Die Gartenlaube (1875)/Heft 40
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Fortsetzung.)
Bei der Gelegenheit sah ich auch zum ersten Male den
General, Wéras Vater, der bisher, wie ich glaube, auf einer
Inspectionsreise abwesend war. Es ist ein großer, stattlicher
Mann mit dunkeln, etwas stechenden Augen und soll polnischer
Abkunft sein. Er könnte mir Furcht einflößen; ich fühlte mich
in seiner Gegenwart unwillkürlich beengt. Sein Anblick gemahnt
mich sofort an jene halbcivilisirten Aristokraten, die den Gegner,
der ihnen im Wege steht, kaltblütig vernichten können. Constantin
ist, obgleich eine viel gewinnendere Persönlichkeit, doch dem Vater
sehr ähnlich. Olga, von der man sicher überzeugt sein kann,
daß sie in jeden die Stadt durchlaufenden Klatsch eingeweiht ist,
sagte mir neulich: als man den General auf das Gerücht hinsichtlich
seiner Tochter und Hirschfeldt’s aufmerksam gemacht,
habe er mit einer unbeschreiblich wegwerfenden Miene nur die
Achseln gezuckt, als wenn dergleichen bei seiner Wéra gar
nicht vorkommen könne und der Capellmeister ihm selbst für den
Argwohn zu unbedeutend sei. Selbstverständlich weiß ich nicht,
ob an diesem Gerede irgend etwas Wahres ist, doch hatte
General Adrianoff gegen Madanne Branikow’s Ersuchen weniger
einzuwenden als die Mutter, und so besucht das Fräulein wieder
unsere Soiréen und kommt auch an den Zwischentagen oftmals
zum Ueben, aber ihr Bruder begleitet sie fast immer, und zu
vertraulichen Mittheilungen zwischen ihr und Hirschfeldt findet
sich sehr selten Gelegenheit. Ich habe sie auch mit aller mir
zu Gebote stehenden Beredsamkeit zur Vorsicht ermahnt. Das
junge Mädchen folgt einigermaßen meinen Rathschlägen, um
wenigstens in ihrer Freiheit, uns zu besuchen, nicht wieder eingeschränkt
zu werden. Für sie scheint es schon neues Leben,
wenn sie nur mit dem Geliebten eine und dieselbe Luft athmen,
wenn sie ihn sehen darf. Mit ihm freilich ist das anders. Er
erträgt diesen Zustand oft mit knirschender Ungeduld, wenn er
bei derselben auch niemals äußerlich die Selbstbeherrschung
verliert, nicht selten aber mit einer bei seinem Charakter bewundernswerthen
Resignation.
Seit der vorigen Woche bin ich übrigens ernstlich böse mit ihm, einer Unvorsichtigkeit wegen, die uns noch viel Unangenehmes bereiten kann. Ich hielt es nämlich für meine Pflicht, Hirschfeldt darauf aufmerksam zu machen, daß seit einiger Zeit Olga Nikolajewna sowohl ihn als Wéra, wo es nur irgend thunlich, mit Falkenblicken beobachte. Offenbar hat sie sich vorgenommen, Gewißheit über das wahre Verhältniß der Beiden zu erlangen, und da die Gouvernante mit Allem, was sie thut, sehr bestimmte Zwecke zu verbinden pflegt, so stieg mir bereits die unheimliche Ahnung auf, ein bedeutsameres Motiv, als reine Neugier, möge sie zu diesen Beobachtungen anspornen.
Der Musiker begegnete meinen Andeutungen mit jenem Lachen, das ihn den Frauen so gefährlich macht. „Seien Sie ruhig!“ sagte er. „Die Kleine fürchte ich nicht. Ich werde ein wenig liebenswürdig mit ihr sein und sie dadurch zufriedenstellen.“
Ich erwiderte nichts, weil mich die Antwort ärgerte, aber es sollte schlimmer kommen, denn am Abend entdeckte ich plötzlich Hirschfeldt in der animirtesten Unterhaltung mit Olga. Aus all’ ihren Zügen strahlte innere Befriedigung, und sehr häufig noch entdeckte ich sie später in des Capellmeisters Nähe und vernahm, wie sie nicht allein Witz- und Scherzworte mit ihm wechselte, sondern auch Blicke, die ihrerseits wenigstens an schmachtender Zärtlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Mit einem Worte – Hirschfeldt machte Olga den Hof, und sie ließ es sich mit wohligstem Behagen gefallen. Seitdem nun ist die Gouvernante wie umgewandelt. Die Beachtung, welche der Musiker ihr vielleicht zu ihrer eigenen Ueberraschung urplötzlich widmet, hat die verborgene Leidenschaft, die sie wahrscheinlich schon längere Zeit für ihn gehegt, zu hellen Flammen angefacht. Sie befindet sich in einer wahrhaft beängstigenden Aufregung, sodaß sie selbst in den Unterrichtsstunden die befremdlichsten Zerstreutheiten begeht. Fast das dritte Wort, welches sie spricht, ist Hirschfeldt’s Name. Gegen mich erging sie sich anfangs in sehr durchsichtigen Anspielungen und konnte sich endlich nicht versagen, mir geradezu und triumphirend die Mittheilung zu machen, der Capellmeister bete sie an, sie sei nur noch nicht mit sich im Reinen, ob sie seinen Bewerbungen Gehör schenken werde.
Ich fühlte mich diesen Gefühlsergüssen gegenüber nicht wenig in Verlegenheit gesetzt und konnte mich doch nicht enthalten, das erregte Mädchen darauf hinzuweisen, daß einige Aufmerksamkeiten von Seiten der Männer noch lange kein Beweis für deren ernstliche Absichten seien. Meine Worte hatten indessen eine der guten Absicht entgegengesetzte Wirkung. Olga Nikolajewna [662] fuhr gegen mich auf wie ein kleiner Sprühteufel. Jeder Zweifel an der Liebe Hirschfeldt’s würde ihr wie ein Frevel erscheinen, setzte sie mir in ungemeiner Ueberschwenglichkeit auseinander und machte nicht mißzuverstehende Andeutungen über den Neid von gewissen Personen, die ein Glück, wie es ihr zu Theil geworden, vielleicht vergebens ersehnt hätten.
Ich überließ sie nunmehr mit einem Achselzucken ihren Phantasiegebilden, aber die Geschichte erregte mir fortwährend ein höchst unbehagliches Gefühl, und ich fasse bis jetzt durchaus nicht, wie das seelische Gleichgewicht der Gouvernante sich wieder herstellen soll.
Gestern Abend hatten wir wieder unsere Soirée, aber es war ein rechter Unglückstag. Alle machten Fehler beim Spiele. Ich trug das neue große Trio von Rubinstein vor, welches die Musiker so schlecht begleiteten, daß es eine Schande war. Bei der Jubel-Ouverture von Weber, zu acht Händen gespielt, kam selbst Hirschfeldt ganze zwei Tacte zu früh. Wéra klagte über Kopfschmerzen und schien verstört. Ich wollte mich ihrer annehmen und sie, damit sie frische Luft schöpfe, in die Galerie führen, aber Herr Bessedofski, ein alter Musikschwärmer, bemächtigte sich meiner.
„Kommen Sie, Mademoiselle Helene!“ sagte er. „Zenaïde Petrowna will nicht glauben, daß der Componist des ‚Freischütz‘ ein Deutscher war. Sie meint, so göttliche Melodien könnten nur dem Kopfe eines Italieners oder Franzosen entsprungen sein. Kommen Sie also und helfen Sie mir die Nationalität Ihres genialen Landsmanns retten!“
Ich folgte der Aufforderung mit einen unterdrückten Seufzer und sah mich alsbald in eine so lange musikalische und eifrig geführte Unterhaltung verwickelt, daß ich nicht daran denken durfte, mich um sonst Jemanden zu bekümmern. Als es mir später endlich gelang, mich wieder zu befreien, mußte ich eine ganze Weile suchend umherspähen, bis ich einen Schimmer von Wéras lichter Seidenrobe im Winkel einer Fensternische entdeckte. Ich wollte mich ihr nähern, aber wie soll ich mein Erstaunen schildern, als ich neben ihr Olga entdeckte, die mit aller deckbaren Liebenswürdigkeit um sie bemüht schien und in ihrer sprudelnd lebendigen Manier sie sowohl wie den daneben stehenden Constantin Feodorowitsch so gut unterhielt, daß des Letzteren ernstes Gesicht in ungewohnter Heiterkeit erglänzte und er sich vor Lachen schüttelte, während selbst seiner Schwester sanfte Züge sich durch einen Schimmer von Frohsinn rosig angehaucht zeigten.
Einen Augenblick stand ich wie angewurzelt. Die Gouvernante in so herzlichem Beisammensein mit Derjenigen, in der sie doch vor allen Anderen eine gefährliche Nebenbuhlerin fürchten mußte! Es durchzuckte mich wie ein unheimlicher Schreck; einen besondern Grund mußte das haben, und sicher hatte es keinen guten. Ich trat zu der Gruppe, aber es wurde mir beinahe unerträglich, zu sehen, wie Olga, deren Herzenszustand ich doch kannte, vor meinen Augen mit dem jungen Rittmeister die Coquette spielte und zur Abwechselung wieder Fräulein Adrianoff mit fein angebrachten Schmeicheleien überschüttete. Ich freute mich von Herzen, als der allgemeine Aufbruch der Gesellschaft dieser mir unerträglichen Situation ein Ziel setzte.
Ja, ein Ziel für das eine Mal, aber wann werden alle mich umgebenden Wirrnisse ein Ende nehmen! Mitunter fühle ich mich unsäglich angewidert von all diesen Verhältnissen, in die ich gegen mein Wollen hineingerissen bin, von diesen Heimlichkeiten und Intriguen, denen meine offene Natur so durchaus widerstrebt. Mir ist, als sollte ich entfliehen von hier, weit, weit hinweg, je eher desto lieber. Es überfällt mich oft jetzt wie eine Sehnsucht nach den kleinsten, bescheidensten Verhältnissen, wenn nur Ruhe und Frieden im Herzen dabei zu erkaufen wären. Aber es geht nicht, kann nicht sein; noch stehe ich inmitten des Kampfes, und vorwärts muß ich, will ich – hindurch ohne zu erlahmen und zu ermatten, obgleich ich ohne Hoffnung kämpfe, obgleich oftmals mein Herz in der heißen Qual der Verdammten zuckt. Kein Galeerensclave hat jemals deutlicher die Kette gefühlt, an die man ihn angeschmiedet, als ich die Fessel, die mich hier zurückhält. – Warum nur diesen Mann lieben, der mir nichts bieten kann und will, als eine kühl verständige Freundschaft? Warum, ja – warum wendet die Blume ihr Haupt dem Alles belebenden Sonnenstrahle zu?
Es ist nicht der schöne und schön spielende, formengewandte Salonmensch, in den die übrigen jungen Damen sich verlieben, der mir gefallen könnte. Nein, im Gegentheile, mein Interesse fesselt der Mann, wenn er ernst ist, wenn er mit starkem, muthigem Herzen vor kühnem Wagen um die höheren Ziele des Lebens nicht zurückschreckt. Wenn seine Stirn in finsterem Unmuthe sich zusammenzieht, seine Hand sich ballt und der verhaltene Schmerz um die verkümmerte Liebe um seine Lippen zuckt, dann liebe ich ihn. Ich bin nicht blind gegen seine Fehler, gegen seinen Uebermuth, seine trotzige Selbstüberhebung; ich zürne ihm darum und ärgere mich über ihn, und dennoch weiß ich, fühle ich zu gleicher Zeit, daß es nur Flecken an der Sonne sind, daß sein edles Selbst im Augenblicke der That sich darüber erheben, sie, wie der Adler den Staub von seinen Flügeln schüttelt, von sich abstreifen wird, daß der Genius, dessen Hauch seine Stirn berührt hat, ihn emportragen muß über die kleinlichen Erbärmlichkeiten des Lebens. Und ich, ich will ihm zur Seite bleiben, rathend, helfend, oder auch nur tröstend, bis er mich entbehren kann, weil – er glücklich ist.
Es ist heute ein klarer, kalter Wintertag. Die Sonne funkelt auf der dichten, blendenden Schneedecke draußen, daß mir die Augen weh thun, und doch sehne ich mich nach der frischen Luft und freue mich auf die Spazierfahrt, auf der ich sogleich Madame Branikow begleiten werde. Die Zeit, die sie jetzt noch zu ihrer Toilette verwendet, gab mir die willkommene Ruhepause zum Schreiben, die sich später im Laufe des Tages wohl schwerlich noch gefunden hätte, denn zum Diner sind schon Hirschfeldt und noch mehrere Herren eingeladen, und diesen Abend soll wegen des Namensfestes der kleinen Alexandra eine Kindergesellschaft stattfinden, welcher von neun Uhr an eine Soirée für die Erwachsenen sich anschließen wird.
Die Uhr hat mit langsamen Schlägen bereits Mitternacht verkündet, im Hause wird es still und immer stiller, und doch sitze ich noch vollkommen wach in meinem einsamen Stübchen und kann keine Ruhe finden. Ich fühle, daß ich meine Gedanken ordnen, noch einmal ungestört in mein Gedächtniß zurückrufen muß, was sich gestern Abend und heute Alles begeben hat, wenn ich endlich volle Klarheit des Geistes und die nothdürftigste Ruhe im Gemüthe wiederfinden will. Hinreichend, um mir Beides zu rauben, waren die Wirrnisse in der That, die während der letzten vierundzwanzig Stunden auf mich einstürmten, und doch bedurfte ich aller meiner Geistesgegenwart niemals mehr. Schon gestern lag es schwer wie eine Ahnung kommenden Unheils in der mich umgebenden Luft. Ich kleidete mich mit Widerwillen zum Diner und der später folgenden Festlichkeit an und ließ mich selbst durch Masche’s eindringlichste Bitten nicht bewegen, meinem Anzuge von schwarzer Seide einen weiteren Zierrath hinzuzufügen, als Schleife und Gürtel von veilchenfarbigem Atlas.
„Fräulein sehen so blaß aus,“ sagte das gutmüthige Mädchen, „wenn Sie denn nicht ein blaues oder rothes Band nehmen wollen, sollten Sie mindestens ein wenig, nur ein ganz klein wenig Roth auf die Wange legen.“
„Masche, wie oft soll ich Dir wiederholen, daß ich nicht einmal Roth besitze und es nie in mein Gesicht bringen werde,“ rief ich voll wirklicher Ungeduld, aber die Zofe ließ sich nicht entmuthigen.
„O, wenn weiter nichts als das fehlt,“ meinte sie, ohne meinen letzten Ausspruch zu berücksichtigen. „Fräulein Olga hat eine ganze Menge von Schächtelchen, voll von allen möglichen Pulvern, und ihr Mädchen wird uns gern eins davon borgen.“
Ich sah mich genöthigt, die Schwätzerin ernstlich zur Ruhe zu verweisen, aber indem ich es that, regten sich in mir allerlei Gedanken hinsichtlich der frischen Farben, die seit einiger Zeit auf Olga’s Wangen erblüht sind. Früher würden diese Gedanken mich heiter gestimmt haben, gestern jedoch konnten sie mich nur bedenklicher machen. Die kleinen Verschönerungsmittel, deren sie sich geschickt genug bedient, stehen übrigens der Gouvernante ausgezeichnet. Sie sah bei Tische gut aus und machte so lebhaften Gebrauch von ihren geselligen Talenten, daß ich mir neben ihr wie eine Nonne vorkam.
Bis dahin ging Alles nach Wunsch. Ich bemühte mich, [663] dem Capellmeister auszuweichen, wie ich es beharrlich versucht, seit er Olga Nikolajewna den Hof macht. Er weiß sich mir freilich mit einer erstaunlichen Ungenirtheit wieder zu nähern und übersieht dabei ganz meinen Zorn. Wenn mich die schwarzen Augen dann mit einer verwunderten Frage in ihrer dunklen Tiefe so freundlich anschauen, bin ich leider oft nicht genug Herrin meines Willens, um die Hand, die unwillkürlich sich ihm entgegenstreckt, zurückzuhalten.
Der Verlauf einer Kindergesellschaft ist, denke ich, in aller Herren Ländern derselbe. Ich habe die Kinder gern, und so begann ich auch gestern, mich wirklich wohl zu fühlen, als ich mich nach Gefallen unter den fröhlichen Schwarm mischte, in dem so viel Lieblichkeit, Anmuth und Unschuld vereinigt war. Auch Hirschfeldt ist ein Kinderfreund, und das gefällt mir an ihm. Wie ich die schlanke Gestalt inmitten der Kleinen erblickte, wie ich ihn nicht müde werden sah, auf ihre Neckereien einzugehen, mit ihnen zu spielen und endlich zu tanzen, da fühlte ich in meinem Herzen den Groll gegen ihn verschwinden.
Fräulein Adrianoff kam mit ihrer Mutter, da Constantin erst um neun Uhr erwartet wurde. Sie strahlte in Schönheit und Glück. „Fräulein Helene,“ war das erste Wort, welches sie mir zuflüsterte, „keiner Ihrer kleinen Gäste kann sich mehr auf dieses Fest gefreut haben, als ich.“
Ihre Freude war mir nur zu begreiflich. Heute, in der Zwanglosigkeit der Kindergesellschaft, dem Bereiche von Constantin’s scharfen Augen entrückt, fühlte sie sich frei, hatte auch den besten Willen, diese Freiheit zu genießen, und that es nach Herzenslust. Ich habe sie noch niemals so belebt gesehen, wie gestern. Sie setzte offenbar den Becher, den die Gunst des Augenblickes ihr bot, frisch an die Lippen und schlürfte den goldenen Trank, ohne vorwärts oder rückwärts zu blicken. Sie fand Gelegenheit, mit Hirschfeldt hier und da ein unbeachtetes Wort zu wechseln, ja, ich entdeckte mehrmals die Beiden in einem Winkel oder von einer Blumengruppe halb versteckt, und als Wéra später zu mir kam und mit einem vielsagenden Händedrucke ihren Empfindungen Ausdruck gab, legten ihre feucht glänzenden Augen, ihre glühenden Wangen deutlich genug Zeugniß von dem Inhalte der gehabten Unterredung ab.
Sie tanzten miteinander. Wéra tanzen zu sehen, ist schon an und für sich ein Genuß. Die russischen Damen ähneln überhaupt, was Grazie und Leichtigkeit der Bewegung anbetrifft, den Französinnen, übertreffen sie vielleicht sogar, und zumal Fräulein Adrianoff ist im Tanzen die vollständige Sylphide. Ihre prachtvoll ebenmäßig gebaute, biegsame Gestalt folgt dem Rhythmus der Musik in so natürlich anmuthiger Sicherheit, daß sich dem Zuschauer sofort die Ueberzeugung aufdrängt: das ist nichts Studirtes oder auch nur Erlerntes, sondern die vollständigste Natur. Sie kann eben nicht anders, als sich vollkommen der Musik anschmiegen, und dabei berühren ihre zierlichen, kleinen Füße in spielender Leichtigkeit kaum das glänzende Parquet. Wéra, tanzend im Arme des Geliebten, war ein bezauberndes Bild. Beide gleich schön und in diesem Augenblicke gleich selig, vergaßen sie, daß das Antlitz der Spiegel der Seele ist, vergaßen die Maske der Convenienz auf demselben fest zu halten, und daß es Augen in ihrer Nähe geben könne, die, minder strahlend als die ihrigen, versuchen möchten, in diesem unbewachten Moment darin zu lesen.
Mir erzitterte das Herz in glühendem Weh, und dennoch konnte ich meine Blicke, die wie gebannt dem Paare folgen mußten, nicht losreißen. Ich that es endlich gewaltsam und eilte an das Instrument, von welchem ich den für diesen Abend engagirten Pianisten mit dem Bemerken fortcomplimentirte, daß, da ich nicht tanze, es mir Vergnügen machen würde, wenigstens für eine Weile zum Tanze zu spielen. Ich that es in dem verzweiflungsvollen Bestreben, etwas zu beginnen, das meine Gedanken betäubte und abzog. Ich spielte, ohne zu denken oder mich einmal umzusehen, ohne Aufhören Alles, was ich eben in den vor mir liegenden Heften fand, vom schwermüthigsten deutschen Walzer bis zur wildrauschenden Mazurka, zu deren Klängen die Knaben vor Freude jauchzten und sich mit hellem Gelächter mühten, dem schwindelnden Tempo zu folgen. Ich fühlte wirklich fast eine Art von Betäubung. Es war wie ein Traum, aus dem ich nicht erwachen wollte. Aber das Erwachen kam ohne mein Zuthun, indem eine Hand leicht und elastisch meine Schulter berührte. Als ich empor sah, schaute ich in Hirschfeldt’s unruhig bewegte Züge.
„Wo ist Wéra?“ fragte er.
Ich, ohne mich stören zu lassen und nur etwas leiser die Tasten anschlagend, antwortete ihm:
„Als ich sie zuletzt sah, tanzten Sie mit ihr.“
„O, das war vorhin“ – seine Stimme zitterte fast in unterdrückter Ungeduld –, „aber ich wurde in den Salon gerufen und dort von der alten Kleopatra Feodorowna, die an Nichts mehr denkt als an das Wohlthätigkeitsconcert, fast eine halbe Stunde mit langweiligen Reden festgehalten. Als ich darauf zurückkehrte, war Wéra verschwunden; ich sehe sie weder hier noch im Salon, und … und … auch Olga Nikolajewna erblicke ich nirgends. Beide sind, wie die kleine Alexandra mir sagte, zusammen fortgegangen.“
Ich spielte einen Schlußaccord und stand langsam auf. Wie immer, wenn eine Thatsache unmittelbar an mich herantritt, war auch jetzt vollkommene Ruhe über mich gekommen. Ich wußte, daß der Capellmeister in der That Ursache hatte, sich zu beunruhigen, denn Fräulein Adrianoff ist nichts weniger als vorsichtig und Olga – eine Intriguantin.
Die Thür nach der Galerie war der Kälte wegen geschlossen; die jungen Damen mußten also, wenn nicht im Salon, so doch an der gegenüber befindlichen Seite desselben zu finden sein, und ich ging, sie zu suchen. Kaum hatte ich jedoch einige Schritte gethan, als ich einen der Diener gewahrte, der, sichtbar verstört und mit spähenden Blicken, im Eingänge des Salons erschien und, sobald er mich erblickt, auf mich zueilte.
„Was giebt’s, Wassili?“ fragte ich, ihm entgegen tretend.
„Ach, Fräulein,“ lautete die leise und hastig gegebene Antwort, „Sie möchten doch rasch kommen: die Gouvernante ist ohnmächtig geworden.“
Hirschfeldt, der sich an meiner Seite gehalten, schien mit einer Fluth von Fragen auf den erschrockenen Boten zustürzen zu wollen, doch ich schob ihn beschwichtigend zurück und fragte nur den Letzteren, wo Olga sich befände.
„In Zenaïde Petrowna’s kleinem Salon, und es ist Niemand bei ihr als Fräulein Adrianoff.“
Gut – um in Madame Branikow’s kleines Empfangszimmer zu gelangen, mußte man entweder die Schlafzimmer oder den mit Gästen angefüllten großen Salon durchschreiten, es war demnach unmöglich, daß der Capellmeister, ohne Aufsehen zu erregen, mich dahin begleiten konnte. Auf meine Erinnerung daran blieb er allerdings zurück, aber ich hatte noch nie eine solche Unruhe bei ihm wahrgenommen, wie sich in Folge meiner Worte auf seinem Antlitze abspiegelte. Ich gebot noch Wassili, Niemand weiter von dem Vorfalle zu benachrichtigen, da man die Gäste nicht beunruhigen dürfe, und dann suchte ich, so unvermerkt wie möglich an all’ den lachenden, schwatzenden kleinen und großen Menschen vorüber gleitend, das bezeichnete Gemach zu erreichen.
Es ist ein Raum, nahezu ebenso groß wie der Salon, aber man hat ihn durch einen schweren, großen Vorhang von violettem Sammet in zwei Hälften getheilt, deren eine, wie das häufig in Rußland geschieht, als Schlafzimmer benutzt wird, während in der vorderen Madame sich vorzugsweise aufhält, wenn sie es sich bequem machen will, wenn sie nicht für Jedermann daheim ist und nur nahe Bekannte empfängt. An der einen Seite befindet sich hier ein großer, ringsum freistehender ruhebettartiger Divan, dessen Kopfende von den vorzüglich schönen Kronen einiger schlanken Palmen überragt wird, die so geschickt angebracht sind, daß die ganz mit Polstern umkleideten Kübel allerliebste Ruhesitze bilden. Hier, unter dem grünen Blätterdache, auf Zenaïde Petrowna’s Lieblingsplatze, lag die Gouvernante, nicht mehr, wie Wassili gesagt, in Ohnmacht, sondern in Krämpfen. Sie stieß immerwährend entweder halblaute, kaum verständliche Worte oder unarticulirte Töne aus, griff mit den Händen wild um sich und schüttelte sich in Convulsionen, während Fräulein Adrianoff, Todesangst in allen Zügen, sie zu halten suchte und sie mit einer starkduftenden Flüssigkeit aus ihrem Flacon überschüttete. Sobald das Fräulein meiner ansichtig wurde, stieß sie einen hörbaren Seufzer der Erleichterung aus.
„O, Fräulein Helene, welch Glück, daß Sie kommen! Helfen Sie!“
[664] „Mein Gott, was ist vorgefallen?“ fragte ich, indem ich aus einer Krystallflasche ein Glas mit Wasser füllte und zu der Gruppe herantrat.
Wéra, die mir sofort den Platz neben Olga abtrat, starrte mich mit ihren großen Augen rathlos und ängstlich an. „Es ist entsetzlich,“ sagte sie, „ich bin beinahe gestorben vor Angst.“
„Aber was ist geschehen?“ wiederholte ich, während ich versuchte, die Leidende emporzurichten und ihr einige Tropfen Wasser einzuflößen. „Olga war doch vor einer Stunde noch vollkommen wohl.“
Wéra’s Wangen überhauchte bei meiner dringenderen Frage ein mattes Roth, und ihr Blick suchte den meinigen zu vermeiden. „Wir wollten einen Augenblick hier ausruhen,“ sagte sie, fast bei jedem Worte stockend. „Wir plauderten – über – mancherlei, und –“
„Und –?“ Ich wollte der Sache auf den Grund kommen und sah deshalb die junge Dame so fest und fragend an, daß sie noch mehr erröthete, aber sich zu gleicher Zeit zum Antworten gezwungen fühlte.
„Und – wir – wir sprachen über Hirschfeldt,“ fuhr sie langsam fort, „als dieser furchtbare Zufall eintrat, als –“
„Alexis!“ kreischte in demselben Augenblick Olga laut auf und fuhr abermals wild empor.
Ich sah unwillkürlich, fast entsetzt nach dem Eingange zum Salon, der nur durch einen dichten Vorhang geschlossen war und von wo aus wir keine Minute vor Ueberraschung sicher waren. „Vor allen Dingen müssen wir sie von hier fortschaffen,“ dachte ich, machte aber in eben der Secunde auch die wenig tröstliche Entdeckung, daß ich auf Hülfe von Seiten des Fräulein Adrianoff schwerlich würde rechnen können, denn diese war neben dem Divan niedergesunken und verbarg schluchzend das Antlitz in den Kissen desselben.
Wäre nur meine treue Masche zu erreichen gewesen! Ich wollte einen Augenblick der Ruhe, der in Olga’s Zustand eingetreten war, benutzen, um mich in dem Gemache nebenan nach einer Kammerzofe umzusehen, und näherte mich deshalb dem großen Vorhange. Noch bevor ich ihn erreicht hatte, thaten sich jedoch die Falten desselben auseinander, und – ich prallte erschrocken zurück – der Capellmeister trat mir entgegen.
Dieser Mensch wagt in der That Alles. Hätte Madame ihn aus ihrem Schlafzimmer kommen sehen, ich bin gewiß, sie würde ihm sofort die Thür gezeigt haben.
„Woher kommen Sie?“ frug ich ernst.
Er zuckte die Achseln und sagte, vollends näher kommend. „Ich mußte wissen, was vorgeht, und darum habe ich mir durch die verschiedenen Corridore und Nebenzimmer einen Weg gebahnt. Aber wo ist Wéra?“
Die Genannte war bei dem ersten Laut seiner Stimme bereits wie eine Feder emporgeschnellt, und auch auf die Gouvernante hatte dieselbe eine bemerkenswerthe Wirkung geäußert. Zuerst hatte es wie ein Beben ihren Körper durchzuckt, dann richtete sie sich in eine sitzende Stellung empor, strich das herabgeglittene Haar aus der Stirn und schaute mit weitgeöffneten Augen Hirschfeldt an. Er aber warf nur einen flüchtigen Blick auf sie, der ihm freilich den Stand der Dinge vollkommen klar zu machen schien. Er ging zu Fräulein Adrianoff und sagte zitterd vor Erregung, fast drohend: „Haben Sie vergessen, Wéra, was ich Ihnen verboten habe? Haben Sie meine Warnungen vergessen?“
„O nein!“ Sie sah flehend in seine blitzenden Augen und erbebte leise. „Ich werde sie nie vergessen.“
„Sie dürfen nicht hier bleiben,“ fuhr er dringender fort. „Unter keiner Bedingung darf man Sie hier finden. Begreifen Sie nicht, Wéra, was auf dem Spiele steht? Sie müssen sofort in den Saal zurückkehren. Sie müssen sogar tanzen.“
„Ich kann nicht. O nein, Alexis, ich kann es wirklich nicht,“ entgegnete Fräulein Adrianoff, welche sich vergebens bemühte, ihre Thränen zurückzuhalten.
„Wéra!“ In dem einen Rufe seiner modulationsfähigen Stimme lag Alles ausgedrückt – eine zärtliche Bitte und ein drohender Befehl. „Wéra, ich will es; kehren Sie in den Saal zurück! Wenn es hier zu irgend einem heftigen Auftritt kommen sollte – begreifen Sie nicht, daß die Folgen unberechenbar sein würden? Kommen Sie,“ er zog das junge Mädchen, welches unfähig war, ihm noch irgend einen Widerstand entgegen zu setzen bis an den Vorhang. „Gehen Sie durch die nächsten beiden Zimmer!“ gebot er. „Auf dem Corridore finden Sie Wassili, dem ich einen Rubel gegeben habe; er wird Sie in den Musiksaal führen.“
Er sah ihr nach, bis der letzte Schimmer ihrer knisternden Seidenrobe hinter den dunklen Falten des Vorhanges verschwunden war, und als er sich dann in’s Zimmer zurück wendete, stand Olga Nikolajewna vor ihm.
Diese Letztere hatte von dem Momente an, als er das Gemach betreten, ihn nicht aus den Augen gelassen. Sie war seitdem wie mit einem Schlage wieder Herrin ihrer selbst, wenn auch ihre Aufregung noch immer etwas Beängstigendes hatte. Ob die zwischen Wéra und Hirschfeldt gewechselten Worte ihr trotz ihres Aufhorchens unverständlich geblieben waren, vermag ich nicht zu entscheiden, glaube es jedoch, da sie in deutscher Sprache und gedämpften Tones gesprochen waren und Alles nur den Verlauf weniger Secunden in Anspruch genommen hatte.
Wie dem aber auch sei, sie hatte genug begriffen. Ich hätte sehr wenig Fassungsgabe besitzen müssen, um nicht von vorne herein zu verstehen, daß sie all ihr Geschick für die Intrigue angewendet hatte, Fräulein Wéra zutraulich zu machen, daß sie sich mit derselben isolirt hatte, um sie über ihr Verhältniß zu Hirschfeldt auszuforschen und daß sie vorhin, durch irgend welche unvorsichtige Aeußerungen des Fräuleins, in eine Aufregung versetzt war, die ihr alle Besinnung geraubt hatte. Jetzt stand sie dem Musiker gegenüber mit funkelnden Augen und bebenden Lippen.
„Verräther!“ zischte sie ihm zu.
Eine plötzliche Gluth überflog seine Stirn; seine Blicke trafen sie wie zwei Blitze, und während einiger Secunden glaubte ich, der in ihm wogende Unmuth würde gegen sie losbrechen. Hirschfeldt faßte sich indessen schnell wieder und sagte mit vollkommener Selbstbeherrschung im leichten Conversationstone: „Sie sind erregt, mein Fräulein. Ich denke, eine Stunde der Ruhe und ungestörten Nachdenkens würde Sie wieder herstellen.“
Olga’s Hände ballten sich; sie rang nach Athem, als wolle der Zorn sie ersticken, und im Geiste sah ich bereits den Krampfanfall zurückkehren, aber die Wuth siegte in ihr und ließ sofort mit Gedankenschnelle die Worte über ihre Lippen sprudeln: „Ah, mein Herr,“ rief sie, „man kennt Sie endlich, man weiß, was Ihre Liebesbetheuerungen zu bedeuten haben. O, ich danke dem Himmel, daß Sie gerade in diesem Augenblicke vor mir stehen, daß ich gleich jetzt meiner Empörung Worte geben kann. Sie haben mit meinem Herzen ein unwürdiges Spiel getrieben, ein falsches, schändliches, nichtswürdiges Spiel. Aber wenn Sie wähnten, man dürfe mich ungestraft mit Füßen treten, so sollen Sie eines Tages Ihren Irrthum erkennen, und ich will wenigstens die Genugthuung haben, Ihnen zu sagen, daß ich Sie verabscheue.“
Um Luft zu schöpfen, hielt sie einen Moment inne. Der Gegenstand ihrer zornigen Aufregung ließ den Blick von ihr zu mir mit einem Achselzucken herüber schweifen, welches zu sagen schien: „Was will sie eigentlich von mir mit all dieser tollen Wuth?“
Olga aber hatte diese Bewegung mit raschem Blick erfaßt. Ein erneutes Zittern überlief ihren Körper. Sie schüttelte die kleine Faust gegen ihren Widersacher und schleuderte ihm giftig die Worte zu: „Spielen Sie nicht den Unschuldigen, den Unwissenden – ich weiß Alles.“
Da schient auch ihn die Geduld zu verlassen. Er stampfte mit dem Fuße und rief heftig, ihr einen Schritt näher tretend: „Was wissen Sie?“
„Genug, um mich zu rächen,“ lautete Olga Nikolajewna’s Antwort, und indem sie Hirschfeldt herausfordernd anschaute, strich sie hoch aufathmend das dunkle Haar von der Stirn. Es schien ihr eine Art von Befriedigung zu gewähren, daß endlich sein Gleichmuth ihn verlassen, daß sie die verwundbare Stelle getroffen habe.
Mich empörte die ganze Scene in tiefster Seele, und da die Gouvernante auf’s Neue in Verwünschungen und Drohungen ausbrach, ging ich auf sie zu, fest entschlossen, ein Ende zu machen – da plötzlich rauschte die Portière hinter uns, und als
[665]wir alle Drei wie auf Commando uns umsahen, stand – stolz aufgerichtet wie eine Fürstin – Zenaïde Petrowna uns gegenüber, äußerste Verwunderung in allen Zügen.
„Was ging hier vor?“ fragte sie, näher rauschend, in französischer Sprache.
In Olga’s Gesicht leuchtete ein boshafter Triumph auf. Sie setzte ihre Schmähungen und Anklagen gegen den Capellmeister in womöglich noch stärkeren Accenten fort.
Madame ließ die Blicke mit einem Gemisch von Erstaunen und Entrüstung von Einem der Beiden zum Andern gleiten, bis dieselben drohend an Hirschfeldt haften blieben.
„Mein Herr, ich begreife nicht –?“
Aber ihn verließ im entscheidenden Augenblicke die Geistesgegenwart nicht. „Ich ebenfalls nicht, Madame,“ sagte er mit ungeheuer imponirender Sicherheit und stellte sich neben Zenaïde Petrowna, seine Feindin mit den Blicken messend.
Diese stieß einen Schrei der Wuth aus, stürzte zu ihm hin und rief, seinen Arm umklammernd: „Mein Herr, Sie sind ein niederträchtiger Mensch. Spielen Sie nicht den Unschuldigen! Soll ich Ihnen Ihre Liebesbetheuerungen etwa jetzt in’s Gedächtniß zurückrufen? Aber nein, ich verachte dieselben und begehre sie nicht mehr. Ebenso wie ich Sie geliebt habe, hasse ich Sie nunmehr. Hören Sie, ich hasse Sie, da ich Ihre Falschheit kenne, da ich weiß –“
[666]
Sie vollendete nicht, denn zornig, wie ich ihn noch niemals gesehen, mit blitzenden Augen und drohend zusammengezogenen Brauen, riß der Capellmeister sich los und schleuderte Olga’s Hand von sich. „Schweigen Sie!“ donnerte er ihr zu. „Halten Sie inne mit diesen wahnsinnigen Anschuldigungen, an denen kein wahres Wort ist! Niemals habe ich Ihnen Liebesbetheuerungen gemacht, niemals, und ich begreife nicht, was Sie mit alledem eigentlich von mir wollen.“
Sie öffnete noch einmal ihre Lippen, doch in dem Augenblicke, da ihr Blick dem seinigen begegnete, erschrak sie vielleicht vor dem Ausdrucke, der ihr daraus entgegensprühte; sie verstummte, und da sie alle ihre anderen Waffen als machtlos erkannt, nahm sie ihre Zuflucht zu dem letzten Hülfsmittel der Frauen, warf sich wiederum auf Zenaïde Petrowna’s Divan unter den Palmenkronen und brach in ein hysterisches Schluchzen aus.
Vor einiger Zeit besuchte ich einen auf dem Lande wohnenden Bekannten und wurde, als ich in das kleine und niedrige Wohnzimmer eintrat, angenehm überrascht durch eine außerordentlich wohlthuende mildfeuchte Atmosphäre. Ich fand außerdem in dem Zimmer, in welchem früher, bei größter Reinlichkeit und sorgfältigster Durchlüftung, die einfachsten Stubengewächse nicht fortkommen wollten, Topfpflanzen in solcher Ueppigkeit und Fülle, wie sie selten schöner angetroffen werden mögen. – Diese merkwürdigen Resultate werden erzielt durch einen Zimmerspringbrunnen, der als das Product zwölfjährigen Strebens in seiner nun gelungenen ersten Ausführung zwar noch mannigfacher Verbesserungen fähig ist, der aber nichtsdestoweniger seine vielseitige Zweckmäßigkeit auf’s Schönste bewährt und dessen weiteste und allgemeinste Verbreitung angelegentlichst empfohlen zu werden verdient.
Jahrelange geschäftliche Ueberanstrengung und ein unausgesetztes Zusammentreffen von Unannehmlichkeiten und Verdrießlichkeiten aller Art hatten die Gesundheit des Erfinders nach und nach so aufgerieben, daß er bald nach seiner Verheirathung in hohem Grade lungenkrank wurde und mehrfach den ärztlichen Rath erhielt, wenn er sein Leben noch einige Jahre fristen wolle, sein Geschäft aufzugeben und entweder seinen Aufenthalt in Nizza zu nehmen, oder wenn er das nicht könne, neben ruhiger und vorsichtiger Lebensweise, sich stets in seinem Zimmer eine mäßig erwärmte, feuchte, milde Luft zu erhalten. – Mit der ganzen Familie nach Nizza zu gehen, gestatteten die Verhältnisse nicht, und sich – vielleicht auf Nimmerwiedersehen – von der Familie zu trennen, dazu konnte der Kranke sich nicht entschließen; er wählte daher die zuletzt empfohlene Aushülfe.
Zunächst wurde der Zweck durch Aufstellen eines offenen Gefäßes mit Wasser zu erreichen gesucht, bei gewöhnlicher Temperatur war jedoch die Verdunstung eine so geringe, daß sie sich an der Luft nicht bemerkbar machte, und bei Erwärmung des Wassers gab der aufsteigende erwärmte Dunst Veranlassung, daß sich nach einiger Zeit überall im Zimmer Pilze ansetzten, welche einen unangenehmen Geruch verbreiteten und die Luft nicht erfrischend, sondern dumpf machten. Es mußte also zu anderen Versuchen übergegangen werden, und es sind dieselben mit einer Ausdauer und Unverdrossenheit unternommen und fortgesetzt worden, welche bei den vielen dabei dem Erfinder in den Weg tretenden Schwierigkeiten nur in dem Lebenserhaltungstriebe ihre Erklärung finden. Um so erfreulicher ist es, sie endlich mit Erfolg gekrönt zu sehen. Der von ihm hergestellte Zimmerspringbrunnen, welcher zugleich auch als Zimmeraquarium dient und dessen Aeußeres durch die beigegebene Zeichnung veranschaulicht wird, ist so einfach construirt, daß man sich eigentlich darüber verwundern muß, daß nicht schon längst Jemand auf die Idee einer solchen Herstellung gekommen ist, da man doch Fontainen und Aquarien allerwärts und in der verschiedensten Art besitzt.
Ueber dem auf einem Untergestell ruhenden, mit Wasser gefüllten Blechkasten erhebt sich ein wegnehmbarer Aufsatz, welcher (in der Form eines Hauses mit Thür und Fenster aus Spiegelglas) das unter demselben befindliche Triebwerk verdeckt. Dieses Triebwerk besteht aus einem sogenannten Paternosterwerke, welches durch ein Gewicht in Bewegung gesetzt wird. Man wählte dasselbe, weil es nach den damit gemachten Erfahrungen die geringste Kraft erfordert und, wenn es gut regulirt ist, am gleichmäßigsten wirkt. Es kann übrigens auch ein Schöpfrad, oder eine Druckpumpe in Anwendung gebracht werden; jenes erfordert jedoch eine größere Kraft und diese ist leichter Störungen ausgesetzt. Das Paternosterwerk hebt das Wasser auf siebenundfünfzig Centimeter und wird durch einen einfachen Apparat in der Weise regulirt, daß genau so viel Wasser gehoben wird, als die Fontaine, welche fünfundvierzig bis siebenundvierzig Centimeter hoch springt, abgiebt, sodaß, wenn ein mehrstrahliger oder erweiterter Aufsatz an dem Springrohre eine größere Wassermenge durchläßt, eine gleich größere Wasserhebung erfolgt. Das Triebwerk braucht nur alle zwölf Stunden, also wenn man es nur am Tage in Bewegung haben will, täglich nur einmal Morgens aufgezogen zu werden; dies geschieht mittelst einer Kurbel, welche an der Dachluke eingesteckt wird und wobei äußerlich Alles ruhig stehen bleibt. Die Fontaine springt dann ununterbrochen und gleichmäßig den ganzen Tag, und dabei kann – was auch oben schon angedeutet wurde – wie bei jedem anderen Springbrunnen, durch die verschiedenartigsten Aufsätze dem Wasserstrahle jede beliebige Form gegeben werden.
Die Zimmerfontaine bildet nach den Beobachtungen des Erfinders einen Anziehungspunkt für Staub und sonstige Unreinigkeiten der Atmosphäre, welche von dem Wasserstrahle aufgenommen und im Bassin als Schlamm niedergeschlagen werden; sie reinigt also die Luft und macht dieselbe nebenbei durch die ständige kühle und gleichmäßige Verdunstung feucht und mild. Eine solche erfrischende Atmosphäre, in einem bei kühler oder kalter Witterung entsprechend erwärmten Zimmer, übt eine außerordentlich wohlthätige Wirkung auf fast alle Menschen, insbesondere aber auf diejenigen, deren Respirationsorgane leidend sind. Es dürfte sogar, nach der bei dem Erfinder selbst erzielten Wirkung, die Frage erlaubt sein, ob nicht der Aufenthalt in einer solch erfrischenden Atmosphäre, welche nach jedem Bedürfnisse regulirt werden kann, in Verbindung mit den gewohnten Bequemlichkeiten des eigenen Hauses, dem Aufenthalte in Nizza, mit welchem immerhin eine gewisse Unruhe bezüglich der zurückgebliebenen Angehörigen verbunden sein mag, vorzuziehen sei. Der Erfinder verdankt dem von ihm construirten Apparate eine recht erfreuliche Besserung seines Zustandes.
Der Zimmerspringbrunnen eignet sich hiernach auch ganz besonders für Räume, in welchen Luftheizung stattfindet, da durch denselben die mit jener verbundene Austrocknung der Luft beseitigt wird, ebenso für menschenvolle Räume, wie z. B. Schulzimmer, starkbesetzte Bureaux, zahlreich besuchte Wirthslocalitäten etc. etc., und nicht weniger für Gewächshäuser, wenn er in größerm Maßstabe ausgeführt wird, da seine einfache Einrichtung überall seine Aufstellung ermöglicht.
Das mit demselben verbundene Aquarium verdient vor den gewöhnlichen Stuben-Aquarien mit ihrem nach kurzer Zeit meist trüben und schmutzigen Wasser den entschiedensten Vorzug, weil das Wasser fortwährend atmosphärische Luft aufnimmt und, wenn es nicht in Folge eintretenden Witterungswechsels vorübergehend getrübt wird – in welchem Falle es nach den gemachten Beobachtungen auch einen durchaus zuverlässigen Barometer abgiebt – immer spiegelklar bleibt, ja, wenn selbst das Wasser bei dem Einfüllen trübe ist, so klärt es sich bald vollständig, so daß es nach kurzer Zeit hell und durchsichtig wird. Erneuert muß natürlich das Wasser durch frischen Zuguß werden, um das durch die Verdunstung abgegangene Quantum zu ergänzen und wenn die nothwendige Entfernung des durch den Staubniederschlag und die Losung der Thiere abgelagerten Schlamms dies erforderlich macht. Jenes kann täglich oder auch alle acht bis vierzehn Tage, dieses nach weit längerer Zeit geschehen.
[667] Die Thiere zeigen im Zimmerspringbrunnen ein überraschend freudiges Gedeihen und eine Munterkeit, wie sie in der freien Natur nicht interessanter gefunden werden dürfte, und es kann daher ein solches Aquarium jedem Naturfreunde empfohlen werden. Selbst für Naturforscher möchte dasselbe der Beachtung werth erscheinen, da dasselbe, wie ein Blumentisch, nach Belieben aufgestellt und von jeder Stelle des Zimmers aus beobachtet werden kann.
Ein auch äußerlich geschmackvoll ausgestattetes Fontaineaquarium bildet einen außerordentlich freundlichen Schmuck für jedes Zimmer, da das trauliche Springen und Plätschern des Wassers, die erfrischende wohlthuende Atmosphäre, das muntere Treiben und Spielen der Wasserthiere in dem stets vom reinsten und klarsten Wasser gefüllten Bassin, die Ueppigkeit und Fülle der in der Umgebung zweckmäßig aufgestellten Gewächse auf jeden Menschen den angenehmsten Eindruck machen müssen.
Die bis jetzt bekannten Zimmerfontainen können in keiner Weise diesem Fontaineaquarium gleich gestellt werden. Der sogenannte Heronsbrunnen ist, da er immer umgefüllt werden muß und nicht einmal gleichmäßig springt, eine höchst beschwerliche und werthlose Spielerei, und eine Fontaine, welche durch eine Spiritusflamme in Bewegung gesetzt wird, übt durch den hieraus entstehenden Dunst, neben ihrer Kostspieligkeit, die entgegengesetzte Wirkung.
Es darf als sicher angenommen werden, daß der Zimmerspringbrunnen, wenn er von tüchtiger Hand mit den etwa noch wünschenswerthen Verbesserungen und, zur Erzielung eines angemessenen billigen Preises, in größerer Anzahl gefertigt wird, die ausgedehnteste Verbreitung und überall freundliche Aufnahme findet, da sein vielseitiger Werth, wenn er einmal erkannt worden, ihm jedenfalls allerwärts die Wege bahnt. Hierzu Anregung zu geben, ist der Zweck dieser Zeilen. – Weitere Auskunft, wenn eine solche noch gewünscht wird, ertheilt durch dritte Hand bereitwilligst die Redaction der Gartenlaube.
Es unterliegt für alle Die, welche das Ausland besucht haben, keinem Zweifel, daß die Einrichtungen der deutschen Eisenbahnen denen anderer Länder bei weitem vorzuziehen sind. Keineswegs ist es nationale Eitelkeit, welche uns diesen Gedanken eingiebt, im Gegentheil: gerade diese Zeilen sollen dazu dienen, auf einige Mängel hinzuweisen, welche bei uns vorhanden sind, welche aber auch mit Leichtigkeit gehoben werden können. Um aber die zuerst ausgesprochene Ansicht zu motiviren, erinnere ich nur daran, daß man im Auslande immer 1. Classe reist, in Deutschland im Allgemeinen 2. Classe. Die Deutschen der Ostseeprovinzen Rußlands nehmen sich ein gemischtes Billet, wenn sie von ihrer Heimath oder auch von St. Petersburg nach Deutschland und umgekehrt reisen wollen. Ein solches gemischtes Billet, welches man eben nur an der dortigen Grenze und für die dortigen Städte bekommt, berechtigt in Rußland zur Fahrt 1. Classe, in Deutschland zur Fahrt 2. Classe. Deutlicher kann man wohl nicht sagen: in Deutschland ist die 2. Classe so gut wie in Rußland die 1. Classe. Aber in Rußland ist die 1. Classe noch bedeutend besser als in England, Frankreich und Italien. Die 3. Classe ist in allen Ländern ungefähr gleich gut, aber nur in Deutschland sind im Winter die Waggons 3. Classe gut geheizt und nur in Deutschland hat man bei der 3. Classe (wenigstens in Preußen) eigene Coupés für Nichtraucher und für Frauen. Eine 4. Classe, diesen Segen für das unbemittelte Volk, kennt man nur in Deutschland, ja, man geht jetzt in Preußen sogar damit um, auch für die 4. Classe Frauencoupés zu errichten.
Im Allgemeinen kann man auch sagen, daß der Betrieb in Deutschland musterhaft ist, obschon hier ein großer Unterschied besteht zwischen den Bahnen, welche von den Regierungen, und denen, die von Gesellschaften verwaltet werden. Bei den Regierungsbahnen merkt man, daß sie für das Publicum und zum Besten desselben existiren, bei den von den Gesellschaften hergestellten kann man sich des Gefühls und des Gedankens nicht erwehren, das Publicum sei um der Bahnen willen da. Namentlich augenfällig tritt dies im Winter zu Tage, wo Waggons der von einer Regierung verwalteten Bahn mit Munificenz geheizt werden, während bei den Gesellschaftsbahnen mit ängstlicher Sorgfalt ein gewisser Kältegrad abgewartet wird, bis man sich dazu entschließt, Wartezimmer und Waggons zu heizen.
Da wir nun einmal bei der Heizung sind, so glauben wir, daß es gewiß zweckmäßig wäre, hierin eine Einheit zu erzielen, sowohl darin, wie die Waggons, als bei welcher Temperatur dieselben geheizt werden müßten. Man sollte denken, daß jetzt am Ende die Erfahrung gesprochen haben müßte, nach welcher Methode die Waggons zu heizen wären. Aber noch immer findet man hier die Dampfheizung, dort heiße Wasserkruken, hier Oefen, dort Heizung mit comprimirten Kohlen in eisernen Kästen. Zugegeben auch, unsere Waggons lassen sich nicht nach Einer Methode heizen, indem die 3. und 4. Classe meistens aus ineinandergehenden Coupés in einem Wagen bestehen, die 1. und 2. Classe aber nur aus getrennten Coupés, so sollte man doch meinen, daß sich innerhalb dieser Classen eine Einheitlichkeit erzielen ließe. Und namentlich sollte dann den Reisenden bekannt gemacht werden, wann man für sein Geld Heizung haben und verlangen kann. Wartezimmer sollten unter allen Umständen im Winter erwärmt sein; an der Rheinischen Bahn z. B. giebt es viele Stationen, wo im Winter bei der größten Kälte der Wartesaal 1. und 2. Classe aus Sparsamkeit nicht geheizt wird, weil man in der Regel auf keine Passagiere rechnet.
Während man in Norddeutschland auch auf den kleinsten Bahnhöfen Restaurationen findet, scheint man in Süddeutschland sich von der Wohlthätigkeit solcher Einrichtungen nicht haben überzeugen zu können. Die württembergischen Bahnen z. B. haben auf vielen kleineren und oft auch auf größeren Stationen keine Restaurationen. Beispielsweise führe ich nur den Kreuzungspunkt Horb an, wo nicht einmal eine Tasse Kaffee zu bekommen ist, weil keine Restauration existirt. Württemberg hat Staatsbahnen, fährt man indeß in diesem Ländchen, so meint man in Italien zu sein, so schmutzig sind die Waggons im Vergleiche mit den überall in Deutschland so sauber gehaltenen Coupés. Auch in Baden fehlen die Restaurationen auf den kleineren Stationen, obschon die Sauberkeit der Waggons und der Betrieb nichts zu wünschen übrig lassen. Die „Brunneneinrichtung“, welche zuerst von der „Gartenlaube“ in Anregung gebracht worden ist, und welche man fast in ganz Deutschland mit dankenswerther Schnelligkeit eingeführt hat, sollte doch jetzt gesetzlich vorgeschrieben auf allen Linien existiren; auf allen Linien findet man sie aber noch nicht.
Wenn wir den Vortheil der Restaurationen auf den Bahnhöfen nicht genug hervorheben können, so sollte man andererseits die Vermiethung so einrichten, daß mehrere Familien davon profitiren könnten. Es giebt hundert Bahnhöfe in Deutschland, wo die Pächter notorisch „Rittergutscandidaten“ sind. Warum verpachtet man nicht, um nur einen Modus anzudeuten, das Essen und die Getränke auf solch großen Bahnhöfen an verschiedene Personen? Namentlich auf solchen Punkten, wo nachweislich mehrere Familien brillant davon leben könnten, weshalb, fragen wir, schlägt man solchen Platz einem Einzigen zu? Weshalb nützt z. B. auf dem Breslauer Centralbahnhofe, wo zwei von einander verschiedene Restaurationen sind, ein einziger Pächter beide aus?
Wir kommen jetzt zur Beleuchtung. In Nordamerika sind alle Waggons so beleuchtet, daß man lesen kann. In Deutschland wüßte ich nur die Berlin-Stettiner Bahn zu nennen, welche so viele Lampen (wenigstens 1. Classe) besitzt, die gestatten, daß man sich Abends der Lectüre hingeben kann. Auf allen anderen Bahnen ist die Erleuchtung derart erbärmlich, daß man kaum seinen Nachbarn erkennen kann, an Lesen aber nicht zu denken ist. Namentlich sind die sonst so vorzüglich eingerichteten königlich sächsischen Staatsbahnen mit Lampen versehen, die
[668] gewiß durch nichts zu erkennen geben, daß wir im Zeitalter des Leuchtgases uns befinden, ja deren Existenz man öfters mittelst eines angebrannten Zündhölzchens suchen muß.
Warum, fragen wir, ist in einzelnen Wartezimmern das Rauchen verboten, in anderen derselben Classe erlaubt? Wer erläßt in diesem Falle das Verbot, wer ist dazu berechtigt? Warum existirt hierüber kein einheitlicher Modus? Existirt ein Verbot, daß in den Wartesalons nicht geraucht werden darf? Und wenn nicht, weshalb findet man dies Verbot vielerorts? Weshalb darf an manchen Orten der Perron nicht betreten werden, während er an den meisten Bahnhöfen dem Publicum offen steht?
Wie wir hören, soll nächstens ein für ganz Deutschland gültiges Gesetz erlassen werden, wonach der Perron nur dem reisenden Publicum nach Vorzeigen der Billets geöffnet, den etwaigen Mitgehenden das Betreten desselben aber gegen eine Gebühr von zwanzig Pfennigen gestattet werden soll. Wenn dies einmal zum Gesetze erhoben sein wird, sind wir gewiß am ersten dazu bereit, uns demselben zu fügen, aber so lange dasselbe noch nicht besteht, wird man es uns nicht übel nehmen können, wenn wir unsere Einwände gegen jene Maßregel hervorheben. Fürst Bismarck äußerte einstmals, als er über französisches Eisenbahnwesen sprach, seine Meinung dahin, daß, sobald man die französische Grenze überschritten, der Mensch vollkommen zu einem Packet herabsänke. In der That hört in Frankreich für Den, der sein Billet gelöst hat, der freie Wille vollkommen auf, willenlos wie ein Packet wird der Mensch dann weiterbefördert. Vor dem Stationsgebäude muß er von den Seinen Abschied nehmen, denn selbst die Wartesäle sind für die, die kein Billet besitzen, zu betreten verboten. Da tönt ihm kein froher Jubelruf entgegen auf dem Perron, wenn er ankommt, denn die Perrons dürfen in Frankreich nur von wirklich Reisenden betreten werden. Sollen wir auch zu solchen Packeten degradirt werden?
Könnte man nicht, statt das Publicum von den Perrons auszuschließen, diese vergrößern, so daß keine Verkehrsstockung stattfinden kann? Wie wird sich diese Maßregel überhaupt vertragen mit der Berechtigung des Publicums, Briefe in die Eisenbahnpostwagen zu werfen? Glaubt man aber in maßgebender Sphäre durchaus davon nicht abstehen zu dürfen, so sollte man (und dies wird allerdings projectirt) den Mitreisenden gegen Perronbillets den Zutritt gestatten, deren Preis indeß nicht so gestellt sein darf, daß nur den Reichen dadurch die Möglichkeit gegeben wird, den Perron zu betreten. Wie wir hörten und andeuteten, sollten solche Perronbillets zu zwanzig Pfennigen ausgegeben werden. Das ist entschieden zu viel. Man denke sich eine zahlreiche Familie, vielleicht aus zehn oder mehr Personen bestehend; für eine solche würde es immer schon eine unangenehme Aufgabe sein, zwei Mark, blos um Abschied zu nehmen, oder um Jemanden zu empfangen, in’s Ausgabebudget schreiben zu müssen. Und wer begleitete nicht gern den Bruder oder Sohn, den das Vaterland vielleicht zur Fahne ruft, bis zum letzten Augenblicke? Unserer Meinung nach dürfte fünf Pfennige für ein Perronbillet schon ein hinlänglich hoher Preis sein. Denn verdienen wollen doch die Eisenbahnverwaltungen durch solch eine Maßregel nicht?
Wir kommen jetzt auf die Einführung der Schlafwagen (der amerikanischen sleeping cars) zu sprechen. In Ländern wie England, Frankreich und Italien, wo selbst die Waggonns 1. und 2. Classe mangelhaft eingerichtet sind, mögen sie von Nutzen sein. In Deutschland, wo namentlich in Courier- und Schnellzügen alle Waggons mit ausziehbaren Sprungfedersitzen versehen sind, müssen sie als vollkommen überflüssig erklärt werden. An der Betteinrichtung der Schlafwagen ist insofern nichts zu tadeln, als alles rein ist und alle Tage frische Ueberzüge geliefert werden, auch sind die Waggons gleichmäßig und gut geheizt, aber die Betten leiden schon deshalb an einem großen Fehler, weil keine Sprungfedermatratzen darin, oder diese doch so hart sind, daß man nichts von Elasticität spürt. Wenigstens kam es mir in den Man’schen „sleeping cars“ so vor; man liegt also etwa wie auf einer Bank 3. Classe, worüber man eine Matratze gelegt hätte. Da sind doch die mit Springfedern versehenen, ausziehbaren Sitze oder Lagerplätze 1. und 2. Classe in unseren Waggons vorzuziehen. Und für solch ein hartes Vergnügen zahlt man Nachts 2 Thaler 20 Groschen mehr. In diesen Schlafwagen des internationalen Verkehrs sind allerdings Waschvorrichtungen und Toilette; die trifft man aber in vielen Coupés der deutschen Bahnen auch, und hoffentlich wird eine solche Einrichtung obligatorisch für alle Waggons der Courier- und Schnellzüge gemacht werden. Außerdem aber kann man in den Schlafwagen zwar Portwein und Madeira, aber weder Kaffee noch Thee bekommen, obschon heißes Wasser dazu genug vorhanden ist. Ein Vortheil für das Publicum ist daher unserer Ueberzeugung nach die Einführung derselben in Deutschland nicht.
Wie man auf vielen Strecken jetzt schon die sehr dankenswerthe Einrichtung getroffen hat, mittelst irgend einer Vorrichtung Hülfe begehren zu können, und wie es sehr wünschenswerth sein würde, derartige Apparate in jedem Zuge zu besitzen, so sollte auch eine Vorrichtung getroffen sein, daß bei jeder Haltestelle der Name der Station deutlich zu erblicken wäre. Wie oft überhört man den Namen der Station oder die Schaffner unterlassen das Rufen! Zu dem Ende müssen die Namen der Stationen innerhalb derselben von Strecke zu Strecke aufgestellt sein, nicht nur am Gebäude oder beim Ein- und Ausgang der Station; empfehlenswerth ist auch eine mechanische Vorrichtung, durch welche beim Halten der Name der resp. Station im Wagen zu lesen ist. Wünschenswerth würde auch sein, daß nach dem löblichen Vorgang der königlichen Direction der Bergisch-Märkischen Bahn in jedem Waggon Fahrpläne der betreffenden Strecke sich befänden, mit Angabe des Aufenthaltes an den betreffenden Haltestellen. Die Tabellen in den königlich sächsischen Waggons, welche die Entfernung einer Station zur anderen in Meilen oder Kilometer angeben, sind durchaus überflüssig für’s Publicum, sie würden mit Vortheil durch Fahrpläne ersetzt werden können. Auch kleine geographische Karten von der zu durchlaufenden Strecke, welche auf einige Meilen rechts und links vom Wege die Topographie des Landes zeigen, wie man solche Kärtchen in den Waggons der Halle-Kasseler Bahn findet, würden überall erwünscht sein.
In früherer Zeit konnte man in Württemberg Billets im Waggon während der Fahrt lösen, natürlich nur für die betreffende Strecke. Jetzt hat man diese Möglichkeit aufgehoben. Der zu spät Kommende kann allerdings, wenn er den Nichtbesitz des Billets anzeigt, ein solches bekommen, muß aber Strafe zahlen, irren wir nicht, eine Mark. Wir verkennen nicht, daß man durch diese Strafe bezwecken will, daß die Leute am Schalter rechtzeitig ihre Billets lösen. Aber wie oft ist es geradezu unmöglich, rechtzeitig einzutreffen, und weshalb soll man denn auch noch da bestraft werden, starren einem doch überall in den Coupés schon Strafbestimmungen genug entgegen. Und wäre es denn überhaupt so unmöglich, Billets während der Fahrt zu verkaufen? So gut wie die Schaffner während der Fahrt coupiren, könnten sie auch in Ausnahmefällen Billets verkaufen. In Württemberg, wo die Waggons Gänge haben, wo man von einem Waggon zum anderen gehen kann, ist die Sache überhaupt leicht zu machen.
Ohne die Tariffrage berühren zu wollen, möchten wir dennoch den Eisenbahndirectionen an’s Herz legen, den Schulkindern das Abonniren für kurze Fahrten 3. Classe so billig wie möglich einzurichten. Und wo z. B. durch den Besuch der Schule mittelst der Bahn von vielen Schulkindern auf die Nothwendigkeit dieser Art des Schulbesuchs geschlossen werden kann, wäre es sehr wünschenswerth, daß auch arme und unbemittelte Schüler dieser Wohlthat umsonst theilhaftig würden. Sodann bedarf die Retourbillet-Frage noch einer bessern Lösung. Die Halle-Sorauer Bahn giebt z. B. keine Retourbillets 1. Classe aus. Auf manchen Bahnen, namentlich auf den norddeutschen, hat man fünfundzwanzig Kilogramm Gepäck frei, auf anderen nicht. Warum besteht hierfür keine einheitliche Bestimmung? Auf manchen Bahnen kann man, falls man ein Personenzugsbillet hat, mittelst Zuschlagsbillet mit einem Courierzuge weiterreisen; viele Directionen gestatten das aber nicht. Weshalb? Grundsatz sollte doch sein, das Reisen so viel wie möglich zu erleichtern und nicht durch Maßregeln, die das Publicum nur zu sehr gewillt ist als chicaneuse zu bezeichnen, zu erschweren. Weshalb werden Retourbillets nicht auch für Schnell- und Courierzüge ausgegeben? Weshalb gelten solche Retourbillets [669] oft blos einen, oft zwei oder drei Tage? Wäre es nicht wünschenswerth, einen Modus für ganz Deutschland zu haben? Kann man denn die Reglements aller Linien kennen und im Kopfe haben?
Eine einheitliche und administrative Leitung würde von dem Publicum mit Dankbarkeit angenommen werden, denn dann würde man bald wissen, was man für sein Geld fordern und worauf man bestehen kann. Wie die Verhältnisse augenblicklich liegen, gelten auf der einen Bahn diese, auf der andern jene Vorschriften, und über die Gründe, weshalb sie existiren, sucht man meist vergebens sich Aufschluß zu verschaffen.
Seit zwei Jahren fungirte ich bei der Reichstelegraphie und hatte eine Anstellung als Vorsteher der Station in S. Im Anfange war mir meine amtliche Thätigkeit außerordentlich interessant. Hat doch der Apparat etwas Wunderbares und Geheimnißvolles auch für Denjenigen, welcher in seinem Gebrauche nicht Laie ist. Die Buchstaben, welche die Station bezeichnen, ertönen, man wird also gerufen und Neugierde versüßt uns die Pflicht, denn man enträthselt nun aus den Punkten und Strichen des Papierstreifens, der langsam, aber sicher durch unsere Hände gleitet, Worte, die wohl oft Gleichgültiges, oft aber auch viel Glück oder Leid sagen. Als ich in S. zu arbeiten anfing, war ich noch ein solcher Neuling, daß ich nicht allein den Sinn der Worte zu erfassen trachtete, um sie richtig wieder geben zu können, sondern auch sogar Reflexionen über diesen Sinn anstellte. Ich ärgerte mich, wenn eine lange Depesche nichts Anderes wollte, als Blumenkohl bestellen, ich freute mich, wenn der Absender sagte: „Soeben dreitausend Thaler in der Lotterie gewonnen,“ oder „Examen glücklichst bestanden, benachrichtet meine Braut“; es betrübte mich, wenn ich las: „Arzt giebt keine Hoffnung mehr, komme gleich, wenn Du Mutter noch sehen willst.“ Da ich mir bald die Fertigkeit angeeignet hatte, aus dem Klappern einer durchgehenden Depesche im Apparate, die für eine andere Station bestimmt war, zu schließen, welche Punkte und Striche vorkamen, um daraus den Inhalt zu erkennen, horchte ich jedesmal auf und las die durchgehenden Telegramme mit. Jetzt ist mir der Dienst zum kritiklosen Geschäft geworden. Die Worte sind mir nur noch Worte, und wenn fremde Depeschen klappern, schalte ich zu. So stumpft die Gewohnheit ab. –
In jener Anfangszeit, es war die Blütheperiode des Gründerthums, saß ich eines Abends vor dem Tische und schlug in den erforderlichen Zwischenräumen auf den weißen Knopf des Apparates, um von der Nachbarstation zu erfahren, was sie in einem mir unverständlich gebliebenen Telegramm eigentlich hatte sagen wollen, als sich die Thür zum Bureauzimmer öffnete und ein untersetzter dicker kleiner Mann eintrat und auf mich zuschritt. Er hatte ein volles, rundes, ehrliches Gesicht mit einer jedoch merkwürdig spitzen Nase, ziemlich kurzes, blondes Haar und auf jeder Wange einen Anflug von röthlichem Barte, dabei ein Aussehen und eine Haltung, als ob er ein alter Beamter sei. Ich schickte mich an, ihn aus dem Bureau zu verweisen, als er mit leiser, freundlich klingender Stimme sagte:
„Entschuldigen Sie tausendmal, daß ich in diese verbotenen Räume dringe, ich wollte mir erlauben, Ihnen einige Worte vorzutragen.“
Was das zu bedeuten hat, ein paar Worte, die Jemand mit einem Beamten sprechen will, weiß jeder Angestellte. In der Regel ist es ein langer Salbader ohne bestimmten Antrag. Letzteren muß man sich mühsam herausklauben, und ich habe in meiner Praxis selten Jemand gefunden, der sich mit seinem Anliegen gleich an die richtige Stelle gewendet hätte. Hier war es aber anders. Nachdem ich das augenblickliche Geschäft beendet hatte, stellte sich heraus, daß der Fremde sich um eine Stelle als Bureaudiener bewerben wollte, die gerade frei und von uns zu vergeben war. Bisher hatte ich für den hohen Lohn von monatlich sechszehn Thalern noch Niemanden bekommen können und da kam mir der Fremdling gerade recht. Seine Papiere waren zwar etwas unvollständig und sonderbar, denn Herr Mehlmann, wie er sich nannte, besaß zwar den Civilversorgungsschein, aber diesen hatte er erst erhalten, nachdem er von seiner militärischen Laufbahn die eines Reisenden, Auctionators und sogar Küsters durchgemacht hatte. Befragt, ob er irgend etwas vom Telegraphiren verstehe, wenigstens soviel, daß er mir dabei behülflich sein könne, den Apparat und die Batterie in Ordnung zu halten, erklärte er, daß er davon leider nicht das Mindeste verstehe und nur dadurch Dienste leisten könne, daß er die Stuben in Ordnung halte und die Depeschen austrage. Ich mußte damit zufrieden sein und nahm ihn auf eine Probezeit von drei Monaten an.
Herr Mehlmann war ein geschickter Mensch. Nach kurzer Zeit wußte er nicht allein ganz genau, wann die Batterie erschöpft, das Gewicht mangelhaft eingehängt und der Papierstreifen zu Ende war, sondern er horchte auch auf, wann die Station gerufen wurde, und benachrichtigte mich. Ja, er ließ sich die Sache so angelegen sein, daß er alte reponirte Papierstreifen studirte, um, wie er sagte, auch hinter dieses Teufelsding zu kommen. Es machte ihm auch ein besonderes Vergnügen zuzuhören, wenn der Apparat bei fremden Depeschen mitklapperte. „Ich gäbe hundert Thaler darum,“ sagte er, „wenn ich wüßte, was sich die da mitzutheilen habe.“ Nur Eins war merkwürdig an ihm, nämlich der Umstand, daß er außerordentlich viel Formulare verbrauchte. Jeden Augenblick kam er mit einer Bestellung von so und so viel Depeschenformularen von diesem oder jenem Banquier und brachte die Papiere entweder selbst fort oder schickte sie fort. Ferner entfernte er sich ungern in den Stunden nach Tisch vom Bureau, er könne das Gehen nach dem Essen nicht vertragen, sagte er. Und dann war mir noch etwas Anderes aufgefallen: Der Banquier Salomon Löwenherz war ein Gründer ersten Ranges. Bezüglich seiner moralischen Eigenschaften nicht im besten Rufe stehend, besaß er doch vor anderen Sterblichen in Folge seiner Speculationen den Vorzug, enorm reich zu sein. Mit dem Reichthume war er auch vornehm geworden, und er suchte stets die beste Gesellschaft, obwohl ihm dies viel Mühe kostete und manche Zurückweisung einbrachte. Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich eines Tages auf einem weiten Spaziergange an dem einsamen Kruge zum „Grünen Baum“ vorbeikomme und durch das Fester meinen Freund Salomon erblicke, wie er gerade, hinter einer Flasche Wein in der Stube sitzend, Herrn Mehlmann neben ihm den rechten Arm um den Nacken legt, ihm einschenkt und dabei Etwas in das Ohr zischelt! Wie ich eintrat, waren Beide verschwunden. Ich fragte den Wirth, was das für Herren gewesen seien, worauf er erwiderte, sie kämen hier öfter zusammen.
Am anderen Tage erzählte der Bureaudiener ungefragt, er habe in Löwenherz einen alten Mitschüler gefunden, von dem er das Gründen lernen wollte. Seit der Zeit sah ich ihm scharf auf die Finger, dies hatte aber nur zur Folge, daß ich mich über den Eifer, mit dem er alle seine Obliegenheiten erfüllte, und seine Beflissenheit, stets im Bureau zu meinen Diensten gegenwärtig zu sein, freuen mußte.
Eines Abends im Januar saß ich vergnügt hinter dem Biertische in meiner Stammkneipe, als sich mir ein Fremder vorstellen ließ, der sich Gutsbesitzer Thüring aus Salzwedel nannte. Dem Mann war offenbar viel daran gelegen, mit mir im Gespräche zu bleiben, und er hielt mich aus, bis fast alle Gäste fortgegangen waren. Er wurde mir aber bald entsetzlich langweilig, denn er sprach von Nichts als Schafen, Mähmaschinen, Pferdekrankheiten und seinem Mangel an Knechten. Ich gab ihm schließlich nicht undeutlich zu verstehen, daß diese Themata für mich ohne Interesse wären, weil ich kein Landwirth sei. Da sagte er mit einem satirischen Lächeln halblaut „Ich auch nicht – erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen nochmals vorstelle: Ich bin der Criminalcomnissar Poche, begriffen auf einer Dienstreise, und möchte gern zu Ihnen, dem Beamten, reden. Brachmeier ist wieder los!“
Man kann sich denken, wie sehr ich über diese plötzliche [670] Enthüllung erstaunt war. Daran, daß ich wirklich einen Angestellten der geheimen Polizei vor mir hatte, konnte ich schon nach einigen Minuten keinen Zweifel mehr hegen, und nachdem ich ihm gesagt hatte, daß ich den Name Brachmeier in meinem ganzen Leben noch nicht gehört habe, theilte er mir demnächst Folgendes mit.
„Brachmeier,“ so begann er, „war als außerordentlich tüchtiger und intelligenter Postbeamter sehr schnell Post- und Telegrapheninspector geworden. Eines Tages hatte er eine Cassenrevision in W. Er fand dort Alles in Ordnung bis auf eine Quittung des Posthalters über fünftausend Thaler, an der ihm Verschiedenes bedenklich erschien. Als er dies dem Oberpostdirector rapportirte, beauftragte ihn Letzterer, sofort eine Nachrevision vorzunehmen. Brachmeier begab sich darauf nach W., revidirte zum großen Schrecken des Postmeisters nochmals und fand jetzt, daß die Quittung falsch und ein Defect in gleicher Höhe vorhanden war. Auf seine telegraphische Meldung davon erhielt er zur Antwort, er solle bezüglich des Defectes nach dem Reglement verfahren. Im Uebrigen sei die Enthebung von seinem Posten als Inspector bereits beantragt. Es folgte darauf seine Zurückversetzung in den Bureaudienst. Seit dieser Zeit war er ein anderer Mensch geworden. Man mochte in der Sache wohl etwas schroff gegen ihn verfahren sein, und das hatte ihn dermaßen erbittert, daß er von nun an widerspenstig wurde und sich nicht mehr subordinirte. Als Ende vom Liede wurde er nach langen Hin- und Herschreibereien disciplinirt und entlassen. Er gerieth dadurch in Noth und Elend und kam schließlich auf die Bahn des Verbrechens, indem er seine Kenntniß vom Post- und Telegraphenwesen dazu benutzte, sich auf jede mögliche Weise Geld zu verschaffen. Da er sehr gute Kenntnisse von Beidem hatte – beispielsweise hat er eine sehr hübsche Erfindung am Mechanismus des Apparates gemacht und versteht sich auf’s Telegraphiren wie Einer – wurde er sehr bald ein von allen Postanstalten gefürchteter Fälscher. Namentlich verlegte er sich auf die so gefährlichen Postanweisungen. Aber hier waren die betrogenen Beamten bald belehrt, und als das Geschäft nicht mehr zog, ‚machte‘ er dann lediglich mit dem Apparate. Es ist vorgekommen, daß er auf der Strecke mitten zwischen zwei Stationen einen Apparat mit dem Drahte in Verbindung setzte und nun in dieser selbstgeschaffenen Station Depeschen abfing und selbst in die Welt depeschirte.
Seine größte Heldenthat hat er vor etwa sechs Jahren vollbracht. Er kaufte sich, genau unterrichtet über die Verhältnisse des Bezirks und zufällig durch dieselben sehr unterstützt, eine neue Postinspectoruniform. Mit dieser angethan bestieg er auf einer kleinen Zwischenstation das fahrende Postbureau eines Zuges, der von St. nach. L. ging. In demselben fand er zwei junge Beamte vor und begann deren Bureau zu revidiren. Bei der Prüfung der Amtsführung derselben fiel ihm ganz besonders auf, daß zwei Beutel, der eine mit tausend, der andere mit dreitausend Thaler gefüllt, durchaus nicht vorschriftsmäßig versiegelt waren, und er nahm dieselben an sich, um sie auf der Station H., wohin sie bestimmt waren, dem Postmeister selbst zu übergeben. Dieser sollte das reglementswidrige Verfahren der Beamten constatiren helfen und das Weitere veranlassen. Bei der enormen Kenntniß, die er vom Dienst entwickelte, seinem barschen Auftreten und den tausend Rügen, die er wegen anderer Verstöße auf die Unglückseligen herabregnen ließ, fiel Keinem von ihnen auch nur im Traum ein, irgend Etwas zu argwöhnen. Glücklicherweise wollte es der Zufall, daß zwei Minuten nach dem Aussteigen dieses Inspectors der Postmeister von H. in Person an den noch haltenden Zug trat. Die beiden fahrenden Beamten überhäuften ihn mit Entschuldigungen, und da stellte sich dann der Schwindel heraus. Brachmeier war sehr bald gefaßt, und man fand das ganze Geld bei ihm. Er hatte vier Jahre in Naugard Zeit, die Komödie zu bereuen. Als er entlassen war, fing er sofort wieder an zu arbeiten, das heißt in seinem Sinne.
Vor Kurzem nämlich wandten sich einige große Bankhäuser flehentlich an uns mit der Bitte um Hülfe. Sie wissen, daß die Banquiers fremde Aufträge nur dann besorgen, wenn sie eine briefliche Bestellung erhalten. Handelt es sich um große und eilige Sachen, so wird in der Regel vom Auftraggeber telegraphirt und dann Seitens des Bevollmächtigten die briefliche Bestätigung abgewartet, ehe nach dem Auftrage verfahren wird. Selbstverständlich liegt zwischen Telegramm und Brief immer ein größerer Zeitraum, meist ein Tag. In der letzten Zeit nun waren gewisse Firmen in B. in reiner Verzweiflung. Heute empfingen sie von Frankfurt am Main den telegraphischen Auftrag fünfzigtaused Thaler Rheinische Actien zu kaufen. Gingen sie, nachdem sie die Bestätigung erhalten, an die Börse, so waren die Actien plötzlich enorm gestiegen, weil bestimmte Jobber eine Stunde vor ihnen alles aufgekauft hatten. Ebenso waren gewisse Course gedrückt, wenn sie verkaufen wollten, indem man kurz vorher große Mengen des Papiers auf den Markt geworfen hatte.
Es würde zu weit führen, Ihnen auseinander zu setzen, wie jene Jobber direct und indirect dadurch profitiren, genug sie profitirten Tausende, und das Ding wurde schließlich so toll, daß unbedingt die Annahme geboten war, die Jobber hätten von den Manipulationen der Häuser vorher Kenntniß. Es sind große Untersuchungen darüber angestellt worden, wo das Dienstgeheimniß verletzt wurde. Wir haben den Aufgabe- und den Ausgabeort vieler Depeschen einer scharfen Controlle unterworfen, aber an beiden Stellen nichts gefunden. Es blieb daher nur die Möglichkeit, daß die Depeschen auf der Strecke abhanden kamen. Wir haben darauf einen hübschen jungen Beamte auf die Spur zu setzen versucht, indem wir ihn dienstlich anwiesen, ein Verhältniß mit der Geliebten eines jener Fixer anzufangen. Das Ergebniß war ein vollkommen unverständlicher Brief an den Börsenmann, unterzeichnet Brachmeier. Wir haben dann diesen unsern alten Freund, wie, kann Ihnen gleichgültig sein, bis hierher aufgespürt und Sie sollen mir ihn hier entdecken helfen. Wir kennen Sie als zuverlässig, und ich habe Ihnen dieses Alles offen erzählt, in der Hoffnung, daß Sie uns helfen werden, ihn zu fangen.“
Während der Beamte erzählte, war in mir zehnmal ein bestimmter Verdacht aufgestiegen und wieder geschwunden. Sollte mein Bureaudiener der Gesuchte sein? Ich durchflog mein ganzes Personal im Geiste, ich kannte das Vorleben eines Jeden, nur von Mehlmann wußte ich nichts Sicheres. Er war mir ab und zu, wie bereits erzählt, etwas wunderlich vorgekommen, aber das war kein genügender Anhalt. Nein, es war nicht möglich, so konnte sich Jemand nicht verstellen, daß er Monate lang den einen Tag wie den anderen ruhig das Bureau fegte und die Tische abwischte, daß er die Oefen heizte und Wasser trug, als habe er nie etwas Anderes gethan! Und dann, es war ja nicht möglich, daß er von meinen Telegrammen Kenntniß erhielt, er kannte ja nicht einmal das Alphabet! Endlich, wie scharf hatte ich immer aufgepaßt und hatte doch Nichts gefunden! Aber halt –
„Haben jene Jobber, Herr Commissar, hier Verbindungen?“
„Allerdings, mehrere.“
„Können Sie mir einen Name nennen?“
„Salomon Löwenherz.“
„Wollen Sie morgen früh in mein Bureau kommen?“
„Warum?“
„Vielleicht kann ich Ihnen den Gesuchten vorstellen … wenn Sie ihn jedoch dort finden, so nehmen Sie sich in Acht, daß er Ihnen nicht wieder durch die Finger geht, denn wenn es der ist, den ich meine, so haben wir einen ganz verteufelt schlauen Burschen vor uns!“
Ich erzählte darauf dem Criminalbeamten von meiner Vermuthung, und wir entwarfen gemeinsam einen Feldzugsplan. Ich werde mich noch bis an mein Lebensende des Vergnügens erinnern, das uns das Stricken dieses Netzes machte.
Die Sache ging über alles Erwarten gut. Mein Bureau hatte zwei Thüren, eine neben dem Schalter auf den Flur führend, die andere in ein halbdunkles Nebenzimmer gehend, welches zur Aufbewahrung von Acten diente. Das Nebenzimmer hatte wieder einen besonderen Ausgang auf den Flur. Als der Criminalcommissar am andern Morgen kam, fing ich ihn auf dem Flur ab und führte ihn leise in das Nebenzimmer. Ich postirte ihn hinter die Thür zum Bureau, in der sich eine mit grüner Serge verhängte Glasscheibe befand. Dann ging ich in das Bureau, und nachdem das übrige Personal dasselbe unter allerlei Vorwänden verlassen hatte, entfernte auch ich mich, so daß nur Herr Mehlmann in demselben zurückblieb. Was nun folgt, hat mir der Commissarius erzählt. Herr Mehlmann [671] war gerade damit beschäftigt, einen verwickelten Bindfadenknoten aufzuknüpfen, als Schlag 11½ Uhr die Maschine zu klappern begann. Mehlmann drehte zuerst seinen Kopf nach dem Apparate hin; dann machte er einen Schritt nach dem Apparate hin und legte horchend die rechte Hand hinter das Ohr. Nach einer Secunde durchzuckte es ihn wie ein Blitzstrahl, er wurde feuerroth und richtete sich gerade auf. Der Apparat klapperte tonlos weiter. Mehlmann’s Röthe wich schnell einer erdfahlen Blässe, von der nur seine spitze Nase ausgeschlossen war. Seine Lippen kniffen sich fest zusammen, sein Gesicht nahm einen drohenden Ausdruck an und seine Augen leuchteten wie die einer aufgejagten Katze im Dunkeln. Als der Apparat schwieg, schien er sich zu fassen und seine Züge legten sich bald wieder in die ehrlichen Falten von vorher.
Dann ging er mit raschen Schritten auf den Tisch zu, von dem aus ihm ein solcher Schrecken eingejagt war, und während er bald nach den Fenstern, die auf die Straße gingen, bald nach der Thür, die auf den Flur führte, sah, schlug er in gemessenen Zwischenräumen wie ein Virtuose auf den weißen Knopf. Als er fertig war, wandte er sich zur Thür, rief mit heiserem Lachen: „Adieu, Reichstelegraphie!“ und stieß in demselben Augenblick auf mich, der ich die Thür von außen öffnete und ihm den Weg versperrte. Jetzt kam der Commissar durch die Thür des Nebenzimmers gesprungen und faßte ihn von hinten am Kragen. Mit einem gewandten Ruck jedoch machte er sich von diesem los und versuchte mich umzurennen. Das gelang ihm aber nicht, und nun folgte eine Balgerei, bei der er mich fortwährend anschrie: „Lassen Sie mich los. Sie dummer Teufel!“ Endlich glückte es uns, den Keuchenden auf einen Stuhl niederzudrücken. Er gab sich gefangen.
„Ihr Bureaudiener,“ sagte der Commissar athemholend, „kann nicht allein Depeschen hören, er depeschirt auch selbst vorzüglich. Wollen Sie die Güte haben, Herr Assistent, zu fragen, was er gesagt hat?“
Die durchgehende Depesche, die von der Nachbarstation L. nach R. gerichtet gewesen war und die ich mir in Mehlmann’s Abwesenheit bestellt hatte, welche er hören sollte und auch in der That gehört hatte, lautete:
„Staatsdepesche. An Polizeiverwaltung R. Berüchtigte Brachmeier hält sich dort oder Umgegend auf. Näheres über Anwesenheit bekannt?
Auf meinte Anfrage in L., was soeben von uns aus dorthin telegraphirt sei, kam binnen einer Minute die Antwort:
„Staatsdepesche. An Staatsanwalt in L. Vernehmen nach wird dort Brachmeier gesucht. Hat sich hier vor vierzehn Tagen nach Z. abgemeldet, wo zu finden.
„So,“ sagte ich, „Sie sind also die Polizeiverwaltung von S.? Nun, Sie werden bald genug mit derselben zu schaffen haben!“
Brachmeier, alias Mehlmann, schwieg achselzuckend. Wir brachten ihn darauf in sichern Gewahrsam, und demnächst begann die Untersuchung.
Dieselbe ergab, daß er mit mehreren Geldmännern des Ortes, namentlich Salomon Löwenherz, in Verbindung gestanden und diesen wichtige Börsendepeschen, die durch das Gehör ihm zur Kenntniß gekommen waren, verrathen hatte. Letztere hatten das, was sie vernommen, sofort telegraphisch in Chiffreschrift ihren Genossen, den Jobbern, mitgetheilt, die sofort davon Gebrauch machten. Es war dies die ungefährlichste Art des Verraths; denn hätte Brachmeier sich am Orte der Auf- oder Ausgabe der Depeschen aufgehalten, so wäre die Sache zu bald entdeckt worden. Hier war so leicht nichts zu befürchten. Zudem hatte er die Vorsicht gebraucht, selten mit seinen Genossen am Orte zu verkehren, und ihnen meist dadurch, gemäß vorheriger Abmachung, Mittheilung gemacht, daß er ihnen Formulare brachte oder schickte, deren Zahl irgend eine verabredete Bedeutung besaß. In der Regel war für ihn nur die Mittagsstunde von Drei bis Vier wichtig, weil zu dieser Zeit die Börsendepeschen durch den Apparat kamen, und deshalb hatte er Nachmittags das Bureau so ungern verlassen. In seiner Wohnung fand sich noch sein Beuteantheil, elfhundert Thaler. Seine Papiere waren natürlich alle gefälscht oder ihm von Anderen gegeben. – Das Ende vom Liede war wieder einsame Beschaulichkeit, welcher er noch heute obliegt.
Wir haben Alle gehört von den Helden der sagenhaften Vorzeit und von ihren Großthaten im Dienste der Menschheit. Sie verjagten die Räuber, erlegten wilde Thiere und schreckliche Ungeheuer, rotteten Sümpfe und Wälder aus und machten sie urbar, gründeten Städte, Staaten und Colonien, errichteten Tempel und vereinigten die Stämme und Völker durch Einsetzung von gemeinsamen Festspielen. Sie rangen und kämpften für die Cultur, für die Civilisation, und so wurden sie die Lieblinge der Menschen und der Götter; die Menschen erwiesen ihnen göttliche Verehrung, und die Götter machten sie zu ihres Gleichen, verliehen ihnen Unsterblichkeit und ewige Jugend. – Wir kennen auch aus der griechischen und römischen Geschichte die Männer, die sich bei Mit- und Nachwelt große Ehre, hohen Ruhm erwarben, indem sie Theater, Gymnasien und öffentliche Bäder anlegten, Straßen und Häfen, Canäle und Brücken, Wasserleitungen und Cloaken erbauten, indem sie Werke schufen, deren Ueberreste noch heute, nach Verlauf von Jahrtausenden, Bewunderung und Staunen erregen. – Solche Culturkämpfer und Helden der Civilisation traten auch neuerdings in Deutschland auf, und unter mächtigen Trompeten- und erderschütternden Posaunenstößen verkündigten sie ihre Pläne und Absichten. Sie wollten die Städte ausbauen und verschönern, die Bedürfnisse und Ansprüche ihrer Mitbürger in jeder Hinsicht befriedigen; sie versprachen gute und billige Wohnungen, allerhand verbesserte Einrichtungen, neue Eisenbahnen, Häfen etc.; sie verhießen eine reiche Blüthe von Handel und Wandel, einen mächtigen Aufschwung der gesammten Cultur und der allgemeinen Wohlfahrt.
So wiederholt sich Alles in der Weltgeschichte, und jede Zeit hat ihre großen Söhne. Nun besteht aber doch zwischen den antiken und den modernen Culturkämpfern ein kleiner Unterschied. Jene erhielten Lohn und Ehre hinterher, erst nach vollbrachter Arbeit; diese waren so vorsichtig, beides gleich vorweg zu nehmen. Jene schufen aus eigenen Mitteln auf eigene Kosten; diese hatten ihre Hände sofort in den Taschen des Publicums und beutelten dasselbe gründlich aus. Jene verrichteten wirkliche Thaten; diese beließen es meist bei Versprechungen. Jene schufen Werke, die sie noch Jahrhunderte überlebten; diese brachten es in der Regel nur zu Anfängen und Ansätzen, ihre Schöpfungen wurden gar nicht fertig, oder sie liegen schon wieder in Ruinen, in Trümmern und Schutt.
Die Culturkämpfer von heute sind die Gründer; und in diese Kategorie gehören vorzugsweise die Verfasser folgender Gesellschaften, die sich mit einem ebenso großartigen wie allgemein und unbestimmt gehaltenen Programm einführten, colossale Summen beanspruchten und zum Theil auch erhielten, aber von den überschwenglichen Verheißungen so gut wie nichts erfüllten, entweder völlig scheiterten und zerschellten, oder doch gegenwärtig gar kläglich auf dem Trocknen sitzen:
Deutsche Baugesellschaft. Gründer, respective Aufsichtsräthe: Commerzienrath Ad. Delbrück, Berthold Bensemann und Ad. Levin (Berliner Bankverein), J. H. Halske, Baron Ed. von der Heydt, Benoit Oppenheim (R. Oppenheim und Sohn), Fr. Meyer (E. J. Meyer), Dr. Mitscha und Ad. Schenk (Wiener Bankverein), Graf Othenio Lichnowsky in Wien. Directoren: Oberbürgermeister a. D. Kieschke und Stadtrath a. D. Risch. Actiencapital 6 Millionen Thaler, mit 70 Procent Einzahlung. März 1872 wurde der 40-procentige Interimsschein durch Delbrück, Leo u. Comp. an die Börse gebracht und mit 48 Thalern bezahlt; heute gilt der 70-procentige Interimsschein circa 18 Thaler.
Deutsche Eisenbahn-Baugesellschaft. Gründer, respective Aufsichtsräthe: Reichstagsmitglied Dr. juris Fr. Hammacher in Essen,
[673] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [674] Consul und ehemaliges Reichstagsmitglied Gustav Müller, Abgeordneter Stadtrath a. D. Adolf Hagen und Director Julius Weißenburger (Deutsche Unionbank), Theodor Henoch, Karl Coppel, Heinrich Fromberg (Schlesischer Bankverein), Mitteldeutsche Creditbank, Julius Schiff (Gebrüder Schiff), früheres Reichstagsmitglied Edgar Roß in Hamburg, Friedrich Grillo in Essen, Julius May, Kurt Klotz und Gebrüder Sulzbach in Frankfurt am Main, Internationale Bank und Norddeutsche Bank in Hamburg etc. Directoren: Wirklicher Geheime Ober-Regierungsrath Hartwich, Eisenbahndirector Windthorst und Baurath Mellin. Actiencapital 6,138,000 Thaler. Die Actien, gleichzeitig an den Börsen zu Berlin, Breslau, Hamburg und Frankfurt am Main eingeführt, und bis auf 120 getrieben, stehen heute circa 15.
Nicht zu verwechseln mit dieser Gründung ist die Deutsche Eisenbahn-Baugesellschaft zu Frankfurt am Main; am 13. September 1871 in die Welt gesetzt von den Baronen Rafael von Erlanger, Ludwig von Erlanger und Simon Moritz von Bethmann, den Herren Franz Borgnis, Zacharias Königswarter, Isaak Königswarter und Regierungsrath Fr. Wiesenbach – über deren Thaten schon lange nichts verlautet.
Deutsche Reichs- und Continental-Eisenbahn-Baugesellschaft. Gründer respective Aufsichtsräthe: Baron Karl von Rothschild in Frankfurt, Geheimer Commerzienrath Gerson von Bleichröder, Commerzienrath Ritter von Schwabach, Commerzienrath Jacob Landau und Banquier Wilhelm Ledermann in Berlin, Wilhelm Behrens (L. Behrens und Söhne) in Hamburg, Assessor Friedenthal (Breslauer Discontobank), Ritter Theodor von Hornbostl und Ritter Moritz von Goldschmidt in Wien, Rechtsanwalt Makower, Reichstagsmitglied, Rittergutsbesitzer von Kardorff-Wabnitz, Geheimer Legationsrath Graf Hatzfeld-Wildenburg, Kammerherr Baron von Rosenberg, Generaldirector Richter in Berlin. Vorstand: Regierungsbauräthe Adolf Schweitzer und Wilhelm Schultze und Regierungsassessor Leo Poschmann. Grundcapital 10 Millionen Thaler, worauf 40 Procent eingezahlt. Der 40-procentige Interimsschein, zunächst mit 55 bis 65 Thaler bezahlt, notirt heute circa 12 Thaler.
Baugesellschaft für Eisenbahn-Unternehmungen, F. Pleßner u. Comp. Gründer: Banquier Jacob Löb Eltzbacher in Cöln, Geheime Commerzienräthe Albert Borsig und Paul Mendelssohn-Bartholdy, Commerzienrath Ad. Delbrück, Banquiers Ferd. Güterbock und Julius Alexander, Baumeister Karl David Schultze und Ferd. Pleßner, Bankagent Theodor Hertel, Landrath Ernst Otto Schubarth etc. Actiencapital schließlich 4½ Millionen Thaler. Die Gesellschaft ist bankerott. Die einst bis auf 180 getriebenen Actien sind völlig werthlos; und es ist ein wahrer Unfug, daß sie trotzdem von der Börse noch immer notirt werden.
General-Baubank. Gründer respective Aufsichtsräthe: Baron Oscar von Reinach und Baron Ludwig von Erlanger in Frankfurt am Main, Commerzienrath Victor Ludwig Wrede, Banquiers Paul Gravenstein und Adolf Abel, Karl Schlesinger (Ostdeutsche Bank), Geheimer Regierungs- und Baurath a. D. von Derschau, Regierungs- und Baurath Friedrich Keil, Baumeister Heinrich Meske, Joseph Herborn und Karl Fischer, Gerichtsassessor a. D. Hermann Löwenfeld etc. Actiencapital 3 Millionen Thaler, mit 40 Procent Einzahlung. Die Gesellschaft befindet sich in Liquidation.
Imperial-Grunderwerb- und Bauvereins-Bank. Die Gesellschaft kam erst nach dem Krach und nach langen Wehen zu Stande, kaufte eine Reihe von Grundstücken und suchte sie mit eigenen Actien zu bezahlen, was auch vielfach glückte. Dem Unternehmen begegnete, wie „Saling’s Börsenpapiere“. Theil IV. 4. Auflage, bemerken, von vornherein wenig Vertrauen, und nach ein paar Monaten drohte es bereits zusammenzubrechen. Verschiedene Grundstücke wurden subhastirt. Actiencapital nicht weniger als 18 Millionen Thaler!! Cours? – Gegen die Gründer schwebt seit einem Jahre die Voruntersuchung.
Cuxhavener-Eisenbahn-, Dampfschiff- und Hafen-Actiengesellschaft. Gründer resp. erste Zeichner: Baron Victor von Magnus, Geh. Commerzienrath Paul Mendelssohn-Bartholdy, Reichstagsmitglied Dr. Braun-Wiesbaden, Stadtrath Albert Löwe, Geh. Regierungsrath Dr. Esse, Corvetten-Capitain z. D. Olberg, Gustav Kutter in Berlin; A. N. Zacharias, Rob. M. Sloman, J. E. Langhans (J. Greve u. Comp.) und Reichstagsmitglied G. A. Schön in Hamburg, J. H. Hagenah in Stade etc. Actiencapital 20 Millionen Thaler, wovon zunächst acht Millionen emittirt wurden. Die Actien sollten bis zur Vollendung des mehr als großartigen Unternehmens 6 Procent „Bauzinsen“ genießen. Cours?
Gleichzeitig mit dieser Gesellschaft und im innigen Anschlusse an dieselbe entstand die Cuxhavener Immobiliengesellschaft, und waren hier die Verfasser, außer den schon genannten Jürgen Heinrich Hagenah, G. A. Schön, Joh. Ed. Langhans, die Herren Charles Ernst David, R. A. Seelig und Eduard Stahlschmidt (Hermann Geber). Grundcapital 1,200,000 Thaler. In Betreff des Courses kann man in „Saling’s Börsenpapieren“ lesen: „Es ist wiederholt der Versuch gemacht worden, die Actien in den Börsenberichten als ‚gehandelt‘ auftreten zu lassen.“ –
Alle diese Gründungen hatten mit riesengroßen Lettern auf ihre Fahne den Culturkampf geschrieben; und wir wollen nun berichten von ihren Kämpfen und Erfolgen, von ihren Leiden und Schicksalen.
Die Deutsche Baugesellschaft war sich bei der Gründung, wie dies aus den Mittheilungen an die Börsenblätter hervorgeht, über ihren eigentlichen Zweck nicht recht klar, und verfolgte dann gleichzeitig eine Menge von Projecten. Sie wollte die Ackerstraße und die Marienstraße durchlegen, und legte auch wirklich die Voß-Straße nach dem Thiergarten durch. Sie „betheiligte“ sich bei verschiedenen Bau-Unternehmungen und Terrain-Speculationen in Berlin und außerhalb, und half zwei andere Baugesellschaften gründen: die „Hôtel-Gesellschaft“ und die „Actien Gesellschaft für Bauausführungen“. Sie gedachte endlich – und das war die Hauptsache – in Berlin zwölf bedeckte Markthallen zu erbauen, als Ersatz für die auf öffentlichen Plätzen stattfindenden Wochenmärkte. Die Idee war nicht neu, sondern bereits einmal gescheitert. Schon im Jahre 1867 erhielt Berlin eine Markthalle am Schiffbauerdamm, aber das Vergnügen dauerte nur sieben Monate, und endigte dann aus Mangel an Theilnahme, wegen Abneigung des Publicums wie der Verkäufer. Ein Kunstreiter pachtete später die pensionirte Markthalle und verwandelte sie in einen Circus. Trotz dieser übeln Erfahrung wollte die Deutsche Baugesellschaft zwölf neue Markthallen errichten; und der Magistrat, der seit Herrn Oberbürgermeister Hobrecht sehr zu Experimenten und kostspieligen Neuerungen neigt, war flink dabei; ja er war sogar bereit, sich an der neuen Markthallen-Actiengesellschaft mit einem Zehntel des Capitals zu betheiligen. Auch der Polizeipräsident, Herr von Wurmb, hatte seine Zustimmung gegeben; aber dessen Nachfolger, Herr von Madai, erhob Bedenken. Er fürchtete, und mit Recht, daß solche Ueberlassung der Marktstätten an eine Privatgesellschaft zur Monopolisirung des Marktverkehrs, zur Verdrängung der Producenten durch Zwischenhändler, und so zur Vertheuerung sämmtlicher Lebensmittel führen könne. Das Ministerium legte schließlich sein Veto ein, und das Markthallen-Project fiel, zur Freude und höchst wahrscheinlich auch zum Gewinne des Publicums. Die Deutsche Baugesellschaft aber stand mit einer Menge von aufgekauften Grundstücken da, und der inzwischen eingetretene „Krach“ verleidete ihr auch die Lust zu allen anderen Unternehmungen. „Sie wartet bessere Zeiten ab“, und beschränkt sich, wie der „Lindenbauverein“, auf das Vermiethen der zahlreichen Häuser. Leider ist dieses Abwarten und Sichbeschränken für die Actionäre recht kostspielig. Wiewohl die „Deutsche Baugesellschaft“ seit zwei Jahren feiert, hat sie doch an Handlungsunkosten pro 1873 – 42,000 Thaler, pro 1874 – 30,000 Thaler, davon an Gehältern 21,888 Thaler und resp. 15,820 Thaler, verausgabt. Die „Generalversammlung“ hat diese erstaunlichen Handlungsunkosten, diese splendiden Gehälter und die aus wenige summarischen Posten bestehende geheimnißvolle Bilanz – der Grundbesitz ist einfach mit 5,791,000 Thaler angegeben – sonder Anstand genehmigt: denn 50 Actien geben erst Eine Stimme.
Noch viel kläglicher steht da, noch weit ärger verspeculirt hat sich die Deutsche Eisenbahnbaugesellschaft. Nach ihrer Ansicht litt das deutsche Eisenbahnnetz an vielen Lücken; und sie ging nun daran, diese Lücken auszufüllen. Ihre Unternehmungen waren bald so zahlreich und so mannigfach, daß das ursprüngliche Capital von Millionen weitaus nicht zureichte. Man beschloß, dasselbe auf 20 Millionen zu erhöhen, aber nur noch 138,000 Thaler fanden Abnahme, und weitere 1,000,000 Thaler wurden an ein Consortium verkauft. Im Uebrigen erzielte die Gesellschaft, nach dem letzte Geschäftsberichte, folgende Resultate: 1) Von dem Bau der Holländisch-Westfälischen Eisenbahn trat sie zurück mit einem Verluste von 126,000 Thaler. 2) Das Project der Niederrheinisch-Westfälischen Kohlenrevierbahn ließ sie fallen mit einem Schaden von 145,000 Thaler. 3) Bei dem Bau der Unstrutbahn (Naumburg–Artern) verlor sie 160,000 Thaler. 4) Bei der Concession für die Lemförde-Bergheimer Bahn büßte sie ein 263,000 Thaler und wahrscheinlich auch die bestellte Caution mit 300,000 Thalern. 5) Das Project der Berliner Südwestbahn kostete ihr 105,000 Thaler. 6) Der beabsichtigte Betrieb der Touage auf der Oder, der gleichfalls verunglückte, ließ ihr auf dem Halse zwei Tauer-Dampfer und ein sechs Meilen langes Drahtseil. 7) Außerdem besitzt sie eine Menge sehr theuer erworbener Grundstücke in Berlin, Charlottenburg, Dortmund, Essen etc., die zu Buche stehen mit 11½ Millionen (!!) und hypothekarisch belastet sind mit 6½ Millionen Thaler (!!!). Arme betrogene Actionäre, was sagt ihr zu dieser Speisekarte?! – Selbstverständlich legte der Wirkliche Geheime Oberregierungsrath Hartwich die Direction, die er, wie damals die Blätter meldeten, mit specieller Erlaubniß des Reichskanzlers übernommen hatte, nach solchen Erfolgen nieder.
[675] Der Deutschen Baugesellschaft wollte der Magistrat bei dem Markthallen-Project zu Hülfe kommen, aber die Regierung litt es nicht, der Deutschen Eisenbahnbaugesellschaft dagegen sprang die Regierung, auf den Schmerzensschrei der Herren Hammacher und Genossen, selber bei. Während die Manchesterleute sonst gegen jede Staatshülfe zetern, bettelten sie hier um Staatshülfe, und der Staat erbarmte sich ihrer.
Die Deutsche Eisenbahnbaugesellschaft vermochte die projectirte Südwestbahn nicht zu bauen, und sie mußte auch auf den Bau der Berliner Stadtbahn verzichten, für welche sie eben eine Masse von Grundstücken in der theuersten Zeit erworben hatte. Auf ihr Betreiben bildete sich nun zum Zwecke der „Stadtbahn“ eine besondere Actiengesellschaft mit einem Grundcapitale von 16 Millionen Thalern, welcher auch die Regierung mit 7 Millionen beitrat. Von den restlichen 9 Millionen zeichneten 5 Millionen die Berlin-Potsdam-Magdeburger, die Magdeburg-Halberstädter und die Berlin-Hamburger Bahn, und 4 Millionen die Deutsche Eisenbahnbaugesellschaft, welcher die neue Stadtbahngesellschaft jetzt einen Theil der Grundstücke in Berlin und Charlottenburg zu einem Preise, zehn Procent unter dem Buchwerth, abnehmen sollte. Das war der eigentliche Kern der Association.
Als die Vorlage an das Abgeordnetenhaus kam, stieß sie hier auf scharfen Widerspruch, und der Handelsminister gerieth merklich in Verlegenheit. Hoppe, von Kirchmann, Lasker und Virchow traten nacheinander in die Schranken und führten Folgendes aus: Die Vorlage habe hauptsächlich den Zweck, einer bankerotten Gesellschaft zu Hülfe zu kommen; und die Regierung setze sich dem Vorwurf aus, daß sie Geld habe für verunglückte Capitalisten, aber nicht für nothleidende Arbeiter. Weil bereits die Verbindungsbahn bestehe, sei die neue Stadtbahn gar kein Bedürfniß, und überdies erfülle sie nicht entfernt den eigentlichen Zweck, da sie kein Netz, nur eine Linie bilde. Sie werde und könne sich nicht rentiren, und die sieben Millionen, welche der Staat beisteuere, seien vorweg à fonds perdus zu schreiben.
So schlagend diese Einwände auch waren, sie fruchteten nichts. Herr Miquel, der Verbündete der Discontogesellschaft und der Führer des Hauses, gab sein Urtheil dahin ab: Die Gelegenheit ist günstig, und wenn der Staat sie versäumt, kann das Unternehmen später nicht allein das Doppelte, nein, das Zehnfache kosten. – Nach Herrn Miquel war also nicht ein Fallen, sondern noch ein Steigen der Grundstücke in und um Berlin zu erwarten! – Mit großer Majorität, nur gegen die Stimmen der vier Opponenten, wurde die Vorlage genehmigt.
Weit ungnädiger, weit härter bewiesen sich kürzlich Handelsminister und Abgeordnetenhaus, als es sich um Uebernahme der durch die Lasker’schen „Enthüllungen“ in so üblen Ruf gekommenen Pommerschen Centralbahn und Berliner Nordbahn handelte. Hier glaubte man auf die Actionäre, die Alles verloren haben, nicht die geringste Rücksicht nehmen zu dürfen; hier wurden die bestellten Cautionen ohne Erbarmen eingezogen. Hier waren nicht 7 Millionen, sondern nur 2¾ Millionen verlangt, und dazu für ein Object, das, wie Herr von Bender bemerkte, einen ungleich höhern Bauwerth und mindestens den gleichen Abbruchswerth repräsentirt; hier handelte es sich um keinen fragwürdigen Neubau, sondern um Vollendung zweier Bahnen, von denen die nach Neubrandenburg und Stralsund fruchtbare Kreise durchschneidet und jedenfalls ein langjähriges Bedürfniß ist. Dennoch wäre die Vorlage kaum durchgegangen, hätte man nicht gewußt, daß hinter ihr der entschiedene Wille des Fürsten Bismarck und respective des Kaisers stehe.
Kommen wir noch einmal auf die „Deutsche Eisenbahnbaugesellschaft“. zurück, so hat ihr die Unterstützung der Regierung nicht viel geholfen. Auch nach Abtretung der nöthigen Grundstücke an die Stadtbahn bleibt ihr noch immer ein großer kostspieliger Besitz, ein wahrer Ballast, der ihr den Athem benimmt, der sie früher oder später erdrücken wird. Und in Betreff der „Stadtbahn“ selber ist die Prophezeiung des Abgeordneten von Kirchmann nur zu schnell eingetroffen. Noch ist nicht einmal endgültig die Linie gezogen, und schon überschreitet der vorläufige Kostenentwurf den ursprünglichen Anschlag um 2½ Millionen Thaler. Der wirkliche Bau aber wird, wie Sachverständige versichern, sich noch weit höher stellen, und der Staat kann sich auf einen hübschen Zuschuß gefaßt machen.
Die „Deutsche Reichs- und Continentaleisenbahnbaugesellschaft“ hat sich, trotz der ellenlangen Firma, nur mit zwei Bahnen versucht: Weimar–Gera und Posen–Creutzburg, und dieselben bisher auch nicht einmal fertig stellen können. Außerdem erwarb sie, was jedenfalls sehr überflüssig war, die Königin Marienhütte zu Kainsdorf bei Zwickau, welche den Actionären gut 2¾ Millionen Thaler kostet, und im letzten Jahre einen Reingewinn von etwa ¾ Procent(!) gebracht hat. Die Gesellschaft vertheilte regelmäßige Dividenden, wiewohl ihre Einnahmen hauptsächlich in Zinsen der disponiblen Fonds, also des eigenen Kapitals bestanden: pro 1872 – 8 Procent, sowie dem Aufsichtsrathe 49,000 Thaler Tantième(!); pro 1874 – 4 Procent.
Posen–Creutzburg ist eine Bahn, über deren Berechtigung und Ersprießlichkeit starke Zweifel herrschen. Sie läuft mit ihren 27 Meilen neben der russischen Grenze hin, berührt lauter kleine Orte und verkürzt den alten Schienenweg über Breslau um ein sehr Geringes. Posen–Creutzburg gehört zu den Bahnen, mit welchen sich in Folge der Lasker’schen Enthüllungen die Special-Untersuchungs-Commission befaßte; und der sonst sehr zahme Bericht findet hier doch mancherlei außer aller Ordnung. Herr von Kardorff-Wabnitz ist Gründer und Aufsichtsrath der Bahn, und zugleich Gründer und Aufsichtsrath der deutschen Reichs- und Continental-Eisenbahnbaugesellschaft, welche die Bahn baut. Die Baugesellschaft wurde überhaupt nur zum Zwecke der Bahn gegründet und erhielt den Bau in Generalentreprise. Man überließ ihr das gesammte Actiencapital im Nennwerthe von 12 Millionen Thaler; aus dem Erlös sollte sie sich bezahlt machen und außerdem an die Actionäre bis zum 1. Juli 1875 fünf Procent „Bauzinsen“ gewähren. Als Dritter in diesem schönen Bunde existirt noch das Finanzconsortium, ein Verein von Bankhäusern (S. Bleichröder, Jacob Landau etc.), welche die Actien zum Course von 73 (also mit 27 Procent Abzug) versilberten, und die Auszahlung der Bauzinsen übernahmen; letzteres gegen die kleine Vergütung von 650,000 Thalern(!). Zwischen den drei Consortien wurden die Kreuz und die Quer verschiedene Verträge, allgemeine und separate, officielle und geheime, geschlossen und sie bewilligten einander die Kreuz und die Quer eine Reihe erklecklicher „Provisionen“. Herr von Kardorff war als Gründer und Aufsichtsrath der Bahn und zugleich als Gründer und Aufsichtsrath der Baugesellschaft mehrere Mal in der interessanten Lage, mit sich selber zu contrahiren. Diese Doppelstellung wurde vom königlichen Eisenbahn-Commissariat für „unzulässig“ erachtet, worüber Herr von Kardorff sich beschwerte; indeß hielt auch der Handelsminister die Entscheidung „aufrecht“. Und Herr von Kardorff wird wieder noch in Schatten gestellt von dem Commerzienrath Jacob Landau, welcher sonder Verlegenheit in allen drei Consortien saß, zugleich dem Aufsichtsrathe der Bahn, der Baugesellschaft und dem Finanzcomité angehörte, also bei jedem Vertrage dreimal in Einer Person fungirte!
Das Finanzconsortium hat natürlich den größten Schnitt gemacht; außer der Provision für Auszahlung der „Bauzinsen“ mit 650,000 Thaler, verdiente es bei Versilberung der Actien durchschnittlich 4 bis 5 Procent, das heißt nochmals 500,000 bis 600,000 Thaler. Von wirklichen Einzahlungen auf die Actien ist, bis auf die Zeichnungen der betreffenden Kreise, welche die Bahn durchschneidet – und diese Zeichnungen betragen etwa ein Zehntel des Grundcapitals – nicht die Rede gewesen, und die Generalversammlung der Actionäre wie der Handelsrichter wurden auf Grund des famosen Actiengesetzes in bester Form getäuscht.
Wie erstaunlich war es nun, Herrn von Kardorff am 10. Juni dieses Jahres im Reichstage plötzlich zu hören, wie er die Regierung anklagte, sie habe das Gründungstreiben und die Ueberspeculation begünstigt! Dieser Vorwurf ist neuerdings von den Gründern mehrfach erhoben, natürlich um sich in etwas zu reinigen; aber er ist doch nicht so ganz ohne. Herr von Kardorff wies auf die traurige Lage unserer Industrie hin, welche die Wirthschaftspolitik der Regierung mitverschulde; er bemerkte ganz richtig, daß die gegenwärtige Krisis noch im Steigen begriffen sei, und seine Rede gipfelte in den denkwürdigen Worten: Ich hielt es für nothwendig, vor dem Lande zu erklären, daß [676] wenigstens einige Leute sich um diese Fragen bekümmern. (Allgemeine Bewegung.) Herr von Kardorff kehrte sich namentlich gegen den Finanzminister Camphausen, den er „zum Theil als den intellectuellen Urheber unserer wirtschaftlichen Verirrungen“ betrachte. Auf Veranlassung des Finanzministers hatte die Seehandlung im Jahre 1872, während des Gründungsschwindels, der Discontogesellschaft aus den Beständen des Staatsschatzes drei Millionen Thaler gegen 2¾ Procent Zinsen und ohne Unterlage geliehen. Allerdings ein starkes Stück, das sogar die Oberrechnungskammer bemängelte und das nun Herrn von Kardorff zu seiner Philippika reizte. Er bezeichnete die Existenz der Seehandlung als eine verfassungswidrige; er warf ihr vor, daß sie Geschäfte mache, die eines Staatsinstituts unwürdig seien, daß sie jede Bankpolitik gefährde und den Geldverkehr überhaupt durchkreuze. Er verkündigte für die nächste Session einen Antrag auf Aufhebung der Seehandlung.
Im Reichstage wie im Publicum schüttelte man die Köpfe und fragte: was bedeutet das? Nun, es bedeutet, daß die Discontogesellschaft und das große Haus S. Bleichröder, die sonst immer so hübsch miteinander gehen, sich irgendwie veruneinigt haben, oder doch, daß jenes riesige Darlehn gegen so geringen Zinsfuß und ohne jede Sicherheit den Neid und die Eifersucht von S. Bleichröder erweckt hat. Beide großen Häuser haben im Reichstage wie im Landtage ihre Vertreter; die Discontogesellschaft hat ihren Miquel, und S. Bleichröder hat seinen von Kardorff.
Jene Philippika bedeutet, daß die Seehandlung den großen Finanziers ein Dorn im Auge ist, und daß sie allernächstens aus der Welt geschafft werden soll, nachdem sie in den letzten Jahren schon verschiedentlich beschnitten wurde. „Der Staat darf nicht Industrie oder Handel treiben“, ist die ewige Predigt der Manchesterleute, und sie haben ein Staatsinstitut nach dem andern zu beseitigen gewußt. Die Seehandlung mußte die Erdmannsdorfer Spinnerei verkaufen, welche dann Robert Thode und Compagnie und Richard Schweder in eine Gründung verwandelten, deren Actien heute circa 30 notiren. Die Seehandlung muß auch die Leihämter in Berlin aufgeben, damit das Publicum den Vampyren der Pfandleiher und Rückkaufswucherer völlig überliefert werde. Nachdem die Preußische Bank, die theilweise ein Staatsinstitut war, glücklich in die Reichsbank umgewandelt worden, die eine reine Actiengesellschaft ist; nachdem die „Meistbetheiligten“ der Preußischen Bank – das sind die großen Finanziers, die Matadore der Börsianer und Gründer – mit Hülfe der Herren Ludwig Bamberger und Genossen glücklich zu „Reichsbank-Antheilseignern“ erhoben sind, und damit jede Concurrenz todt gemacht ist, soll nun auch noch das letzte Bankinstitut fallen, welches der preußische Staat besitzt – die Seehandlung.
Die Tischgenossen auf der blüthenumrankten schönen Veranda saßen sich in sehr unbehaglichem Schweigen gegenüber.
„Es wird besser sein, ich kehre morgen wieder nach Hause zurück,“ wandte sich endlich die Schwiegermutter mit leise bebender Stimme an den neben ihr sitzenden Onkel Clemens, während die junge Frau unverwandt vor sich niedersah und ein sehr finsteres Gesicht machte.
„Was fällt Dir ein, Mutter,“ rief der Gutsherr, „das darfst Du uns nicht anthun! Du wolltest den Sommer über hier bleiben und wirst unser Haus nicht so verlassen. Emmy, sage der Mutter, daß Dir das leid thun würde!“ „Wenn meine Worte von vorhin Dich beleidigt haben, so bedaure ich dies sehr,“ kam es kalt und gezwungen von Emmy’s Lippen, und da keine weitere Herzlichkeit nachfolgte, stand Robert auf und nahm den Arm der alten Frau: „Wir gehen ein wenig zu den Anlagen hinüber; bis zum Abend habt Ihr Euren Wortwechsel vergessen, und von der Abreise redest Du mir nicht mehr, Mutterchen, wenn Du mich lieb hast.“
Und er zog seine Mutter in den Garten, ohne noch ein Wort an Emmy zu richten, die sich gleichfalls erhoben hatte und ganz mechanisch die Teller zusammen stellte. Als sie aufblickte, sah sie die großen hellblauen Augen des Onkels prüfend auf sich gerichtet.
„Wollen wir ein wenig nach der oberen Terrasse gehen, liebe Emmy?“ fragte er jetzt. „Ich meine, ein kleiner Erholungsgang könne Dir gut thun.“
Sie nickte stumm, es schimmerte seltsam in den braunen Augen, und sie preßte die Lippen fest zusammen, als sie den dargebotenen Arm ergriff und leicht an des Alten Seite durch den dunkeln Laubgang aufwärts schritt. Plötzlich blieb sie stehen und rief, indem sie hastig den Kopf aufwarf:
„Nein, es ist unerträglich, auf diese Weise zu leben. Fortwährend Rücksicht über Rücksicht nehmen, fortwährend seine Handlungen und Worte und zuletzt auch seine Gedanken fälschen, nur um nicht an diese ewigen kleinlichen Empfindeleien anzustoßen! Ich wußte es ja, was mir bevorstand, und hatte mich mit zehnfacher Geduld gerüstet, aber zuletzt geht sie mir doch aus. Und es soll nun noch wochenlang so fortgehen? Ich kann es nicht ertragen!“
„Was kannst Du nicht ertragen, Emmy?“ fragte ernsthaft Onkel Clemens. „Die erste kleine Widerwärtigkeit nach zweijährigem Glück?“
„Eine kleine Widerwärtigkeit nennst Du es, wenn sie überall herumtadelt und mir das Leben verbittert und zuletzt noch meines Mannes Herz von mir abwendet! So wie heute hat er noch nie mit mir gesprochen, niemals!“ – Und die langverhaltenen Thränen brachen los.
„Kind, Kind,“ sagte der Onkel kopfschüttelnd und zog das schluchzende Frauchen zu sich nieder auf eine Bank – ich kenne Dich seit acht Tagen nicht mehr. Ist das meine heitere verständige Emmy, die den alten Onkel nun schon Monate lang so liebenswürdig pflegt und erträgt?“
„Erträgt!“ lachte Emmy unter ihren Thränen, „Dich, den besten und weisesten der Menschen, vor dem ich mich alle Tage schäme, daß ich so dumm und doch so glücklich bin, während er vom Leben nur Arbeit und Entsagung hatte! Ich möchte Dir immer im Stillen dafür abbitten!“
Der alte Mann lächelte eigen vor sich hin. „Mir kann das Nichts helfen, liebes Kind, ich habe längst mein Glück von den Zufälligkeiten dieser Welt unabhängig zu machen gewußt. Aber Du kommst mir vor, wie Einer, der das regenfeuchte Land nochmals gießt, während nebenan ein gedecktes Beet vertrocknen will.“
„Was meinst Du damit, Onkel?“
„Kannst Du es nicht selbst finden, Emmy? Ist Deine alte, einsame, kränkliche Schwiegermutter so außerordentlich glücklich, daß sie keiner Liebe, keiner theilnehmenden Sorglichkeit bedarf?“
„Was fällt Dir ein!“ rief Emmy lebhaft; „das ist eine ganz andere Sache. Ich lasse es nicht an Respect ihr gegenüber fehlen, zur Liebe aber kann sich Niemand zwingen und es wäre eine recht erbärmliche Heuchelei, dergleichen zu thun. Das ja ganz rein unmöglich!“
„Ja, ja,“ sagte der Onkel leise, „man übt immer nur die Tugenden, die süß zu üben sind, und macht sich dann ein Verdienst daraus. Eine alte Geschichte, ich habe sie schon oft erlebt!“
„Onkel,“ rief die junge Frau, „ich merke es schon die ganze Zeit, Du giebst mir Unrecht, also sage mir nur Alles gerade heraus. Aber es soll mich doch wundern, ob Du behaupten kannst, diese endlosen, langweiligen Geschichten, der alberne Kram von Zahnperlen und Salben für mögliche und unmögliche Wunden, das ewige Beaufsichtigen hinter den Mägden her sei ganz richtig und vernünftig, und nicht vielmehr um aus der Haut zu fahren vor Aerger.“
„Ich behaupte das nicht, mein Kind, obgleich viel größere Menschen als Du und ich in der Welt weit Schwereres ertragen haben, als die stets wohlgemeinten, wenn auch manchmal –“
„Langweiligen!“
[677] „Meinetwegen, langweiligen Reden einer alten Frau. Was ich aber behaupte, ist dies: Du bist unbedingt verpflichtet, diese langweiligen Reden mit Geduld und guter Laune anzuhören und mit Liebenswürdigkeit zu erwidern, und von dieser Verpflichtung kann Dich Niemand lossprechen.“
„Das geht doch zu weit! Ich kann und will nicht heucheln, das habe ich Dir schon vorhin gesagt, und keine andere Frau an meiner Stelle würde es thun. Meine Pflichten,“ hier färbten sich ihre Wangen, „glaube ich pünktlich und gewissenhaft zu erfüllen –“
„Halt, liebes Kind,“ sagte der Onkel lächelnd, „ich sehe schon, wir müssen ein wenig tiefer anfassen. Was nennst Du Deine Pflichten? Die zärtliche Liebe für Mann und Kind, die Sorge um ihr Wohl, das freie glückliche Leben hier auf dem Gute, heitere Geselligkeit, dazu Ordnung und Reinlichkeit im Hauswesen – Alles das, was Dir selbst Freude und Behagen verschafft und ohne alle Ueberwindung zu vollbringen ist? Glaubst Du denn wirklich, das Leben stelle an einen denkenden Menschen keine höheren Aufgaben, als einfach seinen natürlichen Bedingungen nachzuleben? Nein, Emmy, die Liebe für Mann und Kind darf sich keine Frau als Verdienst anrechnen, nicht einmal die Arme, welche um ihretwillen mit Noth und Elend kämpft. Was würdest Du von einem Manne halten, der sich mit der Liebe für seinen Beruf spreizen wollte? Die ist natürlich und selbstverständlich – das Verdienst aber beginnt erst bei der freien Leistung über die Verpflichtung hinaus, bei Kampf und Entsagung und Selbstüberwindung im Dienst des Ganzen!“
„Du bist hart, Onkel,“ sagte Emmy leise, „ich kann Dich versichern, viele Andere an meiner Stelle würden recht ungezogen mit ihr gewesen sein, und ich habe mich immer zurückgehalten –“
„Ja, ja, die Zurückhaltung war deutlich zu spüren,“ lächelte der Onkel, „und mit den Anderen, Tieferstehenden wollen wir uns doch lieber nicht vergleichen, mein Kind, man kommt sonst nach und nach zu einem verzweifelt bescheidenen Maßstabe. Was glaubst Du wohl, Emmy: wird sich Deine alte Schwiegermutter nach diesen angenehmen kleinen Scenen plötzlich ändern, werden ihr durch höhere Erleuchtung die Grundlagen der Physik, Nationalökonomie, Gesundheitslehre und was sie sonst noch zu interessanteren Reden befähigen würde, angeflogen kommen?“
„Ach, geh doch!“ lachte Emmy halb widerwillig.
„Also, liebes Kind,“ sagte der Onkel sehr ernsthaft, „ist es an Dir, so lange zu probiren und zu ändern, mit derselben Ausdauer, die ein Künstler für sein Werk hat, bis Du ein hübsches, gutes, erfreuliches Verhältniß zwischen Euch Beiden zu Stande gebracht hast. Deine Schwiegermutter ist eine durchaus gutartige Frau, die nur, wie wir Alle, ihre menschlichen Schwachheiten hat, folglich ist sie, wie jeder Mensch, mit dem man aus zwingenden Gründen auskommen muß, zu studiren und zu behandeln. Seinen freiwilligen Umgang kann man sich wählen, und ich hielte Den für den größten Narren, der hierin etwas Anderem als seiner Sympathie folgen würde. Aber sobald es sich um gegebene Verhältnisse handelt, ist es keine Geschmackssache mehr, dann hat man seine Aufgabe vor sich, und ich sehe nicht ein, warum eine Frau an ein solches Problem nicht ebenso viel Nachdenken und Thatkraft wenden soll, als ein Mann an die seinigen! Wenn ihr die Lösung gelingt, wenn sie sich als Schöpferin eines schönen Familienlebens betrachten darf, dann ist dies eine Leistung, welche jeder vernünftige Mensch zu den höchsten rechnet, obwohl sie sich aus lauter kleinen Momenten zusammensetzt.“
„Ich sehe nur nicht ein,“ sagte Emmy „warum gerade ich allein verpflichtet sein soll, mich fortwährend zu überwinden. Ich will Dir meinetwegen zugeben, daß wir alle Beide schuld sind, aber warum soll ich denn thun, als ob ich es allein wäre, und alle Fehler nur an mir suchen?“
„Weil es Dir doch nicht anders hilft, weil noch kein [678] Mensch ein großes Werk fertig gebracht hat, der sich gleich drei Fuß von seiner Nase ein Ziel setzte und nicht vielmehr den Sprung mit allen Kräften that, je weiter, desto besser. Es ist schon dafür gesorgt, daß jedem begeisterten Streben das Bleigewicht anhängt, man braucht es nicht in der eigenen Tasche mitzubringen und auszurechnen: ‚Bis hierher will ich großmüthig sein, aber nicht weiter!‘ Kind, Kind, ich sage Dir: Wer nicht früh seine Wahl trifft und mit vollem Herzen die Sache der Großen und Guten zu der seinigen macht, der verfällt der Kleinlichkeit und dem Egoismus, Euern beiden Schooßsünden, Ihr sanften holden Frauen, und geht darin unter. Bin ich es denn allein, den der Ekel anfaßt, wenn er die Menschen sieht, die, wie neidische Kinder, ihren kleinen Vortheil ängstlich festkrallen und darum schreien und keifen? Und das Leben ist so kurz, die Gelegenheit zum Wohlthun so hundertfach, und Niemandem fällt es ein, wie leicht er sich und Anderen das berühmte ‚Jammerthal‘ etwas freundlicher machen könnte!“
Emmy’s gutes Herz fing an, sich zu rühren. Sie kam sich während des Onkels letzter Rede schon lange nicht mehr so tiefgekränkt vor, im Gegentheil, es stieg ein ganz kleines Etwas von bösem Gewissen in ihr auf. Sie schwieg aber und beugte sich auf die Rose nieder, die sie in der Hand hielt. Der alte Mann sah in die abendglänzende Landschaft hinaus, dann wandte er sich wieder zu ihr:
„Unser Leben ist durch die unabwendbaren Schicksale schon reich genug an Noth und Herzeleid, man sollte es sich nicht noch freiwillig verbittern. Rings um uns lauern Armuth, Krankheit und Tod. – Niemand legt seinen Weg zurück, ohne wenigstens Einem von ihnen seine Opfer zu bringen, aber sie bringen sich leichter und reiner, wenn das Herz nicht von des Lebens Gemeinheit vergiftet ist. Niemand kann die großen Plagen des Menschengeschlechtes aus der Welt schaffen, aber die kleinen, überflüssigen Qualen, die man sich gegenseitig in blindem Unverstand zufügt, die könnten beseitigt werden, und welche Rolle fiele Euch dabei zu, Ihr Frauen, wenn Ihr groß genug dächtet, sie zu begreifen!“
Emmy wollte antworten, der Onkel legte die Hand sanft auf ihren Arm und sagte:
„Laß mich aussprechen, Kind, was mir in dieser letzten Woche bei Euren täglich wiederholten Streitigkeiten so sehr auffiel. Wir sehen uns vielleicht nicht so bald wieder allein, und ich habe zu Deiner guten Natur das Vertrauen, daß sie nur des Fingerzeiges zum rechten Weg bedarf. – Weißt Du, was der ganze Grund der häßlichen, gereizten Streitigkeiten zwischen so vielen Frauen und speciell zwischen Schwiegermüttern und Töchtern ist? Das böse Wort, die Stichelreden, die Ihr Euch von frühester Jugend angewöhnt, als Waffe gegen Euresgleichen zu gebrauchen, das ewige Corrigiren und Besserwissen, oft sogar gegen den Ehemann. Eine unwürdige, schändliche Waffe, dieses Sticheln, gleich dem Indianerpfeil mit der vergifteten Spitze. Und Ihr seid nicht geknechtete Orientalinnen, nicht verachtete Negerweiber, auf deren Geschwätz keiner ihrer Männer auch nur achtet, sondern Ihr steht inmitten der Familie sehr berechtigt, sehr einflußreich da, nur für meinen Geschmack nicht hinreichend verpflichtet. Auf Eurer unbedachten Zungenspitze, in Euren leichtfertigen Händen tragt Ihr stets das Brandgeschoß, was ohne viel Federlesens geworfen wird, sobald die Gelegenheit passend scheint. Wenn ich die Frauen zu ‚emancipiren‘ hätte, beim Himmel, ich würde ihnen zu allererst die Ehre anthun, sie für ihre Worte in derselben Weise verantwortlich zu machen, wie es die Männer sind, und ich glaube doch, die schnellen Zünglein würden nach und nach durch die unangenehmen Folgen etwas behutsamer werden.“
„Als ob die Männer keinen Streit untereinander hätten!“ warf Emmy ein.
„Ich rede nur von der Art des Streites, liebes Kind. Differenzen sind überall unvermeidlich, wo verschiedene Interessen gegeneinander stoßen, aber wozu haben wir denn unsere ganze vielberühmte Humanität und Bildung, vom Christenthum ganz zu schweigen, wenn wir dadurch nicht in Stand gesetzt werden, die kleinen Differenzen mit schonender Rücksicht zu überwinden, die größeren und großen in offener Auseinandersetzung mit den Andern auszutragen? Ich möchte die Schwiegermutter sehen, und wenn sie eine der berüchtigten ‚bösen‘ wäre, die nicht nach und nach weich würde, wenn sie einer stets gleichbleibenden Güte und Rücksicht begegnete. Natürlich werden die Gelegenheiten nicht ausbleiben, wo verschiedene Ansichten und Absichten sich gegenüber stehen. Dann muß geredet werden. Aber statt mit verdeckten Batterien anzurücken und: piff paff! mit Stichelreden das Gefecht zu eröffnen, warum nicht einfach sagen: aus diesem oder jenem Grunde kann ich das, was Du verlangst, nicht thun, Mama! und ihr die Sache wirklich auseinander setzen, statt nach Eurer Lieblingsgewohnheit immer den eigentlichen Grund zu verschweigen und tausend unstichhaltige dafür geltend zu machen?“
„Das kann man eben nicht immer,“ antwortete Emmy lebhaft, „es giebt Dinge, die sich gar nicht so klar machen lassen, selbst einem Manne nicht, während man doch lebhaft fühlt: es ist so und muß so sein!“
„Ach, liebes Kind,“ rief der Onkel lachend, „kommst Du mir auch mit dem Gefühlsargument? Das bedeutet eigentlich, daß ich die Schlacht gewonnen habe, denn es ist immer Euer Letztes, wenn das übrige Pulver verschossen ist. Aber ich lasse es Dir nicht passiren, Emmychen, was vernünftig gedacht ist, kann man klar machen, folglich ist das Verschwiegene entweder unvernünftig, oder – ich muß auf das schlimme Wort zurückkommen – so egoistisch, daß man es aus Scham verschweigt. Dort sitzt auch der Haken, Ihr könnt hundertmal den Grund nicht nennen, denn es würde doch sonderbar lauten: ich bin zu bequem oder zu eigensinnig, dies oder jenes zu thun.“
„Das ist man auch nicht immer,“ sagte Emmy, „sondern man hat einmal seine gewohnte Art, eine Sache zu machen, und soll sie nun ohne Grund plötzlich ändern –“
„Wobei das Endresultat, die gewaschenen Vorhänge oder der Topf voll eingemachter Kirschen, sich natürlich ganz gleich bleibt. Aber man ließe sich lieber lebendig braten, als zugeben, daß die andere Art auch gut, möglicherweise ebenso gut sei, als die eigene. Und gar den Gedanken hegen, man könne es um des lieben Friedens willen einmal auf die andere Weise probiren, da man doch sonst ziemlich viel Sinn für Veränderung besitzt, nein, diese Zumuthung wäre schrecklicher, als alle Gräuel, die sich sonst in der Weltgeschichte hier und da zugetragen haben sollen!“
„Uebertreibe nicht gar so arg, Onkelchen,“ lachte Emmy. „Weiß ich doch, daß Du die Frauen nicht so tief stellst, um im Ernste anzunehmen, daß wir alle unsere Schul- und Herzensbildung mit dem Eintritt in das Eheleben vergessen könnten!“
„Schul- und Herzensbildung? Ja, das frage ich mich auch oft staunend,“ sagte der Onkel. „Wo ist sie hingekommen, wenn man die strebsamen jungen Damen nach ein paar Jahren als Frauen wiedersieht? Ihr lernt doch mit scheinbarem Eifer in Schulen und Cursen das Wissenswürdigste menschlicher Geistesgeschichte; bleibt denn davon Nichts hängen, ist denn Das, was den Knaben und Jüngling begeistert und ihm die Richtung für’s Leben verleiht, nur Euch gegenüber ganz wirkungslos? Stehen die großen Figuren der Weltgeschichte nicht auch für Euch als Trost und Vorbild da? Man sollte denken, daß, wer einmal die Lebenskämpfe der großen Männer und Frauen mit tiefem Antheile begleitet hat, hinfort seinen Mund nicht mehr öffnen würde, um über die kleinen Widerwärtigkeiten seines sonst ganz glücklichen Lebens zu klagen. Etwas mehr große, allgemeine Interessen, Ihr Frauen, etwas mehr wirkliches Gemüth und etwas weniger sogenannte Gemüthlichkeit, und es wäre Euch geholfen! Um wie viel richtiger würdet Ihr Eure kleine Umgebung taxiren, wenn Euch der Blick auf den großen Horizont frei bliebe, wenn Ihr begriffen hättet, wie viel interessanter die Dinge sind, als die Personen, wenn Ihr Euch um das Wesen der Dinge kümmern wolltet! Die sämmtlichen Gattin-, Hausfrau- und Mutterpflichten könntet Ihr bei dieser Auffassung erst recht musterhaft erfüllen und wäret selbst am glücklichsten dabei!“
Es wurde ganz still, die junge Frau saß mit gesenktem Köpfchen da. „Nun, Emmy, warum widersprichst Du mir nicht?“ fragte der Onkel endlich.
Sie hob die schönen glänzenden Augen zu ihm auf: „Weil ich Dir nicht widersprechen kann, weil Du Recht hast. Ich will Dir folgen und thun, was in meinen Kräften steht; ob es mir so gelingen wird, wie Du meinst, weiß ich freilich nicht.“
[679] „Es wird Dir gelingen, mein Kind,“ sagte der Onkel aufstehend und küßte sie herzlich auf die Stirn. „Wer die Wahrheit so muthig anhört und ihr ohne Zaudern die Ehre giebt, der kann Großes vollbringen. Das Ziel hoch gesteckt, Emmy, und die Augen unverwandt darauf gerichtet, den festen Willen im Herzen, dann kann’s nicht fehlen.“
Sie schritten langsam wieder den Berg hinab, es war still in Haus und Hof, der Herr hatte mit der Frau Medicinalrath eine kleine Spazierfahrt nach den neuen Anlagen gemacht. Das war Emmy gerade recht, sie ging zu ihrem Kindchen und saß noch lange mit ihm in der großen Laube, wo man weit über die Felder hinsieht. Ihre Augen verfolgten die schmale graue Figur des Onkels, der längs dem Waldrande seinen Abendspaziergang machte.
Zwei Stunden später saß die kleine Familie auf der Veranda wieder um den Theetisch vereinigt. Rosen und Jasmin dufteten durch die laue Nacht, dann und wann zog ein großer Falter seine Kreise um die Kugellampe, deren Schein sich über die blanken Geschirre und die im Kreise darum befindlichen Menschengesichter ergoß. Sie sahen Alle freundlicher aus heute Abend.
„Wir haben eine schöne Fahrt gemacht, fing die Mama an. „Robert hat mir gezeigt, was er Alles in den letzten Wochen angelegt hat, ich muß sagen, er hat alle Ehre davon. Ach ja,“ sagte sie, sich zurücklegend und nach dem mondbeschienenen Garten hinausblickend, „es ist wunderschön hier bei Euch.“
„Nun, liebe Mama,“ sagte Emmy etwas erröthend und mit unsicherer Stimme, „wenn es Dir hier wirklich gut gefällt, so machst Du uns auch gewiß die Freude, den ganzen Sommer da zu bleiben. Daß es Robert’s höchster Wunsch ist, weißt Du, und was in meinen Kräften steht, es Dir hier behaglich zu machen, soll gewiß geschehen. Wenn ich in der letzten Woche manchmal etwas heftig war –“
Aber die alte Frau ließ sie nicht weiter kommen. „Nein, nein, liebstes Emmychen, Du brauchst Dich nicht anzuklagen,“ rief sie und gab ihr einen herzlichen Kuß. „Wir alten Leute sind auch wunderlich, aber wenn man nur den guten Willen hat, muß es doch gehen! Du hast Recht, Robert,“ sagte sie dann zu diesem gewandt, „sie hat ein gutes Herz!“
Aber dieser hörte sie kaum, seine strahlenden Augen hingen an dem erröthenden lieblichen Gesichte ihm gegenüber, und mit dem innigsten Glücksgefühle empfand er es, daß sein junges Weib eine schwere Ueberwindung nur seinetwillen geübt hatte. Und als Emmy diesem Blicke voll Liebe und Stolz begegnete, fühlte sie eine so süße Befriedigung im Herzen, daß es gar keine weitere Ueberlegung brauchte, um den eben betretenen Weg für den richtigen zu erkennen. Sie schlug die Augen nach dem Onkel auf, dieser aber beobachtete gerade mit großem Interesse einen dicken Nachtfalter, der sich auf dem nächsten Jasminzweige wiegte. – – –
Jahre sind seitdem vergangen, Emmy steht als glückliche, geliebte Frau im Kreise ihrer heranwachsenden Kinder, und aus dem gezwungen freundlichen Verhältnisse zur Schwiegermutter ist mit der Zeit ein aufrichtig herzliches geworden. Das Bewußtsein, so vieler Menschen Glück zu begründen, verleiht Emmy eine immer neue Freudigkeit des Handelns, während die alte Frau dankbar die sanfte Hand segnet, deren Walten ihren Lebensabend so schön erheitert.
Und Derlei wäre anderwärts wohl auch möglich!
Ein Grabdenkmal in West-Afrika. (Mit Abbildung Seite 677.) Die Entdeckung des gewaltigen Nigerstromes im nordwestlichen Afrika, die Erforschung seines mehr als viertausend Kilometer langen Laufes durch Mungo Park und die Gebrüder Lander hatte trotz des unglücklichen Ausgangs der ersten Expeditionen wiederholt den Gedanken hervorgerufen, diesen Fluß als Verkehrsstraße zu benutzen, um Centralafrika, die südlichen Theile des Sudan dem Handel zugänglich zu machen. Um so mehr richtete sich das Augenmerk auf eine solche Verbindung mit jenen Gegenden, als der Versuch, von der Küste des Mittelmeeres aus durch die Wüste einen Handelsweg in das Herz Afrikas zu bahnen, auf die größten Schwierigkeiten gestoßen war, da nicht allein die Wüste mit ihren Schrecken, sondern auch die räuberische Bevölkerung dieser Districte derartigen Unternehmungen unüberwindliche Hindernisse entgegenstellen. Mit ungleich geringeren Gefahren und Hemmnissen verknüpft schien die Wasserverbindung, wie auch die rohen, heidnischen Negerstämme das Zustandekommen eines friedlichen Verkehrs viel eher hoffen ließen, als im Norden die fanatischen Anhänger des Islams. Zudem hatte ein neues Handelsproduct, welches täglich eine größere Wichtigkeit erlangte, das Palmöl, schon längst die Schiffe der Kaufleute in die Nigertiefländer gezogen. Um den so vielfach erwogenen Plan zur Ausführung zu bringen und einen regelmäßigen Handelsverkehr mit dem Inneren Afrikas herzustellen, rüstete England im Jahre 1841 drei Dampfer, „Sudan“, „Albert“ und „Wilberforce“, nebst einem Transportschiffe aus. Unter den Gelehrten, welche an dieser Expedition teilnahmen, war der deutsche Botaniker Dr. Theodor Vogel, dessen Name, obwohl weniger in die Oeffentlichkeit gedrungen, als der des gleichnamigen Reisenden, Eduard Vogel, welcher dem grausamen Herrscher von Wadai zum Opfer fiel, doch gleich diesem als leuchtendes Denkmal deutschen Opfermuthes, des feurigen Strebens und der Ausdauer deutscher Forscher in Afrika in der Geschichte der Entdeckungen verzeichnet steht.
Theodor Vogel war zu Berlin am 30. Juli 1812 geboren und hatte hier auch seine Gymnasial- und Universitätsbildung erhalten. Seit 1838 in Bonn am botanischen Garten und als Privatdocent angestellt, erhielt er die ehrenvolle Aufforderung, an der Nigerfahrt theilzunehmen, der er mit Begeisterung Folge leistete. Die Expedition, welche im Juni 1841 England verließ, erreichte im August desselben Jahres den Guineabusen und fuhr durch den Nunfluß, eine der zahlreichen Mündungen des Niger, diesen Strom hinauf. In der Mitte des September hatte man den Einfluß des Tschadda in den Niger erreicht, wo das eigentliche Feld der Thätigkeit für die Expedition begann. Da stellten sich die schon lange gefürchteten tropischen Fieber ein, welche sämmtliche Europäer befielen, einen großen Theil von Officieren und Mannschaften hinwegrafften, die übrigen zu weiterer Thätigkeit unfähig machten und dem Unternehmen ein frühes Ziel steckten. Man war gezwungen, umzukehren. Um den verderblichen Einflüssen des Küstenklimas zu entgehen, fuhr die Flotte nach der Insel Ascension, die, inmitten des atlantischen Oceans gelegen, durch ihre reine Seeluft den Kranken Besserung versprach. Vogel, der selbst am Fieber schwer darnieder lag, konnte sich dennoch nicht entschließen, auf jenem öden Eilande, welches ihm für seine botanischen Forschungen nicht die geringste Aussicht eröffnete, sich einer Wochen, vielleicht Monate langen Unthätigkeit hinzugeben, und beschloß, auf der vegetationsreichen Insel Fernando-Po seine Genesung abzuwarten.
Vor den Mündungen des Camerun und Calabar liegt in der Guineabucht, sechsunddreißig bis vierzig Kilometer von der Küste entfernt, das prächtige, felsige Eiland Fernando-Po, die schönste der afrikanischen Inseln. Schroff ansteigend erheben sich die Ufer aus der See zu einem majestätischen, kegelförmigen Pik, dessen viertausend Meter hoher Gipfel einen alten Krater trägt. Die ganze Insel ist in ein gleichmäßiges dunkles Grün gekleidet, mit dichter, größtentheils aus Oelpalmen bestehender Urwaldung bedeckt, welche in der üppigsten Fülle tropischen Pflanzenwuchses prangt. Obgleich schon im Jahre 1471 von einem portugiesischen Seefahrer entdeckt, dessen Namen sie führt, und seit 1778 im Besitze der spanischen Regierung, ist die Insel doch noch sehr unvollständig durchforscht. Erst im Jahre 1843 wurde ihr Pik durch den spanischen Gouverneur Beecroft zum ersten Male erstiegen und dessen Höhe gemessen. Seitdem ist sie häufig von Zoologen und Botanikern besucht, aber sicherlich harrt noch manche diesem interessanten Eilande eigenthümliche Thier- und Pflanzenform ihres Entdeckers.
Die einzige europäische Niederlassung ist der Ort Sanct Isabel, an der Bai gleichen Namens gelegen, zugleich landschaftlich der schönste Punkt der Insel. Die tiefe Bucht, offenbar der Schlund eines in das Meer gesunkenen Kraters, wird im Halbkreise von den schroff abfallenden Felsenufern, den alten Kraterwänden, umgeben, die sich dann zu einem weiten, herrlichen Amphitheater erheben. Hoch auf dem Ufer, hart am Gestade, liegen die Häuser der Europäer, die Gouvernements- und Missionsgebäude. Verfolgt man die Straße, welche von hier aus längs dem Ufer an ein Flüßchen verläuft, so gelangt man zu dem Friedhofe der Colonie. Hier ruhen manche der heldenmüthigen Erforscher Afrikas, Lander, Capitain Allen und auch unser Landsmann Vogel. Derselbe hatte sich zusammen mit dem Geologen der Nigerexpedition, Roscher, ebenfalls einem Deutschen, nach Abfahrt der Schiffe nach Ascension in Sanct Isabel eingerichtet, um vom Fieber zu genesen und auf dem vielversprechenden Eilande seine botanischen Forschungen fortzusetzen. Doch sein kräftiger Körper war schon zu stark erschüttert. Am 17. December 1841 erlag er der schleichenden Krankheit.
An dem äußersten Ende der Isabel-Bai, wo das Ufer in einer schmalen Spitze in das Meer vorspringt, ist jetzt ein Sandsteinmonument zum Andenken an die Expedition errichtet, geschmückt mit den Namen der auf der Fahrt gestorbenen Officiere und dem des Dr. Vogel. Diese Stelle hat der Künstler auf dem Holzschnitte skizzirt. Rechts sieht man die Bai, umgeben von den schroffen Uferwänden, die hinter den hart am Rande gelegenen Gebäuden zu dem mächtigen Pik ansteigen. Im Vordergrunde steht, von Cocospalmen beschattet, das Denkmal, ein Erinnerungszeichen an viele ruhmvolle Forscher, welche in der Blüthe der Jahre auf dem Gipfelpunkte freundlichen Schaffens durch das feindliche Klima hinweggerafft wurden und Ruhe fanden in der fremden Erde.
[680] Ein Herbstmittag im Thiergarten von Berlin. (Mit Abbildung S. 672 und 673.) Der Hochsommer ist vorüber. Berlin ist wieder bei sich selber eingekehrt. Noch aber brütet die helle Septembersonne empfindlich heiß über Straßen und Plätzen, da flüchtet Alles Nachmittags hinaus in den Thiergarten, um den thauigen Schatten des Laubdachs zu genießen, ehe der Herbst es abdeckt, der schon hier und da seine bunten Wahrzeichen darauf geheftet.
Was wäre Berlin ohne seinen Thiergarten? Was wäre es geworden, wenn der letzte Wille Friedrich Wilhelm’s des Zweiten – es war dies eine ausdrückliche Cabinets-Ordre – ausgeführt worden wäre, daß nämlich der Thiergarten sofort abgeholzt werden sollte? Berlins guter Genius hat den unersetzbaren Baumschmuck vor dem Untergange gerettet, und es ist bekannt, welche Vorliebe die späteren Könige ihm zugewandt haben. Da durfte kein Baum, kein Strauch umgeschlagen oder verpflanzt, kein Weg, kein Graben, kurz Nichts durfte gemacht werden, ohne daß die allerhöchste Genehmigung dazu eingeholt worden. So hat der Thiergarten trotz seiner in einzelnen Theilen abschreckenden, verpesteten Sümpfe, trotz seines lybischen entsetzlichen Staubes doch malerische Fußwege, herrliche Partieen erquickender Waldeinsamkeit, stille Solitüden, wo der Lärm des Weltstadtlebens verstummt und nur die Nachtigall flötet, die Taube girrt, der Specht hämmert. Der Thiergarten hat ganze Quartiere luxuriösester, anmuthigster Billen mit den köstlichsten Gärten, lange Straßen mit breitgelagerten Palästen, breite Fahr- und Promenadenwege. Was der Prater für Wien, die Champs Elysées, Bois de Boulogne für Paris, der Hydepark für London – das sind diese Fahr- und Promenadenwege für Berlin. Hier begegnet sich alle Welt. Die vierspännigen Hofwagen mit ihren Vorreitern, lange Reihen prächtiger Equipagen und Gefährte jeder Art, Reiter auf edelsten feurigsten Rossen, Officiere und Damen, Alles rollt und trottirt und galoppirt in den verschiedensten Richtungen an den Promenirenden vorüber, eine kaleidoskopische Kette malerischer Bilder.
Aber wie Alles in Berlin haben auch die Stätten dieser Vergnügungen ihre Wandelungen erfahren. Der fashionabelste aller Promenadenwege ist zur Zeit die Siegesallee, an schönen Herbstagen der Sammelplatz der vornehmen Welt von Berlin und aller Derjenigen, die sich einbilden, ihr anzugehören.
Die große Welt der Reichshauptstadt hält hier jetzt Parade ab über die Toiletten, die noch vor einigen Wochen auf den Promenaden der Bäder und Sommerfrischen von Interlaken bis Helgoland sich stolz entfalteten. In der breiten Avenue, die von der Siegessäule auf dem Königsplatze quer durch den dunkeln Park bis zur Victoriastraße führt, wandelt, rollt und trabt eine reiche Fülle glänzender oder doch in Glanz gehüllter Gestalten an einander vorbei, plaudernd, lächelnd, erkennend und grüßend, eine heitere, mit sich selbst beschäftigte Gesellschaft, die, erfrischt heimgekehrt, wieder neu und interessant geworden und doch mit geheimem Behagen sich im innersten Wesen als die alte empfindet. Unter den glänzenden Equipagen lenken namentlich die Biergespanne der Prinzessinnen Karl und Friedrich Karl die Augen der Lustwandelnden auf sich.
Der Künstler hat sich in dem heutigen Bilde die Aufgabe gestellt, die glänzende Promenadenversammlung in dem Augenblick aufzunehmen, wo die Kaiserin, die es liebt, dann und wann den Wagen zu verlassen und sich mit ihrer jungen anmuthigen Hofdame unter die Promenirenden zu mischen, in der Siegesallee erscheint. Sie schreitet zwischen den Spalieren geschmückter Spaziergänger in würdevoller Haltung hindurch, die huldigenden Grüße von hüben und drüben erwidernd. Folgten nicht in genau bestimmtem Abstande und mit aufmerksamster, dienstbeflissener Geberde zwei mänteltragende Hoflakaien, den beiden Damen, man würde an deren einfacher Promenadentoilette kaum die außergewöhnliche Erscheinung ermessen.
Ringsumher rauschen die aufgebauschten Roben der tief sich verneigenden Berliner Schönen, aber gerade aus schaut der vollbärtige junge Graukopf des wohlbekannten Abgeordneten von der Fortschrittspartei. Nicht weit von ihm hebt ein alter Officier mit tiefdurchfurchtem Antlitz ernst und gemessen die schlachtenlenkende Hand zur schlichten Mütze; es ist Er, der gleich jenseits der Siegessäule, hart am Königsplatze, im Generalstabsgebäude sein Heim hat, in der Straße, die seinen Namen trägt: Feldmarschall Graf von Moltke. Er wandelt still und allein, wenn er noch eine Beziehung pflegt zu irgend einem weiblichen Wesen, so ist es, wie man sagt, die Victoria da droben auf dem weithin ragenden Denkmal der drei jüngsten Kriege. Ist es doch, als winkte sie ihm mit dem vollen Kranze grüßend nach.
Warnung. In neuerer Zeit mehren sich die Bestrebungen, eine bisher nur in Oesterreich und theilweise auch in Süddeutschland einheimische Praxis der Ausbeutung des Publicums auch nach Norddeutschland zu importiren.
Ich meine den Schwindel der Ratenbriefgeschäfte, und es ist wohl eine Pflicht der unabhängigen Presse, diesem hauptsächlich von Berlin, Frankfurt am Main und Hannover ausgehenden Treiben durch Belehrung des Publicums von vornherein energisch entgegenzutreten und namentlich das mit derartigen Geschäften nicht vertraute Publicum der Provinz, besonders das Landvolk, vor den überall herumreisenden Agenten dieser Geschäfte zu warnen. Es erscheint nicht unnöthig, die Geschäftsgebahrung dieser neuen Art von Raubrittern etwas näher zu beleuchten. Von irgend einer unter hochtönenden Namen gegründeten, auch ordnungsmäßig in’s Handelsregister eingetragenen Bank oder Commanditgeselschaft oder einem unbekannten Banquier oder Inhaber einer Wechselstube wird, indem man auf die Spielsucht des Publicums speculirt, öffentlich in den Zeitungen zur Betheiligung an gemeinsam gespielten Prämienanleihen[1] gegen ratenweise Zahlung aufgefordert und das Geschäft durch Aussendung zahlreicher Agenten nach allen Richtungen der Windrose, namentlich zur Beglückung der Landbewohner, unterstützt.
Soweit wäre gegen derartige Geschäfte Nichts einzuwenden; die geschickt ausgelegte Leimruthe bethört alsbald zahlreiche Gimpel, denn die ratenweise Zahlung erleichtert dem kleinen Manne außerordentlich die Anschaffung dieser sogenannten Ratenbriefe, und vertrauensselig, wie er ist, beachtet er nicht die vielen Fallstricke, die in dem verclausulirten Schriftstücke für ihn enthalten sind, namentlich nicht den Punkt, daß bei einer auch nur um einen Tag verspäteten Zahlung einer Rate sämmtliche vorher gezahlten Beträge zu Gunsten des Verkäufers verfallen sind. Zudem sind diese Ratenbriefe in ihrer äußeren geschmackvollen Ausstattung wirklichen Werthpapieren auf’s Täuschendste ähnlich, so daß die Käufer bei einiger Unachtsamkeit leicht in den Glauben versetzt werden können, die gekauften Papiere wirklich in Händen zu haben und nicht blos einen Lieferschein auf dieselben.
Die Kehrseite der Medaille zeigt sich den Betheiligten, wenn sie selbst alle ihnen gelegten Fallen glücklich vermieden haben sollten, jedoch erst nach Abwickelung des Geschäfts, in der colossalen Uebervortheilung, die sie dabei haben erleiden müssen. Ich sehe ganz davon ab, daß der Käufer eines derartigen Ratenbriefes bedingungslos vertrauend seine Ersparnisse Fremden übergiebt, ohne Sicherheit dafür, daß die bezeichneten Loose in der That auch angekauft werden, ich sehe ferner ab von der sehr nahe liegenden Möglichkeit, daß, in dem Falle, daß eins der Loose während der Dauer der Ratenzahlungen mit einem Hauptgewinne gezogen wird, die Verkäufer sich ganz einfach aus dem Staube machen und den unglücklichen Käufern das Nachsehen lassen können, und will nur beleuchten, wie ohne Beachtung des Vorstehenden die Käufer derartiger Scheine im günstigsten Falle übervortheilt werden.
Gewöhnlich wird eine Anzahl Lotterie-Anleihen in kleinen Nominalbeträgen, deren Courswerth ein geringer ist, wie etwa Bari, Barletta, Meininger, Freiburger etc. Loose, des größeren Vertrauens halber mit einer Anzahl von Loosen gemischt, deren Courswerth ein größerer ist, wie etwa Oldenburger, Braunschweiger oder Ungarische Loose. An einem Beispiele läßt sich am besten zeigen, wie unverhältnißmäßig groß der Gewinn bei dieser Art von Geschäften ist.
Vor mir liegt ein Ratenbrief einer Firma in Hannover, dessen letzte Ratenzahlung im October 1874 gemacht werden sollte. Nach Inhalt desselben hatte der Käufer für fünfundzwanzig monatliche Zahlungen à 6 Thaler, also für zusammen hundertfünfzig Thaler, folgende Loose zu beanspruchen:
1 ungarisches 50 Gulden-Loos, | heutiger Courswerth ca. | 28 Thlr. |
1 oldenburger 40 Thaler-Loos | “ “ “ | 45 “ |
1 braunschweiger 20 Thaler-Loos | “ “ “ | 25 “ |
1 sachsen-meininger 7 Gulden-Loos | “ “ “ | 6½ “ |
1 bukarester 20 Franken-Loos | “ “ “ | 5½ “ |
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Summa ca. 110 Thlr.
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Es ergiebt sich demnach für den Käufer sofort ein Verlust von vierzig Thalern an hundertzehn Thalern Effectencourswerth. und ich berücksichtige hierbei nicht einmal den Umstand. daß sämmtliche Loospapiere in diesem Jahre eine wesentliche Steigerung erfahren haben und die obenerwähnten Loose zur Zeit der Ausstellung des Ratenbriefes vor etwa zwei Jahren wesentlich weniger als selbst hundert Thaler werth waren. Im Allgemeinen kann man annehmen, daß die Käufer von Ratenbriefen die darin verschriebenen Loospapiere in der Regel hundert Procent, also noch einmal so theuer, bezahlen müssen, als sie dieselben in jeder soliden Wechselstube kaufen könnten. Derartige Geschäfte kann man als legitime wohl nicht bezeichnen, um so weniger als die Verkäufer der Ratenbriefe schließlich bei Abwickelung des Geschäfts häufig die außerdeutschen Loose in Appoints liefern, die nicht mit dem deutschen Stempel versehen und, weil in Deutschland nicht verkäuflich, bedeutend weniger werth sind.
Uebrigens möchte ich noch darauf aufmerksam machen, daß im letzterwähnten Falle die Käufer gut thun würden, die Hülfe der Gerichte in Anspruch zu nehmen, da in Deutschland der Handel mit nicht gestempelten außerdeutschen Loosen verboten und mit Strafe bedroht ist.
Noch einmal „Ein Verbrecher unter den Fischen“. Seitdem
mein Artikel über den chinesischen Großflosser (Macropodius) in der
Gartenlaube erschienen ist, haben sowohl die Redaction dieses Blattes
wie auch ich zahlreiche Anfragen aus Deutschland erhalten, wie man sich
den Fisch für Aquarien verschaffen könne? Diesen geehrten Herren Correspondenten
diene zur gemeinsamen Antwort, daß sie sich an Monsieur
Carbonnier, Pisciculteur, 20 Quai du Louvre in Paris, wenden mögen.
Der Fisch verträgt, meines Erachtens, die Versendung nach den entferntesten
Gegenden, da er selbst in schlechtem, stinkendem Wasser ganz
vergnüglich lebt. Da ich Herrn Carbonnier im Anfange October in
Paris zu sehen gedenke, so wird es mir ein Vergnügen sein, ihn auf die
Bestellungen aus Deutschland aufmerksam zu machen und die nöthigen
Vorsichtsmaßregeln mit ihm zu besprechen.
Roscoff (Departement du Finistère), den 15. Sept. 1875.
Der „Kämpfer für Recht und Wahrheit“ in Berlin wird hiermit ersucht, seinen Namen zu nennen, wenn wir seine anonymen Anschuldigungen unseres Mitarbeiters nicht als Verleumdungen bezeichnen sollen.
M. in Berlin. Wie wir darüber denken? Nun, senden Sie nur das Material an Herrn G–! Er versteht es, dergleichen bestens zu verwenden.
M. Arnolt. Verbrannt!
- ↑ Dies sind Anleihen, welche allmählich durch Verloosungen und mit größeren oder geringeren Gewinnen wieder zurückgezahlt werden, es handelt sich hier also um nichts Anderes, als um eine Lotterie.