoch wurden sie von dem jungen Docenten vorläufig wieder eingestellt; es arbeitete der Plan zum „Leben Jesu“ so gewaltig in ihm, daß er Zeit und Muße zur Ausführung gewinnen mußte. Schon ein Jahr aber nach Beginn der ersten Vorarbeiten war das Ganze, mit Ausnahme der Schlußabhandlung (mehr als vierzehnhundert Druckseiten) im Manuscripte fertig. Fast ebenso lange zog sich der Druck hin. Der erste Band erschien im Sommer; der zweite folgte schon im Herbste 1835.

Hiermit war der Trumpf ausgeworfen, der nicht blos die Ideenbewegungen der Zeit zu Entscheidungen treiben, die wirr und träge durch einander gemischten Lager des Veralteten und Neuen schärfer gegen einander stellen, sondern auch über den weiteren Lebensgang des Verfassers für immer entscheiden sollte. Was er da geschrieben, das war sichtlich, wie auch schon oben bemerkt wurde, ohne eine agitatorische Absicht und aus seinem wahrheitsmuthigen Denken und Forschen mit gleichsam zwingender Nothwendigkeit hervorgegangen; es war auch kein Buch für die lesende Masse, aber die geräuschvolle Wirkung konnte nicht ausbleiben, und sie wurde zunächst durch die ausgesteckten [740] Nothsignale und den brausenden Trommelwirbel der Gegner gefördert, deren Geltung als Kenner und Bewahrer der angeblichen göttlichen Geheimnisse so ernstlich bedroht wurde. Sie hätten völlig blind sein müssen, wenn sie nicht sofort die schwere Gefahr der Wendung erkannt, wenn sie nicht gesehen hätten, daß hier nicht ein dreister und frivoler Handstreich abzuwehren sei, sondern daß man es in dieser Leistung zu thun habe mit der imponirenden Würde echter Wissenschaft, mit der gründlichsten Sachkenntniß und dialectischer Meisterschaft, dabei mit dem Zauber einer Sprache, dem Schönheitsglanze einer Darstellung, wie sie bis dahin bei wissenschaftlichen Arbeiten in Deutschland unerhört gewesen. Ein Sturm brach los – mehrere Jahre lang drehte sich bei uns die ganze theologische Literatur um dieses einzige Buch, und eine englische und französische


Lappländische Schlittenfahrkunst.
Originalzeichnung von H. Leutemann.


Uebersetzung bewiesen, wie lebhaft das Interesse dafür auch in außerdeutschen Ländern erregt war. Hunderte von Gegenschriften jeden Tones und Umfanges, unter denen viele sich als die gemeinsten Angriffe und die erbärmlichsten Denunciationen kennzeichneten, bliesen immer von Neuem die Flamme an, die sie austreten und aus der Welt schaffen wollten – sie loderte nur um so heftiger empor: schon 1838, also nach drei Jahren, war eine dritte Auflage des Werkes nothwendig geworden, welcher bald darauf eine vierte folgte.

Eines Erfolges aber konnte dennoch das zelotische Geschrei sich rühmen: noch vor dem Erscheinen seines zweiten Bandes war Strauß von seiner akademischen Docentenstelle in Tübingen entfernt und statt dessen als Knabenlehrer an das Lyceum seiner Vaterstadt Ludwigsburg versetzt worden. Ein Jahr lang hatte er es in dieser für ihn unpassenden Stellung ausgehalten, dann entsagte er, um in Stuttgart sich ungetheilt seinen literarischen Arbeiten zu widmen. Hier lebte der jugendliche, so schnell zu hohem Ansehen gelangte Schriftsteller in einem, seinem Geschmacke gemäß, auf’s Bescheidenste eingerichteten Gartenhäuschen das stille Leben eines Einsiedlers, unablässig seinen großen Aufgaben und Studien hingegeben. Und hier in Stuttgart sind denn auch jene berühmten „Streitschriften“ gegen Steudel und Eschenmayer, gegen Hengstenberg, Wolfgang Menzel etc. verfaßt, die Rudolph Gottschall treffend als ein Gemmencabinet mit den plastischen Charakterköpfen dieser Gegner bezeichnet, Thaten des nothwendigen Angriffs, wie sie glänzender die deutsche Literatur seit Lessing nicht gesehen hatte; von hier gingen ferner auch jene zum Theil gewaltigen kleinen Sachen aus, die unter den Titeln „Zwei friedliche Blätter“ und „Charakteristiken und Kritiken“ große Fragen der Zeit in neuer und schärfster Beleuchtung zeigten. Hier in Stuttgart ist später auch als nächste Folge des „Leben Jesu“ das große Werk über die „christliche Glaubenslehre“ entstanden, das in systematischer Reihenfolge die sämmtlichen Hauptstücke des Kirchenglaubens zergliedert, ihren menschlichen Ursprung und ihre Entwickelung oder Verflüchtigung im Kampfe mit der modernen Wissenschaft zeigt und nach Strauß’ eigener Bemerkung der kirchlichen Dogmatik das leisten sollte, was einem Handlungshause die Bilanz leistet.

Ein Zwischenfall unterbrach dieses arbeitsreiche Stillleben des Forschers und stellte ihn eine kurze Zeit hindurch vor das Ziel seiner innigsten Wünsche: es winkte ihm ein Lehrstuhl, der Beruf, auf den tiefe Neigung und große Befähigung ihn vor Allem hinwiesen. Man weiß, wie diese Berufung nach Zürich infolge eines dort von den Pfaffen und Frömmlern erregten Pöbelaufruhrs rückgängig gemacht wurde. Es war das ein harter Schlag für Strauß, denn es wurde ihm damit für immer eine Hoffnung abgeschnitten und eine Entsagung auferlegt, die er bis an sein Ende mit Schmerz ertragen hat. Später hat er selber über diesen Schmerzenspunkt seines Lebens in ergreifenden Worten sich ausgesprochen. „Eben in diesen Tagen,“ so schrieb er in einer seiner Vorreden,

[741]

Das Bepacken der Rennthiere beim Aufbruch zur Sommerreise.
Nach der Natur aufgenommen von H. Leutemann.

[742] reden, „ist es ein Vierteljahrhundert, daß mein ‚Leben Jesu‘ zum ersten Male in die Welt ausgegangen ist. Die Theologen werden das fünfundzwanzigjährige Jubiläum dieses Buches schwerlich feiern wollen, ungeachtet es mehr als Einem von ihnen erst zu allerlei hübschen Gedanken, dann zu Amt und Würden verholfen hat. Aber gar mancher bessere Mensch in allen Landen, der von dem Studium dieses Buches seine geistige Befreiung datirt, ist mir, das weiß ich, lebenslänglich dankbar dafür und macht so, ohne daran zu denken, im Stillen die Feier mit. Ich selbst sogar könnte meinem Buche grollen, denn es hat mir (von rechtswegen! rufen die Frommen) viel Böses gethan. Es hat mich von der öffentlichen Lehrtätigkeit ausgeschlossen, zu der ich Lust, vielleicht auch Talent besaß; es hat mich aus natürlichen Verhältnissen herausgerissen und in unnatürliche hineingetrieben; es hat meinen Lebensgang einsam gemacht. Und doch, bedenke ich, was aus mir geworden wäre, wenn ich das Wort, das mir auf die Seele gelegt, verschwiegen, wenn ich die Zweifel, die in mir arbeiteten, unterdrückt hätte, dann segne ich das Buch, das mich zwar äußerlich schwer beschädigt, aber die innere Gesundheit des Geistes und Gemüthes mir und, ich darf mich dessen getrösten, auch manchen Anderen noch erhalten hat. Und so bezeuge ich ihm denn zu seinem Ehrentage, daß es geschrieben ist aus reinem Drang, in ehrlicher Absicht, ohne Leidenschaft und ohne Nebenzwecke, und daß ich allen Gegnern wünschen möchte, sie wären, als sie dagegen schrieben, ebenso frei von Nebenabsichten und Fanatismus gewesen. Ich bezeuge ihm ferner, daß es nicht widerlegt, sondern nur fortgebildet worden ist, und daß, wenn es jetzt wenig mehr gelesen wird, dies daher kommt, daß es von der Zeitbildung aufgesogen, in alle Adern der Wissenschaft eingedrungen ist. Ich bezeuge ihm endlich, daß die ganzen fünfundzwanzig Jahre her über die Gegenstände, von denen es handelt, keine Zeile von Bedeutung geschrieben worden ist, in der sein Einfluß nicht zu erkennen wäre.“

(Schluß folgt.)




Nordische Gäste.
Mit Abbildungen.


Seit mehreren Jahren werden in Deutschland und Oesterreich einige Lappländer mit einem oder zwei Rennthieren gezeigt, die – jedenfalls um mehr Aufsehen zu erregen – ganz wie Eskimos gekleidet sind und mit Waffen einherschreiten, welche von den Lappländern keineswegs getragen werden. Sie geberden sich obendrein mit so affectirter Wildheit, daß der Unkundige durch alles Das einen ganz falschen Begriff von diesem Volke bekommen muß. Weil nun wissenschaftliche Vereine, sowie einzelne Gelehrte nicht bezweifeln konnten, hier wirkliche Lappländer vor sich zu haben, obgleich sie dabei die äußerliche Fälschung, wie dies in Leipzig geschah, ausdrücklich aussprachen, so wird mit dieser scheinbaren Anerkennung Reclame gemacht und das Publicum nur um so mehr irre geführt. Die Presse verkennt hier ihren Beruf vollständig, indem die Redactionen aus dem Empfange und Gebrauche von Freibillets die Pflicht einer wohlwollenden Besprechung ableiten, statt vor Allem auf Wahrheit dem Publikum gegenüber bedacht zu sein. Bei Allem, was als belehrende Sehenswürdigkeit auftritt, müßte ein sachverständiger und wahrheitsliebender Berichterstatter allein das Urtheil fällen. Solche Betrachtungen haben mich gehindert, die gegenwärtige Skizze über eine augenblicklich in Deutschland weilende Lappländergesellschaft humoristisch abzufassen, wie ich sonst gern geneigt wäre.

Es war mir äußerst willkommen, als mir mein Freund Hagenbeck im vergangenen Winter mittheilte, daß er zum Frühjahre eine Heerde Rennthiere aus Lappland und zugleich vier echte Lappen als Begleiter wolle kommen lassen, welche er eine Zeitlang bei sich behalten und dem Publikum zeigen werde. Auf meinen Vorschlag veranlaßte mein Freund, daß alles Geräth, welches diese Leute gebrauchen, Zelte mit Einrichtung, Schlitten, Schneeschuhe, Hunde, kurz Alles, was für das Leben dieses Nomadenvolkes charakteristisch ist, von Lappland mitgebracht werde. Durch einen geschickten Agenten ist jetzt diese Lappencolonie – denn so möchte man das Ganze nennen – so vollständig zusammengestellt worden, daß ich – natürlich war ich bei der Ankunft der Lappen in Hamburg (Mitte September) zugegen – mir sofort sagte: „So etwas Ganzes ist auf diesem Gebiete noch nicht dagewesen.“

Da ich, wie einige Bilder in der „Gartenlaube“ beweisen, ein großer Freund von dem dramatischen Leben bin, welches sich bei der Ankunft solcher Transporte entwickelt, fuhren wir Zwei, der Unternehmer und der Maler, auf einem Boote dem norwegischem Schiffe, welches die nordischen Gäste bringen sollte, auf der Elbe entgegen und kletterten, während der Dampfer in voller Fahrt war, durch eine Luke an Bord desselben. Unter dem Decke fortschreitend, stießen wir zuerst auf Frau Rasti, die Lappländerin (denn eine solche war auch dabei), welche es sich inmitten ihrer zwei Kinder bequem gemacht hatte. Mit fragendem, aber unbefangenem Blicke schaute sie uns an, und der Ausdruck ihrer Augen hatte dabei etwas so Zutrauliches und Kluges, daß es mich jetzt gar nicht wundert, daß wir später, nachdem ich ihr eine Mark geschenkt, gute Freunde geworden sind.

Oben auf dem Verdecke fanden wir die Rennthiere, die wir schon vom Boote aus gesehen hatten, zwischen Brettern eingepfercht und dann auch die Herren Lappländer selbst, alle eifrig aus kurzen Pfeifen rauchend. Klein von Gestalt, wie sich das für einen richtigen Lappländer gehört, boten die drei Männer in ihrer fast ganz gleichen Kleidung im Anfange wenig Unterscheidendes, aber bei längerer Betrachtung erwiesen sie sich doch, besonders in Bezug auf ihre Gesichtsbildung und ihr Benehmen, sehr verschieden. Zu ihnen gehörte ihr Begleiter, ein norwegischer Photograph aus Tromsöe, wo die Lappländer sich eingeschifft hatten. Er sprach außer seiner Muttersprache noch lappisch, war also als Dolmetscher unentbehrlich, da er aber nicht deutsch verstand, so ist nachträglich noch ein zweiter Dolmetscher nöthig geworden. Nachdem sich mein Freund als der Unternehmer legitimirt hatte, was bei den Sprachschwierigkeiten nicht ohne einige Mühe abging, sollte das Ausladen aus dem nun vor Anker liegenden Schiffe vor sich gehen. Aus dem Anlanden bei der Vorstadt St. Pauli, wo die Rennthiere aus dem Schiffe leicht über die Landungsbrücke hätten geführt werden können, war wegen mangelnder Neigung des norwegischen Capitains Nichts geworden, und so mußte denn eine „Schuite“, ein großes, sehr breites und flaches Boot, wie man sie zum Entladen der Schiffe gewöhnlich braucht, dazu genommen werden. Es dauerte lange, ehe die einunddreißig Rennthiere, eins nach dem andern, in den Gurt geschnallt, durch den Dampfkrahn über Bord gehoben und in die Schuite herabgelassen wurden; es sammelte sich inzwischen eine kleine Flotille von Booten, deren Insassen uns als Zuschauer auch nachher das Geleite gaben. Felle, Kasten, Zeltstangen, Schlitten, Säcke mit Rennthiermoos und Gott weiß was Alles noch, bildeten die Ladung der Schuite, die nun langsam mit der begleitenden Bootflotille durch die Schiffsreihen dem Landungsplatze zusteuerte.

Ueberall auf den ragenden Schiffsborden sammelten sich die Mannschaften, um uns passiren zu sehen. Es war aber auch der Mühe werth und eigentlich an sich schon ein Bild zum Malen. Den Mittelpunkt bildete Vater Rasti nebst Gattin und Kindern. Neben ihnen saß der norwegische Photograph; er hielt als Vicemutter die Wiege mit dem Lappensäuglinge. An den beiden Bootsenden waren, mit Stricken befestigt, die Rennthiere aufgestellt, von dem auf dem Gepäck sitzenden Lappen gehütet. Als der Wiegenbewohner unruhig wurde, nahm die Mama denselben an sich und wandte mit einer wahrhaft rührenden Naivetät und Offenherzigkeit sofort das Mittel an, durch das in solchem Fall auf der ganzen Welt ein durstiger Säugling zu besänftigen ist, und zwar wurde dabei der kleine Lappe gar nicht aus seiner Wiege herausgenommen. Diese Wiege ist ein Muster in ihrer Art. Fast die Form eines Bootes mit einem vorhangversehenen Dache auf der Hinterseite bildend, ist sie aus Birkenholz gefertigt, mit Leder überzogen und innen mit Gras

[743] gefüllt. Unter dem Dache mit einem kleinen Kopfkissen und auf jeder Seite mit einer Lederklappe zum Zudecken, sowie mit einer Vorrichtung zum Zuschnüren (gegen das Herausfallen) versehen, ist sie nicht blos bequem im Arme zu tragen, sondern kann auch, da ein Riemen an beiden Enden befestigt wird, über die Schulter, an jeden Baumast, vor Allem aber auf der Reise an den Rennthiersattel gehangen werden.

Idyllisch, wie diese kurze Wasserfahrt war, bildete die nun folgende Scene, der Transport der Rennthiere in Hagenbeck’s Menagerie, den grellsten Gegensatz dazu. Die Frau fuhr mit den Kindern in einer Droschke dahin, aber die einunddreißig Rennthiere mußten, da die drei Lappländer zu diesem Zwecke nicht ausreichten, von eigens dazu engagirten Männern an um den Hals geschlungenen Stricken geführt werden. Nie habe ich Giraffen, Elephanten, Rhinocerosse, Hirsche, Wildesel oder Kameele sich beim Führen so ungeberdig benehmen sehen, wie diese doch als Hausthiere aufgewachsenen Rennthiere. Noch jetzt wundere ich mich, daß dabei weder Mensch noch Thier zu Schaden gekommen. Hier stürzten die Thiere übereinander, bäumten oder überschlugen sich; dort fiel ihr Führer und wurde im Straßenschmutz geschleift; auch riß wohl ein Thier sich los und wurde erst, nachdem es den Stadtgraben durchschwommen und die Umhegung des zoologischen Gartens übersprungen, in diesem wieder eingefangen. Mit weit heraushängender Zunge kamen die Thiere ganz erhitzt nach und nach endlich am Ziele an.

In einem zu ihrer Aufnahme eigens hergerichteten Gebäude brachten die nordischen Gäste nun zunächst ihre zum directen Gebrauch dienenden Effecten unter, und dann wurde das Zelt aufgeschlagen. Vier oben gekrümmte Birkenstangen, oben und in der Mitte durchbohrt, werden je zwei Stäbe parallel gegen die beiden anderen gerichtet und alle vier oben mittelst eines durchgesteckten Stabes verbunden, und ebenso an den Mittellöchern befestigt. Diese vier Stangen bilden das Hauptgestell; an sie werden ringsherum die anderen einfachen und geraden Birkenstangen angelehnt und angebunden. Die Zeltleinewand besteht aus drei Stücken, zwei großen und einem kleinen. Die beiden großen, fast quadratischen, werden von den beiden entgegengesetzten Seiten über das aufgestellte Stangengerüst gebreitet und an einer Seite, wo sie zusammentreffen, zusammen gebunden. Auf der anderen entgegengesetzten Seite lassen ihre Ränder den Zwischenraum zwischen zwei Stangen als Thüröffnung offen. Zum Verschluß derselben dient das dritte Stück, länglich viereckig, und durch queergesteckte Stäbe auseinander gehalten. Es hängt oben an einer Zeltstange und wird nach Belieben vor die Thüröffnung oder bei Seite geschoben.

Oben sind die Zeltstangen nicht verdeckt, so daß der Rauch hinaus, Regen und Schnee hinein kommen können. An der Queerstange, welche oben die Hauptstange verbindet, hängt ein eiserner Haken, am oberen Theile mit Zacken versehen, zum Aufhängen von Fleisch etc. bestimmt, während an den eigentlichen Haken unten der Kochkessel zu hängen kommt. Den Herd bilden sieben kreisförmig gelegte rundliche Steine, in deren Mitte das Feuer brennt; der Raum ringsherum wird zuerst mit Birkenreisig belegt; auf dieses werden die Rennthierfelle gebreitet, welche zum Sitz und Lager dienen. An den inneren Sprossen der Zeltstangen wird sonst noch alles Hängbare, Kleider, Säcke und dergleichen aufgehangen.

Für die Rennthiere, das Zelt, die Schlitten etc. war von Hagenbeck der sogenannte „Auslauf“ freigegeben worden, der von dem weitläufigen Garten abgegrenzte Raum, welcher sonst bei schönem Wetter für die grasfressenden Thiere zur Bewegung im Freien bestimmt ist. Hier genossen nun die losgelassenen Rennthiere ihre Freiheit in vollen Zügen, und wie so oft lange eingesperrt gewesene Thiere die erste Stunde des Freiseins in frohen Uebermuth verfallen, so auch hier. Förmliche Kampfspiele wurden von ihnen ausgeführt. Weniger mit den Geweihen kämpfend, als sich hochaufbäumend und mit den Hufen kraftvoll aufeinander schlagend, boten sie Scenen einer überquellenden Lebenskraft, wie ich sie wenigstens bei den Rennthieren der zoologischen Gärten nie gesehen habe. Besonders auch ließen sie ihrem Uebermuth gegen die Hunde freien Lauf; nahte sich ihnen einer derselben, gleich gingen sie kampflustig auf ihn los und schlugen ihn regelmäßig durch Geweihstöße, besonders aber durch Hiebe mit den Vorderhufen in die Flucht. Später (in Berlin) habe ich sogar dieses Schauspiel sich mit einer fremden großen Dogge wiederholen sehen. Die Lappenhunde gleichen dem großen Fuhrmannsspitze außerordentlich, ohne aber reinweiß zu sein und ohne den geringelten Schwanz zu haben; auch ist ihr Haar noch länger. Schon am zweiten oder dritten Tage lagen sie fast regelmäßig unter meinem Feldstuhle, wenn ich im „Auslaufe“ inmitten der Rennthiere und Lappen saß und Skizzen malte – so zahm sind sie.

Es ist nicht möglich, in den Raum eines Gartenlaubenartikels Alles zusammenzufassen, was hier als neu, interessant und also mittheilenswerth zu betrachten wäre, selbst wenn ich von dem mündlich durch Erkundigungen Erfahrenen absehen und mich auf das selbst Beobachtete beschränken wollte. Es möge daher hier zur Erläuterung der Bilder nur noch folgen, was sich auf die Anwendung der Rennthiere zum Ziehen und Tragen bezieht.

Die Form des Schlittens, einem Boote ähnelnd, ist hinreichend bekannt, ebenso die erstaunlich einfache Bespannung; der Personenschlitten ist aber leichter, und – wahrscheinlich um den Stößen besser zu widerstehen – aus elastischem Birkenholze ohne Anwendung von Eisen gebaut, während der Lastschlitten größer, aus Föhrenholz und hinten offen ist, um beim Drauflegen der Zeltstangen diese besser hinausragen zu lassen. Auch hat er an beiden Seiten Löcher für Riemen zum Zusammenschnüren des Gepäckes. Der Lasso, mit welchem die Rennthierböcke, welche zum Ziehen oder Tragen dienen sollen, durch Werfen über Geweih und Kopf eingefangen werden, ist ein geschmeidiger Strick, dessen Schlinge in einem Wirbelknochen läuft, der Zügel hingegen, welcher dem Thiere sodann vor und hinter dem Geweih um den Kopf befestigt wird, besteht nur aus einem einfachen Lederriemen. Daß das Schlittenfahren auch als Kraft- und Gewandtheitsübung betrachtet wird, sah ich, als die Männer bei Vorführung der Schlitten auch stehend darin fuhren, ja sogar während des Fahrens in den Schlitten sprangen. Selbstverständlich konnte das Thier das Schleppen des Schlittens auf dem Sande nur kurze Zeit aushalten.

Ganz neu war mir der Anblick des Bepackens der Rennthiere zur Sommerwanderung. Das Bild zeigt, die Scene nach Lappland zurückversetzend, wie dem einen Bock die Zeltstangen aufgeladen sind, während die Zeltleinewand schachtelartig verpackt für ein anderes Thier, welches eben eingefangen ist, bereit liegt. Die Vorrichtung zum Bepacken ist geradezu classisch einfach und praktisch. Ueber ein zum Schutze gegen Druck zuerst dem Thiere aufgelegtes Rennthierfell (oder einen Winterrock aus Pelz) werden zwei gekrümmte birkene Bügel, wie sie auf dem Bilde zwischen Winterschuhen und Zeltleinewand zu sehen sind, oben ineinandergesteckt, so daß jeder eine Bauchseite umschließt und die unteren Enden unter dem Bauche zusammengebunden werden können. An die sich kreuzenden oberen Bügelenden wird dann Alles gehangen, was das Thier tragen soll, wie denn z. B. auf dem Bilde dem dritten Rennthiere eben die Wiege angehängt wird. Die Lastthiere, hinter einander stehend, werden dann reihenweise aneinander gebunden, und das vorderste wird geführt. Voran geht die von ihrem Wandertriebe geleitete Heerde, denn wie bei allen Nomaden ist eben die Nothwendigkeit, je nach dem Jahreszeitwechsel neue Weidegründe zu suchen, die Hauptursache der Wanderung.

Noch will ich zum Schlusse einiges von den Männern sagen. Da ist zuerst der schon erwähnte Vater Rasti, ein guter Vater, denn sehr häufig hat er eines seiner Kinder auf dem Arme, so daß seine Collegen fast immer dem Publicum ihre Geräthe und deren Anwendung allein vorzeigen müssen. Der Andere ist Lars Nielson, also norwegisch benannt, der Dritte sein erwachsener Sohn Jacob. Die Vornamen (Mama Rasti heißt Ella Maria) beweisen schon, daß die Lappen Christen sind; bekanntlich werden sie von wandernden Predigern und Schullehrern besucht, respective getauft und unterrichtet. Der alte Nielson ist ein offener Kopf und macht schon Studien im Deutschen; er riskirte an einem der ersten Abende mit uns Zweien eine Droschkenfahrt durch die Straßen Hamburg’s, wollte aber doch von keiner Wiederholung wissen, weil ihm die Sache wie eine Fahrt zur Hölle vorgekommen war.

Lars hat auch Humor, denn in Berlin machte er sich den Spaß, den Lasso nach einem unberufen über die Bretterplanke sehenden [744] Zuschauer zu werfen aber der „unverfrorene“ Berliner fing diesen mit der Hand auf. Jacob Nielson, ein etwas blasser Jüngling, ist noch in der Entwickelung seiner Fähigkeiten, denn das Lassowerfen versteht er z. B. noch lange nicht so meisterhaft wie sein Vater. Sie haben mir übrigens alle als Modell gesessen.

Sehr tactvoll benahm sich Frau Rasti beim Empfange des oben erwähnten Markstückes. Da sie gesehen, daß ich einige Geräthschaften gemalt hatte, holte sie jetzt unaufgefordert aus einer verschließbaren Kiste eine kupferne Kanne in der Form eines Theekessels und ein Geräth zum Reinigen der Innenseite der Rennthierfelle und legte mir beides zum Malen vor. Ihr Mann hatte, als sie ihm das empfangene Geld reichte, keinen Blick, kein Wort für mich; er drehte das Geldstück in der Hand herum, bis ihm die Gattin dasselbe weg und an sich nahm. Jacob aber belohnte mich für seinen Vermögenszuwachs mit einem deutlichen, bereits gelernten „Danke!“, Lars als der fortgeschrittenste sogar außerdem mit einem freundschaftlichen Händedrucke.

In Hamburg wurden die Lappländer vierzehn Tage lang von ihrer Ankunft an gezeigt, und der Zudrang war so ungeheuer, daß an einem Sonntage Schutzmannschaft mußte zu Hülfe genommen werden, um denselben abzuwehren. Jetzt, bei Abfassung dieser Zeilen sind unsere nordischen Gäste in Berlin. Wie schon erwähnt, hat Herr Hagenbeck die Rennthiere und das sämmtliche Geräth, sowie viele Kleidungsstücke käuflich erworben, und wenn die Leute noch länger zu halten sind, wird er Alles auch in einigen anderen Städten Deutschlands zur Schau stellen.

L.



Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin.
Von Otto Glagau.
11. „General-Entreprise“.


„Generalentreprise“ und „in Regie bauen“ sind Gegensätze. Eine Bahn wird „in Regie“ gebaut, wenn sie die betreffende Gesellschaft selber und mit baarem Gelde baut. Bei der „Generalentreprise“ dagegen wird nicht nur die ganze Ausführung des Baues, sondern auch die Beschaffung des Bahnkörpers, der Ankauf des Terrains einem General-Unternehmer überlassen, und die Gesellschaft bezahlt ihn mit Papier, mit ihren Actien, die er nun verwerthen mag. Er kann sie nur verwerten an der Börse, mit Hülfe von Banken und Bankhäusern, die sie ihm entweder lombardiren (beleihen), oder zu einem bestimmten Course, natürlich stets unter Pari (100), abnehmen, und die nun das Publicum damit beglücken. Der General-Unternehmer erleidet bei Versilberung der Actien einen Verlust, der sich auf 20, 30, ja 50 und mehr Procent stellt; ferner muß er die Gründer der Bahn abfinden, denen er „Provisionen“ von Hunderttausenden oder gar Millionen zahlt, und endlich hat er den Actionären jahrelang „Bauzinsen“ zu gewähren. Selbstverständlich wird mit Rücksicht auf diese Ausfälle und Abzüge das Actiencapital möglichst hoch gegriffen, so hoch die Regierung es irgend gestattet. Die Gründer dingen und feilschen förmlich mit der Regierung und wissen sie durch eine Menge von Pfiffen und Kniffen regelmäßig zu täuschen, oder sie setzen eine nachträgliche Erhöhung des Actiencapitals durch. Eine Bahn, die in „Generalentreprise“ gegeben wird, kostet den Actionären gewöhnlich noch einmal so viel wie eine solche, die „in Regie“ gebaut wird, und ihre Ausführung ist weit unsolider. Der Generalunternehmer sucht bei den Materialien wie bei den Arbeiten nach Möglichkeit zu sparen, und da er seine Agenten, Lieferanten, Handwerker etc., wenigstens zum Theil, auch mit Actien bezahlt, stellen diese die höchsten Preise und leisten dafür das Allernothdürftigste.

Die „Generalentreprise“, wie man sieht, ein ebenso unreelles wie unmoralisches Verfahren, wurde von Strousberg erfunden; oder eigentlich, da sie in England und Frankreich schon früher bestand, von ihm nach Deutschland verpflanzt. Strousberg war lange Jahre der Günstling des preußischen Handelsministers, des arglosen Grafen Itzenplitz; als dieser aber das wahre Wesen der „Generalentreprise“ endlich errieth, wurde der „Eisenbahnkönig“ ihm unangenehm, und es ist nun fast komisch zu sehen, wie der Minister bei späteren Eisenbahn-Concessionen sich den großen „Doctor“ ausdrücklich verbittet, wie aber trotzdem hinterher fast immer wieder Strousberg oder doch die „Generalentreprise“ zum Vorschein kommen. Denn im Laufe der Zeit hatte sich das „System Strousberg“ zu einer Schule ausgebildet, und der „Culturheros“ fand Nachahmer und Concurrenten.

Ein solcher Generalunternehmer war auch der Baumeister Ferdinand Pleßner, der im Wege der „Generalentreprise“ eine Reihe von Bahnen baute, sich im März 1870 von Löb Eltzbacher, Mendelssohn-Bartholdy, Albert Borsig, Adalbert Delbrück, Ferd. Güterbock, Jul. Alexander, Theodor Hertel und Genossen in eine „Commanditgesellschaft auf Actien“ verwandeln ließ, und damit den Titel „Bau-Director“ annahm. Das Unternehmen galt für solide und vielverheißend; die Actien stiegen bis 180, wurden von den Banquiers in gutem Glauben ihren Kunden empfohlen und vom Publicum mit Vorliebe genommen. Man erhöhte das Actiencapital von ursprünglich 1½ auf 3 und dann auf 4½ Millionen Thaler und vertheilte in den Jahren 1870 bis 1872: 5, 11 und respective 14 Procent Dividende. Nach dieser Glanzperiode schied der zweite Gesellschafter Landrath a. D. Schubarth aus, und es traten für ihn ein: Rechtsanwalt Krönig aus Herford und Baumeister Gottheiner. Mit den Dividenden war es vorbei, und im Januar 1875 mußte der Concurs eröffnet werden. Die Activa der Masse betragen circa 500,000 Thaler, die Passiva circa 7,000,000 Thaler. Von den Passivis oder Schulden sind aber durch Pfänder gedeckt 4 Millionen Thaler, und zu diesen glücklichen Pfandgläubigern gehören auch die Mitgründer Mendelssohn und Comp., Delbrück, Leo und Comp. Die andern Gläubiger haben etwa 10 Procent, unter Umständen auch nur 3½ Procent zu erwarten. Der Concurs ist wahrscheinlich viel zu spät angemeldet; jedenfalls hätte die Gesellschaft längst liquidiren müssen, und sie ist zu diesem Schritte auch schon vor Jahr und Tag sowohl von Gläubigern wie von Actionären gedrängt worden. Die im Mai 1874 veröffentlichte Bilanz ergab noch einen Vermögensrest von 45 Procent! Nun ist das ganze Actiencapital von 4½ Millionen Thaler verschwunden; die Actien sind Maculatur, aber sie werden, wie erwähnt, an der Börse noch immer gehandelt.

In einer hiesigen Börsenzeitung erschien vor Kurzem ein Inserat, welches an die Gründer Mendelssohn, Delbrück, Borsig etc. die Frage richtete, ob sie es der Ehre halber nicht für geboten erachteten, jetzt, nach Ausbruch des Concurses, folgende von der Gesellschaft bezogene Posten zurückzuerstatten: a) ihren Gründergewinn, b) die bei der zweiten Emission zu 120 eingesteckten 20 Procent Agio, c) das Agio bei der dritten Emission, d) die pro 1872 eingesteckten 88,000 Thaler Gratification an Verwaltungsrath und Direction. – Antwort ist nicht erfolgt.

Nach dem „Krach“ fing Herr Pleßner an, sich fast überall und immer zu seinem Nachtheile zu „verrechnen“. Er verrechnete sich bei Erfurt–Hof–Eger, bei Oels–Gnesen, Altenburg–Zeitz und bei vielen anderen Bahnen. Die an Zahlungsstatt übernommenen Actien sanken fortwährend im Course und waren zum Theil gar nicht mehr zu versilbern. Ein Vertrag nach dem andern mußte mit schmerzlichen Opfern gelöst, große Posten Actien mußten zurückgeliefert und hohe Cautionen im Stiche gelassen werden. Die Jahre des Börsen- und Gründungsschwindels hatten die „Generalentreprise“ groß gezogen wie den Kürbis des Propheten Jona – wir beziehen, wenn wir von der Börse sprechen, unsere Gleichnisse gern aus dem Alten Testament – aber der „Krach“ stach ihr in’s Haupt und ließ sie in einer einzigen Nacht verdorren.

Zu den Bahnen, gegen welche der Abgeordnete Lasker seine Angriffe richtete, gehört auch Berlin–Dresden, und die Special-Untersuchungscommission hat sich auch mit ihr beschäftigt. Sie wurde 1872 von folgenden Herren gegründet: [745] H. C. Plaut, S. Abel jun., Paul Gravenstein, Victor Ludwig Wrede, Max Sabersky, Commerzienrath Feodor Zschille, Geheimer Hofrath Robert Dohme, Buchhändler Ferdinand Schneider, sächsischer Legationsrath Wolf Hugo von Lindenau, Ritterschaftsdirector Leo von dem Knesebeck auf Jühnsdorf, Landrath Prinz Handjery. Nach mehrfachen Verhandlungen über die Höhe des Grundcapitals setzte der Handelsminister dasselbe auf 10½ Millionen Thaler fest und verwarf ausdrücklich die „Generalentreprise“. Die Gründer gelobten in „Selbstregie“ zu bauen und übertrugen die Ausführung an die Gesellschaft der „vereinigten Bauunternehmer“. Bald kam es jedoch zu Differenzen, und der Vertrag wurde gelöst. Die „vereinigten Bauunternehmer“ und auch noch andere Personen erhielten Abfindungen, zusammen etwa 250,000 Thaler, und der Uebertritt des Geheimraths Heise von der Rechten Oder-Ufer-Bahn zur Berlin-Dresdener kostete gleichfalls 50,000 Thaler.

Nun wurde die General-Bau-Bank gegründet, zum Theil von denselben Personen, wie S. Abel jun., Paul Gravenstein, Victor Ludwig Wrede – und dieser der Bau übertragen. Die Gründer contrahirten wieder mit sich selber, nämlich als Eisenbahn- und zugleich als Baugesellschaft, und außerdem bildeten sie drittens das Finanz-Consortium, welches die Actien versilberte. Sie übernahmen die Stammactien im Nennwerte von 5¼ Millionen Thaler zum Course von 70 und schlugen sie los mit circa 82; sie übernahmen die Stammprioritätsactien in gleichem Betrage zum Course von 83 und boten sie aus mit 90, sollen aber mit diesen sitzen geblieben sein. Landrath Prinz Handjery wurde mit 350,000 Thalern „betheiligt“ und erzielte einen Gewinn „von 20,000 bis 30,000 Thalern“, über den er später zu Gunsten des Kreises Teltow verfügte. – Berlin–Dresden ist kürzlich eröffnet, und man darf sie im Interesse des Publicums begrüßen, denn sie macht der Berlin-Anhalter, die sich bis dahin allmächtig dünkte und aller Klagen und Beschwerden spottete, eine heilsame Concurrenz. Ob aber auch die neue Bahn mit der nöthigen Solidität erbaut und der Betrieb zureichend organisirt ist, darüber lauten die Stimmen verschieden; jedenfalls befindet sie sich in finanziellen Verlegenheiten und bereitet jetzt eine Anleihe von 4½ Millionen Thaler vor.

Außer Berlin–Dresden erbaute die General-Bau-Bank nur noch die Militärbahn von Berlin über Zossen nach Spremberg. Sie beschloß dann die Auflösung und erwählte zum Liquidator Herrn Löwenfeldt. Herr Gerichts-Assessor a. D. Hermann Löwenfeld ist seit der Gründungsepoche eine vielgeschäftige und vielgewandte Persönlichkeit und neuerdings namentlich bei Entgründungen thätig. Er ist Director der wieder von den Herren H. C. Plaut, Paul Gravenstein und Ludwig Wrede gegründeten Zentralbank für Industrie und Handel, Mitgründer und jetzt Liquidator der General-Bau-Bank, Aufsichtsrath der Berlin- Dresdener Bahn, Liquidator der Bahn Erfurt–Hof–Eger, früherer Aufsichtsrath der nun in Concurs befindlichen Elbinger Actiengesellschaft für Fabrication von Eisenbahnmaterial etc. etc. Herr Löwenfeld erschien auch zu Erfurt in der Generalversammlung, welche die Liquidation der wieder von H. C. Plaut, Paul Gravenstein, Ludwig von Erlanger in Frankfurt u. A. gegründeten Eisenbahngesellschaft Erfurt–Hof–Eger beschloß, und ließ hier eine längere, in vieler Hinsicht hochinteressante Rede vom Stapel.

Diese Rede ist – man sollte es nicht glauben – wesentlich gegen Lasker gerichtet. Eduard Lasker erhob im Februar 1873 von der Tribüne des preußischen Abgeordnetenhauses seine Anklage gegen die Gründer, und im Juni 1874 antwortete ihm auf einer Generalversammlung von Actionären, Namens der Gründer, Hermann Löwenfeld, Herr Löwenfeld erklärt, das Verfahren bei Eisenbahngründungen, welches Lasker so heftig verurtheilt, also die „Generalentreprise“, die „Provisionen“ der Gründer und Financiers – seien die nothwendige Folge des Actiengesetzes vom 11. Juni 1870. „Lasker,“ sagt Löwenfeld, „stellt seine hohen Ansprüche ohne eine Spur der Beschämung, die den Urhebern jenes Gesetzes wohl anstehen würde. Denn wenn Mißstände vorliegen, so trifft das Gesetz die Schuld, nicht aber Diejenigen, welche es auf die ihnen bequemste Weise handhaben.“ – Nach Herrn Löwenfeld haben Lasker’s „Enthüllungen“ den ganzen „Krach“ und speciell auch das Fiasco der Bahn Erfurt–Hof–Eger verschuldet, „dem wirthschaftlichen Leben des Volkes für viele Jahre eine tiefe Wunde geschlagen“. – Man sieht, wie geschickt Herr Löwenfeld Ursache und Wirkung verwechselt. Was thatsächlich die Gründer und die Gründungen vollführten, sollen Lasker und seine Rede gethan haben. Lasker ist an dem „Krach“ so unschuldig wie ein neugeborenes Kind, und seine Rede hat den „Krach“ nicht einmal schneller zum Ausbruch kommen lassen, wie wir das leicht beweisen können.

Schon im December 1872 verspürten die Börsen den Krach in allen Gliedern; schon damals suchten die Gründer und Börsianer ihren Raub in Sicherheit zu bringen. Ein großer Berliner Banquier, der eine lange Reihe von Gründungen auf dem Gewissen hat, schloß im December 1872 sein ganzes Geschäft, und ein anderer professioneller Gründer, Mitverfasser des „Lindenbauverein“, schrieb – der betreffende Brief liegt uns vor – an einen unglücklichen Actionär: Die Zeit scheint mir bedenklich, ich kaufe nichts mehr. – Gleich zu Anfang 1873 brach, wie Herr Löwenfeld selber anführt, auf dem Geldmarkte eine große „Deroute“ aus, und gleichzeitig ging der Abgeordnete Ludwig Bamberger, früher Banquier in Paris, unter die Propheten und weissagte: Die Börse ist jetzt bei den Bergwerken, und die Bergwerke sind, wie meine Erfahrungen lehren, stets der letzte Act des Dramas; wir nähern uns der Katastrophe. – Lasker ist ein intimer Freund Bamberger’s, und als er im Februar 1873 seine Rede hielt, ahnte gewiß auch er, daß der Krach heranziehe.

Man hat ihm sogar vorgeworfen, daß er seine Anklage viel zu spät, erst post festum erhoben, und dieser Vorwurf liegt nahe. Lasker’s Rede, etwa ein Jahr früher gehalten, mitten in den Gründungsschwindel hineingeschleudert, hätte diesen vielleicht unterbrochen, ihn gelähmt und abgekürzt. Und thatsächlich wollte Lasker schon weit früher vorgehen. Schon am 17. April 1872 machte er im Reichstage gelegentlich aufmerksam „auf die betrügerischen Grundsätze bei den Gründungen der Gegenwart“, bedauerte, daß das Actiengesetz so arg gemißbraucht werde, und sprach die Hoffnung aus, das Haus werde sich mit dieser Calamität noch in der laufenden Session befassen. Schon damals, mitten im Gründungstreiben, beabsichtigte Lasker, bestimmte Anträge gegen den verbrecherischen Schwindel zu stellen, aber das preußische Abgeordnetenhaus wie der deutsche Reichstag wimmeln von Manchesterleuten und „Volkswirten“, und diese hielten Lasker an den Rockschößen zurück.

Seine späteren „Enthüllungen“ boten, wie Herr Löwenfeld ganz richtig bemerkt, weder der Börse noch der Regierung etwas Neues. Trotzdem sind und bleiben sie eine That und ein Verdienst. Als Lasker sich am 7. Februar 1873 erhob, saßen um ihn, dicht gedrängt, die Gründer und Gründergenossen. Während er seine lange Rede hielt und, um sich anzufeuern, ein Glas Wasser nach dem andern trank, schwitzten jene Blut; ihre Lippen verfärbten sich, und ihre Augen suchten den Boden. Während sie nach Athem rangen, schrieen sie „Hört! Hört!“ und „Bravo! Bravo!“, und als er geendet, schlichen sie heran, drückten ihm krampfhaft die Hände und überschütteten ihn mit Glückwünschen.

Lasker’s „Enthüllungen“ waren freilich nur mangelhaft und einseitig. Sie behandelten einige wenige Eisenbahn-Gründungen untergeordneter Art, und seine Angriffe richteten sich ausschließlich gegen ein paar conservative Gründer, gegen bloße Dilettanten, die sich von professionellen Gründern hatten vorschieben lassen. Allein er hat doch immer den Stein in’s Rollen gebracht. Er hatte Rücksichten zu nehmen; darum war sein Vorgehen ein diplomatisches. Er exemplificirte das Gründungsunwesen an einem Vertrage zwischen Finanzcomité und Baucomité, welchen gewisse Personen zum Theil mit sich selber abgeschlossen hatten, und sagte dann: „Ich sehe in diesem Saale Niemanden, der hierbei betheiligt ist – wenigstens als Mitglied des Finanzcomités“, fügte er vorsichtig und nicht ohne Doppelsinn hinzu. Nun saß im Saale der Abgeordnete, der als Mitglied der Baugesellschaft von dem Finanzcomité eine „Provision“ bezogen hatte und zugleich als Aufsichtsrath der zu erbauenden Bahn fungirte, und dieser sehr ehrenwerthe Abgeordnete stellte, nachdem Lasker seine Rede geschlossen hatte, den Antrag auf Vertagung der Sitzung.

Ferner sprach Lasker von einem „verehrten Freunde“, den man mit Unrecht als Gründer bezeichne und für den er „jederzeit eintreten“ werde. Ob Lasker noch heute dazu bereit ist, wissen wir nicht; wir wissen aber, daß ihn mehrere „verehrte [746] Freunde“ später in arge Verlegenheit brachten. Von verschiedenen Wahlkreisen ergingen an ihn Anfragen über solche Candidaten zum Abgeordnetenhause, denen man Theilnahme an Gründungen zur Last legte, und er lehnte die specielle Beantwortung öffentlich ab. Nur in Betreff des Herrn Adolf Hagen, Stadtrath a. D. und Director der „Deutschen Unionbank“, ließ er sich zu einer für diesen ziemlich günstigen Erklärung herbei, stieß aber damit auf vielfachen Widerspruch. Im Reichstage endlich behandelte er am 4. April 1873 nochmals in einer großen Rede die Gründungen überhaupt, ihre wesentlichsten Pfiffe und Kniffe und ihre grobe Gemeingefährlichkeit, wobei er die Mitschuld der Regierung wie des Landtags nicht leugnete, nannte aber diesmal leider keine Namen.

Lasker’s „Enthüllungen“ sollten das öffentliche Bewußtsein wecken und der Regierung das Gewissen schärfen; darum fanden sie im ganzen Lande so lauten Wiederhall und so außerordentlichen Beifall. Herr Löwenfeld freilich erklärt diesen, wie er meint, sehr unverdienten Beifall in seiner Weise. Er sagt: „Man sah nicht den colossalen Vortheil, den das Capital über die Industrie brachte …“ (Wer lacht da?!) „Man sah nicht den enormen Vortheil, den die neuen Banken dem Handel und dem Gewerbe zuführten …“ (Wer lacht da?!) „Man sah nur eine enorme Speculationssucht und den übermäßigen Gewinn der Gründer. So entwickelte sich ein Haß der Armen gegen die Reichen und Lasker gab diesem glühenden Hasse einen beredten Ausdruck.“ – Nach Herrn Löwenfeld war das deutsche Volk noch nicht „gebildet“ genug, um sich sonder Murren von Gründern und Börsianern das Blut abzapfen zu lassen.

Es ist eine alte Geschichte, daß man Eigenschaften, die man selber besitzt, bei Andern wenig schätzt, dagegen über die Maßen bewundert, was man entbehrt. So urtheilt auch Herr Löwenfeld, der selber ein Genie ist, über Lasker: „Die Staatsklugheit und die praktische Verwendbarkeit der Ideen dieses Mannes stehen bei Weitem nicht auf einem so hohen Niveau wie die Sittlichkeit seiner Gesinnungen und seines ganzen Charakters.“ Herr Löwenfeld und seine Freunde können es gar nicht begreifen, daß der Abgeordnete Lasker, so ungleich vielen seiner Collegen, sich von den Gründern und Börsianern nicht kaufen ließ, sondern reine Hände behalten hat. O Gott, daß es bei uns ehrlichen Deutschen so weit kommen konnte! – Allerdings, Lasker war um Geld nicht feil – weil er eben andere Absichten hat. Und warum auch nicht? Sollte Herr Lasker einen Ministersessel nicht ebenso gut ausfüllen wie Herr Achenbach oder Herr Friedenthal?!

Der Bericht der Specialcommission zur Untersuchung des Eisenbahnconcessionswesens kam im Herbste 1873 an das Abgeordnetenhaus „zur weiteren gefälligen Veranlassung“, blieb jedoch seither ganz unbenutzt liegen. Erst wieder am 25. Januar dieses Jahres, bei Gelegenheit der Berathung des Gesetzes über die neue Reichsbank, erklärte Lasker, wie er „dem Gründungsschwindel den Krieg bis auf’s Messer ankündige“, und wie Herr von Diest-Daber öffentlich mittheilte, hat er diesem mit Mund und Hand gelobt, nunmehr auch gegen die „liberalen Gründer“ vorzugehen. Leider erkrankte Lasker gleich darauf, aber inzwischen ist er genesen, und so hoffen wir, daß er in der neuen Parlamentssession seine Versprechungen einlösen wird.

Am 5. Februar 1872 kam im preußischen Abgeordnetenhause ein Gesetzentwurf zur Berathung, welcher den Bau verschiedener Bahnen aus Staatsmitteln forderte. Unter Anderm handelte es sich um die Linie Harburg–Stade, die schon die frühere hannoversche Regierung im Jahre 1866, kurz vor Ausbruch des Krieges, beschlossen hatte, und die jetzt Preußen mit einem Aufwande von 3,300,000 Thalern ausführen wollte. Zu diesem Paragraphen stellte der Abgeordnete Braun-Wiesbaden das von vielen andern „Volkswirthen“ unterstützte Amendement: die Bahn Harburg–Stade einer Privatgesellschaft zu übertragen, falls diese Gesellschaft die Linie bis Cuxhaven weiterführe und dort einen Hafen errichte – ein curioses Amendement, aber man befand sich in der Gründerzeit und nahm es ohne jedweden Einspruch an. Bald darauf wurde die Cuxavener Eisenbahn-, Dampfschiff- und Hafen-Actiengesellschaft geboren, und zum Erstaunen naiver Leute trat Herr Braun-Wiesbaden als Mitgründer hervor und ward sogar Director der neuen Gesellschaft. Man versprach eine Bahn von Harburg über Stade und Cuxhaven nach Geestemünde, sowie den Bau eines stets offenen Seehafens in Cuxhaven mit großartige Dampfschiffsverbindungen und forderte dafür die Bagatelle von 20 Millionen Thaler. Der Prospect war so bescheiden, das Unternehmen mit das großartigste des Jahrhunderts zu nennen, und eine Reihe von Brochüren rechnete eine Rentabilität heraus, daß dem Leser die Augen übergingen. Solch maßlose Marktschreierei fiel selbst in der Gründungsperiode auf, und namentlich die Hamburger Presse machte sich darüber lustig. Von den 20 Millionen Thaler wurden vor der Hand Millionen emittirt, aber nur ¾ Millionen genommen, und viele Zeichner ließen ihre 40procentigen Interimsscheine im Stich, da sie keine Nachzahlung riskiren wollten.

Die Gesellschaft suchte überall nach Geld umher und fand es nur tropfenweise. Die Arbeiten wurden spät in Angriff genommen und kamen nie recht in Gang. Abgesehen von beträchtlichen Summen für Preßerzeugnisse und technische Vorarbeiten, abgesehen von hohen Verwaltungsunkosten – die Directoren Braun-Wiesbaden und Charles Ernst David sollen glänzende Gehälter bezogen haben – ist bisher verausgabt, das will hier bedeuten: verzettelt: 1) für den Hafen 1,300,000 Thaler; 2) für den Eisenbahnbau 1,100,000 Thaler; 3) an Cautionen 600,000 Thaler. Der Posten zu 2. ist an den Mitgründer Jürgen Heinrich Hagenah in Stade gezahlt, welchem die Linie Stade–Cuxhaven in „Generalentreprise“ gegeben war. Wegen mangelhafter und verspäteter Ausführung ist ihm der Vertrag gekündigt und er kürzlich vom Gerichte verurtheilt worden, an die Gesellschaft circa 400,000 Thaler herauszuzahlen. Die Cautionen sind verfallen, falls Hafen und Eisenbahnen nicht bis Neujahr 1876 fertig gestellt werden, was aber eine Unmöglichkeit ist. Entweder das größte Werk des 19. Jahrhunderts bleibt ein Schutthaufen, oder die Regierungen von Preußen und Hamburg müssen den Ausbau in die Hand nehmen. Aufrichtiges Bedauern verdienen nur die Bewohner der Landschaft Bremen, welche um die Bahn Harburg–Stade seit fast einem Vierteljahrhundert petitioniren und nun die feste Verheißung ihres Wunsches schon zweimal vereitelt sehen mußten.

Die Mitgründer Hagenah, Schön, Langhans, sowie Director David componirten auch noch in Verbindung mit R. A. Seelig und Eduard Stahlschmidt die Cuxhavener Immobiliengesellschaft, eine Filiale der vorigen, um in den neuen Weltstädten Cuxhaven und Ritzebüttel Geschäftshäuser, Hotels etc. zu errichten. Zu diesem Zwecke ließ Herr Hagenah, der Generalentrepeneur der Bahn Stade–Cuxhaven, einige Parcellen zu dem enormen Preise von 549,000 Thaler ankaufen und überantwortete sie für 1,530,000 Thaler, also mit einer Million Aufschlag, an Eduard Stahlschmidt, der sie nun wieder der plötzlich aus den Coulissen tretenden Immobiliengesellschaft überließ. Herr Greve, bis dahin Commis bei Hagenah und ein junger Mensch von fünfundzwanzig Jahren, hatte den ersten Ankauf vermittelt und ward nun Director der neuen Gesellschaft. Als solcher veröffentlichte er in der Hamburger „Börsenhalle“ die Bilanz pro 1872, in welcher zu lesen stand: „An Immobilien-Conto, Kaufpreis – 1,530,000 Thaler.“ – Da ereilte ihn die Nemesis in Gestalt der Staatsanwaltschaft. Was kein Staatsanwalt in Preußen fertig bekommen hat, vollbrachte der Oberstaatsanwalt in Hamburg, Dr. Mittelstädt, und wir bezeigen ihm hiermit unsern Respect. Trotz des famosen Actiengesetzes, ja auf Grund desselben erhob er gegen Director Greve die Anklage wegen „Verschleierung des Vermögensstandes der Gesellschaft“ durch Aufstellung einer unwahren Bilanz. Der wirkliche Kaufpreis der Parcellen war ja nur 549,000 Thaler gewesen – nicht 1,530,000 Thaler, mit welchem man sie den Actionären berechnete. Was kein Gerichtshof, weder in Deutschland noch in Oesterreich, bisher glaubte ahnden zu können: die Umtriebe der Gründer – wir meinen nämlich, große professionelle Gründer, nicht kleine dilettantenhafte Gründlinge, die allerdings hie und da abgefaßt wurden – that kurz und gut das Hamburger Strafgericht. Es verurtheilte den Director Greve zu einem Monat Gefängniß, und das Oberappellationsgericht in Lübeck hat diese Sentenz einfach bestätigt. Ja, es giebt noch Richter in – Hamburg und Lübeck.

Leider vermochte die Strafe nicht die eigentlichen Attentäter, die Gründer, zu erreichen: sie traf nur deren Werkzeug, den jungen Director Greve, der sich nun von einer durch Strohmänner [747] gebildeten Generalversammlung als Märtyrer feiern ließ. Mit Recht konnten Greve und sein Vertheidiger behaupten, solche „Verschleierungen“ seien bei den Actiengesellschaften von 1871 und 1872 gäng und gebe, solch falsche Bilanzen wären in Deutschland hunderte und tausende publicirt. Hier war sogar noch eine Zwischenperson, Eduard Stahlschmidt, eingeschoben, was man häufig nicht einmal für nöthig gehalten hat, z. B. bei dem „Lindenbauverein“, wo Herr Paul Munk ruhig an sich selber, an sich als Mitgründer verkaufte, und zwar ebenfalls für das Dreifache.

Aber auch die Ansichten der Richter wechseln, und das preußische Obertribunal hat bereits entschieden, daß der von den Gründern verschwiegene Profit als Betrug angesehen werden soll. Nun denke man sich einmal, daß dieses Präjudiz zu allgemeiner Anwendung käme – was für ein Schauspiel würden wir dann erleben! Wir würden plötzlich Tausende von reichen und vornehmen Gründern auf der Armensünderbank sehen, und in den Gefängnissen würden als bloße Nummern figuriren und in grauem oder gestreiftem Drillich umhergehen: Geheimräthe und Excellenzen, Edelleute und Grafen, geadelte Börsianer und baronisirte Financiers. O, das wäre ein Schauspiel für Menschen und Götter! –




Blätter und Blüthen.

Eine Rose auf Fritz Reuter’s Grab. Mit wie inniger Verehrung das deutsche Herz, auch in der fernsten Fremde, an dem Dichter der „Ollen Kamellen“ hängt, das beweist neben anderen das folgende Beispiel.

Die Kunstgärtnerei und Samenhandlung von Ch. Lorenz in Erfurt theilt uns mit, daß ihr ein Brief aus Chotin in Bessarabien von dem dortigen deutschen Consul mit der Bitte zugegangen sei, einen Rosenstock für das Grab Fritz Reuter’s nach Eisenach zu liefern und für dessen Anpflanzung daselbst Sorge zu tragen. Dem Schreiben dieses fernen Reuter-Verehrers war ein kleines Gedicht beigegeben, das wir uns nicht versagen können in seiner ansprechenden Einfachheit hier wiederzugeben. Es ist an den Inhaber der oben genannten Kunst- und Handelsgärtnerei gerichtet und lautet:

Sucht, Meister, aus den Rosenstrauch,
Des Gartens schönste Gab’!
Gen Eisenach, gen Eisenach
Tragt ihn auf Reuter’s Grab!

5
Ein Monument, das ewig währt,

Ein Monument von Stein,
Das setze Deutschland stolzgemuth
Dem edlen Dichter sein!

Ich bin nur arm, bin nur gering,

10
und doch, wie arm ich bin,

Ich schmücke seine Ruhestatt
Nach meines Herzens Sinn.

Hat doch an manchem düstern Tag,
In mancher dunkeln Nacht

15
Sein lichtes, helles Dichterwort

Den Frieden mir gebracht.

Nun kommt zum fernen Grab mein Dank
Im Blumenhauch daher,
Gen Eisenach, gen Eisenach,

20
Wohl über Land und Meer.


– Ihr seht mich, Meister, fragend an
Und wißt nicht, wie zu thun.
„Wo schon so viele Blumen sind,
Wie pflanz’ ich diese nun?“

25
O, pflanzt auf’s Grab sie, wär’ es auch

In einem Winkel still,
Und glaubt, der dort im Schlummer liegt,
Weiß doch, was Liebe will!

Diese Worte von den Ufern des Dnjestr und Pruth zu uns herübertönend, sind in ihrer schlichten Natürlichkeit ein herzerhebendes Zeugniß für die allwache Liebe, die dem Echten und Wahren in Kunst und Poesie auch heute noch zu Theil wird. Der einsame Mann, der in den weltfernen Steppen Rußlands so treu des Dichters heimathlichen Still- und Kleinlebens gedenkt und eine Rose auf sein Grab pflanzen läßt, er ist der Typus der deutschen Gemüthsinnigkeit, die auch in den fernsten Himmelsstrichen nicht stirbt und erlischt, wohl aber bei tiefer angelegten Naturen wächst und erstarkt, je ferner ihr das Bild der Heimath entrückt wird. Die Rose, mit welcher der Deutsche von Bessarabien das Grab von Eisenach schmückt, ist ein redendes Bild deutscher Pietät und treuer Heimathsliebe und unter den Spenden für Reuter’s Gruft sicherlich nicht die werthloseste.



Ein „vom Blatte“ spielendes Clavier, welches den bekannten Wunsch aller Mütter, daß ihre Kinder zum zehnten Geburtstage heimlich Clavier spielen lernen möchten, seiner Verwirklichung um viele Schritte näher bringt, ist die nächste Aufgabe, welche sich das Erfindungstalent des Herrn Schmöle in Philadelphia gestellt hat. Auch hier ist es lehrreich zu sehen, wie der Menschengeist von Problem zu Problem fortschreitet. Als die frommen Jesuitenpatres im siebenzehnten Jahrhundert den Bewohnern des himmlischen Reiches die Hölle heiß machten, erregten sie das größte Erstaunen der sonst hochcultivirten Zopfinhaber durch ihre Fertigkeit in der dort noch unbekannten Notenschrift, indem sie nach einmaligem Anhören irgend einer ohrzerreißenden Drachenhymne die Nationalmusik sofort in ihrer ganzen Länge wiedergeben konnten. Aber ihre Zauberei war nur Kinderspiel gegen den elektrochemischen Notenschreiber (Melograph) von Roncali und Serafini auf der Wiener Weltausstellung, der, während ein Künstler am Clavier phantasirt, dieses ganze Phantasiegemälde warm aus dem Genieschädel in wohllesbarer vierfarbiger Notenschrift druckt, sodaß die Componisten nicht mehr klagen dürfen, ihre schönsten Phantasien müßten spurlos in den Lüften verhallen. Jetzt hat nun der obengenannte Künstler eine Maschine ersonnen, welche das schwierigste Musikstück vom Blatte spielen und dabei zehnmal so viel und mehr Tasten greifen kann, als der schnellfingrigste Musiker. Natürlich muß es eine besondere Art von Notenschrift sein, die man als eine Blindenschrift bezeichnen könnte, da sie von einer vielfingerigen Metallhand gleichsam abgetastet wird, während der Notenstreifen unter ihr hinweg über eine Rolle läuft, ähnlich wie der Papierstreifen des Drucktelegraphen. Die Noten werden je nach ihrer Länge (ob es Achtel-, Viertel-, halbe etc. Noten sind) durch mehr oder weniger gestreckte Löcher ersetzt, die wie gewöhnlich in Linien übereinander liegen, sodaß der ganze Streifen eine Schablone darstellt. Auf diesem durchbrochenen Streifen liegt nun, wo er über die Metallwalze läuft, die Metallhand, einem vielzinkigen Kamme gleichend, auf, und jedes Notenloch bewirkt eine längere oder kürzere Berührung des entsprechenden Zahnes mit der Metallwalze. Letzterer empfängt dabei einen elektrischen Strom aus der Walze, den er isolirt zur Ansprache der entsprechenden Pfeife, Saite etc. fortleitet.

Der Erfinder hat zunächst ein großes Orgelwerk (mit Glocken, Trommeln, Cymbeln und dergleichen) ausgestellt, welches, durch den elektrischen Apparat, der die Größe einer Nähmaschine besitzt, gespielt, die Ouvertüren von Rossini’s „Tell“ und „Semiramis“, sowie andere Musikstücke mit höchster Präcision zum Besten giebt. Natürlich ist es ein Spiel „ohne Gefühl“, wie es allen mechanischen Musikwerken eigen ist, dafür kann es aber mit seinen zweihundert Fingern eine ungleich größere Tonfülle entwickeln, als der geschickteste Künstler, und ein Falschgreifen kann ebensowenig eintreten wie Ermüdung. Man sieht, es handelt sich im Wesentlichen um einen Ersatz der kostspieligen Musikwalzen durch billigere Notenschablonen, die zugleich weniger Raum einnehmen. Aber die Hauptsache ist, daß der Erfinder seinen Apparat nun auch auf das Clavier anwenden will, sodaß man künftig blos zu lernen braucht, den Notenstreifen richtig einzulegen, und mit ihm gleich das Virtuosenthum erwirbt. Eine andere Frage ist es, ob diese geniale, an den elektrischen Webstuhl erinnernde Erfindung eine Wohlthat für das menschliche Ohr sein wird. Wenn das Clavier schon bisher ein Werkzeug des Schreckens für ruheliebende Miether war, was soll es dann erst werden, wenn alle diese Möbel in selbstklimpernde Spieldosen verwandelt sein werden! Die Italiener, welche seit Jahr und Tag am Jubiläumsfieber deliriren, wollen im kommenden Mai auch den Erfinder des Fortepiano Barth. Christofali aus Padua (obwohl zwei deutsche Erfinder, Schröter und Silbermann, ihm zuvorgekommen waren) feiern, und hoffentlich ist Herr Schmöle bis dahin mit seiner Umwandlung des Fortepiano fertig.

C. St.



Der Nestor der deutschen Kupferstecher. So nannte schon im Jahre 1860 die Gartenlaube den allbekannten Karl August Schwerdgeburth in Weimar. Sie hatte Recht, denn der Künstler hatte damals bereits das hohe Alter von fünfundsiebenzig Jahren erreicht. Aber fünfzehn Jahre sind seitdem verflossen, und der geniale Meister lebt noch und wirkt noch immer geistesfrisch für seine Kunst, nachdem er am 5. August seinen neunzigsten Geburtstag gefeiert hat. Dieses seltene Lebensfest eines so hochverdienten und verehrten Mannes lenkt von selbst die allgemeine Theilnahme abermals auf ihn und veranlaßt uns, ihm einen herzlichen Spätabendgruß zuzurufen. Bekanntlich Sohn und Schüler eines Dresdener Malers, kam er als zwanzigjähriger Jüngling nach Weimar, wo er durch die junge Erbprinzessin von Weimar, die russische Großfürstin Maria Paulowna, Empfehlungen nach Rußland zu erhalten hoffte. Durch den Ausbruch des Krieges zwischen Frankreich und Oesterreich (es war im Herbste 1805) an der Ausführung seines russischen Reiseplanes verhindert, blieb er in Weimar und ward von dem Begründer des Weimarischen Landesindustriecomptoirs, Friedrich Justin Bertuch, bewogen, sich im Kupferstiche zu versuchen. Ohne jede technische Vorbildung, nur selbst experimentirend und den besten Mustern folgend, bildete er sich bis zur Meisterschaft in seiner Kunst aus. Zwei Bilder zu Goethe’s Wahlverwandtschaften, für das Taschenbuch Urania von ihm componirt und gestochen, mochten genügen, um ihm in weiten Kreisen sofort einen geachteten Namen zu erwerben. Zahllose größere und kleinere Bilder folgten. Im Jahre 1824 entstand sein allbekanntes, auch von der Gartenlaube wiedergegebenes Bild, das den Großherzog Karl August unweit des Tempelherrnhauses (Salon) mit seinen beiden großen Hunden darstellt.

Von gleichem Werthe in der Kunst treuester Wiedergabe des Originals ist aus dem Jahre 1832 das Brustbild Goethe’s. Der Dichter sollte noch die Zeichnung davon sehen und sie fand seinen ganzen Beifall, doch noch ehe das Bild gestochen war, war er entschlafen. Diesen Portraits aus

[748] Weimars Glanzzeit, zu denen auch der 1860 von der „Gartenlaube“ besprochene charakteristische Kupferstich „Karl August bei Goethe“ (im Urbinozimmer des Goethe-Hauses, in Betrachtung einer Victoria-Statuette) gehört, folgten jene sinnig und mit historischer Genauigkeit componirten, mit virtuoser Meisterschaft gestochenen Luther-Bilder, welche ihn weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt und beliebt machten. Wie viel tausend Augen und Herzen haben sich an dem traulichen Weihnachtsbilde „Dr. Luther im Kreise seiner Familie zu Wittenberg am Christabend 1536“, an „Luther’s Ankunft auf der Wartburg, 4. Mai 1521“, an „Luther’s Vermählung, 13. Juni 1525“, an „Luther’s (letztem) Abschiede, 23. Januar 1546“ etc., und vor allem an dem größeren figuren- und portraitreichen Bilde „Luther vor dem Reichstage in Worms“ erfreut!

Im Jahre 1866 sollte ein schwerer, unersetzlicher Verlust ihn treffen. Sein einziges Kind, den talentvollen jungen Maler Otto Schwerdgeburth, dessen vorzügliche Gemälde in Kunstkreisen Aufsehen erregten, riß in voller frischer Jugendblüthe der Tod hinweg. Aller Frohsinn, alle Heiterkeit schien seitdem aus dem Leben des greisen Künstlers geschwunden. Aber mit der ihm eigenthümlichen Lebenszähigkeit und Kernnatur überstand er auch diese furchtbare Katastrophe. Die fleißige Uebung seiner Kunst, das innige Zusammenleben mit seiner wackeren Gattin und der gemüthliche Verkehr in gesellschaftlichem Kreise füllten die folgenden Jahre aus. Jetzt freilich hält den Alten mehr als sonst die Stube gebannt, aber selbst jetzt noch lebt er nicht nur seinen reichen Lebenserinnerungen, nicht nur seiner treuen hochbetagten Lebensgefährtin und der wehmüthigen Erinnerung an den geliebten jungen Mann, der in schönem Abbilde über dem Sopha hängt und so noch immer der Dritte im trauten Familienbunde ist, sondern auch der Kunst. Trotz der zunehmenden Augenschwäche arbeitet er wieder an einem der Reformationsgeschichte angehörenden, gerade in der Gegenwart, der Zeit des Kampfes gegen pfäffische Ueberhebung und römische Frechheit, doppelt bedeutsamen Bilde: der Verbrennung der päpstlichen Bulle durch Luther. – Möge dem greisen Meister, in warmer Verehrung von Kunstgenossen und Kunstfreunden, noch ein heiterer, schöner Lebensabend beschieden sein!
Robert Keil.

Für Mütter. Wird denn der gesunde Menschenverstand niemals so viel Spielraum gewinnen, daß wir lernen, unsern Körper zu hoch zu schätzen, um ihn gedankenlos zum Werkzeug einer elenden Speculation, eines thörichten Aberglaubens herzugeben?

Die Kenntniß der Gewinnung des Opiums ist ziemlich weit verbreitet, weniger genügend bekannt scheint leider die Thatsache, daß unsere deutschen Mohnköpfe annähernd dieselben Bestandtheile wie ihre türkischen Brüder enthalten. Der in den unreifen Samenkolben des Gartenmohnes befindliche Milchsaft wird im Orient durch Einschnitte zum Ausfließen gebracht und kommt getrocknet als Opiumkuchen in den Handel. Das Opium, bekanntlich kein einfacher Körper, besteht aus mehreren freilich sehr nahe verwandten Stoffen (Alcaloïde genannt), welche fast die gleiche Wirkung, aber in verschiedener Potenz besitzen. Das wichtigste und stärkste unter ihnen ist das Morphium. Dieses birgt zwar unser Gartenmohn nur in sehr geringer Menge, doch sind von den anderen verwandten Stoffen noch so viele in ihm enthalten, daß eine stark betäubende Wirkung durch seinen Genuß hervorgebracht wird.

In sehr vielen Gegenden herrscht nun, vorzüglich unter den niederen Ständen, die beklagenswerthe und nicht genug zu verdammende Unsitte, aus reifem oder unreifem Mohne mittelst Syrup ein Tränkchen entweder selbst zurecht zu brauen oder es für schweres Geld aus Schäfers- und Sibyllenhand zu entnehmen, um es kleinen unruhigen Kindern als Schlafmittel zu verabreichen. Während der Arzt nur in den seltensten Fällen sich entschließt, dem Kinde, und vor Allem dem Säuglinge, ein Opiat zu verordnen, da er die äußerst große Empfindlichkeit des kindlichen Organismus für dieses Medicament kennt, giebt der Laie in einer solchen Abkochung eine gar nicht zu bestimmende Dosis. Die Ursache des Schreiens kann natürlich nicht entfernt werden; das Kind wird durch den Gebrauch nur betäubt und eingeschläfert. Meistens beruht der Grund des kindlichen Unwillens auf Verdauungsstörungen, weil besonders die künstlich aufgefütterten Kinder auf diese Weise ihren Kehlkopf mißbrauchen, doch können auch andere Zustände dieses für die Umgebung so erregende Concert verursachen, deren Heilung allein der jedesmalige Fall bestimmt. Da das arme Kind nach der Ausscheidung des Mohnsaftes wieder schreit, bekommt es immer öfter, aber auch immer mehr von dem Wundertränkchen. Seine Nervenerregbarkeit wird dadurch täglich mehr herabgestimmt; waren schon vorher die Verdauungsorgane angegriffen, so kommen sie jetzt noch schneller herunter; die verdauenden Säfte, in geringerer Quantität abgeändert, können die Nahrungsstoffe nicht genügend zersetzen; zuletzt – fast nur noch ein Gerippe – stirbt das Kind an chronischer Opiumvergiftung als Opfer der Unwissenheit.
Dr. – a –

„Ein Priester der Gewissensfreiheit“ †. „Wenn der Glaube selig macht, wie das orthodoxe Dogma lehrt, so geben gute Werke, aus der Erkenntniß der Wahrheit entsprossen, Freiheit und Macht, Selbstvertrauen und Freude.“ So schloß vor elf Jahren ein Lebensbild unseres Gustav Adolf Wislicenus, das seinem Bildnisse in der „Gartenlaube“ zum Begleiter diente. Damals begann er die Veröffentlichung seines größten schriftstellerischen Werkes: „Die Bibel, für denkende Leser betrachtet“. Der im Leben so lange Zeit ruhelos umhergeworfene Denker hatte sein sechszigstes Jahr und eine Reihe harter Kämpfe, Leiden und Siege hinter sich – da, in politisch arg bewegter Zeit, gebot er sich selbst Ruhe und Sammlung und vollendete ein Werk, dessen Bedeutung und Wirkung erst künftigen Geschlechtern ganz zu Gute kommen wird. Wie im ganzen Leben, so auch noch im hohen Alter, da er die Siebenziger beschritten hatte, innig theilnehmend an allen vaterländischen und religiösen Bestrebungen, hatte er der deutschen Siege sich gefreut und in den neuen Glaubenskampf selbst mit seinem klaren überzeugenden Worte eingegriffen, mit scharfem Blicke die schwarzen Gegner beobachtend – da schließt plötzlich der Tod diese Augen. Wislicenus – seit mehr als einem halben Jahrhunderte ein Kämpfer im edelsten Sinne – ist am Abende des 14. Octobers in seiner letzten Heimath, Zürich, gestorben.

So ist denn wieder Einer von der alten Garde dahin, die am Wartburgfeuer der Burschenschaft für das ganze Leben die Richtung der Liebe und des Hasses empfangen. Schärfen auch für den neuen Kampf sich neue Geister, so mögen sie sich doch ein Vorbild sein lassen diesen Alten, der mit dem Muthe eines Helden und der Ueberzeugungstreue eines Mannes alle Liebenswürdigkeit eines bescheidenen, guten Menschen verband. Hat er auch des Lebens Höhe erreicht, doch wird Jeder, der ihn kennen und lieben gelernt, an seinem Grabe klagen: Du gingst zu bald von uns. – Um so heiliger soll uns sein Andenken sein.


Ein fleischfressender Hirsch. Bekanntlich hat der letzte Winter dem Wildstande sehr geschadet, da bei der anhaltend strengen Kälte die Bäche und Flüsse zugefroren waren und der hohe Schnee, der Alles bedeckte, das Wild abhielt, seine Nahrung zu suchen. Folgende Thatsache nun dürfte für Thierfreunde nicht ohne einiges Interesse sein.

Während meines Aufenthaltes bei meinem Freunde in E. hatte ich Gelegenheit, dort einen Hirsch zu sehen, der dem Tode des Verhungerns und Verdurstens durch einen glücklichen Zufall entgangen war. Waldarbeiter fanden im Januar dieses Jahres das arme Thier im Schnee liegen. Es war aus Mangel an Nahrung entkräftet und auf einer Seite schon vollständig erstarrt. Sie hoben den Hirsch auf, trugen ihn in die Stadt und brachten ihn zu dem Jagdberechtigten des betreffenden Reviers, zu Herrn F., welcher dem Hirsch, der ungefähr ein Jahr alt war, ein Bündel duftiges Heu vorwarf, das derselbe mit Gier verzehrte. Hierauf ließ ihn Herr F. Wasser saufen und bereitete ihm in der Küchenstube unter dem im Gebirge üblichen großen Kachelofen eine Streu. Bei der behaglichen Wärme und sorgsamen Pflege erholte sich der Hirsch vollständig und gewöhnte sich mehr und mehr an die menschliche Gesellschaft, besonders an seinen Herrn, der, ein großer Thierfreund, sich viel mit dem Hirsche beschäftigte und ihm den Namen Hans gab.

Als ich Herrn F. besuchte, fand ich das Thier munter im Garten umherspringend; auf den Ruf seines Herrn kam es herbei und beschnupperte mich neugierig, wie es ein Hund mit Fremden zu machen pflegt. Darauf fraß der Hirsch mir ein Stück Brod willig aus der Hand, richtete jedoch seine Aufmerksamkeit alsdann auf eine frische Wurst, welche sein Herr eingewickelt unter dem Arme trug, und ruhte nicht eher, als bis sein Ziehen und Zerren an dem Papier Erfolg hatte und ihm ein Stück davon gereicht wurde. Als ich meine Verwunderung darüber ausdrückte, erzählte mir Herr F., daß der Hirsch überhaupt mit der menschlichen Gesellschaft auch menschliche Gewohnheiten angenommen, sogar Hirschbraten nicht verschmähe und Bier aus dem Seidel trinke. Mit dem Hunde seines Herrn steht er auf ganz freundschaftlichem Fuße, während er gegen fremde Hunde die Furchtsamkeit seines Geschlechtes abgelegt hat und seine „Spieße“ gar wohl anzuwenden weiß. Bei schönem warmem Wetter schläft er in einem Schuppen, während er bei rauher Witterung seinen ersten Lagerplatz unter dem großen Kachelofen aussucht.
P. W.

Der beste Polonius seiner Zeit. In dem Artikel „Ein Pionnier deutscher Kunst“ (Gartenlaube 1875, Nr. 22), welcher des Gastspieles deutscher Bühnenkünstler zu London im Anfange der fünfziger Jahre gedenkt, ist es übersehen worden, unter den aufgezählten Darstellern einen zu nennen, welcher unstreitig zu den hervorragendsten gehört hat. Es ist dies Fr. Limbach, der, ein angesehener Schauspieler, insbesondere durch seine unvergleichliche Darstellung des Polonius im „Hamlet“ die Briten wahrhaft enthusiasmirte. Der Bericht der „Times“ sagte damals: „Herr Limbach has shown himself the best Polonius of our time“ („Herr Limbach hat sich als den besten Polonius unserer Zeit gezeigt“), und das will gewiß etwas heißen, gegenüber der allgemeinen Meinung der Engländer, dieser Charakter könne nur von einem der Ihrigen richtig aufgefaßt werden. Aber selbst die beiden berühmtesten Poloniusdarsteller, Charles Kean und Bartlet, welche den deutschen Hamlet-Vorstellungen nur noch als Kritiker beiwohnten, haben ihrem deutschen Collegen neidlos den Kranz zuerkannt. Wir freuen uns, Gelegenheit zu haben, dies nachträglich zu constatiren und damit eine Unterlassungssünde gut zu machen, welche jedenfalls keine absichtliche gewesen ist.
Der Verfasser W. H.

Der alte Kolter. Wenn wir auch bei Gelegenheit des in Nr. 39 unseres Blattes erschienenen Culturbildes: „Der Sieger von Aachen“ keine directe Bitte um Einsendung von Gaben für den alten Kolter aussprachen, so sind doch von verschiedenen Seiten freundliche Spenden für den betagten und verarmten Herrn eingelaufen, die wir nicht unquittirt lassen möchten. Es gingen bis jetzt ein:

Aus Meißen 3 Mark; die Stammgäste der Nordischen Bierquelle in Hamburg 37 Mark; Moritz Jahr in Gera 20 Mark; T. W. und J. W. in Berlin 5 Mark; H. W. in H. 6 Mark; Turnlehrer W. in D. 3 Mark; H. Gruhl in Halle 6 Mark; von der Tischgesellschaft des Rathskellers in Löbau 13 Mark; von einer alten Frau, die sich im zehnten Jahre an Kolter ergötzt hat, 5 Mark; B. und W. 3 Mark; Sammlung in Gohlis 36 Mark; H. K. 3 Mark; Redaction der Gartenlaube 30 Mark.

Außerdem hat der Magistrat von Glogau in Gemeinschaft mit den Stadtverordneten beschlossen, dem pp. Kolter, „der wiederholt mit den Seinigen sein Leben bei Entstehung von Bränden in unserer Stadt einsetzte“, ein Ehrengeschenk von 75 Mark auszuzahlen, ferner aber auch zu versuchen, die Bürger von Glogau zu Gaben für den alten Herrn anzuregen.
D. Red. d. Grtl.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Mit dem gegenwärtigen Artikel eröffnen wir eine Reihe von illustrirten Skizzen aus den österreichischen Ländern. Sowohl was den illustrativen wie den textlichen Theil anbelangt, haben wir für tüchtige Kräfte Sorge getragen. D. Red.
  2. Bedeutet: Das Roß des Furchtbaren, das ist Odins. Die Erklärung, wie diese Benennung auf den Weltbaum übertragen werden konnte, würde für diese Blätter zu lang und gelehrt ausfallen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: letzen
  2. Vorlage: Mich