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Ein Verbrecher unter den Fischen

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Textdaten
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Autor: Carl Vogt
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Titel: Ein Verbrecher unter den Fischen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 546–547
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[546]
Ein Verbrecher unter den Fischen.
Von Carl Vogt.


Unter den mancherlei Sehenswürdigkeiten, welche Paris vorführen kann, giebt es ein kleines Magazin an dem Quai du Louvre, Nr. 20, an welchem der gewöhnliche Tourist freilich achtlos vorübergeht, während der reisende Naturforscher sich nicht nur betrachtend dabei aufhält, sondern auch wohl eintritt und sich mit dem Manne, der es besorgt, in ein Gespräch einläßt. Wer einmal dort gewesen ist, kehrt wieder, und Keiner, darf ich wohl sagen, verläßt das Magazin des Fischzüchters Carbonnier ohne Belehrung. Der Mann ist schon für sich selbst eine Merkwürdigkeit. Er trägt seinen Namen „pisciculteur“ mit Stolz – er ist sich in der That bewußt, daß es keinen ihm Ebenbürtigen giebt in Beziehung auf Zucht und Behandlung der Wasserbewohner und namentlich der Fische. Man kann sich kaum umdrehen in dem engen Raume – überall plätschert und rieselt es; alle Wandflächen, alle Fenster und mit größeren und kleineren Aquarien besetzt, in welchen es von älteren Fischen, von Brut, von Molchen und Salamandern wimmelt. Carbonnier setzt seinen Stolz darein, ausländische Fische, welche durch ihre Schönheit, die Eigenthümlichkeiten ihrer Lebensweise oder die Vortrefflichkeit ihres Fleisches Anzucht verdienen, in Europa und speciell in Frankreich einzubürgern; er bezieht solche unter mannigfachen Mühseligkeiten und Unfällen, die ja auf der weiten Reise nicht fehlen können, aus Indien und in neuester Zeit besonders aus China und betreibt mit seinen Zöglingen, sowie mit Aquarien, Bruteinrichtungen für Fische etc. einen schwunghaften Handel. Er lebt und webt mit den Bewohnern seiner Aquarien, kennt ihre Bedürfnisse auf das Genaueste, weiß, wann sie Hunger haben, von der Kälte oder der schlechten Beschaffenheit des Wassers leiden, und erräth ihre Empfindungen, fast möchte ich sagen, ihre Gedanken. Das Auge des Fisches namentlich hat für Carbonnier seine ausgesprochene Mimik; er unterscheidet an dem besonderen Funkeln desselben die Liebe, wie den Haß und bemißt daraus seine Maßregeln der Trennung oder der Vereinigung.

Als ich mich im vorigen Herbste einige Tage in Paris aufhielt, lernte ich Carbonnier persönlich kennen und habe einige genuß- und lehrreiche Stunden in seinem Laden verbracht. Er zeigte mir alle seine Schätze: seine monströsen, aus China eingeführten Goldkarpfen mit den doppelten Schwänzen und den vorstehenden Glotzaugen; seine Kletterfische (Anabas scandens) aus Indien, welche unter den drolligsten Bewegungen auf dem Fußboden umherspazierten und in den Ecken emporkletterten, mit den Stacheln der Flossen sich forthelfend und stützend, seine Guramis (Osphromenus olfax), einen der wohlschmeckendsten Fische Chinas, der dem Steinbutt oder Turbot an Güte gleichstehen und dessen Anzucht, nach neuesten Nachrichten, wohl gelungen sein soll; seine Kampfhähne (Fondulus), kleine Fische, deren sonst ausdruckslose Augen wie Smaragde blitzen, und die, wenn sie in Wuth gekommen, aufeinander losstürzen; endlich seine Großflosser (Macropodius), von denen einige Paare für die Aquarien meines Laboratoriums zu kaufen ich mich nicht enthalten konnte. Von diesen letzteren soll hier die Rede sein.

Der Großflosser ist ein prächtiger kleiner Fisch von etwa fünf Centimeter Körperlänge, etwas seitlich abgeplattet, mit kleinem, nach oben gerichtetem Maule. Männchen und Weibchen sind sehr verschieden; das erstere größer, mit lebhafteren Farben und ungemein entwickelten Flossen ausgestattet. Der Rücken des Männchens ist dunkelbraungrün, mit schwarzen Marmorirungen; die Seiten sind grünlich mit verwaschenen senkrechten Binden von gelber, rother und blauer Farbe geziert; auf dem Kiemendeckel glänzt ein dunkelsmaragdgrüner runder, hell umsäumter Fleck. Das lebhafte Auge leuchtet hellgrün. Die Flossen sind bräunlich, himmelblau und gelb gesäumt; die Schwanzflosse ist so lang wie der Körper ohne den Kopf, halbmondförmig ausgeschnitten und in zwei Spitzen auslaufend; die an der Kehle stehenden Bauchflossen ziehen sich in einen langen, gelben Strahl aus. Bei dem Weibchen sind alle Farben mehr grau und unscheinbar, die Flossen weit kürzer, aber doch in ähnlicher Weise gebildet. Es ist unmöglich, sich eine Idee von der Grazie in den Bewegungen des Männchens zu machen; die langen Flossen flattern wie Wimpel um den Körper umher oder steifen sich wie Segel. Im Zorne gegen Nebenbuhler oder wenn sich das Männchen in seiner ganzen Schönheit der erstaunten Ehehälfte zeigen will, spreizt es alle Flossen mit leisem Zittern und schlägt mit der langen Schwanzflosse ein förmliches Rad.

Ich stehe nicht an, die Großflosser den Liebhabern von Aquarien und Becken statt der langweiligen Goldfische zu empfehlen. Sie liefern täglichen Stoff zu heiteren Beobachtungen und haben besonders den Vortheil, daß sie auch in schlechtem und verdorbenem Wasser aushalten. Sie gehören nämlich zu den sogenannten Labyrinthfischen, welche Wasser oder Luft in Höhlungen ihrer Kiemengebilde aufbewahren können. Man sieht [547] sie beständig an die Oberfläche kommen, Luft einschlucken und durch die Kiemenspalte wieder ausblasen; sie lassen sich leicht mit Insectenlarven, kleinen Wasserwürmern und Regenwürmern ernähren und pflanzen sich selbst in kleinen Gefäßen leicht fort und zwar in merkwürdigster Weise. Das Männchen nämlich schluckt die vom Weibchen entlassenen Eier mit dem Munde auf, wälzt sie eine Zeitlang im Maule umher, überzieht sie so mit Schleim und spuckt sie dann an die Oberfläche des Wassers, wo es schon vorher eine Art von Floß aus Schleim gebildet hat, in welchem die Eier sich einbetten. Es bewacht nun die Eier auf das Sorgfältigste, jagt das Weibchen weg, sobald es sich ihnen nähert, und beschützt sogar noch eine Zeitlang die ausgekrochenen Jungen, welche Kaulquappen nicht unähnlich sehen.

Außerdem sind die Großflosser recht verträglich, und obgleich sie sich paarweise zusammen thun, kann man doch hunderte von ihnen in demselben Aquarium halten, ohne daß sie sich gegenseitig befehdeten, wie andere Fische thun. Nur wenn die Laichzeit (Juni) herannaht, thut man wohl, die Paare zu trennen, da die Männchen heftig unter einander kämpfen und einander die Flossen verstümmeln – zuweilen sogar muß man die Paare trennen, da das Männchen das Weibchen oft heftig verfolgt. So weit aber, wie es einer unserer Wütheriche getrieben hat, dürfte es selten kommen.

Ich hatte von Paris fünf Paare von Großflossern mitgebracht – drei für unsere Aquarien, zwei für die eines Freundes, des Herrn Lunel, des Conservators unseres zoologischen Museums, der seit lange mit Carbonnier Beziehungen pflegt. Nichts leichter als der Transport. Carbonnier besorgt das vortrefflich. Eine Flasche wird mit Wasser zur Hälfte gefüllt; die Fische werden hinein gethan; der Hals der Flasche wird mit doppelter Leinwand zugebunden und nun dieselbe in das Netz des Waggons gestellt; nach der Fahrt von Paris nach Genf sind die Großflosser so munter wie vorher. Im Laufe des Winters sprang während der Nacht ein Männchen aus dem Glase und verendete; zwei Weibchen starben an den Krämpfen, wahrscheinlich weil sie im letzten Herbste ihren Laich nicht hatten absetzen können. Der Abgang wurde durch Nachsendung von Paris ersetzt. Es war fast komisch zu sehen, wie die neuen Ankömmlinge empfangen wurden. Die Männchen erschöpften sich in Demonstrationen mit Radschlagen und Flossenspreizen und führten ihre neu angelangten Bräute in dem Aquarium umher; das bisher verwittwete Weibchen schmiegte sich zuthunlich an den gestrengen Eheherrn, der es anfangs wenig beachtete, nach und nach aber sich herbeiließ, ihm schön zu thun und seine Flossenpracht zu zeigen.

Alles ging gut, bis vor etwa vier Monaten (ich schreibe dies Mitte Juni) Herr Lunel beobachtete, daß sein altes Paar nicht in geordneten Verhältnissen lebte. Das Weibchen wurde heftig von dem Männchen verfolgt, gebissen und gestoßen, ja selbst an den Flossen gepackt und umhergeschleift. „Ungestümer Liebeseifer!“ dachte Herr Lunel, dessen Aquarium in einer noch geheizten Stube stand, während die unsrigen, wo nichts Aehnliches sich zeigte, in kühlem Raume sich befanden. Aber eines Morgens fand er das Weibchen halbtodt und blutend am Boden des Aquariums; das eine Auge war ausgerissen; ein Pfropf von Blutgerinnsel und zerstörten Geweben füllte die Augenhöhle. Das grausame Ungethüm, das die That begangen hatte, triumphirte radschlagend im Wasser umher und stieß von Zeit zu Zeit nach der Unglücklichen, die sich tiefer unter den Pflanzen zu bergen suchte.

Herr Lunel trennte das zwistige Paar. Das Weibchen erholte sich; die Wunde verharschte, und ein schwammartiger Stumpf zeigte sich in der leeren Augenhöhle. Die beiden Fische waren durch eine gläserne Scheidewand im Aquarium getrennt. Ein gutes Verhältniß schien sich nach einiger Zeit angebahnt zu haben. Sie stellten sich von beiden Seiten her mit den Köpfen gegen die Scheidewand, nickten sich zu, machten gleichzeitig dieselben Bewegungen – kurz betrugen sich wie die anderen, nicht durch Scheidewände getrennten, in Eintracht lebenden Paare. „Hm!“ dachte Herr Lunel, „die Laichzeit naht heran; es ist für den Fisch ebenso wenig gut wie für den Menschen, daß er allein sei.“ Die Scheidewand wurde entfernt – die Eintracht schien ungestört. Liebenswürdiges Betragen ließ die besten Hoffnungen für eine glückliche Zukunft aufkommen.

Aber das Unerwartete trat ein. Herr Lunel bat mich vor einigen Tagen, am Morgen herüber zu kommen, um sein Aquarium zu sehen. Der Unfisch (wenn man so nach dem Vorbilde des Wortes „Unmensch“ sagen kann) hatte dem armen Weibchen das andere Auge auch ausgerissen und, nicht zufrieden damit, sogar den Stummel in der früher verödeten Augenhöhle entfernt. Ein vollendeter Augenarzt hätte die beiden Augenhöhlen nicht besser durch eine Operation entleeren können.

Natürlich abermalige Trennung. Das geblendete Weibchen hat sich erholt; das Wundfieber war mäßig und hat nicht lange gedauert. Das verstümmelte Thier schwimmt, wie vorher, im Wasser umher. Wir werden versuchen, es am Leben zu erhalten, und prüfen, ob ihm der Tastsinn genügt, seine Nahrung zu suchen und zu finden.

Was sagt der Leser zu dieser verbrecherischen That, die sich wiederholte? Die Psychologie der Fische ist noch wenig ergründet. Es öffnet sich hier ein Blick in ein dunkles Feld. Kann man annehmen, daß die Individualität unter den Fischen schon so weit ausgebildet sei, um grausame Wütheriche, Blaubarte und Borgia’s zu erzeugen neben liebenden Ehegatten und zärtlichen Vätern? Und wenn dies, welcher specielle Grund konnte hier vorliegen, der die zweimalige Unthat hervorrief? Der Hunger konnte es nicht sein – die Fische waren reichlich genährt. Die Eifersucht auch nicht, denn die Beiden waren in einem besonderen Aquarium isolirt, ohne störende Nachbarschaft. Auch das Betragen des Weibchens gab keinen sichtlichen Anlaß – es war, wie das aller übrigen Weibchen, zuvorkommend und unterwürfig, wie es wohlgezogenen Ehefrauen geziemt. In der allgemeinen Natur der Großflosser liegt die Grausamkeit auch nicht; das andere Lunel’sche Paar, in demselben Zimmer gehalten, beträgt sich friedlich. Meine drei Paare sind wahre Muster von Verträglichkeit, und Carbonnier hat bei Tausenden, welche er gezüchtet hat, niemals etwas Aehnliches beobachtet. Ist es eine unbewußte That, hervorgegangen aus Hartmann’scher Philosophie? Oder eine Darwin’sche Zuchtwahländerung mit Tendenz zur Ausbildung einer neuen Raubfischgattung? Hat hier, in diesem speciellen Falle, die Absonderung im Sinne von Moritz Wagner gewirkt, oder, da auch die Fische zu den Ahnen des Menschen gehören, kann man annehmen, daß hier ein prophetischer Sündenfall zum Bösen geführt und zum Verbrechen verleitet hat? Endlich aber, welche Reihe von Gedanken und Schlüssen mögen in dieser Fischseele sich abgespielt haben, bevor sie zu dem seltsamen Endresultate kam, daß die Blendung des Weibchens, die gänzliche Zerstörung des Augenlichtes, eine für den Thäter unbedingt gebotene Handlung sei?

Ich will die Lösung dieser Fragen Anderen überlassen. Der Thäter ist einstweilen zu Einzelhaft verurtheilt, die hoffentlich zu seiner moralischen Besserung das Ihrige beiträgt.