Die Gartenlaube (1875)/Heft 41
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Fortsetzung.)
Die Gebieterin des Hauses hatte schon zu wiederholten Malen unruhige Blicke nach dem Eingange zum Salon geworfen.
Wenn die Gäste etwas merkten! Ein Scandal in ihren Salons, in denen eben die vornehme Gesellschaft von Woronesch sich versammelte! Sie bebte vor Aerger bei diesem Gedanken, und doch regte sich in ihr die Neugier. Sie hätte gar zu gerne den Zusammenhang der tollen Scene ergründet.
„Mein Herr,“ wendete sie sich an Hirschfeldt, „zu gelegenerer Stunde werde ich Rechenschaft von Ihnen fordern über die unheilvolle Verwirrung, zu deren Schauplatz Sie unpassender Weise meine Zimmer auserlesen haben.“
Der Angeredete ließ sich durch den hochfahrenden Ton dieser Worte keineswegs einschüchtern. „Gnädige Frau sehen mich ebenso erstaunt, wie Sie selber sind,“ lautete seine Erwiderung. „Ich bin hier in einer Weise angegriffen worden, deren Grund mir durchaus unerklärlich ist.“
Madame Branikow heftete mit einem mir sehr bekannten, unheilverkündenden Zusammenkneifen der Lippen ihre Blicke ironisch auf den Sprechenden. Ich wußte, daß sie im nächsten Augenblicke ihm eine Bosheit sagen würde oder gar eine Beleidigung, die ihm das Bleiben in ihrem Hause zur Unmöglichkeit machte.
„Madame,“ nahm ich daher, rasch vortretend und indem ich meine Uhr herauszog, das Wort, „um neun Uhr hat die Frau Gouverneurin ihr Eintreffen in Aussicht gestellt, und es sind bereits fünf Minuten nach Neun.“
„Ah, es ist wahr,“ rief Zenaïde Petrowna, „ich vergaß, daß ich Ihnen auftragen wollte, noch einmal diese faulen Schlingel von Bedienten anzutreiben, damit Alle an ihrem Platze sind. Kommen Sie rasch, Mademoiselle Helene! Mein Gott, vielleicht ist schon der rechte Augenblick versäumt.“
Die Dame schritt mir eilend voran, und während sie ihren nachlässig herabgeglittenen schwarzen Spitzenshawl zurecht zog und die lange Schleppe ihres weißen Caschmirkleides majestätisch über den Teppich gleiten ließ, fand ich gerade Zeit genug, durch einen rasch zurückgeworfenen Blick mich zu überzeugen, daß Olga noch schluchzend wie eine Unsinnige auf dem Divan lag und Hirschfeldt mit langen Schritten und wüthenden Blicken in dem Boudoir auf- und abwanderte.
Der wichtige Augenblick war Gott sei Dank noch nicht versäumt, da meine Uhr möglicher Weise ein wenig vorging. Die Gouverneurin machte ihr Entrée mit sehr vielem Geräusch, sehr vielem Aufwand an bauschender Seide und blitzenden Steinen und wurde mit unbeschreiblicher Würde von Madame Branikow empfangen. Letztere, als sie die beiden vornehmsten Damen der Stadt, die Generalin Adrianoff und die Gouverneurin, neben einander in ihrem Salon erblickte, schwamm in einem Meere befriedigten Ehrgeizes. Sie vergaß, wenigstens für den Augenblick, den eben erlebten Zwischenfall, durch den ich mich noch immer in eine Art von Betäubung versetzt fühlte. Ich traf meine Anordnungen mechanisch wie im Traume und würde mich nicht gewundert haben, wenn mir dabei Alles wirr durcheinander gegangen wäre.
Wéra entdeckte ich wirklich inmitten der Gesellschaft; sie kehrte anscheinend heiter vom Tanze zurück, ihr süßes, liebliches Lächeln auf den Lippen. Verwirrt fragte ich mich, indem ich mir ihr trostloses Gesicht von vorhin vergegenwärtigte: „Ist denn Alles Schein und Verstellung auf diesen trügerischen Parquets?“ Zugleich mußte ich immer von Neuem die Gewalt bewundern, welche Hirschfeldt’s Wille über sie, wie über die meisten Personen, mit denen er in nähere Berührung kommt, ausübt, und wie schon oft legte ich in meinem Herzen auch jetzt das Gelübde ab, die Freiheit des meinigen ihm gegenüber wenigstens zu bewahren.
Auch er hatte sich wieder unter die Gäste gemischt und suchte mich sobald wie möglich auf, obgleich ich mir Mühe gab, ihm auszuweichen. Ich wappnete mich mit einer Erbitterung, wie ich sie noch nie gegen ihn empfunden, und als er dann mit einmal vor mir stand, mich freundlich anblickte und ganz einfach sagte: „Haben Sie jemals einen größeren Thoren gesehen, als mich? Ich weiß, daß Sie mir zürnen, und Sie haben vollkommen Recht,“ da fühlte ich den Unmuth in mir hinschmelzen, wie Märzschnee im Sonnenscheine, aber ich hütete mich doch, meine reservirte Haltung aufzugeben, und beobachtete ein kühles Schweigen.
„Es ist eine verteufelte Geschichte,“ fuhr der Capellmeister fort, „und ich habe gründlich meine Strafe dafür bekommen, daß ich neulich Ihre Warnung mißachtete. Glauben Sie, Fräulein Helene, daß Wéra geplaudert hat?“
„Sicher,“ erwiderte ich. „Wodurch ließe sich sonst das Benehmen der Gouvernante erklären?“
„Verwünscht!“ Hirschfeldt stieß mit Energie das eine Wort zwischen den Zähnen hervor und schwieg dann nachdenklich.
Wir wanderten an der Seite des Musiksaales, von den [682] Tanzenden unbeachtet, auf und ab, und es konnte mir nicht entgehen, wie mein Begleiter mich verschiedentlich von der Seite ansah.
„Fräulein Helene,“ begann er dann wieder, als habe er plötzlich seinen Entschluß gefaßt, „werden Sie mir als Freundin und Bundesgenossin helfen, den Folgen dieser unangenehmen Geschichte vorzubeugen?“
„Wie könnte ich das, auch wenn ich es wollte?“
„Sie können es, indem Sie Ihren bedeutenden Einfluß hier im Hause zu meinen Gunsten aufbieten, indem Sie namentlich Madame Branikow’s Zorn beruhigen und zu erfahren suchen, inwieweit es der boshaften kleinen Person, der Gouvernante, gelungen ist, in unser Geheimniß einzudringen.“
Ich konnte, indem ich seine Worte anhörte, nicht umhin darüber nachzudenken wie sonderbare Dinge doch im Leben schon von mir verlangt seien.
„Nicht wahr, Sie werden es thun, Fräulein Helene?“ fügte er dringender und bittend hinzu.
Ich schlug langsam die Blicke zu ihm auf und fragte ernst: „Herr Hirschfeldt, haben Sie in Wahrheit Olga Erklärungen gemacht, wie diese es behauptet?“
Er zuckte bei meinen Worten zusammen und wechselte jäh die Farbe, dann hielt er den Schritt an und sagte mit einer Stimme, die in mühsam unterdrückter Bewegung zitterte: „Glauben Sie, Fräulein Helene, daß ich im Stande wäre, Ihnen eine Lüge zu sagen?“
Seine Blicke ruhten fest auf mir, und eine Minute lang kreuzten sie sich scharf und forschend mit den meinigen. „Nein,“ drängte sich dann aus tiefstem Herzen, fast ohne daß ich es noch gewollt, die Antwort über meine Lippen.
Der Künstler athmete auf. Er nahm, indem wir weiter schritten, meine Hand in die seinige und sagte leise und sich zu mir herabbeugend: „Hätten Sie an mir gezweifelt, Helene, so würde ich kein Wort mehr mit Ihnen gesprochen haben. Olga Nikolajewna hat nichts aus meinem Munde gehört, als die oberflächlichsten Galanterien, aus denen ihre Eigenliebe sich Gott mag wissen welche Thorheiten herausgedeutet hat. Aber – sagen Sie nichts mehr – ich weiß Alles, was Sie mir entgegnen könnten; ich gebe Ihnen mein Wort, was ich auf der Welt ernstlich will, daran rüttelt keine Möglichkeit, nie – ich gelobe es Ihnen, Helene – nie wird eine Schmeichelei einer Dame gegenüber wieder über meine Lippen kommen. Sind Sie nun zufrieden? Und jetzt helfen Sie mir, die Folgen dieser letzten Thorheit abzuwenden! Ich würde es nicht ertragen, wenn man es mir unmöglich machte, dieses Haus ferner zu betreten.“
Warum nur ging es mir bei seinen Worten erschütternd wie ein Stich durch’s Herz? Ich wußte ja, daß Zenaïde Petrowna’s Empfangszimmer der einzige Ort war, an dem er Wéra mitunter ungestört sehen und sprechen konnte. „Ich werde thun, was ich vermag,“ sagte ich, ihm meine Hand entziehend, „aber täuschen Sie sich nicht! Vielleicht ist es wenig genug, und nun verlassen Sie mich, Herr Capellmeister! Sie begreifen, daß, wenn ich Ihnen auch nur im Entferntesten nützen soll, Niemand ein anderes Einverständniß zwischen uns argwöhnen darf, als das, mit welchem die Kunst ihre Jünger verbindet.“
Hirschfeldt nahm mit einem vielsagenden Blicke Abschied von mir, und das war ein Glück für mich, denn die Kraft, bei Allem, was ich erlebt, meine äußere Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, drohte mich allmählich zu verlassen und ich empfand nur noch das einzige Bedürfniß nach Ruhe.
Ja, Ruhe – allzu viel davon sollte mir nicht beschieden sein in dieser unheilvollen Nacht. Als spät der letzte unserer Gäste sich entfernt, als ich mein Zimmer betreten und Masche entlassen hatte, hoffte ich, der Augenblick sei endlich für mich gekommen über das Erlebte nachdenken zu können – vergebliche Hoffnung!
„Gott sei Dank, daß ich Sie allein treffe!“ rief mir, als kaum des Mädchens Schritte verhallt waren, eine Stimme von der Thür her zu, und als ich mich erschrocken umsah, erblickte ich eine Gestalt, die wohl im Stande gewesen wäre, schwachnervige Personen mit Gespensterfurcht zu erfüllen. Ein schärferes Hinblicken belehrte mich, daß es die Gouvernante im lang herabfallenden weißen Nachtkleide war. Das schwarze Haar flatterte ihr aufgelöst um die Schultern, und in der Hand hielt sie einen Leuchter mit einer brennenden Wachskerze. Nachdem sie letzteren eilend auf einen Tisch gestellt, stürzte die unwillkommene Besucherin neben meinem Sessel auf die Kniee, klammerte sich in wilder Ekstase an mich und rief:
„Sie müssen mir rathen und helfen, Helene. Sie allein sind unbefangen und kühl genug dazu, Sie kennen Hirschfeldt am besten.“
Das hatte mir noch gefehlt – allein mit diesem fast rasenden Weibe in stiller Nachtzeit! In der That überlief mich ein Schauder, und ich bemühte mich vor allen Dingen, Olga zu beruhigen, aber was half mein Zureden! Es war, als habe alle Vernunft und Besinnung sie verlassen. Bald ergoß sie sich schluchzend in Liebesklagen und bejammerte ihr Schicksal, ihr mißhandeltes Herz, dann wieder schwor sie hoch und theuer, daß sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen werde, um sich zu rächen. Aus ihren verwirrten Reden wurde mir jedoch am Ende das Eine klar, daß sie wohl über Wera’s Leidenschaft für Hirschfeldt und die Erwiderung derselben aufgeklärt war, aber doch von dem wirklichen Einverständnisse der Beiden etwas Gewisses noch nicht wußte, daß sie sich sogar trotz ihrer anscheinend alle Ueberlegung erstickenden Aufregung schlauer Weise bemühte, mich in diesem Punkte auszuforschen. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß sie durch mich nichts erfuhr, ebenso wenig, wie ich geneigt war, der gefährlichen Person irgend einen Rath zu geben; ich bemühte mich, sie einzig und allein darauf hinzuführen, daß einem Mädchen, welches seine Liebe verschmäht sieht, klüglich nichts Anderes übrig bleibt, als seinen weiblichen Stolz zu Hülfe zu nehmen, um die empfangene Wunde zu verbergen, wenn es nicht rettungslos auch noch der allgemeinen Verspottung anheimfallen will. Ich sagte ihr, daß ich einem Manne, der mich mit beleidigender Gleichgültigkeit behandle, nachdem er mir zuvor seine Aufmerksamkeit zugewendet, nur mit der eisigste Kälte gegenüber treten würde.
„Ja, Sie,“ rief die Gouvermante, während sie mit den schmalen wachsbleichen Fingern ihr wild um die Stirn hängendes Haar zerraufte. „Sie begreifen mit Ihrem kalt verständigen, deutschen Herzen gar nicht, was eine rechte Leidenschaft bedeuten will, so eine, die uns ganz erfüllt, alle Tiefen unseres innersten Seins aufwühlt und erschüttert. Aber Sie haben doch Recht,“ fügte sie dann, plötzlich sich erhebend, mit theatralischem Pathos hinzu, „ich werde Hirschfeldt mit Verachtung strafen. Von dieser Stunde an ist er für mich nicht mehr in der Welt.“
Vielleicht hatte Olga allgemach auch begriffen, daß von mir in keiner Weise mehr zu erlangen oder zu erfahren sei, denn nachdem sie mir noch wiederholt versichert hatte, daß der Capellmeister ein Nichtswürdiger sei, den sie in Zukunft nur verabscheuen werde, glitt sie in eben so gespenstiger Weise, wie sie es vorhin betreten, wieder aus dem Zimmer. Ich athmete nach ihrem Verschwinden erleichtert auf, aber um meine Nachtruhe sah es in Folge dieser letzten Störung traurig aus. Der peinliche Gedanke, daß das, was die Gouvernante von des Musikers und Wéra’s Geheimniß bereits herausgebracht hatte, künftig wie ein Damokles-Schwert über ihnen schweben würde, quälte mich unanfhörlich. Erst gegen Morgen bemächtigte sich meiner ein schwerer Schlaf und ließ mich die gewohnte Zeit des Aufstehens versäumen. Ein unbehagliches, störendes Gefühl, ein leises Geräusch erweckte mich endlich, und als ich die Augen aufschlug, stand Madame, in einen weite Schlafrock von weichem, türkischem Caschmir gehüllt, vor meinem Bette.
Der Schreck über dieses noch nie dagewesene Ereigniß ermunterte mich augenblicklich. Ich flog empor, aber Zenaïde Petrowna winkte beruhigend mit der Hand. „Bleiben Sie liegen!“ sagte sie und setzte sich auf den Rand meines Bettes. „Ich beabsichtige nur ein Weilchen mit Ihnen zu plaudern. Wir sind jetzt ganz ungestört, und Sie können mir vortrefflich erzählen, was das eigentlich gestern für eine Geschichte war mit dem Capellmeister und Olga.“
Ein Stoßseufzer fand den Weg über meine Lippen, als ich wie geschlagen auf mein Lager zurück sank. Es war keine Frage, Madame brannte vor Neugier, und sie hatte ihre Zeit in der That gut gewählt; ich konnte ihr nicht entfliehen noch ausweichen. Wohl oder übel mußte ich ihr die Ereignisse des gestrigen Abends mittheilen, und ich that es selbstverständlich der Wahrheit gemäß, aber ich hielt mich strenge an die Thatsachen, [683] ohne zu berühren, was ich außerdem schon wußte, und glitt über Wéra’s Betheiligung so leicht wie irgend möglich hinweg.
Trotz meiner verzweifelten Stimmung belustigte es mich innerlich ein wenig, zu sehen, wie meine Gebieterin sich den Kopf zerbrach und für ihr Leben gern herausgebracht hätte, wie es zwischen Fräulein Adrianoff und dem Capellmeister stehe. Gegen Letzteren trug sie einen mächtigen Zorn zu Schau, aber ich bemerkte alsbald, daß derselbe mehr fingirt als aufrichtig gemeint war und daß die Dame im Grunde ihres Herzens wünschte, sich nicht mit Hirschfeldt zu entzweien. Es sollte mir auch alsbald klar werden, weshalb. Ich habe, däucht mir, schon erwähnt, daß wir wahrscheinlich ein Concert für die Armen haben werden, zur Zeit der Wahlen nämlich, welche am 20. Januar beginnen und eine Dauer von vierzehn Tagen haben.
Es sind die Wahlen eines neuen Adelsmarschalls, die jedes dritte Jahr stattfinden, zu denen viele Menschen in Woronesch zusammenströmen und während welcher die gute Gesellschaft in der Regel einen derartigen Wohlthätigkeitsact in Scene setzt. Die Gouverneurin hat nun gestern Madame aufgefordert, mit ihr die Anordnung des Concertes zu übernehmen, und Letztere ist entzückt von der ihr widerfahrenen Ehre, aber beide Damen können Hirschfeldt zur Leitung des technischen Theiles keinesfalls entbehren, und nachdem ich das Alles von Zenaïde Petrowna erfahren, begriff ich, warum sie geneigt war, gegen meinen Freund die Großmüthige zu spielen. Sie gab mir zu verstehen, daß, wenn ich ihn veranlassen könne, sich des gestrigen störenden Zwischenfalles wegen bei ihr zu entschuldigen, sie ihm huldvoll verzeihend entgegenkommen werde. Ich versprach mit möglichst gleichgültiger Miene, ihm einen Wink in dem Punkte zu geben, und sah einigermaßen erleichtert die Thür hinter der hohen Gestalt unserer sich entfernenden Gebieterin wieder in’s Schloß fallen.
Wenn ich indessen gehofft hatte, mit den unliebsamen Ueberraschungen nunmehr am Ende zu sein, so sollte diesem Wahn alsbald die bittere Enttäuschung folgen. Nachdem ich mich nämlich beeilt hatte, ebenfalls in die Morgenkleider und zum Frühstück hinunter zu kommen, fand ich im Salon den Herrn des Hauses, wie er, dunkelroth vor Erregung, scheltend und pustend gleich einer Dampfmaschine, auf und ab schritt.
Olga hatte die Zeit des Alleinseins mit ihm an diesem Morgen bereits nach Kräften ausgenutzt. Sie hatte mit größtem Geschick die leidende Madonna, die gekränkte Unschuld gespielt, und da Iwan Alexandrowitsch, wie ich längst bemerkt, eine Zuneigung zu ihr hegt, und ungern ihre heitere Laune vermißt, war ihm alsbald ihre gedrückte Miene bemerkbar geworden. Auf seine theilnehmenden Fragen hatte sie mit größtem Geschick die Ereignisse von gestern so hinzustellen, so aufzupuffen verstanden, daß sie wie eine ihr zugefügte empörende Beleidigung erscheinen mußten, und unser Gebieter kannte sich selber nicht mehr vor Zorn, daß eine solche Kränkung in seinem Hause hatte einer Dame widerfahren können, die unter seinem Schutze steht. Er ballte die Fäuste und schwor bei allen Heiligen des Kalenders, daß das nächste Mal, wenn der Musiker wagen sollte, seine Schwelle zu betreten, er den Dienern befehlen werde, ihn die Treppe hinunterzuwerfen und daß er ihm sein Haus verbieten werde. Die Sache war ernst, denn die Russen mit ihren despotischen Gewohnheiten sind zu Allem fähig, besonders wenn, wie in diesem Falle vielleicht, versteckte Eifersucht im Spiele ist.
„Auf die Straße lasse ich ihn werfen vor Aller Augen,“ wiederholte Herr Branikow, bebend vor Wuth.
Ich hatte nach kurzem Ueberlegen meinen Feldzugsplan entworfen.
„Das sollte mir Olga’s wegen leid thun,“ sagte ich sehr bestimmt, indem ich dem Scheltenden einige Schritte näher trat.
Er wandte, seine rasche Wanderung unterbrechend, sich hastig nach mir um und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen verwundert an.
„Es würde die fürchterlichste Scandalgeschichte daraus entstehen,“ fuhr ich unbeirrt durch sein drohendes Stirnrunzeln fort, „und Olga’s Name würde rettungslos darin verwickelt. Glauben Sie denn, daß die Klatschschwestern von Woronesch sich dieses ergiebige Thema würden entgehen lassen? Im Gegentheil, sie würden sich angelegen sein lassen, es auszuspinnen, zu variiren, zu verdrehen. Man würde, was man nicht weiß, hinzudenken, die skandalösesten Schlüsse ziehen, und was jetzt eine Genugthuung für Olga sein soll, könnte leicht in seinen Folgen für sie so verhängnißvoll werden, daß – – daß es ihr zeitweise wenigstens den Aufenthalt in der Stadt unmöglich machte.“
Unser Gebieter stampfte mit dem Fuße. „Ich werde Jedermann sagen, wie die Sache zusammenhängt,“ rief er hochmüthig.
„Um Gotteswillen, da machen Sie es immer ärger,“ wagte ich ihm zu entgegen, „und die arme Olga würde in ein Gerede ohne Ende kommen. Außerdem hat Herr Hirschfeldt viele Freunde, darunter die Frau Gouverneurin, die ihn für ihr Concert nicht entbehren kann –“
„Zum Teufel mit der verwünschten Musikmacherei!“ unterbrach mich der Beschützer Olga Nikolajewna’s unhöflich genug, und dann murmelte er, die Augen wild rollend, noch immer halb unterdrückte Verwünschungen über die musikalischen Neigungen seiner Frau, drehte rathlos den Schnurrbart und kratzte sich hinter den Ohren.
„Wenn Sie Olga’s Ruf und ihr Gefühl schonen wollen, wird es sicher das Klügste sein, so wenig Aufsehen wie möglich von der Geschichte zu machen,“ fuhr ich fort. „Wenn Sie nachdenken, wird Ihre richtige Einsicht Sie selber belehren, daß gewisse Dinge nicht zart genug zu behandeln sind.“
Der Herr des Hauses, ersichtlich ein wenig ungewiß, wie er meine Worte verstehen und aufnehmen sollte, sah mich von der Seite an, dann begann er seine Wanderung auf’s Neue in etwas gemäßigterem Tempo, und nach einigem weiteren Zureden erreichte ich wirklich, daß er bei dem Entschluß anlangte, den viel beredeten Vorfall Hirschfeldt gegenüber gnädigst zu ignoriren, aber freilich nicht bedingungslos.
„Sie verkehren doch in Sachen der Musik viel mit dem Burschen,“ sagte er mir, „Sie müssen es übernehmen, Fräulein Helene, ihm unter der Hand anzuzeigen, daß, wenn er noch einmal wagt, sich in meinem Hause dergleichen Dinge zu erlauben, es hier mit ihm zu Ende ist.“
Ich gab das gewünschte Versprechen, und als diese heikle Unterredung dann glücklich beendet, dieser neue Sturm besänftigt war, fühlte ich auch, daß ich zu einer ferneren nicht mehr die Kraft besitzen würde.
Ich habe den Tag mühsam hingeschleppt, habe mein Herz durch Aufschreiben des Erlebten erleichtert und hoffe, daß mir in dieser Nacht bessere Ruhe beschieden sein wird, damit ich wieder Kraft gewinne, den kommenden Ereignissen muthig die Stirn zu bieten.
In Deutschland brennen heute, während ich hier einsam sitze und schreibe, schon die Weihnachtskerzen. Es zieht wie Heimweh durch meine Seele nach vergangenen, friedlichen Tagen, die dahin sind, auf immer dahin. Könnte ich zu ihnen zurückkehren aus all dieser Aufregung, dieser Unruhe! Doch – wozu die brennende Sehnsucht im Herzen nähren? „Weiter!“ spricht unerbittlich das Schicksal, und ich bedarf eines muthigen Herzens, eines festen Willens, wenn ich nicht erliegen will. Vorwärts gilt es den Blick zu richten und nicht rückwärts.
Zweimal seit jenem verhängnißvollen Kinderball haben wir bereits wieder unseren Musikabend gehabt. Beide Male war er sehr besucht, die Stimmung sehr angeregt, und Hirschfeldt war der Leiter, die Seele des Ganzen, der verhätschelte Liebling der Damen, wenn ihm auch mancher Blick aus den Augen der Männer dafür düster und rachsüchtig folgte; unser Musiker ist ganz geneigt über solche zu lachen, wenn er sie zufällig einmal bemerkt. Neulich erzählte ihm Fräulein Bartholomai, unsere beste Sängerin, Constantin Feodorowitsch habe ihr gesagt, er werde ihm, Hirschfeldt, nächstens eine Kugel vor den Kopf schießen.
Der Capellmeister lachte und antwortete ihr ohne Bedenken: „Grüßen Sie den Rittmeister von mir und sagen Sie ihm, er möge nicht versäumen, sich täglich im Pistolenschießen zu üben.“
Mich schauderte. Er kennt doch seine Landsleute, warum muß er nur so unvorsichtig sein, aber natürlich – Furcht ist ihm ein unbekanntes Gefühl.
Als nach jener vielberedeten Kindergesellschaft drei Tage [684] vergangen waren, ohne daß Hirschfeldt etwas von sich hören ließ, begann Madame wahrscheinlich im Herzen für ihren nächsten musikalischen Abend zu zittern und vielleicht auch für ihren Antheil an dem Wohlthätigkeitsconcert. Zu meiner Ueberraschung und inneren Befriedigung, der äußerlich Ausdruck zu geben ich mich indessen wohl hütete, trug sie mir urplötzlich auf, den Capellmeister durch ein Billet für den nächsten Tag zum Diner einzuladen.
„Er wagt vielleicht nicht, sich hier sehen zu lassen,“ sagte sie mit unnachahmlicher Gravität, und als der Verbrecher dann, ihrer Einladung folgend, am anderen Tage erschien und sie mit einer Sicherheit begrüßte, die an nichts weniger als an Schuldbewußtsein erinnerte, reichte Zenaïde Petrowna, einigermaßen aus der Fassung gebracht, ihm huldvoll die Hand zum Kusse, und der Friede zwischen den Beiden war stillschweigend geschlossen.
Iwan Alexandrowitsch benahm sich gegen den Gast kühl höflich und tactvoller, als ich zu hoffen gewagt hatte. Olga, der es allem Anscheine nach unmöglich ist, sich bescheiden im Hintergrunde zu halten, coquettirte mit unserm Gebieter und einem anwesenden ältern Herrn in widerwärtigster Weise. Vielleicht, da sie von ihrer Unwiderstehlichkeit nun einmal überzeugt ist, hofft sie Hirschfeldt’s Aufmerksamkeit durch Eifersucht zu erzwingen. So oft ihre Blicke den Letzteren streifen – und sie thun es trotz des Vorgefallenen häufig – zuckt, wenn sie sich durchaus nicht von ihm beachtet sieht, ein falscher, rachsüchtiger Ausdruck darin auf, der mir stets unheimliche Gefühle erregt, und ich möchte die Gouvernante fortwünschen bis zu den Antipoden.
Wir übten fleißig an jenem Tage, um das während der letzten Zeit Versäumte nachzuholen, und als wir fertig waren, nahm Hirschfeldt ein Notenheft und blätterte darin. Das ist stets ein Auskunftsmittel, wenn er, unbeachtet von Anderen, einige Worte mit mir wechseln möchte, ohne daß sich eigentlich die Gelegenheit dazu bietet. Wir bedienen uns alsdann immer der deutschen Sprache, und so begann er auch jetzt. „Sagen Sie mir, wie ist Alles abgelaufen neulich?“
„Sie sehen, die Sache ist geordnet. Fragen Sie mich nicht mehr!“ erwiderte ich, da mir durchaus die Luft fehlte, nochmals wieder jene fatalen Dinge aufzurühren. Sogar Herrn Branikow’s Friedensbedingung zu erwähnen hielt ich für überflüssig; hatte der Capellmeister mir doch damals freiwillig sein Wort gegeben, dergleichen Ueberschreitungen, seinerseits wenigstens, nicht wieder veranlassen zu wollen – das mußte jedenfalls genügen. Warum nochmals davon reden?!
Von seinem Notenhefte aufblickend, fixirte er mich einige Augenblicke und sagte dann beinahe ärgerlich:
„Welch ein seltsames, eigenwilliges Wesen Sie doch sind! Da lese ich nun auf Ihrer Stirn, in jeder Linie Ihres Mundes, daß Ihnen in keiner Weise beizukommen ist, daß auch nicht ein Wort aus Ihnen herauszubringen sein würde, selbst wenn Sie mich alle Folterqualen der Neugierde erdulden sähen.“
Ich ließ anstatt jeder Antwort meine Finger in raschem Laufe über die Tasten gleiten und vermied hartnäckig seinen Blick.
„Da Sie heute unerbittlich sind,“ fuhr er nach kurzer Pause fort, „so will ich mich großmüthig zeigen und Ihnen die Neuigkeiten, die ich kürzlich erfahren, nicht vorenthalten. Wissen Sie, was man sich seit gestern in der ganzen Stadt erzählt?“
Bei seinen letzten Worten mußte ich unwillkürlich auf- und den Redenden anschauen, denn sie waren in dem Tone gesprochen, der mir bei ihm nicht mehr fremd ist, der gleichgültig oder scherzend sein soll und in welchem doch eine tiefe Herzenserregung nachzittert.
„Madame Adrianoff ist plötzlich nach Petersburg abgereist. Und Jedermann erzählt,“ fuhr Hirschfeldt, meinen erstaunten und fragenden Blick beantwortend, fort, „daß der Zweck dieser Reise darin besteht, Wéra’s Verheirathung zu betreiben. Ihr sogenannter Bräutigam soll in Petersburg sein. Auch der Gemahl hat schon vor einigen Tagen Woronesch wieder verlassen, wie es heißt, in dienstlichen Angelegenheiten, aber Niemand glaubt recht daran.“
„Arme Wéra!“ sagte ich leise.
„Ach, Sie wissen noch nicht das Schlimmste,“ fuhr mein unglücklicher Freund fort, und es entging mir nicht, wie seine Hand sich ballte. „Madame Adrianoff hat Constantin zurückgelassen, um seine Schwester zu beschützen oder besser – zu hüten, und das wird er selbstverständlich mit der Wachsamkeit eines Kettenhundes thun. Denken Sie an meine Prophezeiung! Wir werden während der nächsten Wochen kaum einen Zipfel von Wéra’s Kleide zu sehen bekommen.“
Ich schrak vor dem Blitze innerlich kochender Erbitterung, der in Hirschfeldt’s Augen aufsprühte, zurück. Ich wundere mich gar nicht über Fräulein Bartholomai’s Bericht von neulich, und mein Herz sendet täglich nur das eine angstvolle Gebet zum Himmel empor, daß sich nicht unerwartet einmal der Weg Hirschfeldt’s mit dem Constantin’s kreuzen möge! Uebrigens hat der Capellmeister bis jetzt in seiner Voraussetzung Recht behalten, denn Fräulein Adrianoff ist zu keiner unserer beiden letzten Abendunterhaltungen gekommen, sei es nun, daß ihr Bruder wirklich die Schuld daran trägt, oder daß sie nach den jüngsten Vorgängen eine Begegnung mit Olga vermeiden will. Zudem ist Zenaïde Petrowna voll Zorn gegen sie, denn sie hat ihr Ersuchen in dem Concerte mitzuwirken brieflich, sehr artig zwar, aber bestimmt abgeschlagen. Diesmal ist unsere Gebieterin zu tief beleidigt; sie wird nicht hinfahren, um den Entschluß des jungen Mädchens zu erschüttern, und so weiß ich allerdings noch nicht, wann ich hoffen darf, meine schöne junge Freundin wiederzusehen.
Weihnachten liegt hinter uns, und wir haben die Feiertage still verlebt, denn Madame Branikow litt an einer Erkältung und wollte keinen Besuch bei sich sehen, desto mehr mußte ich ihr vorlesen und vorspielen, aber die Stille dieser Tage that mir wohl, und so waren sie mir angenehm, wenn es auch kein heimisches Weihnachtsfest gab. Madame will von demselben aber doch etwas kennen lernen. Sie hat so viel von dem deutschen Christbaume gehört, daß sie ihn sehen will.
Ich, als die Einzige, welche hier die Sache versteht und kennt, wurde natürlich mit der Ausschmückung eines für den nächsten Thé dansant bestimmten Tannenbaumes beauftragt. Ich bin den ganzen Morgen in der Stadt umhergefahren, um die dazu nöthigen Einkäufe zu machen, und als ich wieder nach Hause kam, fand ich den Capellmeister bei unserer Gebieterin im kleinen Salon. Er hat in Deutschland mehrmals einen Weihnachtsbaum brennen sehen, war sogleich ganz begeistert von der Idee, durch einen solchen den Ball zu verherrlichen und erklärte, er würde mit Bitten nicht nachlassen, bis ich ihm erlaubt, mir bei der Arbeit des Aufputzens zu helfen.
„Fürchten Sie durchaus keinen Widerspruch!“ erwiderte ich ihm lached, „die Arbeit ist keineswegs gering, und da ich schon durch das Zusammenholen der Sachen mich nicht wenig ermüdet habe, so bin ich gern bereit, Ihren Beistand anzunehmen.“
Wir schmückten den Baum Nachmittags im Musiksaale, er und ich allein, und warum sollte ich es nicht aufrichtigen Herzens vor mir selber eingestehen: es waren ein paar glückliche Stunden, so glücklich, wie ich ihrer in diesem wunderlichen Lande noch nicht viele erlebt habe.
Schon der würzig angenehme Harzgeruch der Tannenzweige, der mir so viele anmuthige und liebliche Erinnerungen in’s Herz schmeichelte, untermischt mit demjenigen der Wachskerzen, versetzte mich in eine ungewohnt festliche Stimmung, und ich bemühte mich absichtlich, alle störenden, alle sorgenvoll schweren und ängstlichen Gedanken von mir fernzuhalten. Einmal, für kurze Zeit wenigstens, wollte ich ungetrübt glücklich sein wie in den Tagen der Kindheit, nein – tausendmal glücklicher noch, denn jene wunderbaren dunkeln Augen, in denen der Widerschein der kleinen Kerzen, die wir versuchsweise bald hier bald dort anzündeten, sich strahlend vervielfältigte, sie hatten mich noch nie so glänzend, so heiter angeblickt, wie heute. Es war wie ein schweigendes Uebereinkommen unter uns, keines jener Dinge, die zu anderen Zeiten uns ganz beschäftigen und aufregen, heute zu berühren. Mochte für kurze Zeit Alles in der Seele Tiefen schlafen! Unter den grünen Zweigen der Weihnachtstanne durfte uns wohl erlaubt sein, uns als harmlose Kinder zu fühlen.
Auf einem großen Tische waren alle die unzähligen niedlichen Sächelchen ausgebreitet, die den Baum zieren sollten, und indem wir, einander gegenüber sitzend, rothe Bändchen daran befestigten, drängten sich immerwährend wie von selber Erinnerungen aus der Kinderzeit mir auf die Lippen. Es war mir, als müsse ich nothgedrungen meinem Gefährten und Freunde einen Begriff von der unbeschreiblichen, wonnedurchzitterten
[685][686] Ueberraschung geben, welche das Kinderherz der Weihnachtspracht gegenüber erfaßt, und die so mächtig wirkt, daß das poesiereiche, durch die Liebe geweihte Andenken daran einen unvertilgbaren Schimmer über das ganze Leben wirft, ja, so unvertilgbar, daß selten nach öde oder wild verlebten Jahren eine Seele so verdüstert, ein Herz so verknöchert sein kann, daß die Erinnerung an das schönste, selbsterlebte Zaubermärchen der Kindheit es nicht erquickt, wie ein Tropfen himmlischen Thaues die versengte Flur.
Hirschfeldt’s Blicke richteten sich dabei auf mich weit mehr als auf die Arbeit in seiner Hand. Er sah mich verwundert an, ich glaube meiner ungewohnten Beredsamkeit wegen, und doch dabei theilnahmvoll lächelnd.
Ich stieg auf ein Tabouret, ließ mir von ihm die Sachen reichen und befestigte sie an dem harzig duftenden Geäste. Er gehorchte schweigend jeder Anordnung, und dann, als er eine geraume Weile meinen Bewegungen mit den Blicken gefolgt war, sagte er: „Wissen Sie, wie Sie aussehen, Fräulein Helene, dort inmitten der grünen Zweige, die sich wie Kronen um Ihre Stirn neigen, bestrahlt vom Lichtglanz, mit Ihrem wundervollen blonden Haar und blauen Augen?“
„Grau, mein Freund,“ rief ich lachend, „wenn Sie sie genau betrachten, werden Sie finden, daß meine Augen durchaus grau sind.“
„Grau oder blau, die Farbe ist einerlei,“ antwortete er; „ihr klarer, gütiger Ausdruck macht sie eben schön, und Sie gleichen, so wie Sie dastehen, einer jener hülfreichen Feen, von denen stets Ihre vaterländischen Märchen zu erzählen wissen. Wie lauten doch noch diese sagenhaften Ueberlieferungen? Bringt es nicht Glück, wenn eine derselben sich herabläßt, einem armen Menschenkinde zu erscheinen?“
„Mitunter wohl, mitunter auch Unglück,“ erwiderte ich, einigermaßen in Verwirrung gebracht durch die Wendung des Gespräches und darum bestrebt, einen scherzhaften Ton in die Unterhaltung zu bringen. „Ich fühle mich aber gerade in diesem Augenblick weit mehr als hülfsbedürftige Sterbliche, denn als allmächtige Fee; wäre ich eine solche, so würde ich z. B. auf der Stelle meinen Zauberstab schwingen und dieses Blumenkörbchen an jene Zweigspitze zaubern, so aber muß ich Sie bitten, meine Stelle einzunehmen, da Sie, mit längeren Armen begabt, hoffentlich hinaufreichen können.“
Ich sprang von meinem erhabenen Standpunkte herunter, und mit einer Hand noch bemüht, mich von einem sich an mein Haar anklammernden Zweiglein zu befreien, streckte ich die andere mit dem Korbe Hirschfeldt entgegen. Er nahm ihn mir ab, aber in demselben Augenblicke auch fühlte ich seine warmen Lippen auf meiner Hand. Ich erschrak bis in’s innerste Herz hinein und riß mich los.
Ein Handkuß ist hier eben nichts Seltenes für mich, aber dieser – dieser war entschieden nicht am Platze. Ich vermochte kein Wort zu sagen, sondern suchte mit schlecht motivirter Hast zwischen den Sachen umher, und ziemlich schweigend setzten wir von nun an unsere Arbeit fort bis zu ihrer Vollendung. Nur nicht denken! Es lag wie eine stille Traumseligkeit über mir, die durch den ersten ernsten Gedanken zu verscheuchen ich mich instinktiv hütete. Als mein Gefährte, der so schweigsam war, wie ich ihn noch nie gesehen, mir dann zum Abschied die Hand reichte, traf mich sein Blick mit seltsam bittendem Ausdruck. Vielleicht wollte er dadurch seiner Ueberschreitung wegen um Verzeihung bitten. Ich zürne ihm nicht und werde an diese Stunde wie an einen schönen Traum denken, aber wiederkehren darf sie nicht.
O kommt mit ernstem Schweigen,
Die Ihr von Gott entfernt!
Ich will Euch Wunder zeigen,
Auf daß Ihr glauben lernt.
Und hofft auf Sonnenschein:
Mir zog der Liebe Schauer
Mit tausend Wundern ein.
Eh’ mir auf dunklen Bahnen
Ward nur durch frommes Ahnen
Mein Glück vorausgesagt.
Im Herzen fühlt’ ich’s glimmen.
Die Seele wuchs zur That.
Wach auf, Dein Heiland naht!
Da kam sie, hold und wonnig,
Und Alles ward erhellt;
Wie Christus, zog sie sonnig
Sie rief die todte Leyer
Zu neuem Lebensglück
Und nahm der Blindheit Schleier
Und gab das Licht zurück.
In trunkner Himmelslust,
Begrub ich liebebangend
Ihr Bild in meiner Brust.
Da klang es auf und nieder.
Im Sturme meiner Lieder
Kam sie zum Aufersteh’n.
Nun fühl’ ich, was so mächtig
Das Herz zum Himmel weist:
Des Friedens heil’gen Geist.
Sein Licht geht niemals unter;
Er bändigt alle Qual:
Er ist das höchste Wunder
Drum kommt mit ernstem Schweigen,
Die Ihr von Gott entfernt!
Ich will Euch Wunder zeigen,
Auf daß Ihr glauben lernt.
In Demuth Euch das Haupt!
Ihr glaubt das Namenlose,
Wenn Ihr die Liebe glaubt.
Ein ängstliches Mutterherz erbat sich kürzlich von uns darüber Beruhigung, ob es wirklich durch die Entwickelung bedingt sei, daß die weiche Stelle auf dem Kopfe ihres zweimonatlichen Erstgeborenen noch nicht die Härte der übrigen Nachbartheile erlangt habe. Am Schlusse waren die Worte hinzugefügt: „Ist es der Wissenschaft überhaupt möglich, den Grund des Vorhandenseins dieser Stelle zu erklären?“
Diese Anfrage über das Schreckgespenst jeder jungen Mutter kann an und für sich kaum als wunderbar bezeichnet werden, aber interessant und zugleich bedauernswerth für den Fachmann ist sie deshalb, weil man deutlich erkennt, wie wenig der Laie an den großartigen Fortschritten der medicinischen Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten theilgenommen hat. Alle Specialfächer haben sich fast gleichmäßig an diesem glänzenden Aufschwunge betheiligt, nur Eines wird von Tag zu Tag mehr in den Schatten gestellt – die populäre Medicin.
Ein populär-medicinischer Artikel der Jetztzeit muß, wenn er nur irgendwie Befriedigung und Nutzen hervorrufen soll, eine höhere Anforderung an die Geistesthätigkeit der Leser stellen, als dies früher geschah; diese Anstrengung wird ihm aber meistens nicht zu Theil; er wird überschlagen, und Verleger und Autor verlieren die Lust zu weiteren Versuchen. Der Verfall dieses Zweiges der Wissenschaft bietet aber zugleich den Hauptgrund für die Erklärung, wie es möglich sein kann, daß bei der zunehmenden Allgemeinbildung des deutschen Volkes der Einzelne noch nicht in den Stand gesetzt ist, selbstständig die Spreu vom Weizen zu sondern, denn Aberglaube, Naturpfuscherei und Spiritismus wuchern relativ stärker als je zuvor.
Bei der Beantwortung der obigen Frage ist es daher auch unbedingt nothwendig, in aller Kürze auf anatomische Gewebsverhältnisse einzugehen, ohne welche ein Verständniß nicht herbeizuführen ist.
Der kleinste organisirte Bestandtheil unseres Körpers ist die Zelle. Die unendliche Mannigfaltigkeit, welche diese Gebilde in Bezug auf Größe, Gestalt und technischen Inhalt in dem vollendeten Organismus erlangt, ist vorzüglich bedingt durch die Stätte seiner Entwickelung. Schon von der ersten Bildungsstufe an lassen sich zwei gesonderte Zellenarten unterscheiden,
[687] welche auch später zu jeder Zeit ihre Eigenthümlichkeit bewahren. In der scheibenartigen Keimanlage heben sich zuerst vier Schichten, von den Zellen des Hauptkeimes gebildet, ab. Hier ist der Ort der Entwickelung unserer zum Leben unumgänglich nothwendigen Organe. Nervensystem, Verdauungs- und Athmungsapparat, Drüsen und Muskulatur entstehen aus diesen Zellen, welche nach einem besonderen in ihnen selbst beruhenden Wachsthumsgesetze zu ihrem jedesmaligen Zwecke sich umformen. Sind diese vier übereinanderliegenden Zellenschichten entstanden, dann wächst ringsherum von außen aus einer Art Dottermaterial die zweite Zellenart dazwischen hinein. Der wesentliche Unterschied zwischen Beiden besteht darin, daß den jetzt erst hinzukommenden Zellen nicht, wie den schon vorhandenen, die Nothwendigkeit innewohnt, daß sie sich zu einer bestimmten Gewebsart entwickeln müssen, sondern es gehen aus gleichen Zellen verschiedenartige Produkte hervor, vorzüglich bedingt theils durch die Wachsthumsverhältnisse der Zellen, in welche sie hineinwuchern, theils durch die Lage, ob ihnen Ruhe oder Bewegung gegönnt ist. So verschieden auch die späteren Gebilde sich verhalten mögen, aus ein und derselben Anlage entwickeln sich Knochen, Sehnen, Knorpel und Bindegewebe. Nur diese letztgenannten Zellen sind für unsere Frage von Wichtigkeit.
An gewissen Stellen scheiden sie nämlich, in reger Theilung begriffen, eine Zwischensubstanz um sich aus; es entsteht der Knorpel, welcher in den späteren Zeiten als glänzender Ueberzug der Gelenke bekannt ist.
Verwickelter ist der Aufbau des bekanntesten Gewebes, des knöchernen Skeletts. Knorpel oder gewöhnliches Bindegewebe wird zu seiner Entwickelung benutzt. Bildet Knorpel das Muttergewebe, so beginnt der Proceß mit einer Verkalkung der Knorpelzellen, an welche sich unmittelbar eine Hineinwucherung von Blutgefäßen und Erweichung dieser Stellen anschließt. Der Knorpel wird dadurch zu einem tropfsteinartigen Gebilde, theils aus noch normalem Knorpel, theils aus so veränderten mit weicher Masse und Blutgefäßen erfüllten Lagunen umgewandelt. Bald bedecken sich diese Höhlungen tapetenförmig mit kleinen Rundzellen, welche, zu sternförmigen Gestalten mit einer Menge von Ausläufern auswachsend, eine gleichmäßige Grenzsubstanz um sich bilden. Diese verleiht dann durch Erfüllung mit Knochenerde diesem Gewebe seine eiserne Festigkeit. Concentrisch folgt so Schicht auf Schicht, bis jede der unzähligen kleinen Höhlen durch feste Substanz erfüllt ist und im Innern ein Blutgefäßchen zur Ernährung übrig bleibt. Auf diese Weise wird nach und nach sämmtlicher Knorpel durch neugebildeten Knochen verdrängt.
Die Entstehung aus Bindegewebe unterscheidet sich nur insofern, als die Entwickelung auf einer weichen, einer Schweinsblase ähnlichen Grundlage stattfindet. Von einer bestimmten Stelle, den Verknöcherungspunkten, schießen Kalknadeln nach außen, welche ganz die gleiche obige Umwandlung in Knochengewebe durch Blutgefäße, Höhlen und knochenbildende Zellen erleiden. Eine Bindegewebsschicht nach außen bewirkt das Dickenwachsthum des angelegten platten Knochens. Beide Entwickelungsarten finden bei dem Baue der knöchernen Schädelwand vor der Geburt ihre Anwendung.
Denkt man sich eine Kreislinie, von den Augenbrauen beginnend, über die Ohrlöcher nach dem hervorragenden Höcker des Hinterhauptes gezogen, so ist mit Ausnahme geringer Stellen der obere Theil häutig, der untere knorplig angelegt, eine Verschiedenheit, welche für die Entwickelung des darunter liegenden Gehirnes von der allergrößten Wichtigkeit ist, da ein allgemeines und schnelles Wachsthum dieses wichtigen Centralorganes durch eine vollkommen knorplige Decke nicht ermöglicht werden könnte. Deshalb befinden sich auch unter der häutigen Anlage gerade die Theile, welche bei dem Menschen durch die schnelle Zunahme ihrer Größenverhältnisse bekannt sind, die großen Gehirnlappen mit dem Sitze der Intelligenz. Sind diese, wie es bei manchen Thieren, z. B. den Haifischen, der Fall ist, äußerst klein, so genügt eine allgemeine knorplige Decke für dieses vegetative Dasein.
Im achten Monat entwickeln sich am Embryo in beiden Anlagen die Verknöcherungspunkte und zwar an Stellen, wo sie durch Druck und Zug am wenigsten in ihrem Wachsthum gestört werden. Zu beiden Seiten des Scheitels und am Hinterhaupt, ebenso rechts und links von der Mitte der Stirn, letztere als die später bei Manchen so heraustretenden Stirnhöcker bekannt, finden wir die ersten knöchernen Anfänge des häutigen Daches. Da nun die peripherische Größenzunahme an allen Punkten gleichzeitig, also rund geschieht, so ist klar, daß, wenn durch die stattgefundene Größenzunahme eine Berührung der einzelnen Knochen eingetreten ist, zu gewissen Zeiten an ihren Enden freie Stellen bleiben müssen, noch nicht verknöchert, sondern mit ihrer häutigen Grundlage. Eigentlich sollte dies an vier Theilen jedes Schädelknochens zu bemerken sein, doch ist es nach der Geburt nur die weiche Stelle über der Stirn, welche an den früheren allgemeinen Zustand erinnert. Sie ist also die noch nicht erfolgte Vereinigung der Knochenpunkte von beiden Seiten des Scheitels und der Stirn.
Am klarsten und einfachsten erlangt man eine Anschauung dieses Vorganges, wenn man zwei Paar runde Münzstücke dicht voreinander hinlegt. Die Mittelpunkte der vorderen stellen die Verknöcherungspunkte der Stirnbeine, die der Hinteren der beiden Seitenwandbeine dar. Zur Zeit der Geburt haben sich soviel concentrische Knochenleisten um diese Mittelpunkte entwickelt, daß nur die bewußte weiche Stelle im Innern, die große Fontanelle genannt, übrig bleibt. Fügt man noch unter das Hintere Paar eine gleiche Münze als Hinterhauptsschuppe hinzu, so erhalten wir in dem leeren Dreiecke die kleine Fontanelle, welche indeß ebenso wie die nach unten von den beiden Seitenwandbeinen gelegenen kurz nach der Geburt verknöchern. Zur schnelleren Bedeckung der letzteren trägt noch der Umstand bei, daß der untere Rand der beiden Seitenwandbeine durch den über dem Ohre befindlichen Knochenpunkt, die Schläfenschuppe, überwuchert wird, da die größere Breite der beiden Gehirnlappen den oberen Theil des Seitenwandbeines nach außen und den unteren hierdurch etwas nach innen beugt. Nach und nach fängt auch die große Fontanelle an, sich mit Knochensubstanz zu erfüllen, bis sie zu Anfang des zweiten Jahres die Härte der übrigen Schädelknochen erlangt hat. Die Berührungsstellen verbleiben dann überall nur als Linien, Nähte genannt, und ermöglichen durch das zwischen ihnen befindliche Bildungsmaterial das bis zu dem Ende des zwanzigsten Jahres fortdauernde Wachsthum unseres Schädels. Natürlich ist auch hier der Mann mit einer rauheren und eckigeren Form beschenkt worden, als die Frau, welcher die gütige Natur eine gefälligere Rundung und mehr künstlerische Vollendung verlieh. Freilich wird auch diese Schönheit durch den reichlichen Haarwuchs der Neuzeit auf das anatomische Museum beschränkt, wo man allein eine unentstellte Schädelform bewundern kann.
Doch noch in einer andern Beziehung müssen die mütterlichen Besorgnisse beschwichtigt werden. Wodurch wird das Auf- und Abwogen, die Pulsation, an diesem Orte hervorgerufen? Unter dem Schädel und der obersten Gehirnhaut umspült eine nicht bedeutende Menge wässeriger Flüssigkeit das von zahlreichen Blutgefäßen umsponnene Gehirn. Der durch jede Herzzusammenziehung vermehrte Blutgehalt dieser Gefäße erfordert einen größeren Raumbezirk als vorher. Bei dem Erwachsenen wird deshalb zugleich mit dem Pulsschlage ein Theil des Gehirnwassers nach der Rückenmarkshöhle gedrängt, um in der Herzpause wieder zurückzufließen. Der Neugeborene dagegen besitzt in seiner großen Fontanelle ein bequemeres Mittel zum Ausweichen; die wässerige Flüssigkeit buchtet sie einfach mit jedem Herzschlage etwas nach außen.
Was ergiebt sich aber in praktischer Beziehung aus unserer Betrachtung? Die Weichheit dieser offenen Stelle und des ganzen neugebildeten Knochengewebes macht die Schädeldecke in den ersten Zeiten abnormen Druckverhältnissen leicht zugänglich. Es erklärt sich daraus die Unsitte verschiedener Nationen, durch Bretter und Bandagen die gewöhnliche Kopfform zu den merkwürdigsten Gestalten zu verändern. Der herrschenden Geschmacksrichtung der Aristokratie der alten Peruaner entsprach z. B. ein oben breitgedrückter, manchmal in der Mitte noch sattelförmig eingebogener Schädel; Andere erzielten durch Umwickelung des Hinterhauptes ein etwas spitzes, aber dafür natürliches Chignon. Das Gehirn muß sich aber dann stets anderen Wachsthumsgesetzen anpassen, und wenn auch Geisteskrankheiten nicht als sofortige Folgen zu beobachten waren, so mußte doch mittelbar ein derartig modificirtes Organ für krankhafte Einflüsse leichter empfänglich sein. Besser ist es daher, in jeder Beziehung den leichtesten Druck zu vermeiden, vorzüglich das Einpressen des [688] Kopfes in enge Schraubstöcke von Hauben, eine nur unnöthige Spielerei, bei der höchstens die Garnitur und Häkelei bewundert werden soll.
Wichtiger ist die Frage, wie man sich mit der Reinigung der betreffenden Stelle zu verhalten habe. Während die eine Mutter sie auf gleiche Weise abrumpelt und kämmt wie die übrigen Theile, kennzeichnet die etwas verdächtige dunkle Färbung darauf die übergroße Vorsicht einer anderen. Die Methode jener Bauerfrau, durch ein darauf gelegtes Mutterpflaster den bedenklichen Fleck ihren mütterlichen Blicken zu entziehen, dürfte kaum als Allgemeinsitte einzuführen sein. Wie sich schon aus der obigen Entwickelung ergiebt, muß gerade hier ein Mittelweg eingeschlagen werden. Durch leichtes Darüberstreichen mit einem Schwamm kann man auf die einfachste Weise den dunkeln Punkt vermeiden, ohne die darunterliegenden Theile zu reizen. Eine fortdauernde zu starke Reibung hat vermehrten Blutzufluß zur Folge, wodurch wiederum eine vorschnelle Verknöcherung bewirkt werden könnte. Dies wäre als ein krankhafter Proceß zu betrachten, welcher dem raschen Schädel- und Gehirnwachsthum ein zu frühes Ziel steckte. Hand in Hand geht aber die normale Schädel- und Gehirnvergrößerung mit der Zunahme der geistigen Thätigkeit; mithin ist die offene Stelle nur die Vorgängerin eines offenen Kopfes.
Von Rudolf Gottschall.
Aus der Genie-Epoche der deutschen Literatur tritt das Bild einer anmuthigen und begabten Künstlerin jetzt mit erneuter Frische und schärferen Zügen hervor, einer Künstlerin, die unserem großen Goethe in der Epoche seiner jugendlichen Leidenschaft nahe stand und einige seiner schönsten dichterischen Gestalten zuerst auf der Bühne in’s Leben rief. Ein wehmüthiger Reiz schwebt um die liebenswürdige Erscheinung; denn, wie so viele gefeierte Künstlerinnen, schied sie nach einer Glanzepoche des Ruhms und der Liebe in Einsamkeit und Vergessenheit.
Keinem, der sich mit dem Leben Goethe’s und der classischen Zeit Weimar’s beschäftigt hat, wird der Name Corona Schröter unbekannt sein. Doch ein zusammenhängendes Lebensbild der Künstlerin hat uns erst Robert Keil neuerdings in seiner interessanten Schrift „Vor hundert Jahren“ gegeben, und zwar aus neuen und vervollständigten Quellen. Namentlich sind es die Tagebücher Goethe’s selbst, vom 11. März 1776 bis 5. März 1782, aus denen auf das Verhältniß des Dichters zu der schönen Künstlerin ein volles Licht fällt. Diese Tagebücher hat Keil zum ersten Male im Zusammenhange herausgegeben. Es sind sehr wichtige Actenstücke für die Charakteristik jener tollen Weimar’schen Genie-Epoche, in welcher der junge Fürst mit dem jungen Dichter und einem lebenslustigen Hofe in einer wilden, doch künstlerisch geadelten Genußsucht dahinstürmte. Ohne Frage nimmt Corona Schröter in der reichen Schönheitsgalerie der Frauen und Mädchen, denen der Dichter leidenschaftlicher Neigung ergeben war, einen hervorragenderen Platz ein, als ihr bisher eingeräumt wurde; aber auch in der Geschichte deutscher Kunst bleibt ihr als der ersten und unübertroffenen Darstellerin der Iphigenie eine ehrenvolle Erinnerung gesichert. Robert Keil nennt sie „die vielleicht reizendste, anmuthigste und geistvollste Künstlerin, die in Deutschland jemals die Bühne betraten hat.“
Corona Schröter war die Tochter eines untergeordneten Musikers, des Hautboisten Johann Friedrich Schröter, und wurde im Jahre 1751 in Guben geboren. Der Vater zog nach Auflösung des gräflich Brühl’schen Regiments nach Warschau. Hier entwickelte sich früh ihre schöne Gestalt, ihr Talent für Zeichnen und Gesang. Der Vater war ihr Gesanglehrer, strengte sie aber beim Unterrichte zu sehr an, sodaß ihre Stimme zwar einen bedeutenden Umfang erhielt, aber geschwächt und etwas bedeckt wurde. Als der Vater im Vertrauen auf die Freundschaft des Schöpfers des deutschen Singspiels, Johann Adam Hiller’s, mit seiner Familie nach Leipzig gezogen war, wurde Corona die Schülerin Hiller’s und machte unter dessen Leitung glänzende Fortschritte. Schon im Jahre 1765 sang sie als ein vierzehnjähriges Mädchen im Leipziger Großen Concert. Nach wenigen Jahren, in denen sie durch unermüdliches Studium sich weiter ausgebildet hatte, wurde sie der erklärte Liebling des gebildeten Leipziger Publicums.
In der Blüthe ihrer Jugend, gefeiert als Künstlerin, gepriesen wegen ihrer Reize, der junonischen Gestalt, des vollendeten Ebenmaßes der Formen, der anmuthigen Gesichtszüge, der leuchtenden geistvollen Augen, war Corona auch vielumworben. Zu ihren Verehrern gehörte Dr. Karl Wilhelm Müller, später Bürgermeister von Leipzig und hochverdient um die Stadt, ihre Anlagen, und Kunstinstitute, der Gründer des Leipziger Gewandhauses; er hielt um die Hand Corona’s an, doch sie lehnte die Werbung des angesehenen Rathsherrn ab. Dagegen ließ sie sich in einen abenteuerlichen Liebeshandel mit einem Grafen ein, der sie unter trügerischen Eheversprechungen nach Dresden lockte; sie riß sich von ihm los, nachdem sie den Verführer durchschaut hatte, doch sie sollte nicht nur den Schmerz der ersten Täuschung erfahren, sondern auch ihr Leben mit einem Makel behaftet sehen, da die Meinung Robert Keil’s, daß sie auch hierbei ihre fleckenlose Reinheit bewahrt habe, wohl kaum die Ansicht der Zeitgenossen gewesen ist.
Der junge Patriciersohn Goethe war 1765, sechszehn Jahre alt, nach Leipzig gekommen, um sich hier den Universitätsstudien zu widmen. Ebenso genial wie stolz und übermüthig, suchte er Aufsehen zu erregen; seine Kleider waren von einem so närrischen Geschmack, daß sie ihn auf der ganzen Universität auszeichneten. Er sah und hörte Corona im Concerte und war sehr entzückt über „ihre schöne Gestalt, ihr vollkommen sittliches Betragen und ihren ernsten anmuthigen Vortrag“. Er trat ihr auch selbst näher und veranstaltete mit ihr und der ihm befreundeten Breitkopf’schen Familie theatralische Aufführungen. Wie er selbst erzählt, machten ihn verschiedene ihrer Anbeter zum Vertrauten und erbaten sich seine poetischen Dienste, wenn sie irgend ein Gedicht zu Ehren ihrer Angebeteten heimlich wollten drucken und ausstreuen lassen. Es ist wahrscheinlich, daß der junge Dichter auch auf eigene Hand die Sängerin poetisch verherrlicht hat. Im Jahre 1768 ging Goethe von Leipzig nach Frankfurt zurück; doch sollte diese erste Begegnung sich später folgenreich erweisen.
Inzwischen fand Corona einen anderen glühenden Anbeter in Johann Friedrich Reichardt, dem späteren vielgenannten Componisten der Goethe’schen Lieder. Im Frühlinge 1771 war dieser nach Leipzig gekommen, ebenfalls wie Goethe zum Besuche der Universität, wie dieser ein stattlicher Jüngling mit einem Gesichte wie Milch und Blut, und wie dieser auf gewählte, auffallende Toilette bedacht, stutzerhaft in der Wahl himmelblauer und rosarother Farben für das Futter seiner Tuchröcke. Er sah die schöne herrliche Sängerin und empfand für sie eine Leidenschaft, die ihn während seines Leipziger Aufenthaltes ausschließlich beherrschte. Tag für Tag war er in ihrer Gartenwohnung im Richterschen Garten mit ihr zusammen; die Nächte hindurch componirte er Lieder, die sie am nächsten Tage ihm vortrug, obgleich ihre Freundschaft nicht so weit ging, sie in einem öffentlichen Concerte zu singen. Aus Reichardt’s Tagebuchblättern geht hervor, welchen tiefen Eindruck ihr Gesang auf ihn machte, wenn sie namentlich die Hasse’schen Meisterscenen unübertrefflich vortrug: „Besonders eine große Scene aus Hasse’s Artemisia, die mit der Arie schließt: ,Rendetemi il mio ben, numi tiranni,’ konnte man gar nicht oft genug von ihr hören, und es verging selten ein Tag, wo ich sie nicht von ihr mir erbat, aber auch nie habe ich ihr ohne die tiefste Herzensbewegung gelauscht. Dieser hohe Genuß hat mich vielleicht allein zu dem Künstler gemacht, der ich geworden bin.“
Reichardt erfreute die Künstlerin durch sein ausdrucksvolles Clavierspiel, doch erwiderte sie seine Neigung nicht. Als er einmal im Garten wagte, ihr einen Kuß zu rauben, wies sie [689] ihn mit so spröder, wegwerfender Art zurück, daß er sich diese „Frechheit“, wie er selbst erzählt, nie wieder erlaubte. Nur ein leiser Händedruck belohnte die treue Anhänglichkeit des jugendlichen Verehrers, der in seinem Eifer soweit ging, daß er den Plan faßte, Corona, deren Abneigung vor dem öffentlichen Auftreten im Großen Concerte er kannte, die vierhundert Thaler jährlichen Einkommens, die sie vom Concerte hatte, heimlich und anonym durch Hülfe wohlhabender Freunde zukommen zu lassen, um ihr die volle künstlerische Unabhängigkeit zu sichern. Natürlich blieben seine Bemühungen erfolglos; bald sollte indeß ein Ruf an die Sängerin ergehen, der sie von der mißliebigen Verpflichtung entband, im Leipziger Concerte zu wirken.
Am 7. November 1775 war Goethe, der inzwischen seine Studien vollendet und durch seine ersten Dichtwerke sich einen großen Namen verschafft hatte, in den Weimarer Kreis eingetreten, „ein schöner Junge, der vom Wirbel bis zur Zehe Geist und Stärke, ein Herz voll Gefühl, ein Geist voll Feuer mit Adlerflügeln“, wie Heinse sagt. Er wurde bald der Mittelpunkt des ganzen Kreises, der Liebling der Damen. Zu den Hauptvergnügungen des Weimar’schen Hofes gehörten die Liebhaberspiele und die Concertaufführungen; oft wurde im Schatten des Ettersburger Forstes auf einer in frisches Grün gehauenen Bühne, oft auch im Tiefurter Parke gespielt. Doch fehlte diesen Ausführungen, deren Seele die ebenso lebenslustige wie kunstsinnige Herzogin Amalie war, eine große künstlerische Kraft, eine Darstellerin und Sängerin, welche dem mehr dilettantischen Treiben der Hofherren und Hofdamen die höhere künstlerische Weihe gegeben hätte. Goethe dachte an Corona und erhielt den Auftrag, nach Leipzig zu reisen und ihr die Stellung als Kammersängerin der Herzogin-Mutter in Weimar anzutragen.
Wieder standen sich die Beiden gegenüber, der schöne Mann dem schönen Weibe. Goethe war nicht mehr der jugendliche Student mit seiner lyrischen Schwärmerei, er war der in Deutschland gefeierte Dichter. Corona war zu voller weiblicher Schönheit erblüht, mit tiefen, braunen Augen, dem von dunkler Gluth angehauchten Teint, den anmuthigen Lippen, den Zügen von hoher geistiger Lebendigkeit und der vollendeten Gestalt. Tief war der Eindruck, den sie auf den leicht beweglichen Goethe machte, und als sie dem Rufe nach Weimar Folge geleistet und im November 1776 in die Musenstadt an der Ilm eingezogen war, da wurde sie auch zur Muse des Dichters, dem sie fünf Jahre hindurch in leidenschaftlicher Liebe nahe stand. Freilich mußte sie Goethe’s Neigung mit einer anderen Frau theilen, und wenn irgend etwas für die Weimar’sche Genie-Epoche charakteristisch ist, so ist es diese Doppelliebe ihres gefeiertsten Vertreters. Schon die Aufzeichnungen des Tagebuches mit ihrer trockenen Nüchternheit geben uns ein Bild davon, wie Goethe zwischen Frau von Stein und Corona Schröter seine Zeit und sein Herz theilte, wie dieser Zwiespalt der Empfindungen ihm bisweilen unbequem wurde und ihn zur Selbstbesinnung herausforderte, wie er aber stets von neuem dem doppelten Zauber unterlag, den die feine Hofdame und die entzückende Künstlerin auf ihn ausübten.[1]
Frau von Stein, die Frau des Oberstallmeisters am Weimar’schen Hofe, hatte den Dichter zuerst durch ihre vornehme Weltbildung, ihre Freisinnigkeit, ihre entgegenkommende Anerkennung angezogen. Fast sieben Jahre älter als Goethe, war sie, als dieser nach Weimar kam, bereits Mutter von sieben Kindern. Ihre Erscheinung war anmuthig und einnehmend; sie hatte glänzende, geistreiche Augen und in ihrem Gesichte einen sanften Ernst und eine ganz eigene Offenheit. Aeußere geschmackvolle Eleganz, die Sicherheit und Gewandtheit der Formen und des Benehmens mußten auf den jungen Patriciersohn einen bestechenden Eindruck machen. Wie sie selbst zeichnete und sang, hatte sie auch warmes Empfinden für die Dichtkunst, regte den Dichter an, der sie in die Geheimnisse seines Schaffens einweihte, und suchte das wilde Genietreiben in maßvollere Bahnen zu lenken. Eine ebenso charakterfeste wie freisinnige Natur, gewann sie einen Einfluß auf Goethe’s leidenschaftliches Gemüth, dem sich dieser lange Jahrzehnte hindurch nicht zu entziehen vermochte. Doch das Verhältniß blieb nicht in den Schranken geistiger Beziehungen und gemächlicher Neigungen, es hatte den Reiz eines verbotenen Glücks, welches die weltkluge Frau geschickt zu verschleiern wußte. Was in ihr lag an gährender Eifersucht, hämischer Feindseligkeit gegen eine sich abwendende Neigung, das trat besonders gehässig hervor, als Goethe einen entscheidenden Bruch herbeigeführt hatte, indem er Christiane Vulpius in sein Haus nahm.
Zur Zeit, als Corona nach Weimar kam, war die Liebe Goethe’s zu Frau von Stein noch in ihren Flitterwochen. Den Eindruck, den die Sängerin auf ihn gemacht, verschwieg er zwar der Freundin nicht, obschon er diese Geständnisse durch Schmeicheleien für den überlegenen Geist und die Schönheit seiner Weimar’schen Muse zu mildern suchte. Er schrieb von Leipzig aus: „Die Schröter ist ein Engel – wenn mir doch Gott so ein Weib bescheeren wollte, daß ich euch könnt’ in Frieden lassen – doch sie sieht Dir nicht ähnlich genug.“ Und ein anderes Mal schrieb „Ich bin bei der Schröter – ein edel Geschöpf, in seiner Art – ach, wenn die nur ein halb Jahr um Sie wäre! Beste Frau, was sollte aus der werden!“ Doch Goethe beurtheilte Frau von Stein falsch, wenn er vorher an sie geschrieben hatte: „Du einziges, was mir Glück wünschen würde, wenn ich etwas lieber haben könnte als Dich.“ Sie war durchaus anders gesinnt, auf ausschließlichen Alleinbesitz bedacht und sah in der schönen Corona nur eine Nebenbuhlerin, eine nach Weimar in nächste Nähe übersiedelnde Gefahr. Goethe mußte sie beruhigen. Er schrieb einige Tage später aus Leipzig: „Liebe Frau, Ihr Brief hat mich doch ein wenig gedrückt. Wenn ich nur den tiefen Unglauben Ihrer Seele an sich selbst begreifen könnte, Ihrer Seele, an die Tausende glauben sollten, um selig zu werden. Bald komm’ ich. Noch kann ich nicht von der Schröter’n hinweg.“
Corona wurde in Weimar herzlich empfangen, sang alsbald in mehreren Concerten mit, zeigte sich auf den Maskenbällen, wo es sehr lustig herging und auf denen sie, nach Goethe’s Tagebuchbemerkung, sehr schön aussah.
Frau von Stein, obschon Goethe ihr ein Band geschenkt hatte, das sie ihm zum Gedächtnisse auf dem Maskenballe tragen sollte, machte aus ihrer Eifersucht auf die Künstlerin kein Hehl. Die Proben auf dem Liebhabertheater brachten diese und den Dichter einander näher. Spielte Goethe den Liebhaber, so wurden von den betheiligten Damen allerlei Minen angelegt, um neben ihm die Liebhaberin zu spielen; in tragischen oder Charakterrollen fiel sie ohne Weiteres der Corona zu. In den brillanten Gesangspartien überstrahlte sie alle Mitwirkenden. Von dem Repertoire des fürstlichen Liebhabertheaters darf man sich indeß keinen zu großen Begriff machen; die Mittel der Darstellung waren immerhin beschränkt, und die damalige dramatische Muse der Deutschen arm genug. Was Goethe selbst geschaffen hatte, von dem unmöglichen „Götz“ abgesehen, und was er anfangs für diese Bühne schuf, das trug einen durchaus dilettantischen Charakter. Man gab seine „Mitschuldigen“, ein offenbar verfehltes Lustspiel, „Erwin und Elmire“ in seiner ersten Gestalt, in Prosa mit eingelegten Versen, die „Lila“, den „Triumph der Empfindsamkeit“, oder wie das Stück anfangs hieß, „die Empfindsame“, den „Jahrmarkt zu Plundersweilen“, lauter untergeordnete Productionen, welche den Dichten des „Götz“ und „Werther“, verstrickt in Hofvergnügungen und Liebeshändel, als einen beiläufigen Gelegenheitsdichter zeigen. Doch die Lust an der Inscenirung und Darstellung, das Schaffen und Bestellen von Decorationen und musikalischen Begleitungen, ein Publicum, das selbst an den Aufführungen betheiligt war und für Alles, was hinter den Coulissen vorging, den regsten Antheil zeigte: das ersetzte reichlich den mangelnden dichterischen Werth dieser leichten dramatischen Waare, welcher der Stempel des Goethe’schen Genies nur mit unkenntlicher Flüchtigkeit ausgeprägt ist.
Desto genialer war damals das Leben des Dichters; sein Verhältniß zu Corona wurde immer inniger. Dem Zusammensein auf den Proben folgte oft ein abendliches Zusammensein in ihrem Hause. In seinem „lieben Gärtchen“ vor’m Thore an der [690] Ilm, in dem alten Häuschen, das er sich repariren ließ, in diesem „engen, gemüthlichen Neste“ war „Crone“ mit ihrer Freundin Probst und ohne dieselbe oft bei Goethe ganze Tage lang, oft bis zur Nacht und ihrem herrlichen Mondscheine. Einmal zeichnete er sie, und noch jetzt ist in seinen Sammlungen das damals von ihm gezeichnete Bild Corona’s erhalten; im Winter vergnügte er sich mit ihr auf dem Eise; dann wieder begleitete sie ihn auf einem Ritte nach Ilmenau weit in’s Land hinein. In dem Felsenwerke in den entstehenden Parkanlagen diesseits der Ilm hielt er sich oft mit der Künstlerin und dem Herzoge auf. Wieland traf sie einmal in dieser wunderbar künstlichen, anmuthig wilden Grottenpartie und berichtet darüber: „Beim Grottenmachen trafen wir Goethen in Gesellschaft der schönen Schröterin an, die in der unendlich edeln attischen Eleganz ihrer ganzen Gestalt wie in ihrem ganz simpeln und doch unendlich raffinirten und insidiosen Anzuge wie die Nymphe dieser anmuthigen Felsengegend aussah.“ Ein anderes Mal berichtet Wieland, wie der Herzog, Goethe, die Schröterin dort „offen unter Gottes Himmel und in den Augen aller Menschen, die da von Morgens bis in die Nacht ihres Weges vorübergehen“, ihr Wesen treiben.
War die Liebe Goethe’s zur schönen Corona nur eine seiner „Miseleien“, wie sie vorübergehende Liebschaften in der Zigeunersprache des Hofgenies nannten? Der Frau von Stein suchte es der Dichter einzureden; doch die scharfblickende Frau ließ sich nicht täuschen; sie fühlte, daß sie ihre Herrschaft über das Herz des Dichters jetzt theilen mußte. Anfangs sah sie einmal Corona mit Goethe und dem Herzoge bei sich zu Tische; später scheint sie alle persönlichen Beziehungen zu der Künstlerin aufgegeben zu haben. Schon im April 1777 zeigte sich die Eifersucht der Frau von Stein so rege, daß Goethe ihr schrieb: „Ich kann nichts thun, als Sie im Stillen lieben. Ihr Betragen zu denen andern Sachen, die mich plagen, macht mir so einen seltsamen Druck auf die Seele, daß ich muß suchen mich loszureißen.“ Immer von Neuem bekannte er ihr, daß er sie sehr lieb habe. Im October 1777 schrieb er ihr: „Warum das Hauptingrediens Ihrer Empfindungen neuerdings Zweifel und Unglaube ist, begreif’ ich nicht. Das ist aber wohl wahr, daß Sie Einen, der nicht festhielte in Treue und Liebe, von sich wegzweifeln und bannen könnten.“
Corona’s hohe Gestalt und ihre Begabung für plastische Darstellung, durch welche sie die Vorläuferin einer Schröder-Devrient war, konnte in den kleinen Singspielen und Possen des Liebhabertheaters nicht zur vollen Geltung kommen. Das fühlte Goethe und so hatte er schon in den Schwank „Die Empfindsamen“ ungebührlicher Weise ein Monodrama, „Proserpina“, eingelegt, in jenem freien, rhythmischen Schwunge gehalten wie Prometheus und der Künstlerin Gelegenheit bietend zu edler großer Deklamation und dem Adel plastischer Pantomime. Für die Freundin dichtete er aber auch seine erste „Iphigenie“, welche von Corona wunderbar hinreißend dargestellt wurde. Frau von Stein gab die geistigen Züge zu dem Charakter; Corona’s edle Gestalt und ernste Grazie schwebte dem Dichter für das äußere Bild der jugendschönen Priesterin vor. Und so entstand aus der Doppelliebe des Poeten die herrliche Dichtung „Iphigenie“. Später, als im Tiefurter Parktheater das Schattenspiel „Minerva’s Geburt, Leben und Thaten“ zur Aufführung kam, stieg Corona Schröter, nur von leichtem Gazeflor umhüllt, als Minerva aus dem Götterhaupte in wunderbarer Schönheit – und umkränzte dann den Namen Goethe, der in den Wolken strahlte. Auch war Corona die erste Sängerin, von welcher der Erlkönig gesungen wurde, als das Wasserdrama „Die Fischerin“ unter freiem Himmel an der Ilm zur Aufführung kam.
Eine der beiden Herzensköniginnen des Dichters mußte zuletzt den Sieg davontragen. Als der Triumph der Iphigenie ein geistiges Band um Dichter und Künstlerin schlang, welches für Frau von Stein auf’s Höchste bedrohlich erschien, da ließ die anmuthige und geistreiche Frau, wie Robert Keil in seiner Schrift behauptet und zu beweisen sucht, jede Zurückhaltung fallen, um den Dichter ganz zu sich zurückzuführen. Im Jahre 1781 wurde das Verhältniß ein glühendes und leidenschaftliches.
Die Liebe Goethe’s hatte Glanz in Corona’s Leben gebracht; von jetzt ab trat sie immer mehr in den Schatten. Das Liebhabertheater hörte 1783 auf zu existiren; Corona betrat nie mehr die Bühne. Sie blieb als Kammersängerin in Weimar, lebte den Künsten der Musik und Malerei und bildete junge Talente für die Bühne heran. Schiller, der sie 1787 kennen lernte, meinte, sie müsse in der That sehr schön gewesen sein; übrigens dünke sie ihm ein höchst gewöhnliches Geistesproduct und sie scheine von der Kunst sehr genügsame nüchterne Begriffe zu haben. Später urtheilte er günstiger; er rühmte ihre Natürlichkeit, ihren sehr guten Vortrag und bekannte, daß er mit ihr auf einem ganz charmanten Fuße stehe. Corona lebte längere Zeit in einem allen Nachrichten zufolge platonischen Liebesverhältnisse mit dem Kammerherrn von Einsiedel, einem Dichter von Operetten, in denen die Sängerin geglänzt hatte. Einsiedel war von erstaunlicher Gutmüthigkeit, hatte ein gefälliges ansehnliches Aeußere, eine ziemlich hohe Gestalt, eine bedeutende Stirn, lebhafte Augen, eine geistvolle Freundlichkeit und war der verbindlichste Freund seiner Freunde. Corona hat ihn einmal portraitirt. Von ihren Schülerinnen war Christiane Amalie Käthe Neumann, die Frühverstorbene, die Goethe in seiner „Euphrosyne“ gefeiert hat, die bedeutendste.
Schwer an einem Brustleiden erkrankt, zog sich Corona nach dem einsamen Waldstädtchen Ilmenau zurück, von wo sie dann und wann nach der Residenzstadt an der Ilm kam und durch ihre Vorträge die Salons erfreute. Am 23. August 1802 starb sie, und wurde einsam begraben; nur der wackere Knebel begleitete den Sarg.
Goethe widmete ihr einen kühlen Nachruf in seinen Annalen. Hatte er ihr doch früher in dem schönen Gedichte auf Mieding’s Tod einen, wie der Herzog Karl August selbst sagt, unverwelklichen Kranz gewunden:
Ihr Frauen, Platz! Weicht einen kleinen Schritt!
Seht, wer da kommt und festlich näher tritt!
Sie ist es selbst, die Gute fehlt uns nie;
Wir sind erhört – die Musen senden sie.
Ihr kennt sie wohl: sie ist’s, die stets gefällt:
Als eine Blume zeigt sie sich der Welt.
Zum Muster wuchs das schöne Bild empor,
Vollendet nun; sie ist’s und stellt es vor.
Es gönnten ihr die Musen jede Gunst,
Und die Natur erschuf in ihr die Kunst.
So häuft sie willig jeden Reiz auf sich.
Und selbst Dein Name ziert, Corona, Dich.
Sie tritt herbei. Seht sie gefällig stehn!
Nur absichtslos, doch wie mit Absicht schön,
Und hocherstaunt seht ihr an ihr vereint
Ein Ideal, das Künstlern nur erscheint.“
Rückerinnerungen an das fünfte deutsche Bundesschießen in Stuttgart.
Wir saßen an einem herrlichen Junitage in dem Gärtchen eines bescheidenen Wirthshauses in einem Dorfe des Heilbronner Oberamts beisammen. Der Ort erfreut sich durch seinen vortrefflichen Wein einer gewissen Berühmtheit im Lande Württemberg nicht nur, sondern auch im benachbarten Baden, und wenn man im Herbst zum „Weinkauf“ in’s „Unterland“ wandert, so hält es mitunter schwer, in unserem Dörfchen ein Unterkommen zu finden, denn Alles strömt hierher, um sich einige Eimer von dem dortigen Rothen „einzuthun“. Es ist ein prächtiges Getränk, dieser Rothe, und wir ließen uns denselben mit um so freudigerem Gefühl munden, als wir vom Wirth erfuhren, von diesem Wein sei eine ganz bedeutende Quantität für das „Schützenfest“ eingekauft worden. Wir tranken also den Schützenwein schon vor dem Fest und leerten unsere Gläser auf das Wohl des Vorstandes des Wirthschaftscomités, der in treuer Sorgfalt und mit bewährter Fachkunde bei Zeiten für einen guten Trunk Sorge getragen hatte.
Der Schützenwein brachte uns auf das bevorstehende Fest selbst. Noch hatte der Berliner Magistrat sich nicht mit der Frage einer Ehrengabe beschäftigt, und die „Norddeutsche Allgemeine [691] Zeitung“ hatte dem deutschen Volke noch nicht die bekannte Vorlesung über den Werth, die Berechtigung und die Bedeutung der deutschen Schützenfeste gehalten. In gemüthlicher Harmlosigkeit freuten wir uns der Fortschritte, welche die Vorbereitungen zum Feste machten, und wie Kinder waren wir an jenem Nachmittage glücklich in der Gewißheit, daß unsere Gäste wenigstens einen trefflichen, „gesunden“ Wein erhalten werden. Das Andere, so meinten wir, werde sich schon finden. Erst ein junger Gelehrter, welcher zu unserer Gesellschaft gehörte, berührte die politische Seite des Festes und konnte dabei einige skeptische Bemerkungen nicht unterdrücken. Einstimmiger Widerspruch unterbrach seine Standrede, und wie aus einem Munde riefen wir. „Wir wollen, wir brauchen keine Politik; das Schützenfest soll ein deutsches, ein nationales Volksfest werden – nichts mehr und nichts weniger.“ Und so kam es auch.
Das Fest ist vorüber, der Jubel verklungen, und mit Büchse und Stutzen sind die Schützen zurückgekehrt an den heimischen Herd. Mögen sie nun die Feststadt als Sieger im feierlichen Waffenspiel verlassen haben oder nicht, männiglich werden sie sich gelabt haben an dem Stück deutschen Volkslebens, welches ihnen Schwabens Hauptstadt geboten; neugekräftigt und neubelebt wird der heimgekehrte Schütze der in Stuttgarts Mauern verlebten Festtage gedenken, während welcher wir uns so recht als „ein einig Volk von Brüdern“ fühlten, einig durch Denkart und Gesittung. Wir haben in der That ein deutsches, ein nationales Volksfest begangen.
Die großartige Anlage des ganzen Festes, welche namentlich den Schützen aus der Schweiz imponirte, wurde gewissermaßen schon durch die Lage Stuttgarts hervorgerufen; die schwäbische Residenz, nach Leipzig der bedeutendste Platz für den deutschen Buchhandel, das Heim so vieler Dichter und Künstler, mußte auch in künstlerischer Hinsicht den lieben Gästen aus Alldeutschland, Oesterreich und der Schweiz etwas bieten, das der Rede werth war. Und das Festcomité, an dessen Spitze der verdiente Professor Dr. Blum stand, hat hier des Guten vielleicht sogar zu viel gethan. Man war, auch in den Schießständen, auf einen so ungeheuren Besuch des Festes nicht gefaßt, eine so rege Theilnahme hatte man nicht vorhergesehen. So kam es, daß gerade diejenigen Punkte des Festprogramms, auf welche von Seiten des Festcomités eine ganz außerordentliche Sorgfalt und Mühe verwendet worden war, die Concerte und die Darstellung der lebenden Bilder, unter der wahrhaft massenhaften Ansammlung des Publicums Noth litten. Bei der am dritten Festtage stattgehabten großen Gesangsproduction sämmtlicher Stuttgarter Sängergesellschaften z. B., gerade da, wo die Macht des deutschen Liedes auf sämmtliche Festgenossen wirken sollte, erwies sich die geräumige, über viertausend Personen fassende Festhalle als nicht ganz genügend. Die Düsseldorfer, welche das sechste deutsche Bundesschießen abhalten werden, mögen sich dies merken!
Abgesehen aber hiervon – und der berührte Punkt darf gewiß als ein untergeordneter bezeichnet werden – abgesehen hiervon war das Fest vom ersten bis zum letzten Tage wohl gelungen. Welche Freude herrschte in der „rebumkränzten“ schwäbischen Residenz, daß der Himmel, welcher noch am Tage zuvor, beim Einzug der Festgäste, düster und trübe auf die geschmückte Stadt herabsah, sich am Morgen des 1. August aufhellte, daß der Festzug vom herrlichsten Wetter begünstigt war und daß es den Schützen gleich am ersten Tage in Schwabens gemüthlicher Hauptstadt wohlgefiel! Und so ging denn auch der von Adolf Grimminger in seinem den Schützen gewidmeten Willkommgruß ausgesprochene Wunsch in schönste Erfüllung:
„Grüß Gott aus Herzensgrund, ihr Manne,
Mög’s g’fallen Euch im Schwobeland!“
„Uf daß der Spruch aus alte Zeite:
‚Freund, hie gut Würteberg allweg,‘
Wie sonscht, au jetzt, von schönschter Seite,
Als kernhaft sich bewähr die Däg.“
Selten ist ein Festzug, ein so großer Festzug, wie derjenige war, welcher sich am 1. August durch Stuttgarts Straßen bewegte, so tadellos, so glatt von Statten gegangen. So glatt! Damit soll und kann durchaus nicht gesagt sein, daß sich derselbe blos in militärischer Strammheit, wie er „auf dem Papiere“ stand, „abwickelte“ – nein, es war Leben in den Massen; es war Feuer und Begeisterung in den Zuschauern; es herrschte Jubel und Freude und dennoch die schönste Harmonie, die trefflichste Ordnung.
Erhebend war der feierliche Act der Uebergabe der Bundesfahne. Lauter Zuruf folgte den Worten des Syndicus Albrecht aus Hannover, dem früheren Vorort des deutschen Schützenbundes. „Wir bringen das Bundesbanner,“ so hieß es in seiner kernigen Ansprache an den Ehrenpräsidenten des Centralcomités, Herzog Eugen von Württemberg, „als Symbol der deutschen Einheit und Wehrkraft vom Norden zum Süden in das schöne Schwabenland, das sang- und sagenreiche Land der deutschen Dichter und Denker, in die Heimath Schiller’s und Uhland’s. Hier wird von einem treuen, deutschen Volksstamme dieses Wahrzeichen der Kraft und Größe, der Ehre und Freiheit des Vaterlandes in sicherer Hut gehalten werden.“ Kurz, knapp, aber von heißer Vaterlandsliebe durchglüht und auf die Zuhörer mächtig wirkend war die Antwort des Herzogs; namentlich wurde die Ansprache bei folgenden Worten von brausendem Jubel unterbrochen: „Wie wir uns heute um dieses Banner zum frohen Feste schaaren, so wollen wir auch einst, wenn das Vaterland seine Söhne zum ernsten Kampfe ruft, uns Mann für Mann um seine Fahnen drängen und durch die That beweisen, daß wir sind ein einig Volk von Brüdern.“ Solche Worte aus diesem Munde – wie kann man da noch daran zweifeln, daß das Fest ein patriotisches, ein echt nationales war, werden mußte. In gleichem Sinne sprach sich der Oberbürgermeister Dr. Hack aus, als er die Fahne aus den Händen des Herzogs in Empfang nahm.
Die bei der Uebergabe der Bundesfahne gesprochenen Worte voll Patriotismns und von echt nationalem Gepräge tönten wieder in sämmtlichen Reden, welche in den neun Festtagen in der Festhalle gehalten wurden. Mochten draußen die Parteien aufeinander platzen und sich feindlich gegenüber stehen, hier war man Eins und fühlte sich Eins. Auch unsere Gäste aus der österreichisch-ungarischen Monarchie, aus den Bergen und Thälern der freien Schweiz und vollends unsere Brüder aus Amerika, welche zur Verherrlichung des Festes von weit jenseits des Oceans herbeigeeilt waren – sie Alle freuten sich des einmüthigen Sinnes, welcher Alle beherrschte, und der Liebe zum einig gewordenen großen Vaterlande, welche sich allenthalben kundgab.
Mit vereinten Kräften suchte die Bevölkerung Stuttgarts den Gästen das Beste zu bieten, was sie hatte. Und worin der Glanzpunkt des ganzen Festes bestand? Hierauf wird wohl Jeder, der demselben beigewohnt, die Antwort schuldig bleiben. Es wird ihm die Wahl schwer werden zwischen der Fahrt nach dem Hohenzollern, den täglichen Concerten, dem Festzuge, Festbankett und dem im glänzenden Königsbausaale abgehaltenen Festball. Hier zeigte sich den wackeren Schützen der blühende Damenflor der schwäbischen Hauptstadt, und man konnte bei dieser Gelegenheit die Wahrnehmung machen, daß das sichere, scharfe Auge der Schützenbrüder auch künstlerisch geübt ist und nicht blos auf Stand- und Feldfestscheiben, sondern auch auf Frauenherzen zu zielen im Stande ist.
In den Schießständen herrschte vom zweiten Festtage an das regste Leben und Treiben. Schon am frühen Morgen des 2. August, an welchem der Wettkampf seinen Anfang nahm, war, natürlich von einem Schweizer, der erste Becher gewonnen; die Schweizer sind nun einmal professionirte Schützen; mit Leib und Seele sind sie bei der Arbeit, und die Dinge außerhalb der Schießstände kommen für sie erst in zweiter und dritter Linie. Sie bewachen ihn aber auch treu, ihren Schützenruhm, und haben sich bei unserem Bundesschießen mit weiser Eintheilung zwischen Arbeit und Festgenuß den Löwenantheil an den Ehrengaben gesichert. Aber auch die deutschen und österreichischen Schützen rangen in edlem Wetteifer miteinander; in der Nähe der Schießhalle glaubte man vom frühen Morgen bis zur anbrechenden Dunkelheit ein fortwährendes Pelotonfeuer zu vernehmen. Alte, erfahrene Schützen, Männer, welche noch auf keinem Schützenfeste fehlten, versicherten, daß sie einem solchen Feuereifer in den Schießständen noch niemals begegneten.
Das Fest ist verrauscht. Längst hat die Feststadt ihr Werktagskleid angelegt, und in den Comités ist man mit Abrechnungen und ähnlichen Arbeiten beschäftigt. Ueber die einzelnen „programmmäßigen“
[692][694] Festlichkeiten, ferner über die Festhalle, den Gabentempel und die einzelnen Toaste. Empfangs- und Abschiedsfeierlichkeiten haben die Tagesblätter und diejenigen Zeitschriften, welchen durch ihre kleinere Auflage ein rascheres Erscheinen als der „Gartenlaube“ möglich gemacht wird, zur Genüge berichtet. Bei der Schnelligkeit, mit der in unserer Zeit sich die Ereignisse folgen, fängt das Schützenfest sogar schon an, zu den „abgethanen“ Dingen zu gehören. Unsere Aufgabe konnte darum nur darin bestehen, in allgemeinen Umrissen ein gedrängtes Bild von dem Feste zu geben und nach dem Verhallen des Festjubels die Erinnerung an das große fünfte deutsche Bundesschießen in Wort und Bild festzuhalten.
Als ein alter Sonderling vor zwei Jahren starb und der Stadt Genf eine Anzahl Millionen und eine recht hübsche Diamantensammlung vermachte, wie wunderte sich da alle Welt! Der alte Sonderling, der einer Republik seine Schätze hinterließ, war nämlich in seiner Jugend ein Tyrannunculus vom reinsten Wasser gewesen, so ein kleiner Tiberius an der Oker; mit einem Worte, es war, wie männiglich weiß, der Erzherzog Karl von Braunschweig, welchem am 7. September 1830 mit seinem vom Volke in Brand gesteckten Schlosse aus dem Lande geleuchtet wurde. Der Herzog ging nach seiner Vertreibung nach Paris, wurde dann Demagoge in London und im Jahre 1851 Actionär am Staatsstreiche Louis Napoleon’s. Bei der Gründung des zweiten Kaiserreiches in Frankreich kam er um seine Dividende, denn Napoleon, der dem Herzog versprochen hatte, ihn wieder auf den Thron Heinrich’s des Löwen zu bringen, hielt von seinem Versprechen, was er gewöhnlich zu halten pflegte, das heißt gar Nichts, und Herzog Karl zog sich schließlich grollend nach Genf zurück, wo er starb und die Republik als seine Erbin einsetzte, eine Handlung, welche selbst die lachende Erbin nicht umhin konnte, excentrisch zu nennen.
Nun wohl, dieser durchlauchtige Sonderling war es auch, der das Meisterwerk Goethe’s, den Faust, auf die deutsche Bühne brachte. Das große Publicum glaubt freilich, Goethe selbst habe in Weimar die Initiative der Ausführung seiner Faustdichtung ergriffen. Dem ist aber nicht so. Vielmehr ist die Thatsache, daß der Goethe’sche Faust auf die Theaterzettel kam, ebenfalls eine jener Excentricitäten des „Diamantenherzogs“.
Es war am 31. October im Jahre 1828. Man gab im Hoftheater ein Stück, welches den Titel führte: „Faust. Dramatische Legende in fünf Acten“. Der Theaterzettel nannte den Namen des Autors nicht. Der Verfasser war der um die deutsche Bühne hochverdiente Dr. August Klingemann, der damalige Director des herzoglich braunschweigischen Hoftheaters. Das Stück selbst, welches in Klingemann’s dramatischen Werken zu lesen ist, darf allerdings keinen Anspruch auf genialen, poetischen Schwung machen, aber es ist eine recht gute und geschickt praktische „Zauberkomödie“ und fand den Beifall des braunschweiger Publicums, vor Allem aber den Serenissimi.
Der Herzog war überhaupt, was man „ein Theatermann“ zu nennen pflegt. Oft sah man ihn während der Vorstellungen auf der Bühne, hinter den Coulissen, wo er das Spiel der Darsteller mit heftigen Bewegungen begleitete. Seine Günstlinge wählte er aus der Zahl der Schauspieler, und daß die Damen vom Theater das Contingent der Günstlinginnen stellten, ist auch bei anderen regierenden Herrschaften nichts Neues. War der Vorhang längst gefallen, so sah man den Herzog noch auf den weltbedeutenden Brettern, wo er mit Klingemann, Marr oder Größer – diesen letzten Beiden hatte Karl damals auf kurze Zeit seine Gunst zugewendet – auf und ab promenirte, von Theaterangelegenheiten plauderte und diese Unterhaltungen oft bis lange nach Mitternacht ausdehnte.
An jenem Abende des 31. Octobers 1828 kam Karl enthusiastisch auf Klingemann zugeeilt, klopfte ihm auf die Schulter und rief in seiner kurz abstoßenden Weise. „Bravo! – Bravo, alter Herr! – Haben Sie gut gemacht!“
Klingemann verbeugte sich ehrerbietigst.
„Ja!“ fuhr der Herzog fort, „famoses Stück! – Mich prächtig amüsirt! Gut gemacht, alter Herr!“
Worauf Klingemann:
„Durchlaucht, es ist kein Goethe’scher Faust.“
„Goethe? Goethe?“ fragte Serenissimus, „hat Goethe auch einen Faust geschrieben? „Müssen mal geben!“
Klingemann prallte zurück.
„Durchlaucht, der Faust von Goethe ist allerdings eine dramatische Dichtung, aber nicht für die Bühne geschrieben.“
„Warum nicht? Was meinen Sie, Marr?“
Marr zuckte die Achseln und bestätigte die Meinung Klingemann’s.
„Wollen den Faust von Goethe geben,“ nahm der Herzog wieder das Wort.
„Aber Durchlaucht,“ stammelte Klingemann, „halten zu Gnaden, die ganze Anlage dieser großartigen Dichtung –“
Der Herzog war ärgerlich über den Widerspruch, den er fand, und unterbrach den Sprecher heftig:
„Ich sage Ihnen, wollen Goethe’s Faust geben. Mir morgen das Buch schicken! Will’s selbst lesen.“
Damit rannte der Herzog fort, fuhr in sein Schloß und ließ den verblüfften Director stehen.
„Grundgütiger Himmel!“ – es war dies Klingemann’s Lieblingsausruf – stöhnte der Director, nachdem der Herzog fort war. „Das wird eine schöne Geschichte werden. Was meinen Sie, Marr?“
„Schicken Sie ihm das Buch, Herr Director! Wahrscheinlich liest er es gar nicht und hat die Sache bis morgen längst vergessen.“
„Wenn er es nicht liest, dann setzt er erst recht seinen Kopf auf. Ich wollte, er läse es wenigstens. Es ist ja rein unmöglich –“
„Unmöglich,“ meinte Marr, „ist es nun gerade nicht, aber wie ist das Gedicht für die Bühne zusammenzustreichen, wie werden die Scenen zu arrangiren sein? Und wie wird das Publicum es aufnehmen?“
Man sprach über das Faustthema noch lange hin und her, und am anderen Morgen, bevor noch der Herzog das Bett verlassen hatte, war der Theil von Goethe’s Werken, welcher den „Faust“ enthält, im herzoglichen Schlosse.
Schon um elf Uhr brachte ein herzoglicher Lakai das Buch zurück. Es war mit der Randbemerkung versehen: „Wird aufgeführt. Karl.“
Mit dem üblichen „Grundgütiger Himmel!“ stürzte Klingemann in Marr’s Wohnung und theilte diesem den herzoglichen Kunstukas mit. Marr, der sich inzwischen mit dem Gedanken an die Darstellung bereits vertraut gemacht, hatte die Besetzung schon entworfen. Den Faust sollte Schütz geben, derselbe, welcher etwa fünfundzwanzig Jahre später Director des braunschweigischen Hoftheaters wurde. Marr würde den Mephisto spielen, Frau Berger, eine vortreffliche tragische Liebhaberin, das Gretchen etc. So gratulirte Marr Klingemann zu dem Ereigniß und zu dem Ruhme, der Bearbeiter des Goethe’schen Faust zu werden.
Der ängstliche Klingemann aber zitterte noch immer vor dem Wagniß. Er schrieb an Goethe nach Weimar einen unterwürfigen ausführlichen Brief, in welchem er Seiner Excellenz den Willen des Herzogs mittheilte, aber hinzufügte, er, Klingemann, könne aus Pietät und Verehrung vor dem Dichter die Sache nicht vorsichtig genug anfassen und ersuche deshalb Excellenz von Goethe um seine gütigen Winke und Andeutungen, wie das Werk in seinem, des Dichters, Sinne darzustellen sein dürfte.
Die Posten ließen sich damals Zeit. Nach beinahe vierzehn Tage erst traf die Antwort Goethe’s ein; der Brief, den wir selbst seiner Zeit gelesen haben, ist leider verlegt worden. Er lautete übrigens fast wörtlich:
„Euer Wohlgeboren!
Die Antwort auf Ihr Schreiben vom 4. November, daß meine Werke im Druck erschienen und Gemeingut des Publicums geworden sind. Ich füge hinzu, daß ich mich seit langer Zeit
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gar nicht mehr um das Theater bekümmere, machen Sie daher mit meinem ‚Faust‘, was Sie wollen!Diese kalt ablehnende Zugeknöpftheit Goethe’s erregte unter den Mitgliedern des herzoglichen Hoftheaters einen wahren Sturm der Entrüstung, und es wurden in der Hitze sogar Vorschläge gemacht, die sich der öffentlichen Wiedergabe entziehen. –
In dieser verletzenden Weise von Goethe abgewiesen, machte sich Klingemann auf eigene Hand an’s Werk und stellte die treffliche Bearbeitung des „Faust“ her, wie sie noch heute auf allen Bühnen feststeht.
Am 19. Januar 1829 wurde der Goethe’sche „Faust“ zum ersten Male an der braunschweigischen Hofbühne aufgeführt.
Der Erfolg war ein durchschlagender. Es ist fast unbegreiflich, wie eine kunstgeschichtliche Thatsache von solcher Bedeutung nicht längst zur Kenntniß des internationalen Publicums gelangen konnte. Der Glaube, daß Goethe selbst es gewesen sei, der seinen „Faust“ zuerst in Weimar auf die Bühne brachte, existirt sogar noch bei vielen unserer jüngeren Schauspieler. Wir haben hier gezeigt, daß Goethe der Bühnendarstellung seines Meisterwerkes eher Hindernisse bereitete, als dieselbe förderte. Nach dem Erfolge freilich war Goethe loyal genug, die Klingemann’sche Bearbeitung des „Faust“ anzuerkennen. Braunschweig aber hat, dank einer Marotte seines excentrischen Herzogs Karl, das Verdienst, den „Faust“ von Goethe zuerst auf’s Theater gebracht zu haben. Marr wählte die Rolle des Mephisto zu allen seinen Gastspielen, und trug dadurch nicht wenig dazu bei, das Werk dramatisch populär zu machen. –
Nach dem Braunschweiger Erfolge fühlte sich Goethe denn doch veranlaßt, aus seiner Indolenz dem Theater gegenüber wieder herauszutreten. Am 29. August 1829, also etwas über sieben Monate nach der Braunschweiger Aufführung, wurde „Faust“ im Hoftheater zu Weimar gegeben. Herr Durand gab die Titelrolle, Karl von La Roche den Mephisto, Fräulein Karoline Lortzing das Gretchen. Die Vorstellung wurde aber erst am 7. November desselben Jahres wiederholt, und die dritte Aufführung fand erst am 17. November 1832 statt. In Braunschweig war Goethe’s „Faust“ dagegen ein Repertoirestück geworden.
In Hamburg fand die erste Faust-Aufführung am 29. Juni 1831 statt. Unsere zahlreichen Hamburgischen Leser dürfte die damalige Rollenbesetzung des Stückes interessiren. Sie war wie folgt:
Faust: Herr Schütz; Mephistopheles: Herr Marr (Beide als Gäste vom Braunschweigischen Hoftheater); Wagner: Herr Dupré; Margarethe: Demoiselle Le Gaye; Valentin: Herr Fehringer; Frau Martha: Madame Marschall; Brander: Herr Gloy; Frosch: Herr Lebrun; Altmayer: Herr Hollmann, der Aeltere; Siebel: Herr Mädel; Ein Schüler: Herr Mentschel; Eine Hexe: Madame Klengel; Ein böser Geist: Madame Lebrun; Der Erdgeist: Herr Lenz.
Das Feld der Reclame war in den zwanziger und dreißiger Jahren noch nicht so beackert, wie es heute ist. Durch die Presse schallten keine Posaunenstöße. Klingemann’s Verdienste um die Inscenirung werden noch heute an vielen Bühnen dadurch geehrt, daß man seinen Namen auf dem Zettel unsichtbar bleiben läßt, während der Name des zeitweiligen Regisseurs mit fetter Schrift sich wichtig macht. Auch hat in neuerer Zeit eine gewisse Arrangeurwuth Platz gegriffen, über die es erlaubt ist, verschiedene Aussichten zu haben. Wir haben die Faust-Tragödie schon mit einem solchen Aufwande von scenischen Aeußerlichkeiten gesehen, daß man versucht war, das Werk „Automaten und Nebelbilder. Mit Text von Goethe“ zu nennen.
Hat nun der Exherzog Karl von Braunschweig der Stadt Genf sein Geld und seine Diamanten hinterlassen, so hat seine Excentricität dem deutschen Theaterpublicum ebenfalls zu einem Juwel verholfen, und dieses Juwel heißt: Goethe’s Faust auf der Bühne.
Der schottische Windhund. (Mit Abbildung Seite 685.) Der schottische Windhund oder Deerhound[2] ist eine der ältesten Hunderacen der britischen Inseln, und seine directe Abstammung von dem großen, nunmehr fast ausgestorbenen Irischen Wolfshunde ist nicht zu bezweifeln. Er war der Jagdhund der alten Kelten, während die Sachsen und Normannen den schwerfälligen Talbot oder Bluthund und den glatthaarigen Windhund einführten. Mit der Ausrottung der Wölfe auf den britischen Inseln ward der Wolfshund in Irland überflüssig und verschwand allmählich; im schottischen Hochlande fand er mit der zunehmenden Entwaldung des Landes als Deerhound Verwendung, indem er zum Hetzen des zahlreichen Rothwildes auf den weiten kahlen Bergen und Haidestrecken benutzt wurde.
Der heutige Deerhound ist immer noch eine stattliche Erscheinung von achtundzwanzig bis zweiunddreißig Zoll englisch Schulterhöhe. Von unserem gewöhnlichen Windhunde, und selbst von dessen rauhhaariger Varietät, unterscheidet sich der Deerhound in mancher Beziehung. Die größere Breite des Oberkopfes zwischen den Ohren, das große, schwarze Auge, der starke, mit einem vorspringenden Knebelbart gezierte Unterkiefer geben seiner Physiognomie einen ganz eigenthümlichen Ausdruck. Der lange, hagere Hals erweitert sich nach unten allmählich und geht unmerklich in den colossal entwickelten, tief hinabreichenden Brustkorb über. Der Rücken ist in der Nierengegend breit und leicht gekrümmt, die Hinterschenkel oft in ganz auffallender Stärke entwickelt. Mit Ausnahme der kurz und seidenweich behaarten Ohren ist das Haar am ganzen Körper zottig, rauh und von harter, drahtartiger Beschaffenheit, an der Unterseite der langen dürren Ruthe eine zerrissene Feder bildend. Der Fuß ist kurz, rund, mit derber Sohle. Die Färbung entweder röthlichgrau, sandgrau oder eisengrau, häufig mit weißlichem Bruststreif. Exemplare mit schwarzen Ohren, Nase und Augen, bei abweichender Färbung des übrigen Körpers, sind sehr geschätzt. Der Preis eines guten Exemplares variirt zwischen vierzig bis hundert Pfd. Sterl.
In früherer Zeit ward die Hetze mit dem Deerhound folgendermaßen ausgeübt. Der Jäger schlich sich – gefolgt von zwei aufgekoppelten Hunden – möglichst nahe unter Wind an das Wild und löste dann die Hunde, welche den Hirsch bald überholten und am Halse oder hinter den Schultern zu fassen suchten. Diese ersten Angriffe pflegte der Hirsch leicht abzuschütteln, bei zunehmender Ermüdung aber suchte er das nächste Wasser zu erreichen, wo er die Hunde mit dem Geweih leicht zurückweisen konnte. Die Hunde begnügten sich indeß meist damit, den Hirsch unter fortwährendem Lautgeben zu umkreisen, bis der Jäger herankam und den Hirsch entweder todtschoß oder in einer solchen Richtung aus seinem Asyl trieb, daß er die Hunde beim Fortstürmen nicht überrannte oder mit dem Geweih forkeln konnte. Die Hunde faßten den fliehenden Hirsch dann meist von der Seite und zogen ihn nieder, worauf ihn der Jäger mit dem Hirschfänger abfing.
Diese eigentlichen Hetzjagden finden nur noch selten Anwendung. Die meisten Hirschjäger ziehen es vor, das Rothwild mit der Büchse zu pürschen (to stalk, und der Deerhound wird erst nach dem Schusse, und nur dann auf das Wild gehetzt, wenn dasselbe noch flüchtig fortgeht. Der Deerhound folgt dem Wilde allerdings zumeist nach dem Gesicht, indeß braucht er die Nase doch bei Weitem mehr als der gewöhnliche Windhund. Man hat ihn daher in neuerer Zeit mit dem Fuchshunde gekreuzt, in der Absicht, seine Nase noch mehr zu verbessern und ihn auch auf „kalter Fährte“ gebrauchen zu können. Eine weitere Kreuzung mit dem schottischen Schäferhunde (Collie) ist ebenfalls häufig versucht. Der Zweck dieser Kreuzung ist für uns schwer verständlich, wenn man nicht etwa hofft, die den meisten Deerhoundzuchten erblich anhängende Neigung zum Anfallen der Schafe dadurch auszumerzen.
In Folge dieser Kreuzungsversuche war die reine Deerhoundsrace schon vor längeren Jahren fast verschwunden und nur noch im Besitze der Königin und einiger alter Adelsfamilien in Schottland. Inzwischen aber haben die großen Grundbesitzer Schottlands herausgefunden, daß sie ihre weitläufigen Territorien gar nicht besser verwerthen können, als wenn sie die – früher als Schafweide verpachteten – Districte wieder mit Rothwild bevölkern und als „Shooting-ground“ an reiche Engländer auf fünf bis sechs Jahre gegen ganz enorme Geldsummen überlassen. In Folge dieses plötzlichen Umschwunges der Verhältnisse mehren sich die Rothwildgehege im Hochlande in ganz überraschender Weise, und demzufolge ist auch die Liebhaberei für die Deerhoundsrace wieder im Steigen begriffen.
Eine Bitte an deutsche Frauen. Die Grundlage für ein gedeihliches Volks- und Einzelleben ist die Familie, die mit ihren tausendfachen Beziehungen den Menschen an seinen Nebenmenschen kettet. Alle Einrichtungen, die darauf hinauslaufen, Familienglück und Wohlstand zu befördern, haben daher in erster Linie Anspruch auf unsere volle Beachtung. Zu diesen Einrichtungen gehört unstreitig die der Lebensversicherung, welche es bekanntlich Jedem durch Zahlung von jährlichen, halb- oder vierteljährlichen Beiträgen (Prämien) möglich macht, daß nach seinem Ableben einer oder mehreren Personen ein bestimmtes Capital von der Versicherungsgesellschaft ausgezahlt wird. Die verschiedenen Institute versichern Summen von 1000 bis 50,000 Mark und darüber, und mir sind in meiner Praxis doch schon Leute bekannt geworden, die – selbstverständlich bei [696] mehreren Gesellschaften zusammen – auf ihr Leben die Summe von 100,000 bis 200,000 Thaler versichert hatten.
Ganz abgesehen von solchen außergewöhnlichen Fällen ist es doch Pflicht eines jeden Menschen, der einen Hausstand begründet hat oder zu begründen beabsichtigt, dafür zu sorgen, daß sein etwaiges unerwartetes Hinscheiden die Seinigen nicht in die bitterste Noth und Sorge versetzt. Vor ungefähr fünfzig Jahren war eine solche Vorsorge in unserem deutschen Vaterlande kaum ausführbar; unsere drei ältesten deutschen Lebensversicherungsgesellschaften, die zu Lübeck, Gotha und Leipzig, werden erst in den nächsten Jahren in der Lage sein, ihr fünfzigjähriges Bestehen feiern zu können. In dieser kurzen Spanne Zeit hat sich jedoch die Erkenntniß von dem Segen der Lebensversicherung so gewaltig verbreitet, daß ich gegenwärtig in Deutschland die Zahl der versicherten Personen auf 700,000 mit etwa 2 Milliarden Mark Versicherungssumme schätze.
So erfreulich einerseits dieser Fortschritt der guten Sache ist, so ist doch auch andererseits sehr zu beklagen, daß gar Viele davon noch nicht Gebrauch gemacht haben, obwohl es ihnen gewiß schon nahegelegt worden ist. – Man versichert, obgleich man in einer Stadt mit guter Feuerwehr und in einem solid gebauten Hause wohnt, sein Mobiliar gegen Feuersgefahr und thut wohl daran, aber sein Leben zu versichern unterläßt man, obwohl für den gesündesten Menschen die Gefahr, in der Blüthe der Jahre hingerafft zu werden, mindestens zwanzig bis dreißig Mal so groß und noch größer ist, als unter den erwähnten Umständen abzubrennen. – Man sollte doch meinen, daß jeder verständige Mensch zuerst dort seine Vorkehrungen zu treffen sucht, wo die Gefahr am größten ist, daß daher Jeder, der Frau und Kinder zu versorgen hat, ganz aus sich selbst heraus zur Lebensversicherungsgesellschaft kommen müßte, um seinen Antrag zur Versicherung zu stellen. – Wie anders sieht es aber in dieser Beziehung in der Praxis aus!
„Dem Abschlusse einer Lebensversicherung geht stets ein Kampf voraus,“ sagte mir einmal ein überaus tüchtiger Agent. Man wird mich fragen: Wie ist das möglich, wie kann ein verständiger Mensch derartig segensreiche Einrichtungen auch nur einen Augenblick zurückweisen, ja dagegen ankämpfen? – Daß ich es Ihnen nur gleich offen sage: Die schlimmsten Gegner der Lebensversicherung sind bei diesem Kampfe die Frauen. Ja, meine verehrten Frauen, es ist, als ob ein böser Geist Sie dabei regierte, gegen Ihr eigenstes Interesse und das Ihrer Kinder anzukämpfen, wenn Sie den Mann, der Ihre und Ihrer Kinder Zukunft durch eine Lebensversicherung sicher zu stellen beabsichtigt, daran verhindern. Welcher vernünftige Grund kann Sie dabei leiten? Ihr Verstand ist es nicht, sondern eine krankhafte Seite Ihres Gefühlslebens, der Aberglaube. Sollte man es meinen, daß der Aberglaube: wenn der Mann sich versichere, müsse er bald sterben, so weit und so fest, selbst in gebildeten Kreisen verbreitet sei, wie es thatsächlich der Fall ist? – Vor etwa acht Tagen sagte mir ein Herr wörtlich: „Ich werde mich versichern, obwohl ich meiner Frau das Versprechen gegeben habe, es nie zu thun.“ – heiliger Augustinus, Verstand dunkel. Einbildung groß!
Und in solchen Fällen nützen alle vernünftigen Gegenvorstellungen nicht: man will sich nicht belehren lassen.
Ich will hier nur die Erfahrung weiter reden lassen. Der Cantor O., Agent unserer Gesellschaft in dem kleinen Orte L… im Altenburg’schen, schrieb unter’m 13. November vorigen Jahres der Direction folgendes:
„Vor ungefähr drei Jahren forderte ich nach Rücksprache mit Dr. Böhme den jungen Besitzer einer hiesigen Handschuhfabrik, der uns wohl geeignet erschien, zum Beitritt auf; seine junge Frau war mit allem Eifer dagegen. Vor wenigen Tagen haben wir ihn begraben, und seine mittellose Wittwe muß nun das Geschäft verkaufen. Es hatte sich bei ihm ein Leiden ausgebildet, dessen erste Anfänge jedenfalls erst nach dem vertraulichen Urtheile des sehr gewissenhaften Herrn Dr. Böhme sich zeigten.“ –
Ich will zu dieser schlichten Schilderung eines Vorgangs, der sich bei uns tausendmal wiederholt, nichts hinzufügen. Das unglückselige, kurzsichtige Weib muß nun die Folgen ihrer Thorheit tragen.
„Ja,“ sagte mir einst ein tüchtiger Lebensversicherungsinspector, „es passirt mir sehr häufig, daß, wenn ich mit dem Manne wegen Lebensversicherung unterhandle und die Frau merkt, um was sich unser Gespräch dreht, diese mit verweinten Augen umhergeht und mich wie einen Unglücksboten, an dessen Fersen der Tod haftet, betrachtet.“
Kann man sich wohl etwas Alberneres denken als diesen Aberglauben? Was soll das Versichertsein auf den Betreffenden für einen ungünstigen Einfluß ausüben? – Umgekehrt, das Gefühl, die Seinigen versorgt zu wissen, auch wenn die Krankheit einen Ausgang nehmen sollte, den man nicht wünscht und erwartet, kann nur beruhigend und wohlthuend auf den Kranken einwirken. Wie anders, wenn der Kranke an seinem Bette die unversorgte Frau und Kinderschaar sieht! –
Wo sollten überhaupt die Lebensversicherungsgesellschaften bleiben, wenn der Aberglaube Recht hätte, man müsse bald sterben, wenn man sich versicherte; dann müßten über kurz oder lang alle Lebensversicherungsgesellschaften sich bankerott erklären.
Gewiß sterben auch von den eben Versicherten, welche Arzt und Gesellschaft für vollkommen gesund hielten, in Jahresfrist so und so viele. Das ist eben das unbeugsame Gesetz der Natur, dem wir Alle ohne Ausnahme unterworfen sind.
So wurden z. B. bei meiner Gesellschaft, der alten Leipziger Lebensversicherungsgesellschaft, im Jahre 1874 neu aufgenommen 2564 Personen mit 4,242,700 Thalern Versicherungssumme; davon starben noch im Laufe desselben Jahres sieben Personen, eine Versicherungssumme von 8600 Thlr. repräsentirend. Das zeigt aber am schlagendsten, welchen Werth die Lebensversicherung hat und welche Wohlthäterin sie für die hinterbleibenden Familien ist.
Nun, meine verehrten Leserinnen, wollen Sie thun, um was ich Sie bitte? Zerstören Sie in all’ den Kreisen, mit welchen Sie in Berührung kommen, schonungslos den von mir bloßgestellten Aberglauben! Nehmen Sie fürderhin nicht mehr eine feindliche Stellung zur Lebensversicherung ein, sondern suchen Sie diese segensreiche Einrichtung in all’ den Familien zu verbreiten, in denen der Versorger bisher diese heilige Pflicht gegen seine Familie noch nicht erfüllt hat! Sie werden damit viel, viel Gutes stiften.
Kein Viehtransport mehr. Man schreibt uns aus Amerika: „Im Anschluß an den Artikel ‚Der Gerechte erbarmt sich seines Viehes‘ (Gartenlaube, Jahrgang 1874, Seite 546) bin ich im Stande, auf ein neues Verfahren aufmerksam zu machen, das auch in Deutschland, respective in der österreichischen Monarchie, nachgeahmt zu werden verdiente.
Ungefähr um dieselbe Zeit, als die ‚Gartenlaube‘ den angeführten Artikel brachte, machte Herr Bergh, der unermüdliche Vorstand des New-Yorker Vereins gegen Verübung von Grausamkeiten an Thieren, den Vorschlag, Eisenbahnwagen mit Kühlapparaten einzurichten, die Thiere an der Stelle ihrer Weide zu schlachten und das Fleisch, statt der lebendigen Thiere, in solchen Eisenbahnwagen den Großstädten zuzuführen.
Die Idee erwies sich auch als fruchtbar. Ein gewisser Agretti erfand einen ‚Eiscar‘ und erhielt ein Patent darauf, welcher zum Transporte frischen Fleisches dient und sich nun durch zwei Probefahrten bereits bewährt hat. Mittwoch, den 1. September, kam in New-York am Depot der Hudson-River-Eisenbahn ein Zug an, dem ein so eingerichteter Wagen (Car) angehängt war, welcher neun Tonnen frisches Fleisch von Thieren enthielt, welche am vorhergehenden Freitage in Chicago geschlachtet worden waren. Das Fleisch, die Zungen und die Lebern waren in trefflichem Zustande.
Unstreitig sind mit einem solchen Verfahren große Erfahrungen und sonstige Vortheile verbunden, und da so versandtes Fleisch doch in jeder Beziehung zuträglich sein muß, so würde das Publicum selbst, sobald mit einer solchen Einrichtung nur einmal der Anfang gemacht ist, auf eine allgemeine Einführung derselben in seinem eigenen Interesse dringen können, indem es erklärt, nur so transportirtes Fleisch kaufen zu wollen. Die Sache ist übrigens dazu geeignet, ein Object soliden Privatunternehmens zu werden.
Nebenbei erlaube ich mir zu bemerken, daß der Transport in solchen kühlen Behältern nun auch anfängt, in Schiffen eingeführt und auf Früchte ausgedehnt zu werden. Die Amerikaner wissen in der That nicht, was sie mit den vielen Pfirsichen anfangen sollen, die hier so reichlich oder eigentlich noch weit reichlicher wachsen, als die Zwetschen in Süddeutschland. Obwohl die Frucht sich nicht lange hält, will man ihr nun doch einen Markt in Europa eröffnen. Denn am 26. August gingen von Philadelphia aus das Dampfschiff ‚Ohio‘ und andere mit einer Ladung von zweitausendvierhundert Körben ‚Delawarer Pfirsichen‘ ab. Das Zwischendeck des Schiffes ist in einen Refrigerator (Kühler) verwandelt, mit Eis ausgefüttert und mit Windflügeln versehen worden, die beständig einen Strom frischer Luft hineintreiben sollen.
„Deutsches akademisches Jahrbuch“ ist der Generaltitel eines vollständigen Verzeichnisses sämmtlicher in Deutschland, Oesterreich, der Schweiz und den deutschen Provinzen Rußlands befindlichen Akademien der Wissenschaften, Universitäten und technischen Hochschulen, ihrer Mitglieder, Lehrkräfte und Vorstände, welches, nach amtlichen Quellen bearbeitet, mit einem Personenregister versehen und in der bekannten Trefflichkeit und Eleganz des J. J. Weber’schen Verlags ausgestattet, soeben als ein „Erster Jahrgang“ versandt wurde. Geschmückt ist es mit dem Bildnisse des Königs Albert von Sachsen, als des „Rector Magnificentissimus“ der Universität Leipzig. – Nicht blos für den akademischen Gelehrten und Lehrer, dem seine gesammte Collegenschaft von ganz nahe an fünftausend Mann hier vorgestellt wird, sondern für jeden Gebildeten, welchen ein Einblick in den geistigen Reichthum, die Gelehrtenrüstkammern für die Vorwärtskämpfe der Nation mit Stolz und Trost erfüllt, ist dieses Werk eines mühsamen Fleißes als ein zwar trockener, aber dennoch höchst werthvoller Hausschatz zu empfehlen.
„Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin“. Herr Franz Pernet berichtigt, daß er bei Gründung von Birkenwerder, Actien-Gesellschaft für Baumaterial, „durchaus nicht betheiligt ist“, sondern erst, „als die Gesellschaft vollständig constituirt war, von dem Aufsichtsrathe als alleiniger Vorstand gewählt“ wurde.
K. L. in M. Der Verlag der „Anzeigen zur Gartenlaube“ ist längst in die Hände des Herrn Max Leonhard übergegangen, dessen alleiniges Eigenthum dieselben geworden und der damit auch die volle und alleinige Verantwortlichkeit dafür übernommen hat. Wenden Sie sich mit Ihren Beschwerden also an diesen Herrn! Die Redaction der Gartenlaube hat – wie schon oft erklärt – mit allen unserer Zeitschrift beigegebenen Beilagen in keiner Weise zu schaffen und kann ebenso wenig untersuchen, ob die in den Leonhard’schen Beigaben angezeigten Havanna-Cigarren wirklich importirt, die „Reellen Heirathsgesuche“ wirklich reelle und die offerirten „Garantirten Recepte“ zur Anfertigung von Liqueuren und Kunstbutter unzweifelhaft gute sind, wie sie eine Entscheidung darüber abgeben kann und mag, ob die in den buchhändlerischen Beilagen angezeigten Bücher wirklich den Werth haben, den ihnen der betreffende Verleger zuschreibt.
W. U. in L. Das an sich ganz liebe Waldvögelein aus Thüringen kann für diesmal nicht in der Gartenlaube singen.
- ↑ Es kommt uns nicht zu, über dieses vor dem Forum der öffentlichen Meinung längst gerichtete Doppelverhältniß Goethe’s noch ausdrücklich den Stab zu brechen. Zur Entschuldigung desselben ließe sich indessen vielleicht sagen, daß jenes poetische Zeitalter es in Fragen der Sitte und des Herzens nicht allzu genau nahm und daß die Schuld des Einzelnen vielmehr die Consequenz der damaligen gesellschaftlichen Anschauungen war, die sich namentlich in dichterischen Kreisen leider in freiesten Formen fühlbar machten. D. Red.
- ↑ Deerhound (wörtlich: Wildhund), nicht zu verwechseln mit dem im Süden Englands gebräuchlichen Staghound oder Hirschhund. Letzterer ist kein Wind- oder Hetzhund, sondern ein Jagdhund oder Bracke, welcher in ganzen Meuten unter beständigem Lautgeben der Fährte des Wildes mit Hülfe der Nase folgt, während der schottische Deerhound, wie jeder andere Wind- oder Hetzhund, vorzugsweise nach dem Gesichte jagt und bei seiner überlegenen Schnelle das Wild bald überholt und niederzieht.