Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1874)/Heft 47

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[751]

No. 47.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Nach fünfzig Jahren.


Aus den Papieren eines Wohlbekannten.


(Fortsetzung.)


„Nachdem wir etwa vier Wochen lang in dem kleinen alten Schlosse der Tante verbracht hatten, machte sie mir die höchst erfreuliche Mittheilung, daß sie mit mir nach Paris reisen werde. Von dieser Wunderstadt hatte ich mir stets eine wahrhaft märchenhafte Vorstellung gemacht, und doch übertraf sie, als ich sie sah, weit alle meine Erwartungen. Es war mir, als sei ich in ein Zauberland versetzt worden, denn Alles, was ich sah, war mir fremd, neu und wunderbar. Ich schwamm in einem Meere von Entzücken und sagte mir täglich mehrmals, wie sehr ich Recht gehabt, wenn ich im Kloster zu Straßburg geglaubt und erwartet habe, in der Welt draußen sei Alles schön und groß zu finden. Die Tante hatte viele Freunde und Freundinnen in den aristokratischen Kreisen der Hauptstadt, und zu meiner Begeisterung über Paris trug es sicherlich nicht wenig bei, daß viele ältere und jüngere Herren sich beeiferten, mir ihre Huldigungen darzubringen, und mich mit Galanterien überhäuften. Die Tante war freilich auch eifrig bemüht gewesen, wie ich später erfuhr, in ihren Kreisen bekannt werden zu lassen, daß ich eine reiche Erbin sei. Am meisten überrascht von dieser Eröffnung war ich selbst, da mir bisher sorgsamst und vollständig verheimlicht worden war, daß ich ein nicht unbedeutendes Vermögen besitze. Als ich die Tante fragte, warum man mich über meine Vermögensverhältnisse so ganz in Unkenntniß erhalten habe, erhielt ich die Antwort, es sei dies wohlweislich geschehen, um zu verhindern, daß ich stolz und eitel werde, wozu ich, nach der Aussage der Superiorin des Klosters, eine stark ausgeprägte Anlage von der Natur erhalten habe.

Ich wurde dann nach und nach mit den schönsten und kostbarsten Toiletten in der neuesten Mode und mit Schmucksachen aller Art reichlich ausgestattet; die letzteren erhielten für mich zum Theil dadurch einen doppelten Werth, weil sie von meiner Mutter herrühren sollten. Ein kostbares Perlenhalsband, das sie getragen, habe ich oftmals unter Thränen des Schmerzes und der Freude mit Küssen bedeckt.

Nach mehreren Wochen waren endlich alle Vorbereitungen getroffen, und der große Tag erschien, an welchem ich am Hofe eingeführt, dem Könige und der Königin vorgestellt werden sollte. Jede meiner Bewegungen, die ich bei diesem hochwichtigen Ereignisse zu machen, jede Miene, die ich anzunehmen, jeder Schritt, den ich zu thun haben sollte, war lange vorher einstudirt und wiederholt eingeübt worden. Bei aller Freude aber, die ich empfand, konnte ich doch auch ein Gefühl beängstigender Bangigkeit nicht überwinden, das mich jedesmal bei dem Gedanken ergriff: ich soll vor dem Könige von Frankreich erscheinen, zu dessen Größe und Hoheit ich stets nur mit der ehrerbietigsten Verehrung emporgesehen hatte. Mit der gespanntesten Erwartung also und in äußerster Schüchternheit fuhr ich endlich an dem lange voraus bestimmten Tage mit der Tante, die mir nochmals alle ihre Lehren und Empfehlungen wiederholte, in das Königsschloß der Tuilerien. Mit größter Anstrengung nur gelang es mir, das Zittern aller meiner Glieder zu beherrschen, als sich vor uns die Flügelthüren des Saales öffneten, in welchem ich die irdische Majestät sehen sollte. Es war bereits eine zahlreiche und glänzende Gesellschaft vornehmer Herren und Damen dort versammelt, und Aller Blicke richteten sich neugierig und prüfend auf mich. Eine Andere wäre dadurch vielleicht in Verlegenheit gebracht worden, mir dagegen gab dieses Mustern, dem ich ausgesetzt war, mein Selbstgefühl vollkommen wieder. Ich sagte mir, daß alle Anwesenden nur meines Gleichen wären, deshalb hielt ich und benahm ich mich ganz zur Zufriedenheit der Tante, die mir sogar einen anerkennend-ermunternden, stolz-freundlichen Blick zuwarf.

Nach ziemlich langem Warten erschien der König Ludwig der Sechszehnte mit der Königin Antoinette, deren Schönheit ich staunend bewunderte und von der ich meine Blicke auch deshalb kaum abwenden konnte, weil mir sofort ihre täuschende Aehnlichkeit mit meiner Klosterfreundin auffiel. Die Milde und Güte, die aus den Zügen des Königs zu mir sprachen, entzückten mich. Ich hätte vor den Majestäten auf die Kniee sinken mögen, wie ich oftmals vor dem Bilde der heiligen Jungfrau in dem Kloster betend gekniet hatte.

Die Reihe traf endlich auch mich, den Majestäten vorgestellt zu werden, und ich machte die tiefe huldigende Verbeugung – die Hauptsache bei dieser Gelegenheit, wie mir die Tante oftmals versichert hatte – so tadellos, daß ein leises bewunderndes Beifalls-Gemurmel durch den Saal ging und die Tante später mich hoch erfreut dafür küßte. Der König, der meinen Vater persönlich sehr wohl gekannt hatte und ihn hoch in Ehren zu halten schien, sprach zu mir sehr freundlich von ihm.

‚Ich werde mir angelegen sein lassen,‘ sagte er, ‚der Tochter des Hochverdienten einen passenden Gemahl zu suchen. Das junge Herz ist doch noch frei?‘ setzte er mit Lächeln fragend hinzu.

Ich fühlte, daß meine Wangen glühten, und verbeugte mich statt aller Antwort tief und schweigend. Dem Könige irgendwie zu widersprechen hätte ich unter keiner Bedingung gewagt, auch [752] wenn mein Herz dabei gebrochen wäre. Den Mann, den mir mein König bestimmte, nahm ich jedenfalls ohne alles Weigern nicht nur, sondern auch dankbar für die Huld und Gnade an, denn von ihm konnte mir ja doch nur Gutes kommen.

‚Wir sprechen später gelegentlich darüber,‘ fügte der König nach einer kleinen Pause hinzu, in welcher er mich lächelnd aufmerksam betrachtet hatte. Dann entfernte er sich mit freundlichem Gruße von mir.

Die Königin war ebenfalls ungemein gnädig. Mit ihrem bezauberndsten Lächeln sagte sie zu meiner Tante, indem sie sich zugleich auch halb zu mir wendete: ‚Frau Marquise, ich wünsche und hoffe Ihre liebe Nichte, die Sie uns heute zuführen, bald unter den jungen Damen meines Hofes zu sehen, wenn Sie das Opfer zu bringen vermögen, sie mir zu überlassen.‘

Die Tante schien von so viel unerwarteter Huld so ganz überwältigt zu sein, daß sie offenbar eine Unwahrheit darauf sagte. Sie entgegnete nämlich der Königin:

‚Meine Nichte ist zwar mein höchster Stolz und die einzige Freude meines Alters; ich habe gehofft, sie so lange wie möglich bei mir zu haben, nachdem ich dieselbe so lange habe entbehren müssen, aber jeder Wunsch Ihrer Majestät ist für mich ein Befehl und meiner Königin zu gehorchen mein höchstes Glück, ja ich kann mir keine größere Freude denken als eine Gelegenheit zu finden, für meine Königin ein Opfer zu bringen.‘

Als wir dann wieder zu Hause waren, setzte sie mir weitläufig auseinander, welches außerordentliche Glück mir als Einer der Hofdamen der Königin bevorstehe. Da die hohe Frau mich auszeichne, werde ich sicherlich sehr bald eine Zierde des Hofes und von allen Herren desselben umworben werden. Sie selbst, die Tante, habe allerdings, wie die Königin, sobald sie mich gesehen, die Ueberzeugung gewonnen, daß ich eine der ersten Damen Frankreichs, die Zierde und der Stolz der Familie werden müsse, da man mir es ansehe, daß ich zum Herrschen geboren sei und alle Eigenschaften des Charakters besitze, die mich befähigten, dem Range entsprechend mich zu benehmen, den mir der König ganz gewiß durch den Mann geben werde, den er für mich wahrscheinlich schon bestimmt habe.

Ich wurde in der That bald darauf unter die jungen Hofdamen der Königin aufgenommen, die mir aber, als ich sie näher kennen gelernt hatte, durchaus nicht geeignet erschienen, meine Freundinnen zu werden. Sie sprachen von nichts und schienen an nichts zu denken, als an Putz, Moden, Intriguen aller Art und Eroberungen; sie waren neidisch und eifersüchtig auf einander, leichtfertig und, trotz ihrem heuchlerisch frömmelnden Wesen, im Grunde ihres Herzens ungläubig. Eine sagte der Andern alles mögliche Sündhafte nach, ja sie scheuten sich sogar nicht von Leichtfertigkeiten der Königin selbst zu sprechen, von denen sie unterrichtet sein wollten. Das alles reizte und erzürnte mich allmählich, so daß ich schon nach einigen Tagen, als sie sich wieder unterfingen, von Ihrer Majestät der Königin in der leichtfertigsten Weise zu sprechen, zwischen sie trat und ihnen eine Strafpredigt hielt, wie sie länger und strenger selbst die Superiorin unseres Klosters nicht hätte halten können. Anfangs sahen sie mich und sahen sie sich untereinander verwundert an, dann fingen sie höhnisch zu lachen an, und ehe ich zu Ende gekommen war, hatte Eine nach der Andern sich entfernt. Von da an waren alle, mehr oder minder offen und ehrlich, meine Feindinnen, und ich stand an dem glänzenden Hofe wieder so einsam und allein, wie damals im Kloster zu Straßburg. Zum Glück währte dieser Zustand nicht lange. Kurze Zeit nach jenem Vorfall trat eines Tages der König freundlich zu mir und sagte, er habe einem jungen Manne den Befehl gegeben, zu der Marquise, meiner Tante, zu gehen und ihr zu sagen, der König wünsche ihn mit mir zu vermählen, wenn sie einwillige und ich selbst keine Einsprache dagegen erhebe. Wenn der junge Herr die Genehmigung der Frau Marquise erlange, werde er sich auch mir vorstellen und um mein Herz und meine Hand bitten.

‚Der junge Mann,‘ setzte der König hinzu, ‚ist in Gefahr, und da sein Vater mir gute Dienste geleistet hat, fühle ich mich verpflichtet, zu seiner Stellung beizutragen, so viel ich vermag. Er ist in die Hände der Unzufriedenen gerathen und mich schmerzt es stets, wenn ich Männer von gutem Adel, Söhne von königstreuen Vätern sogar, mit Leuten sich verbinden sehe, die Thron und Altar zu stürzen versuchen. Die Vermögensverhältnisse des jungen Mannes sind nicht glänzend und schon darum ist er leider dem Gifte jener Umsturzlehren leichter zugänglich, die mehr und mehr Verbreitung zu finden scheinen. Das beste Mittel, ihn auf dem rechten Wege zu erhalten, ist jedenfalls das, ihm eine Frau zur Seite zu geben, die nicht nur das ihm fehlende Vermögen, sondern auch die rechten Grundsätze, einen festen Charakter und so viel Geist besitzt, um ihn beherrschen zu können, kurz, die geeignet ist, ihn vor den gefährlichen Irrlehren unserer Zeit zu bewahren. Eine solche Frau für ihn glaube ich in Ihnen, mein Fräulein, gefunden zu haben, und ich bin fest überzeugt, daß Sie den Erwartungen vollkommen entsprechen werden, die ich von Ihnen hege.‘

Die Aufgabe, die mir in solcher Weise von meinem Könige gestellt wurde, entsprach vollständig meinen Neigungen und meinem Charakter, und ich zweifelte deshalb keinen Augenblick, daß sich der König in seinen Erwartungen von mir nicht täuschen werde, ich hoffte indeß dabei auch, daß ich den Mann, dem er mich bestimmt hatte und den ich bald sehen sollte, werde lieben lernen und lieben können. … Er kam schon an einem der nächsten Tage, stellte sich mir vor, und ich nahm ohne langes Bedenken seine Bewerbungen um mein Herz und meine Hand an, obwohl er meinen Mädchenaugen keineswegs sonderlich gefiel, namentlich weil die Züge seines Gesichtes starke Leidenschaftlichkeit, wenn nicht gar eine gewisse Rohheit sehr deutlich verriethen. Die Tante hatte ihm ihre Genehmigung sofort bereitwillig ertheilt; ich stellte nur eine einzige Bedingung, die nämlich, daß wir die ersten zwei Jahre unserer Ehe wenigstens auf einer meiner Besitzungen im Elsaß zubrächten, die ich zwar selbst noch nicht kannte, die aber nach der Beschreibung der Tante reizend gelegen sein sollte und, wie sie mir mehrmals erzählt hat, der Lieblingsaufenthalt meiner Mutter und das Erbgut meines Vaters gewesen war. Diese beiden letzten Umstände hatten meine Wahl bestimmt, während der Zweck meiner Bedingung – zwei Jahre auf dem Lande zuzubringen – dahin ging, den Mann, welchen mein König mir anvertraute, von seinen Pariser Freunden entfernt zu halten und ihn stets unter meinen eigenen Augen zu haben, damit ich auf ihn einzuwirken vermöge, wie es der König wünschte und erwartete. Der mir bestimmte Bräutigam ging bereitwillig auf Alles ein, was ich verlangte; es stand also unserer wirklichen Verbindung nichts mehr im Wege, und sie wurde denn auch nach kurzer Zeit geschlossen. Die Majestäten gaben mir noch viele Beweise ihrer besondern Huld und Gnade, meine Feindinnen, die Hofdamen, waren wieder sehr freundlich gegen mich geworden, natürlich aus Freude darüber, daß ich so bald von ihnen scheide, und wir reisten nach unserem künftigen Wohnsitze ab, auf welchem zu unserem Empfange Alles eingerichtet worden war. Das malerisch auf einer kleinen Anhöhe gelegene Schloß, ein wunderlicher alterthümlicher Bau, mit seinem umfänglichen Parke gefiel meinem Gatten sehr, und ich fühlte mich heimathlich wohl darin, weil ich ja wußte, daß meine Eltern dort glücklich gelebt hatten, daß ihre sterblichen Ueberreste dort nebeneinander ruhten und daß ich selbst dort geboren worden war. Auch habe ich wirklich die zwei schönsten Jahre meines Lebens an diesem Orte verbracht, die einzigen glücklichen, die mir das Schicksal gönnte. In diesen ersten zwei Jahren unserer Ehe hatte ich keine Ursache, mit meinem Gatten wirklich unzufrieden zu sein, und als uns auch eine Tochter geboren war, meinte ich, mein Glück könne nicht höher steigen und nie enden.

Es sollte bald anders werden. Die schreckliche Zeit der Revolution begann, und mein Mann nahm, trotz meiner wiederholten und ernstlichsten Abmahnungen, schon an den ersten Anfängen derselben eifrig und leidenschaftlich Antheil. Er gehörte der Nationalversammlung an und reiste voll Hoffnung nach Paris. Trotz meiner Vorstellungen, die ich selbst bis zu Drohungen steigerte, schloß er sich dem scheußlichen Mirabeau an und sagte sich von der Partei des Königs, seines Gönners und Wohlthäters, wie von dem Adel los. Mit jubelnder Begeisterung meldete er mir brieflich die Erstürmung der Bastille, die er eine der größten Heldenthaten nannte. Seine Anhänglichkeit an die Revolution steigerte sich allmählich bis zum Fanatismus, obwohl die blutigsten Gräuel Paris und Frankreich bereits befleckten. Ich mußte den Schmerz erleben, seinen Namen unter den wüthendsten Parteimännern genannt zu wissen.

Eine lange Zeit sah ich ihn nicht; er schrieb mir auch nur [753] selten und dann nur, um neue Versuche zu machen, auch mich für ‚die gute Sache‘ zu gewinnen, wie er die Revolution zu nennen sich nicht scheute. Seinen Namen verschweige ich aus gutem Grunde, wie ich ihn längst abgelegt habe, auch in diesen Blättern, denn er soll meinen Nachkommen ewig unbekannt bleiben, und vor Allem wünsche ich, daß meine Tochter niemals erfahre, welchen blutbefleckten Namen ihr Vater führte. … Viele Adelige waren bereits in das Ausland geflohen, weil sie empört waren über die Frevel und Schändlichkeiten gegen den König und die Kirche, die begangen worden waren und deren täglich noch schlimmere nachfolgten. Inständig bat und beschwor auch ich meinen Mann, mit mir das unglückliche Vaterland auf so lange zu verlassen, bis die alte Ordnung wiederhergestellt sein werde. Statt aber meinen Wunsch und meine dringende Bitte zu erfüllen, verhöhnte er mich, weil ich so blind sei, die neue Zeit nicht zu verstehen und zu würdigen, welche begonnen habe und ungeahntes Glück in die Welt bringen werde. Schließlich kündigte er mir an, daß er nächstens selbst zu mir kommen werde, um einen letzten Versuch zu machen, mich von meiner Verblendung und meinen Vorurtheilen zu erlösen. Gleichzeitig sandte er mir eine rothe wollene sogenannte Freiheitsmütze, eine der kleinen schwarzen Perrücken, die man ‚Jacobinerperrücken‘ nannte, und einen ‚Gürtel der Vernunft‘, wie ihn die freche Schauspielerin Saunier in die Mode gebracht. Auch sprach er die empörende Erwartung aus, daß ich ihn in diesem Aufputze empfangen werde, da alle Damen in Paris sich so zeigten, welche aufgeklärt genug wären, um der Revolution zu huldigen. Ich warf, wie es sich wohl von selbst versteht, alle die verhaßten Symbole des Umsturzes sofort in das Feuer und hatte mit meinem Manne, als er wirklich bald darauf selbst erschien, eine sehr heftige, fast gewaltthätige Scene. Wenn ich nicht starke Nerven besessen hätte, würde ich bei seinem Anblicke schon in Ohnmacht gefallen sein, denn er war frech genug, vor mir mit den Abzeichen des Sansculottismus zu erscheinen, nämlich in der Carmagnole, der bekannten kurzen Jacke mit ganz kleinen Schößchen, in Matrosenbeinkleidern von grobem Zeuge, in entblößtem Halse, um den nachlässig nur ein kleines Tuch geschlungen war, und mit einer kleinen goldenen Guillotine als Ohrgehänge. In seinem ganzen Thun und Wesen trat mir die leidenschaftliche Rohheit seines Charakters, die ich in ihm geahnt und gefürchtet hatte, als ich ihn das erste Mal sah, in der abschreckendsten und widerwärtigsten Weise entgegen. Er drohte, als ich mich weigerte, seinen Plänen mich anzuschließen und als ich darauf bestand, Frankreich mit meinem Kinde zu verlassen, die Tochter mir zu entreißen, damit sie von mir nicht auch zu einer Aristokratin, sondern durch ihn selbst zur echten Bürgerin erzogen werde. Er selbst hatte bereits alle seine Titel abgelegt und nannte sich stolz ‚Bürger‘. … Zum Glück blieb er nicht lange in dem Schlosse, denn seine höheren Pflichten, wie er sich ausdrückte, riefen ihn bald wieder nach Paris zurück. Er verabschiedete sich in heftigem Zorne von mir und mit der gewiß ernstgemeinten Drohung, er selbst werde mich als Aristokratin denunciren und der Guillotine zuführen lassen, wenn ich trotzig bei der Verehrung der nun vergangenen alten Zeit der Knechtschaft und bei dem Widerstreben verharre, der neuen Zeit mich ehrlich anzuschließen. Er könne und werde – mit Freude sogar – mein Haupt fallen und mein Blut fließen sehen, denn ich sei eine der verstocktesten Aristokratinnen und die Freiheit werde um so schneller und um so herrlicher auf Frankreichs Boden erblühen, je mehr Aristokraten- und Pfaffenblut denselben gedüngt habe.

Ich war über alles Das tief betrübt und innerlich empört; um so mehr blieb ich fest entschlossen, den Widerstand gegen meinen Mann und gegen die Revolution, die er fanatisch verehrte, energisch fortzusetzen und selbst, wenn es sein müßte, das Aeußerste nicht zu scheuen.

Die Leute auf meiner Besitzung, namentlich alle meine Dienstboten, hielten noch treu zu mir, weil ich allen Regungen revolutionärer Gelüste, sobald sie sich irgendwie zeigen wollten, kräftig und entschieden entgegentrat und auf der andern Seite Diejenigen reichlich unterstützte, welche mir und meinen Grundsätzen anhänglich sich bewiesen, obgleich ich nicht leugnen mag, daß mein Mann sich höchst wahrscheinlich alle Mühe gegeben hatte, mich mit Spionen zu umringen.

Die Herrschaft des Schreckens wurde unterdeß von Woche zu Woche grauenhafter in Paris; man vergriff sich feindlich selbst an der Majestät des Königs, und leider gehörte, wie es nicht verschwiegen blieb, mein Mann zu denjenigen, die am schamlosesten und am undankbarsten gegen ihn auftraten. Ich erkannte also mehr und mehr, daß meines Bleibens in dem unglücklichen Frankreich nicht länger mehr sein könnte, nicht meinetwegen, denn ich hätte wohl den Muth besessen, selbst dem Tode auf dem Blutgerüste zu trotzen, sondern meiner kleinen Tochter wegen, die vor den Gräueln der Revolution zu schützen meine erste und heiligste Pflicht sein mußte, zumal da ihr eigener Vater sich bestrebte, sie in den Schmutz der Revolution hineinzuziehen und ihre junge Seele völlig zu verderben. Ich entschloß mich also, an die Reichsgräfin, die Jugendfreundin aus dem Kloster, zu schreiben, um sie zu fragen, ob sie mir und meinem Kinde in ihrem Hause oder doch in ihrer Nähe Aufnahme gewähren wolle. Ich erhielt leider keine Antwort von ihr, und das änderte meine Pläne vollständig. Mein Entschluß aber, das Vaterland zu verlassen, blieb unerschüttert, und ich betrieb unablässig die Vorbereitungen dazu. Mit meiner Kammerfrau, der schon etwas bejahrten Pflegerin meines Kindes, hatte ich schon öfter meinen Fluchtplan besprochen und sie hatte sich immer bereit erklärt, mir zu folgen, wohin ich sie auch führen wolle. Ohne alle männliche Begleitung aber die gefährliche Flucht und Reise zu unternehmen, schien nicht gerathen zu sein, und so überlegte und prüfte ich sorgsamst, welchem meiner Diener ich mich wohl am sichersten anvertrauen könnte. Meine Wahl fiel sogleich auf Mathis, den Kammerdiener und Jäger meines Mannes, der die Revolution und Alles, was mit derselben zusammenhing, in Paris, wohin er im Anfange seinen Herrn begleitet, gründlich hassen gelernt und, nach kurzem Aufenthalte dort, nicht eher geruht, bis er die Erlaubniß erhalten hatte, zu seiner Familie in der Heimath zurückkehren zu dürfen. Bald darauf hatte er seine junge Frau verloren, wie er überzeugt war, durch den Tod aus Angst vor der Revolution und aus Entsetzen über die Revolutionäre. Die Zustände in Frankreich waren ihm also ebenfalls verhaßt und nichts hielt ihn da zurück, ja er entfernte sich wahrscheinlich sogar gern, wenn er sein einziges Kind, einen kleinen Knaben, mit sich nehmen durfte, was ich ihm sehr gern erlaubte.“

„Mathis!?“ wiederholte der Sohn des alten Försters, als er den letzten Satz gelesen hatte. „Mathis? Bist Du das, mein Vater? Ist die Erzählerin die Dame, von der Du so oft und so gern sprichst?“

Fast hast Du richtig gerathen,“ erhielt er von dem geduldig dasitzenden Alten, der seine Augen von dem lesenden Sohne keinen Moment abgewendet hatte, zur Antwort. „Die, welche das schrieb, was Du gelesen, war allerdings unsere verehrte Herrin, die Mutter Deiner Mutter, aber bedacht hast Du nicht, daß der Mathis, welchen sie erwähnt, in jener Zeit sicherlich doch wenigstens dreißig Jahre alt war und daß er demnach, wenn er jetzt noch lebte, hundert Jahre zählen müßte. Jener Mathis war vielmehr mein Vater, und ich bin sein ‚kleiner Knabe‘, der erwähnt wird. Jetzt frage nicht weiter, sondern lies zu Ende!“

„Eines Tages rief ich Mathis zu mir,“ so las der junge Försterssohn weiter; „ich schloß mich mit ihm in meinem Zimmer ein und theilte ihm meinen Vorsatz und meinen Plan mit.

‚Hätte ich die Mittel besessen, um auswandern zu können,‘ antwortete er mir sogleich, ‚ich würde schon längst mit meinem Knaben die Heimath verlassen haben, in welcher jetzt die Bluthunde so unverantwortlich hausen. Ihnen, gnädige Frau, folge ich deshalb mit Freuden, bis an das Ende der Welt sogar, um von dem unglücklichen Vaterlande so wenig wie möglich oder, noch lieber, gar nichts mehr zu hören.‘

Ich freute mich solcher Ansichten und solcher Anhänglichkeit an mich, und wir beriethen darauf mit einander, wie wir am besten, das heißt am sichersten, die Flucht bewerkstelligen sollten. Freilich wurde uns dabei auch immer deutlicher, wie beschwerlich nicht nur, sondern wie gefährlich auch die Ausführung des Unternehmens sein würde, da die Auswanderer von der herrschenden revolutionären Partei mit dem Tode bedroht waren. Bei jedem Plane, den wir entwarfen und beriethen, trat uns die fast sichere Unmöglichkeit seiner Ausführbarkeit entgegen, und [754] da wir uns zunächst für keinen zu entscheiden vermochten, wurde die Abreise von Tage zu Tage immer wieder verschoben.

Die Entscheidung brachte endlich das Entsetzlichste, was die Revolution unternehmen konnte: die blutbefleckten Mörder scheuten sich nicht, das geweihete Haupt des Königs auf dem Schaffote fallen zu lassen. Dies steigerte meinen Unwillen und Zorn gegen das Land, in welchem eine solche entsetzliche Schandthat möglich war, auf das Höchste, so daß ich nun, selbst mit Gefahr meines Lebens und mit Verlust meines Vermögens, zu fliehen beschloß. Das Band, das mich mit meinem Manne vereinigt hatte, sah ich dadurch für vollständig gelöst an, daß er sich den Königsmördern angeschlossen und für den Tod des Königs, seines Wohlthäters, gestimmt hatte. Mein Kind durfte von nun an seinen Vater, den Mann nicht wiedersehen, den es als Mörder verabscheuen mußte.

Ich hatte eine ansehnliche Summe Geldes zusammengebracht, damit ich im Auslande meinem Stande gemäß so lange leben konnte, bis es mir möglich sein würde, nach Frankreich zurückzukehren. Ich hoffte, daß dies bald ausführbar sein werde, da die Fürsten Europas sich ja entschlossen hatten, den Königsmord zu rächen und zu züchtigen, und auch bereits mit ihren Heeren den Grenzen meines unglücklichen Vaterlandes sich näherten. Jene Geldsumme, sowie meine werthvollsten Schmucksachen hatte ich durch Mathis bereits an einen zuverlässigen Mann nach Deutschland bringen lassen und auch alle anderen Vorbereitungen zu unserer Abreise waren fast beendigt, als uns die Nachricht erschreckte, ein ehemaliger Geistlicher aus Straßburg, ein Deutscher, Eulogius Schneider mit Namen, ein fast wahnsinniger Fanatiker der Revolution und eines der furchtbarsten Ungeheuer, welche jene Zeit des Schreckens hervorbrachte, ziehe mit der Guillotine im Elsaß umher, vergieße unter geistlichem Gaukelspiel Ströme von Blut und feiere zugleich mit fanatisirten Bauern und entmenschten Weibern die schändlichsten Orgien. Man tanze, hieß es, die Carmagnole um das Blutgerüst, und der Rasende habe sogar allen Nachtwächtern des Landes befohlen, bei dem Abrufen der Stunden der Nacht nicht mehr zu singen: ‚Lobet Gott, den Herrn‘! sondern: ‚Lobet Gott, den Bürger‘! Mit seinen Teufelsschaaren, wurde uns weiter berichtet, nähere sich der Unmensch bereits unserer Gegend, ja, man versicherte sogar, mein Mann selbst sei aus Paris angekommen und habe sich jenen blutgierigen Wahnsinnigen angeschlossen, um, wie er sich ausgedrückt haben sollte, das Seinige mit beizutragen, das arme Elsaß von ‚der Pest der Aristokratie und der Pfaffen‘ zu reinigen. Unter solchen schrecklichen Verhältnissen durften wir keinen Augenblick länger zögern, unseren Entschluß zur Ausführung zu bringen, so lange es überhaupt noch möglich war.

Ich entschied mich auch sofort, packen und durch meinen Kutscher am nächsten Morgen meinen Wagen anspannen zu lassen. Wohin ich fahren wolle, sollte er erst später erfahren, damit Niemand vorher wisse, wohin ich mich zu wenden gedenke. Mathis erbot sich zwar, selbst das Amt des Kutschers zu übernehmen, weil er kein rechtes Vertrauen zu dem meinigen habe, seit er gehört, daß er auch revolutionäre Reden zu führen anfange. Ich lehnte indeß das Anerbieten des Getreuen ab, weil ich fürchtete, gerade dann Verdacht zu erregen, wenn ich eine Reise mit meinem Kinde und der Wärterin desselben antrete und den Wagen nicht von meinem gewöhnlichen Kutscher lenken lasse.

So sehr ich mich freute, endlich das blutgetränkte Frankreich zu verlassen, nahm ich doch im Stillen mit Thränen Abschied von dem Vaterhause, in dem ich geboren worden war wie meine Tochter, und in welchem ich die ersten zwei Jahre meiner Ehe glücklich verlebt hatte. Wer konnte mit Gewißheit sagen, ob und wann ich dasselbe wiedersehen werde? Endlich stiegen wir, zwischen Trauer und Freude schwankend, in den Wagen, in dem sich die werthvollen Gegenstände befanden, die ich noch mit mir zu nehmen wünschte; auch eine Summe Geldes führte ich bei mir. Mathis, dem ich vorsorglich ebenfalls Geld anvertraut hatte, und der später mit seinem Sohne auf dem Sitze hinter dem Wagen Platz nehmen sollte, war ganz im Stillen schon mehrere Stunden vor unserer Abfahrt vorausgegangen, um an einer genau bezeichneten Stelle unseres Weges aufgenommen zu werden. Es sollte durch diese Vorsicht verhütet werden, daß meine Leute sofort erfuhren, daß Mathis und selbst der kleine Sohn desselben uns begleite. Gegen Abend hofften wir den Rhein an einem Punkte zu erreichen, wo durch Mathis vorher schon ein Boot gemiethet worden war, das uns still über den Fluß bringen sollte. Die Fahrt im Wagen ging anfänglich verhältnißmäßig gut von Statten; wenigstens stießen wir auf kein Hinderniß, das uns aufhielt. Wir holten auch Mathis mit dem Knaben ein und konnten Beide, wie verabredet worden war, aufnehmen. Freilich theilte der treue und auf Alles achtende Diener mit einer gewissen Besorgniß mir mit, es sei, als der Wagen gehalten, um ihn aufzunehmen, von dem hintern Sitze desselben ein Mann herabgesprungen und habe sich eilig nach dem nächsten Dorfe zu, auf einem Seitenwege, entfernt. In der Schnelligkeit sei es ihm zwar nicht möglich gewesen, den Mann genau zu beobachten, er wolle aber beschwören, setzte er hinzu, daß es Einer meiner Leute gewesen und daß er eine Freiheitsmütze getragen. Er, Mathis, könne sich deshalb des Verdachtes nicht erwehren, der Mann sei ein Spion gewesen, der den Auftrag gehabt, mir zu folgen, um zu ermitteln, ob ich zu fliehen beabsichtige und wohin ich mich zunächst wende. Um, für den Fall, daß Mathis recht gemuthmaßt, die Pläne der Feinde zu vereiteln, befahl ich dem Kutscher, so rasch wie möglich weiter zu fahren. Die Wege waren aber so schlecht, stellenweise so spurlos, daß wir wir sehr langsam weiter kamen.

In dem Wirthshause des nahen Dorfes, das wir bald erreichten, schien es sehr lebhaft zuzugehen. Man sang und schrie darin. Jedenfalls waren wilde Revolutionäre dort versammelt, und ich fürchtete, nicht ohne Belästigung vorüberzukommen. An der Thür und an den Fenstern zeigten sich in der That verschiedene verdächtige Gestalten, doch konnten wir glücklich, das heißt unangefochten vorüberfahren; wir gelangten unangetastet durch das ganze Dorf und hinter demselben in einen dort beginnenden ziemlich tiefen Hohlweg. Der Kutscher klatschte an dieser Stelle auffallend oft und stark mit seiner Peitsche, was ich, ich gestehe es, in meiner leicht erregten Besorgniß anfänglich für ein Zeichen hielt, das er dadurch Leuten gebe, mit denen irgend eine Verabredung getroffen worden sei, doch bat ich ihm bald in Gedanken mein Mißtrauen gegen ihn ab, da sich nichts Verdächtiges zeigte und er ja auch durch solches häufige Klatschen einen uns etwa entgegenkommenden Wagen aufmerksam machen konnte auf unser Herannahen, damit er an einer Stelle halte, wo ein Ausweichen zweier Wagen in dem engen Hohlwege etwa möglich sei. Unser Wagen schlich eine lange Zeit hindurch langsam weiter, ohne daß wir einem andern begegneten, bis sich der Hohlweg allmählich mehr und mehr zu verflachen anfing. Dann ging es auf ebenem Wege fort bis an ein Wäldchen. Der Wagen fuhr langsam in dasselbe hinein, und kaum waren wir eine kurze Strecke vorwärts gekommen, als uns plötzlich rauhe Stimmen gebieterisch zuriefen, Halt zu machen. Die Pferde wurden von Bewaffneten angehalten und an dem Wagenschlage, zu beiden Seiten, zeigten sich Gewehrläufe, während uns mehrere Stimmen aufforderten, auszusteigen.


(Fortsetzung folgt.)




Von den „rothen Teufeln“.


Die neuesten Nachrichten aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika melden, daß wieder einmal ein Indianerkrieg beendet sei. Die Zeiten, wo man Cooper’sche Romane las und wenigstens einen Theil der wundervollen Schilderungen indianischen Edelmuthes für noch fortbestehende Wirklichkeit hielt, sind längst vorüber, und selbst manches, was noch vor zehn oder zwanzig Jahren zu Gunsten der Indianer gesagt und geschrieben wurde, stimmt jetzt nicht mehr mit der Wirklichkeit überein. Unaufhaltsam rücken die Indianer Amerikas dem Untergange näher. Die Versuche, sie zu civilisiren, sind bis jetzt im großen Ganzen nicht geglückt, wobei freilich zweifelhaft bleibt, auf wessen Seite die Schuld lag. Jedenfalls haben die sogenannten Indianerdolmetscher

[755]

Mitglieder der Indianer-Deputation in Washington.
Nach einer Photographie von Alexander Gardner in Washington.

Der laufende Hirsch. Graß in halber und ganzer Figur. Blutmund.

[756] und Indianeragenten der Regierung im Großen und Ganzen weit eher dazu beigetragen, die Indianer mit den Weißen zu verfeinden und in ihnen das Gefühl erlittenen Unrechts zu erhalten und zu stärken, als sie dem Leben der Weißen näher zu bringen.

Es ist ja drüben bekannt, daß diese Indianeragenten vielfach ihre Stellung nur dazu benutzen, um ihren persönlichen Vortheil auf mannigfache Weise zu fördern, wie das ja in officiellen Kreisen der transatlantischen Republik wenigstens neuerdings mehr oder weniger üblich geworden ist. Wenn man, wie ich, in der kurzen Zeit von dreiundeinhalb Monaten das unermeßliche Gebiet der großen Republik von den Gestaden des atlantischen Oceans bis zu der Felsenküste des stillen Meeres auf flüchtiger Eisenbahnfahrt durchreist, hat man natürlich nur selten Gelegenheit, einen kurzen Blick in jene untergehende indianische Welt zu thun. Längst schon haben sich die noch vorhandenen Reste der Indianerstämme in die abgelegensten, durch Schienenstraßen dem Verkehre noch nicht erschlossenen Theile der westlichen Territorien zurückgezogen, und dahin zu dringen erfordert, abgesehen von allen sonstigen damit verbundenen Mühen und Strapazen, Zeit, viel Zeit. Dennoch wollte es der Zufall, daß ich Indianer auf verschiedenen Stufen ihrer socialen Umgestaltung, beziehentlich ihres Verfalls, kennen lernte.

An der Shinnecockbai, einer Bucht der langgestreckten Insel Longisland, sah ich die Shinnecock-Indianer; freilich entsprachen sie keineswegs der Vorstellung des eben erst aus Europa Gekommenen. Dieser Rest der einstigen Indianerbevölkerung der Insel hat sich allerdings ausnahmsweise, wie man das so nennt, civilisirt, das heißt er raubt und mordet nicht mehr, sitzt fest an einer Stelle und betreibt ein ehrliches Gewerbe. Sie helfen den Markt New-Yorks mit Muscheln und Fischen versorgen. Statt in Wigwams wohnen sie wie ihre weißen Nachbarn in Holzhäusern, deren innere Einrichtung sich in keiner Weise von der üblichen unterscheidet, ja es fehlt sogar der unentbehrliche Teppich, welchen drüben auch der Aermste nicht gern vermißt, nicht, wenn er auch in etwas mangelhaftem Zustande ist.

Der Mann, welcher uns im Boote auf die Bai hinausfuhr, zeichnete sich nur durch etwas dunklere Hautfärbung noch vor einem weißen Manne aus; er sprach sein Englisch so gut wie jeder Yankee und erzählte uns, daß er von seiner Jugend her nur noch ein paar indianische Worte, z. B. „Guten Tag“, im Gedächtniß habe. Der Mann sprach sehr verständig und berichtete uns unter Anderm, daß er lange Jahre auf einem amerikanischen Südseewalfänger gedient, und so ein gutes Stück Welt gesehen habe. In dem Häuschen sahen wir noch ein altes Weib, das im straffen, schwarzen Haar und in den Gesichtszügen einiges indianisches Gepräge verrieth.

Ein zweites Mal traf ich Indianer an der Pacific-Eisenbahn, in Elks, einer kleinen Station der Central-Pacific-Eisenbahn jenseits Ogden, doch hatte ich bei dem flüchtigen Aufenthalte, welchen der Zug hier nur nahm, kaum Zeit, den Mann mit dem rothbemalten Gesichte und dem glänzend schwarzen, steif herabstehenden Haar, der im Uebrigen gewöhnliche Kleidung hatte und, wie man mir sagte, den Holzhandel betrieb, mir näher anzusehen, ebensowenig eine Squaw, welche sich zur Mitfahrt meldete, und die einen Platz im Packwagen erhielt. Anders schon auf der Station Carlin, Nevada, wo das Frühstück einen Aufenthalt von zwanzig Minuten veranlaßte. Hier meldeten sich bei den Passagieren des Zugs ein Paar indianische Weiber und bettelten. Zwischen ihnen und einem Grizzly-Bär, welcher hier in einem Käfig gleichsam als Dessert den Gästen des Wirths zur Schau gestellt wurde, theilte sich die Aufmerksamkeit meiner Mitreisenden. Für diejenigen, welche öfter diese Route nehmen, hatte jenes prächtige, wohl ausgewachsene Exemplar des californischen grauen Bären mehr Interesse. Ich sah mir die Weiber an. Sie waren in der That bettlerhaft gekleidet. Ein alter zerlumpter Rock, mit einer ebenso herabgekommenen Jacke, beides zusammengehalten mit einem schmutzigen Gürtel, bildeten die Hauptbestandtheile der Gewandung der Alten wie der Jungen. Zwei etwas jüngere Weiber hatten ihre Säuglinge in der Weise auf den Rücken gebunden, daß der arme Wurm, der aus seinem kleinen braunen Gesicht mit prächtigen großen Augen in die Welt hinausschaute, mittelst einer Art kleinen Plättbrets und einem Band festgehalten wurde.

Eine alte Squaw war von abschreckender Häßlichkeit. Die kleinen Geldstücke, welche ihnen die Passagiere halb spöttisch, halb mitleidig zuwarfen, nahmen sie begierig auf. Die ganze Scene machte einen widerwärtigen trüben Eindruck.

Die charakteristischste Begegnung mit Indianern war mir jedoch für St. Louis vorbehalten. Dort lernte ich einen deutschen Arzt, Herrn Doctor K. kennen, welcher die Güte hatte, mich bei zwei der berühmtesten oder berüchtigtsten – wie man will – Kiowa-Häuptlinge, den Herren Satanta und Big-tree, einzuführen. Freilich konnten sie mich nicht in ihrem Wigwam empfangen und mir die Friedenspfeife anbieten, denn – sie saßen einfach als Räuber und Mörder im Gefängniß. Herr Dr. K. hatte als Arzt dort freien Zutritt. Aus der hohen glasbedeckten Halle dieses palastartig erbauten Gefängnisses traten wir in eine der Zellen, welche im Halbkreis um die Halle gelegen sind. Der kleine Raum war nur schwach durch ein schmales, stark vergittertes Fenster erhellt. Doch vermochten wir, da die Thür geöffnet blieb, die beiden Insassen deutlich zu erkennen. Satanta (weißer Bär), der große Häuptling der Kiowas, lag auf der Pritsche ausgestreckt und erhob sich bei unserem Eintritte, während Big-tree (starker Baum) melancholisch auf einem Schemel zur Seite saß. Letzterer war von untersetzter Statur und in seinen groben Gesichtszügen konnte ich nichts Bösartiges finden; sie zeigten stumpfe Gleichgültigkeit.

Die beiden Kerle machten in der That den Eindruck, welchen gefangene Raubvögel in einem zoologischen Garten auf den Besucher üben. Satanta war ein Hüne von Gestalt, mit großen Gesichtszügen, die nichts weniger als Vertrauen erweckten. Von Wildheit und Kraft sprachen sie noch immer, obgleich der Mann schon dem Greisenalter sich zu nähern schien. Er hatte sich an den Gittern des Fensters eine Kopfwunde geholt und schien niedergedrückt. Die Kerle, welche Dr. K. mit etwas Tabak hoch erfreute, waren bereits zum Tode verurtheilt gewesen und zwar, wie wir hören werden, mit vollem Recht; sie erwarteten indessen volle Begnadigung von ihrem „weißen Vater“. Die Ursache, weshalb die Burschen hier hinter Schloß und Riegel saßen, war folgende:

Eines schönen Tages war dem Stamme der Kiowas durch Kundschafter die Nachricht geworden, daß einer der großen Wagenzüge, welche von Zeit zu Zeit den am weitesten westlich in Texas und gegen die mexicanischen Grenzen vorgeschobenen Ansiedelungen ihre Bedürfnisse zuführten, unterwegs sei. Er war bereits eine große Strecke über Fort Griffin hinaus, und es trug sich nun eine jener grauenhaften Scenen zu, welche sich, wenn auch nicht in gleichem Umfange, in diesem Jahre leider wiederholt haben. Der Zug wurde von einer Schaar Kiowas, die unter der Führung von Big-tree und Satanta standen, überfallen. Sämmtliche Weiße des Wagenzugs wurden niedergemacht und scalpirt und alle Vorräthe des Zugs geraubt. Es gelang, die beiden Häuptlinge später gefangen zu nehmen, und von einem texanischen Schwurgericht wurden sie sodann zum Tode durch den Strang verurtheilt. Später kamen sie nach St. Louis, da die Todesstrafe in lebenslängliches Gefängniß verwandelt wurde.

Ein Jahr nach meinem Aufenthalt in St. Louis – im October 1873 – wurden sie wieder freigelassen, unter dem von ihnen geforderten und gegebenen Versprechen, fernere Raubzüge im texanischen Gebiete seitens ihres Stammes zu verhindern. Die Vorfälle bei den westlichen Ansiedelungen in diesem Sommer und Herbst zeigen, wie wenig dieses Versprechen gehalten worden ist. Raub, Plünderung und Todtschlag sind vielfach wieder seitens der Indianer vorgekommen, und im October ist es dem General Hill mit seiner Cavallerie gelungen, die beiden Burschen Satanta und Big-tree, sammt einer großen Schaar von Comanches und Kiowas, wieder gefangen zu nehmen. Der Berichterstatter des „New-York Herald“ fügt dieser seiner Meldung mit vollem Recht die Bemerkung hinzu: „Hoffentlich läßt man die beiden Burschen diesmal nicht wieder aus falscher, weichlicher Friedenspolitik laufen, sondern bestraft sie ernstlich.“

In Denver, einer am Fuße der imposanten Felsengebirgskette gelegenen Stadt, welche ihr Emporblühen dem Minenbetriebe des Gebirges und dem Productenhandel des triftenreichen Territoriums Colorado verdankt, sah ich dann noch einen Häuptling vom Stamme der Ute beim Gouverneur. Es war ein [757] baumlanger Kerl, eine kräftige, stattliche Erscheinung; sein Gesicht war dick mit Mennige bemalt, die Kleidung aber halb civilisirt, halb indianisch. Er war nach Denver mit seiner Squaw gekommen, um sich die übliche Lieferung an Naturalien und sonstigen Bedürfnissen für seinen Stamm zu holen, der öfter, namentlich im Herbste, in der Nähe von Denver erscheint. Später sah ich ihn mit seiner Squaw hinter sich auf einem Pony fortgaloppiren. Das Utelager ist noch immer ein Gegenstand des Aufsehens für die Bewohner von Denver, welche Stadt öfter für längere Zeit wegen des gesunden Klimas bei seiner hohen Lage von Leuten aus dem Osten aufgesucht wird. Die Utes treiben dann auch Tauschhandel, indem sie Büffelfelle und Erzeugnisse der merkwürdigen indianischen Industrie feil bieten.

So hielten nach den Berichten der deutschen Zeitung von Denver noch neulich, im Juli, dicht bei der Stadt fünfzig Indianer von diesem Stamme ihr Lager und führten aus Freude über die Tödtung dreier Feinde vom Stamme der Arapahoes einen Scalptanz auf, zu welchem interessanten Schauspiele, wie bei uns zu Volksfesten, Wettrennen und dergleichen, sich die civilisirte Welt der Platte-Riverstadt, besonders die Ladies, in großer Zahl eingefunden hatte. In ihrem vollen Staate und Ornate sieht man aber die Vornehmsten unter den Indianerstämmen bei den Deputationen, welche von Zeit zu Zeit sich nach Washington aufmachen, begleitet von Indianeragenten und Dolmetschern. Eine solche Deputation war gerade zur Zeit unseres Aufenthaltes in St. Louis im Everett-Hôtel angekommen, und nicht weniger als sechs Stämme waren in derselben vertreten. So hatten gesendet: die Kiowas den einsamen Wolf, den schnellfüßigen Knaben, den schlafenden Wolf, den Hunde-Esser und zwei Squaws; die Comanchen: die Milchstraße, den Silberbach, Graubein, den zehnfachen Bär, Waldschlucht, den äßenden Hirsch, Büffelbuckel, Pini Arragahe John und sieben Squaws; die Apachen: Läufer, Schläger, den Käpten und Grauadler mit zwei Squaws; die Arrapahoes: Großmaul, Linkhand, Weißkrähe, das gelbe Pferd und die Schwarzkrähe; die Caddoes: Georg Wafhing, Warloupe und Antilope; die Witchidas: Essadun, Esquitschew, und den Rappen. Außerdem waren gekommen: Der lange Soldat vom Wacoe-, Knie-war-war vom Keechie-, Dave und Sohn vom Towoccaroe- und der schwarze Biber vom Delawarestamme.

Um aber den Lesern der Gartenlaube einige recht interessante und charakteristische Erscheinungen vorzuführen, habe ich es vorgezogen, die vier hier im Holzschnitt so trefflich dargestellten zu geben. Die Originale, ebenfalls Mitglieder von Deputationen zum „Weißen Hause“, wurden in Washington vom Photographen Alex. Gardner, welcher eine vollständige Sammlung dieser Art besitzt, photographirt. Sie stellen dar: 1. „Running Elk“ (den laufenden Hirsch, Ma-to-no-pah) vom Stamme der unteren Yanctonais. 2. „Graß“ (He-Vua-she-tson), Häuptling der Schwarzfuß-Sioux. 3. „Bloody-mouth“ (Blutmund, E-wa-hu) vom Stamme der Onca-pa-pa und 4. noch einmal „Graß“ in halber Figur.

Es bedarf wohl kaum einiger Worte der Erläuterung zu der Tracht und dem Putz, in welchen diese Häuptlinge sich hier darstellen. Die Adlerfeder spielt, wie man sieht, eine große Rolle in der Kleidung, die sich sonst aus Fellen und Wollstoffen, von den Squaws gefertigt, zusammensetzt. Aus Fellen bestehen auch die kunstvoll zusammengenähten Mocassins; endlich sind noch die Wampumschnüre zu beachten, aus Muscheln gefertigte buntfarbige Perlen, welche als Hals- oder als Armbänder getragen werden. Die geliebte Tabakspfeife ist nicht zu vergessen.

Fragt man, wie groß die Zahl der Indianer ist, welche noch gegenwärtig innerhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten mit Ausschluß Alaskas leben, so schlägt sie ein Bericht, welchen der Commissar für die Indianerangelegenheiten vor einiger Zeit dem Staatssecretär für das Innere in Washington erstattete, auf etwa 300,000 an. Man kann sie hinsichtlich ihrer geographischen Locirung in fünf große Abtheilungen zergliedern; es leben nämlich in Minnesota und den Staaten östlich des Mississippi etwa 32,600, in Nebraska, Kansas und im Indianterritorium 70,400, in den Territorien Dacota, Montana, Wyoming und Idaho 65,000 in Nevada und den Territorien Colorado, Neu-Mexico, Utah und Arizona 84,000 und an der Pacificküste 48,000.

Man kann sie auch in Hinsicht auf die drei Eisenbahnlinien eintheilen, die zwischen den Staaten und dem stillen Ocean gebaut werden oder projectirt sind, nämlich die Nord-, Central- und Südbahnen und zwar, wenn man diejenigen ausschließt, die östlich von Minnesota und vom Missouri und südlich von Dacota wohnen, wie folgt: Zwischen der vorgeschlagenen nördlichen Route und den britischen Besitzungen etwa 33,000, zwischen der Nord- und der Centralroute 92,000, zwischen der Central- und der vorgeschlagenen südlichen Route und Mexico 85,000, was zusammen 274,000 ausmachen würde.

Man kann sie endlich auch eintheilen in Hinsicht auf die Mittel zu ihrer Unterhaltung und die Methoden ihrer Subsistenz. Darnach mögen diejenigen, die sich selbst auf ihren Reservationen erhalten und die mit Ausnahme der Zinsen ihres eigenen Geldes oder der ihnen für die Cession ihrer Ländereien an die Vereinigten Staaten bewilligten Jahrgelder, von der Regierung nichts empfangen, 130,000, diejenigen, die gänzlich von der Regierung unterhalten werden, etwa 31,000, diejenigen, welche theilweise von ihr ernährt werden, 84,000, zusammen 245,000 zählen; diejenigen, die von der Jagd, der Fischerei, dem Sammeln wilder Beeren und Wurzeln oder von Betteln und Stehlen leben, mögen etwa 55,000 betragen. Von den 300,000 Indianern des Landes haben etwa 180,000 Verträge mit der Regierung geschlossen; 40,000 haben keine Verträge mit den Vereinigten Staaten, es sind ihnen jedoch durch Executivordre Reservationen zugewiesen worden, oder sie stehen unter der Aufsicht der erwähnten Agenten, welche die Regierung ernennt; 25,000 haben keine Reservationen, stehen aber mehr oder weniger unter der Controle der für sie ernannten Agenten und werden von der Regierung mehr oder weniger unterstützt. Der Rest besteht aus den erwähnten 55,000, über welche die Regierung factisch keine Controle ausübt, für welche keine Verträge und keine sonstigen Bestimmungen bestehen. In Bezug auf die Civilisation kann man sie, jedoch mit nur geringer Zuverlässigkeit und stets mit Rücksicht auf das, was man von einer Race mit solchen Antecedentien und Traditionen, wie die der Indianer, erwarten kann, eintheilen in 97,000 civilisirte, 125,000 halbcivilisirte und 78,000 völlig barbarische Indianer. Die Zahl der gegenwärtig noch feindseligen und marodirenden Indianerbanden schätzt der Bericht auf 8000. Unter ihnen ist vorzugsweise der Kiowa-Stamm vertreten, welcher, wie gemeldet, jetzt wieder gezüchtigt worden ist. Diese Zahl wird mit jedem Jahre mehr und mehr zusammenschmelzen. Der fortschreitende Bau der Eisenbahnen verengt ihr Terrain zusehends.

Die Romantik, welche bei uns noch von der Zeit her, wo Seume seinen Canadier dichtete, die edelmüthigen Indianer umgiebt und ihr freies Jägerleben, ihre einfachen Sitten und Anschauungen verherrlicht, sie muß zerfließen gegenüber der harten Wirklichkeit der Gegenwart. Jene nomadisirenden räuberischen Grenzstrolche des Westens verdienen das gleiche Schicksal wie die weißen Rowdies der großen Städte des Ostens. Mit der Zeit wird sicher die noch in der Entwickelung begriffene amerikanische Civilisation mit Beiden fertig werden.

M. Lindeman.




Die Blätter fallen.

Als schweigend ich die rothe Rose
In Deine weiße Hand gelegt,
Da zuckten Deine Lippen leise –
Ich sah es wohl, Du warst bewegt.

Zu Deinen Füßen warf mich nieder
Ein unaussprechlich weher Schmerz;
Du wandtest Dich und preßtest heftig
Die Rose an Dein klopfend Herz.

Und gabst zum Abschied mir noch ein Mal
Die bleiche Hand, die, goldbereift,
Von meines Lebens Baum die Blüthen
Nun alle, alle abgestreift. –

 Alexander Duncker.

[758]
Zu glücklich.*[1]


Unsere Dichter und Schriftsteller wollten am 25., 26. und 27. September dieses Jahres in Weimar einen „Deutschen Dichtertag“ abhalten und dem Realismus und Materialismus der Gegenwart gegenüber die Fahne der Ideale neu erheben. Die Absicht blieb unausgeführt. Warum? Vielleicht weil sie „Absicht“ war und keine gereifte innere Nothwendigkeit.

Auch ich gehörte zu denen, welche den deutschen Dichtertag äußerlich froh begrüßten, innerlich aber nur ein wehmüthig-skeptisches Achselzucken für ihn hatten. Und gerade für mich sollten sich jene Tage zu den drei fürchterlichsten Leidenstagen gestalten, die ein Menschenleben aufzuweisen im Stande ist. Was ich hier erzählen will, schmerzlich Erlebtes und Erlittenes, wird es in anderen Gemüthern einen Nachhall finden? Sicher nicht bei denen, welche die heilige Weihe des Schmerzes noch nicht empfangen haben; nicht bei der fröhlichen, schäumenden Jugend, aber gewiß bei Allen, welche das Leben gerüttelt und geschüttelt hat, die aber der Welt nicht zeigen können, nicht zeigen dürfen, was sie, wie tief sie empfinden. Das ist das schöne Vorrecht unseres Standes, daß wir mit der Außenwelt eine andere Sprache, als die rein conventionelle reden, der Sprache wenigstens einen idealen Stempel aufdrücken dürfen. –

Ich bin dreiundfunfzig Jahre alt. Hinter mir liegt ein Leben, wie es an Mannigfaltigkeit wohl selten einem Sterblichen zu Theil geworden sein dürfte. Was die Welt Großes und Schönes bietet, ich habe es genossen. Stürme aller Art haben mich umtobt. Nur eins ist mir stets fremd geblieben: die bittere Nahrungssorge. Meine zahlreichen Enttäuschungen waren geistiger und gemüthlicher Art; Trümmer auf Trümmer von Illusionen, die ich mir über Welt und Menschen innerlich machte, während ich äußerlich über sie spottete. Andere jagen nach dem Glück; ich jagte seit achtzehn Jahren nach dem Frieden und fand stets nur den Kampf mit dem Leben.

Das Schlimmste, das mir passirte, war, daß ich – eine reiche Frau heirathete.

Ohne Furcht, meine verehrten Leser und Leserinnen! Ich habe den Verstand noch nicht verloren. Eine reiche Frau ist gewiß kein Unglück, wenn sie uns versteht, wenn die Geister und Gemüther, ohne über einen Leisten geschlagen zu sein, mit einander harmoniren, oder meinetwegen, wenn der männliche Theil hinreichend Mangel an Stolz besitzt, die Ehe nur als eine Sinecure des materiellen Lebens zu betrachten. Beides war bei mir nicht der Fall. Mein Leben gestaltete sich ruhelos in meiner Ehe – zu einer Dissonanz des Gemüths, welche achtzehn lange Jahre klang.

Die Beschreibung einer unglücklichen Ehe ist gewiß eine „sehr pikante“ Lectüre. Sie gehört jedoch nicht hierher, denn es ist weder ritterlich, anzuklagen, noch sich zu entschuldigen, und zwar um so weniger, als in meinem Falle nichts vorlag, als die totale Disharmonie der Organisation der Charaktere.

Endlich sahen wir auf beiden Seiten ein, was wir im ersten Jahre hätten einsehen müssen: – daß unsere Ehe unhaltbar sei. Wir wurden gerichtlich geschieden.

Ich verheirathete mich zum zweiten Male.

Die Beschreibung einer glücklichen Ehe ist gewiß auch eine „sehr pikante“ Lectüre. Sie gehört eben so wenig hierher. Es genügt zu wissen, daß meine Helene weder reich, noch jung, noch eine „Schönheit“ war. Wir kannten uns mehr aus einem literarischen Briefwechsel als durch das Leben, und lange Jahre waren wir Hunderte von Meilen von einander getrennt.

Wie durch einen Zauberschlag aber kehrte mit dieser meiner zweiten Ehe der Friede in meiner Seele ein. Ich hatte eine Frau, welche, ohne alle meine Ansichten und Meinungen ganz zu theilen, mich verstand, meine guten Eigenschaften zu heben, meine schlechten zu sänftigen wußte. Nicht die leiseste Dissonanz störte unser Leben. Wir waren so glücklich, ohne im Rausche des Glückes zu sein, daß wir Beide uns oft des Aberglaubens nicht zu erwehren vermochten, „ein solches Glück könne nicht von Dauer sein“.

Wir lebten in einer großen, geräuschvollen Stadt, welche mir in der Seele zuwider war. Acht Monate nach unserer Verheirathung wurde mir eine ehrenvolle Stellung in der freundlichen Residenzstadt Weimar angetragen, eine Stellung, welche auch den äußeren Frieden mit der Welt in sich schloß und ein sicherer Hafen nach den zahllosen Stürmen meines Lebens werden mußte, so weit man nach menschlicher Berechnung ein solches Prognostikon stellen kann. Ich eilte voraus, um „das Nest einzurichten“. Mein braves Weib blieb unterdessen auf dem Gute unserer Verwandten in Mecklenburg, um ihre Niederkunft zu erwarten, und während ich in Weimar Alles einrichtete, eine reizende Wohnung in schönster Lage erwarb, ging eine von Humor und Witz sprudelnde Correspondenz zwischen uns ihren Gang. Denn, obgleich absolut frei von aller Sentimentalität, freute es mich doch, einen „Dauphin“ zu bekommen, dem ich meinen Namen und meine Ersparnisse hinterlassen konnte. Mein Gemüth war heiter und lachend, wie ein schöner, schöner Sommerabend. Mein Leben lag klar und hell vor mir, wie ein schöner, stiller Gebirgssee. Mein geistiges Leben – – einer unserer ersten Dichter war mein Freund und Dutzbruder geworden. Meine musikalische Tendenzrichtung (Richard Wagner) fand an dem Orte, wo ich lebte, die reichste Nahrung. Die garstige Politik, die mein Leben so oft verbittert hatte und mich so oft „irrlichteriren“ ließ, war wie ein wüster Traum vergessen. Junge, strebsame Kunsttalente zu unterstützen, war mein Beruf, der aufgeblasenen Arroganz entgegenzutreten, meine Kampfesmission geworden; denn ohne allen Kampf geht es ja nun einmal nicht im Leben.

Ich fragte mich mitunter, ob dieses gegenwärtige und das noch zu erwartende Glück nicht ein Traum sei. Ich war an ein ruhiges Schaffen ja so wenig gewöhnt gewesen und sah erstaunt, daß ich die besten Erfolge damit erzielte. Mit keinem Krösus, mit keinem Kaiser und König hätte ich getauscht. Ich fühlte mich vollkommen glücklich. –

Wer aber in der Welt kann die Behauptung wagen, daß er zehn Monate lang in seinem Leben „vollkommen glücklich“ gewesen? –

„Aber auch aus entwölkter Höhe
Kann der zündende Donner schlagen.“

Du sitzst in deinem Zimmer, blickst hinaus in den heitersten blauen Himmel, in den hellen Sonnenschein und siehst die Wolke nicht, welche sich auf der andern Seite Deines Hauses geballt hat. Plötzlich – ein gellend klingender Ton, ein krachender Schlag und ein Wetterstrahl, der Dir die Augen blendet und Dich von Deinem Ruhesitze wie eine Feder in die Höhe schnellt. – – – Dann Blitz auf Blitz, Schlag auf Schlag, Sturm und Regen und nach dem Gewitter ein düster umschleierter nächtiger Nebelhimmel. –

Ich saß an meinem Schreibtische. Ein Brief an einen Freund in G., in welchem ich mit meinem Glücke prahlte, war halb vollendet. Ich bat darin den Freund zum „Gevatter“ bei meinem „Dauphin“ in spe und ließ meiner Laune nach Behagen den Zügel schießen.

Die Klingel an meiner Wohnung wurde heftig gezogen. Ich öffnete. Ein Telegramm. – Was war denn das? Ich glaube gar, der Athem stockte mir, als ich meinen Namen unter die Empfangsbescheinigung schrieb.

„Helene soeben durch zwei Aerzte entbunden. – Kind todt. – Helene sehr, sehr schwach.“ –

Es war der „gellend klingende Ton“ des Wetterstrahls aus heiterm Himmel. Das Telegramm kam von dem Gute meines Schwagers in Mecklenburg, datirte vom Dienstag, 22. September, Morgens neun Uhr. Die energievolle Frau meines verstorbenen Vaters, bei welcher ich interimistisch Quartier genommen, hatte alle Mühe mich zu hindern, daß ich nicht in demselben Augenblicke abreiste und dadurch gerade das störte, was meiner Frau vor Allem Bedürfniß sein mußte: Ruhe. Mein herrlicher Freund, der erwähnte Dichter, schleppte mich in seine Wohnung. Ich mußte dort zu Mittag essen, und er und seine Frau, selbst Eltern von sieben Kindern, beruhigten mich einigermaßen und „bewiesen“ mir, daß das Telegramm nichts enthielt, was auf [759] eine wirkliche Gefahr schließen lassen konnte. Inzwischen hatte ich selbst zurücktelegraphirt:

„Ist Gefahr? Soll ich kommen?“

Am Abend desselben Tages erhielt ich gleichzeitig mit einer schon vom Montag datirten Correspondenzkarte von meiner Frau, auf welcher sie mir einige freundliche Worte sandte, aber verschwieg, daß die Katastrophe sich bereits ankündige, die Antwort auf meine Anfrage:

„Helene fürchtet Aufregung, wenn Sie kommen. Brieflich Näheres.“

Ich war beruhigt. Meine Frau lebte, disponirte mit klarem Verstande. Ich hatte mich unnöthiger Weise beängstigt. Das Kind freilich war todt, doch die Wahl zwischen Frau und Kind fällt in solchen Augenblicken nicht schwer. Meine Helene lebte, das war Alles für mich. Die nächste Nacht verstrich mir schlaflos – aber ich philosophirte mich in die neue Situation hinein. „Sind Dir die Vaterfreuden nicht beschieden, so schließe Dich um so inniger an Dein Weib an! Zur Tagesordnung!“ tönte es entschlossen in meinem Innern. Sie kam, die „Tagesordnung“. Am Mittwoch, 23. September, zwölf Uhr Mittags, schrillte die Klingel abermals:

„Helene in Gefahr, kommen Sie bald!“

lautete das Telegramm. Hatte sich mein erster Schreck und meine Angst am Tage zuvor in Thränen Luft gemacht, so waren jetzt meine Augen trocken und fieberheiß. Der Gedanke an den Tod eines Wesens, das mir mehr war als mein eigenes Dasein, machte mich erbeben. Ich mußte diesem Tode in’s Antlitz starren, und das furchtbare „Muß“ erstickte selbst den lindernden lauten Ausbruch des Schmerzes. Wie betäubt ging ich zum Bahnhofe. Ich signalisirte meine Ankunft per Draht und bestellte mir ein Fuhrwerk für Nachts drei Uhr auf die Eisenbahnstation von H., denn das Gut, wo meine Frau im Sterben lag, befand sich noch drei Meilen weit landeinwärts von dieser Station.

Gegen drei Uhr Nachmittags fuhr ich fort. Ueber Halle und Berlin. Ein Umweg von zehn Meilen, der aber den Vortheil hatte, daß ich unterwegs nicht auf die correspondirenden Züge zu warten brauchte.

Es war ein wunderbar schöner Spätsommerabend, schön sogar in der trostlos flachen Gegend zwischen Saale und Elbe. Der Mond stand majestätisch am Himmel. Ich erschrak bei seinem Anblicke. Morgen war es Vollmond, und ich kannte aus meinen Reisen in den Tropenzonen den Einfluß des Mondes auf Kranke und Sterbende – dieser Sommerabend war fast so lau und warm, wie die Tropen. Umsonst rief ich alle Skepsis zu Hülfe. Umsonst sagte ich mir: Du erzeigst dem armen Monde in unsern nordischen Breitegraden zu viel Ehre. Der Gedanke, daß mein Weib mit dem sinkenden Vollmonde morgen Nacht sterben müsse, ward in mir zur dämonischen Gewißheit. Ich sah in dem Trabanten unserer Erde den Mörder meiner Frau.

Berlin! Ah! Das Geräusch und Getöse in der Kaiserstadt weckte mich aus meinem Hinbrüten. Ich warf mich in eine Droschke und fuhr nach dem Hamburger Bahnhofe.

Hm! alle diese Menschen, die du hier fröhlich und geschäftig gehen siehst, was sind sie im Grunde anders als wandelnde Leichen? – Dort steht die Siegessäule. Dem Andenken vieler Tausende von Todten zugleich errichtet. Freilich! der Tod ist Nichts, wenn er uns selbst trifft. Ich bin ihm oft genug gegenübergestanden. Auf Schlachtfeldern, auf dem stürmischen Ocean, an fieberverpesteten Meeresküsten etc. Aber Andere sterben sehen, Andere, die man liebt, die uns das Höchste auf der Welt sind, das ist schlimmer als Sterben, das ist die scharfe Klinge des erbarmungslosen Fatums, die uns trifft, verwundet. Und wenn die „Zeit“ die Wunden heilt – die Narben heilt sie nicht, und es giebt Narben, welche schmerzhaft wieder aufbrechen als blutende Wunden der Erinnerung.

Um drei Uhr Nachts verließ ich den Zug bei H. Ein offener Jagdwagen, mit einem kräftigen Pferde bespannt, erwartete mich. Der Kutscher brachte mir ein Schreiben meines Schwagers. „Helene’s Zustand noch unverändert. Wir wollen das Beste hoffen,“ hieß es darin. Ich stieg auf den Wagen, und fort ging es in raschem Trabe.

Diese Nacht vom 23. auf den 24. September war eine Sternennacht, wie ich mich nicht erinnere, sie jemals, selbst auf den Höhen der Cordilleren nicht, gesehen zu haben. Fehlten auch die südlichen Sternbilder, das „Schiff des Argo“, das „Kreuz des Südens“, die „Wolken des Maghellan“ etc., so funkelte und flammte der „Orion“, so leuchteten die „Plejaden“ mit einer diamantenen Intensität, als ob sie selber Diamanten wären. Ein leuchtender Baldachin des majestätischsten Friedens wölbte sich das Sternenfirmament über meinem Haupte und – „es kann nicht sein! Es kann nicht sein, daß dir jetzt in dieser Harmonie des Weltalls das Theuerste geraubt wird,“ keuchte es in meiner Seele.

Der Mond sank unter den Horizont; die Sterne erbleichten rasch; das Grauen des Tages begann im Osten. Die Luft wurde kalt, kalt wie eine Leiche. – Eine halbe Stunde vor unserm Gute fuhr der Wagen an einem schwarzgekleideten Fußgänger vorüber. Das bleiche Gesicht eines dem Anschein nach noch jungen Mannes blickte mich an.

„Kennen Sie den Herrn?“ fragte ich den Kutscher und erwartete die Antwort, es sei ein Arzt.

„Nein, ich kenne ihn nicht; er ist nicht hier aus der Gegend,“ wurde mir zum Bescheid.

Wir bogen in einen sandigen Feldweg ein. Am Ende desselben stand die Windmühle des Dorfes, welches unser Ziel war. Sie hatte durch einen Sturm einen Flügel verloren. – Man achtet auf Alles in Stimmungen, wie die meinige es war. Der Glaube schwindet; man klammert sich an den Aberglauben an.

Fünfzig Schritte vor dem Thorwege des Gutes ließ ich den Wagen halten, um meine sterbende Frau nicht durch das Rollen der Räder zu erschrecken. Die Schwestern meiner Helene und mein Schwager erwarteten mich bereits und kamen mir entgegen. Der große Kettenhund bellte nicht freudig wie sonst, wenn er mich sah; er winselte mich an.

„Todt?“ fragte ich mit bebender Stimme.

„Der Doctor meint, wenn keine Entzündung hinzutritt, kann Helene vielleicht gerettet werden. Jetzt schläft sie,“ antwortete mein Schwager.

Dann, während wir in das Haus traten und mein Auge auf einen kleinen Sarg fiel, sagte er mit halblauter Stimme hinzu:

„Wollen Sie das Kind sehen? Ich fahre es gleich nach dem Kirchhof.“ – –

Der rauhe Egoismus der Mannesnatur flackerte in mir auf. Mit einer heftig abwehrenden Bewegung rief ich:

„Schweigen Sie von dem Kinde! Mein Weib, mein Weib! Darum bin ich hier.“ –

Bald darauf erschien der Arzt. Er verhehlte mir das Kritische der Lage nicht. An seiner Hand betrat ich das Krankenzimmer – mit einer Nothlüge. Die „Ungeduld“ hätte mich herbeigeführt, erklärte der Doctor und es hätte keine Gefahr auf sich, wenn ich in der Nähe der Kranken wäre.

Helene drückte mir sanft die Hand. Ich fühlte den Puls. Schwach, aber in dreifach raschern als normalen Schlägen fieberte das entkräftete Blut. Mein Auge, als es sich an das gedämpfte Licht der Wochenstube gewöhnt hatte, fiel auf ein Leichengesicht. Die dunkeln Augen hatten ihr Pigment verloren und stierten in verglastem Hellgrau in die Leere. Die halbgeöffneten Lippen waren hart und erwiderten den leisen Kuß nicht, den ich ihnen aufdrückte. Meine Frau erkannte mich, aber die Worte, die sie sprach, waren zusammenhangslos, verworren.

Ich begriff, daß die größte Ruhe das einzig mögliche Rettungsmittel sei, und entfernte mich leise wieder mit dem Arzte.

„Doctor,“ sprach ich, als wir wieder draußen waren, „zur Entzündung der inneren Theile kommt es nicht; die Entkräftung ist schon zu groß; das reagirende Fieber beschleunigt nur die Auflösung.“

Der Arzt zuckte die Achseln.

„Dennoch gebe ich nicht alle Hoffnung auf,“ sagte er. „Etwas normaler ist der Zustand seit gestern geworden, freilich, nur Etwas.“

Die Stunden dieses Tages jagten dahin. Es ward Mittag; es ward Abend, ehe ich es ahnte. Und ich, der ich so gern nicht eine Secunde vom Krankenbette gewichen wäre, mußte mir Zwang anthun und den Schwestern meiner Frau die bessere, weibliche Pflege überlassen.

Als der Doctor Abends wiederkam, fand er die Kranke [760] noch besser. Vielleicht war es eben nur zum Scheine, daß er erklärte, vor morgen Mittag würde er nicht wieder kommen. Als ich den Arzt an den Wagen begleitete, erhob sich gerade der Vollmond, und das Licht der Mondscheibe strahlte golden durch die Pappeln vor dem Hofe.

Der Vollmond! Mir schien er als ein gewisser Todesbote. Zu oft hatte ich in den heißen Zonen seinen Einfluß auf Kranke und Sterbende beobachtet und der Himmel über uns war heute im hohen Norden klar und duftig, wie der Himmel in den Wendekreisen. Ich zwang mich zu hoffen und griff nur in die Hoffnungslosigkeit hinein. Was ich ersehnte, war ein umwölkter Himmel. Ich berechnete angstvoll die Stunde, wo das Mondlicht ganz und voll auf die Fenster des Krankenzimmers fallen würde. Das mußte gegen vier Uhr Morgens sein, wo der Mond dem Untergehen nahe war.

Bis Mitternacht lag die Kranke in einem verhältnißmäßig ruhigen Schlummer. Meine ganze Umgebung war freudiger gestimmt worden, ja verspottete meinen „Mondglauben“, wie sie es nannten. Nur ich blieb düster und blickte mit ohnmächtigem Grimme in die volle Mondscheibe. – Um Mitternacht – der Mond hatte seinen Höhepunkt erreicht – begann meine Frau irre zu reden. Ein Knecht wurde zu Pferd nach dem Arzte geschickt, der ihr eine leichte Dosis Opium verordnete. Die Medicin blieb wirkungslos.

Jetzt änderte sich das düstere Bild plötzlich, aber nur um noch düsterer zu werden: ein Gewitter zog herauf. Dasselbe Gewitter, welches in der Nacht vom 24. auf den 25. September über Schwerin und Hamburg so furchtbar tobte, daß die ältesten Leute sich eines ähnlichen nicht zu entsinnen vermochten. Ueber unsern Häuptern Blitz und Donner und schwarze Wetterwolken, am westlichen Horizonte der klarste Himmel und die sanft und ruhig sinkende Mondscheibe. Auf dem Gute ward Alles lebendig. Die Pferde wurden, wie es auf dem Lande bei Gewittern Gebrauch, angeschirrt, die Ställe geöffnet; in allen Zimmern wurde Licht angezündet. So stand ich am Sterbelager meiner Helene. Draußen das furchtbare Rollen des Donners, ein Feuermeer von violetten Blitzen und ein wolkenbruchartiger Platzregen, den der Sturm schwer gegen die Fenster des Sterbezimmers schleuderte. Dazwischen der laute Klageruf einer Nachteule – der Gesang des Todtenvogels, wie der Aberglaube behauptet. Im Zimmer aber das matte, bewußtlose Stöhnen meines Weibes.

Ich legte der Sterbenden die Hand auf die feuchte Stirn und sprach sanft:

„Schlafe, Helene – ich will es.“

Als ob das arme Wesen mich verstünde, hörten die Sterbeseufzer auf, und ein regelmäßiges Athemholen trat an die Stelle. Ich warf einen Blick nach außen. Immer tiefer sank der Mond; in einer Stunde mußte er unter der Horizontlinie sein. Der Donner wurde schwächer; das Gewitter nahm von uns mit einem majestätischen Wetterleuchten Abschied. Helene schlief sanft und fest.

Meine Kräfte, meine Willenskraft waren erschöpft. Die Natur mußte sich Luft machen in einem Thränenstrome. Das durfte im Krankenzimmer nicht sein; ich schlich mich hinunter, warf mich auf das Sopha und fiel vor Erschöpfung selber in einen festen Schlaf.

Plötzlich erwachte ich. Die Schwestern meiner Frau standen vor mir. Ich fuhr in die Höhe.

„Schläft Helene?“ rief ich.

„Ja, sie schläft,“ war die Antwort. „Gönnen Sie sich auch Ruhe!“

„Schläft sie fest?“ stammelte ich.

„Ganz fest.“

Man wandte sich ab.

„Todt?“ schrie ich.

„Ja, sie ist sanft entschlafen.“ – –

Ich stand an der Leiche meines geliebten Weibes. Der Mond sank unter den Horizont hinab; ein schwacher, schwacher ferner Donner gab das Requiem und –

„Nessun’ maggior dolor
Che ricordarsi de tempi felice
Nella miseria“
*[2]

war das Sterbegebet, welches ich, der „Hölle des Dante“ entlehnend, sprach.

Der Tag nach dem Gewitter war grau und düster wie ein Decembernebeltag. Nur Eins lächelte, und das waren die Leichenzüge meines todten Weibes. Nach einem sturmbewegten Leben hatte ich zehn Monate des Friedens an ihrer Seite gefunden, und nun – todt! – Es lagen noch drei Briefe von mir uneröffnet im Sterbezimmer, drei freundliche, glückstrahlende Briefe, welche zu spät gekommen waren, um gelesen werden zu können. Ich schob sie heimlich der Todten in den Sarg, den Aberglauben, daß „die Todten nachziehen“, trotzig herausfordernd. Meine Briefe sind mitbegraben worden. Nous verrons.

Am Sonntage war die Beerdigung auf dem Kirchhofe des Städtchens W. Ich hatte jedes Gefolge verbeten. Nur die Familie und ich erwiesen der Dahingeschiedenen die letzte Ehre. Wir waren allein an der Trauerstätte. Der Sarg ward in die Gruft gesenkt. Die Träger brachten einen zweiten, kleinen Sarg. Das todte Kind war wieder ausgescharrt worden, um mit der todten Mutter in einem Grabe zu schlummern. Ich blieb am Grabe, bis die letzte Scholle Erde den letzten Theil der beiden Särge bedeckte.

Schlaf wohl, meine Helene! Ich war zu glücklich, denn ich hatte mehr als Glück, ich hatte – den Frieden gefunden.

„Nessun’ maggior dolor
Che ricordarsi de tempi felice
Nella miseria“

W. M–r.
  1. * Wie düster auch die Farben des obigen Stimmungsbildes wirken mögen, so wird in ihm doch nur in treuen Zügen die Schmerzenszeit eines auch unseren Lesern bekannten Schriftstellers geschildert, dessen Leid sicher in vielen Herzen nachklingen wird.
    D. Red.
  2. * Es giebt keinen größern Schmerz, als sich der glücklichen Zeiten im Elend zu erinnern.




Die Aachener Reliquien.
Von Carus Sterne.
II.

Am Ende des vierten Jahrhunderts war der kurze Kampf von Staat und Kirche gegen die Vielgötterei, welche mit den Märtyrer-Reliquien eingeführt worden war, aufgegeben, und das Heidenthum begann unter andern Formen und Namen wieder aufzuleben. Noch im Jahre 386 hatte Kaiser Theodosius streng verboten, die Ruhe der Märtyrer zu stören, ihre Ueberreste an andere Orte zu bringen, sie zu theilen oder gar Handel damit zu treiben, aber elf Jahre später verordnete schon das Concil von Carthago, auf eine Stelle des sechsten Capitels der Offenbarung Johannis (!) fußend, daß die Altäre der Kirche durch darauf niedergelegte Reliquien zu heiligen seien. Dieser Gebrauch wurde darauf als so unumgänglich erkannt, daß der heilige Ambrosius sich trotz der Bitten des Volkes weigerte, eine Kirche einzuweihen, die keine Reliquien aufzeigen konnte, und das Concil von Constantinopel (692) die Zerstörung aller Altäre anordnete, unter denen sich keine Reliquien befänden. „Es liegt eine eigene tragische Ironie darin,“ sagt Karl Hase, „daß jene Märtyrer, die sich selbst geopfert haben, um nicht falschen Göttern zu opfern, gerade die Ahnherren der Heiligen geworden sind, denen wiederum neben dem wahrhaftigen Gotte Altäre errichtet und Weihrauchfässer geschwenkt werden.“

Die Sammelwuth der Reliquien stieg von jener Zeit bis in die Kreuzzüge hinein und artete bei einzelnen Kirchenpatronen zu einer wahren Narrheit aus, sofern ihr ganzer Ehrgeiz darauf hinausging, die kostbarsten Reliquien zu besitzen, sie um jeden Preis zu kaufen und andern Liebhabern dabei zuvorzukommen oder ihr Angebot zu überbieten. Die unscheinbarsten, oft ekelhaft aussehenden Gegenstände wurden so zu einer der begehrtesten Handelswaaren und zu dem Objecte gewinnsüchtiger Speculationen. Man hat mehrere Beispiele, daß die Belagerung wichtiger Festungen um eine von den Eingeschlossenen dargebotene Reliquie aufgehoben wurde, und der Kaiser Heraklius erließ dem von ihm [761] mehrfach auf’s Haupt geschlagenen persischen Fürsten, der vordem Jerusalem erobert und geplündert hatte, gegen Rückgabe des Kreuzes Christi und ähnlicher Reliquien alle und jede Kriegsentschädigung und Buße. Einige Beispiele historisch verbürgter Preise geben den besten Maßstab für den Grad der herrschenden Verblendung. Kanut von England zahlte für einen armseligen Arm des heiligen Augustin, der nicht einmal Märtyrer war, hundert Talente Silber; Heinrich dem Löwen, der auf seinem Kreuzzuge einen Daumen des heiligen Markus erbeutet hatte, bot die Republik Venedig vergeblich für diese ihr besonders theure Reliquie eine halbe Million Thaler; Ludwig der Heilige hielt die Kosten seiner sehr unglücklichen Kreuzfahrt reichlich durch die erworbenen Reliquienschätze bezahlt. Es glückte ihm obendrein, die Dornenkrone zu erlangen, welche der byzantinische Hof für 15,000 Goldstücke an einen venetianischen Kaufmann verpfändet hatte und nicht wieder einlösen konnte, wofür Ludwig noch dem Kaiser Balduin 10,000 Mark Silber Entschädigung gab. Niemand war glücklicher als der fromme König von Frankreich, der dem seltenen Schatze barfuß entgegen zog und ihn selbst in seine Hauptstadt hineintrug. Man kann sich denken, wie viele Heilige damals gegründet wurden, und berechnen, was ein wohlgeleitetes Altknochen- und Lumpengeschäft einbringen konnte. Die Reformation veranlaßte den „Krach“ dieses Kirchengeschäfts; man erzählt, daß ein englisches Kloster schon unter Heinrich des Achten Regierung einen um 40 Pfund versetzten Finger des heiligen Andreas nicht habe einlösen wollen.

Zur einträglichen Ausbeutung der Reliquien-Tollheit gehörte in jenen Zeiten nichts weiter als eine zureichende Kenntniß der Kirchengeschichte und solide Geschäftsverbindungen im Morgenlande. Die Waare selbst war am Ende an jedem Orte zu finden. Kein Galgen war damals vor einer Plünderung sicher, und selbst einem heiligen Martinus von Tours – heutzutage selber ein großer Heiliger – konnte es zustoßen, daß sein Geschäftsfreund auf dem Todtenbette bekannte, ihm das betrübte Beingerüst eines armen Sünders als Heiligen-Reliquie verschachert zu haben. Andern erging es vielleicht noch schlechter, insofern sie zuletzt erfuhren, ihre inbrünstigen Gebete jahrelang an die unheiligen Knochen irgend einer Bestie vom Schindanger gerichtet zu haben.

Nicht ohne schmerzliches Bedauern standen die Reliquienhändler vor den beiden Gräbern der Maria, die sich glücklicherweise in den Himmel gerettet hatte, zu Ephesus und Jerusalem, wenigstens aber legte man auf ihre Locken und auf ihre sämmtlichen Kleider als Andenken Beschlag; ihren Gürtel, welcher außer an vielen andern Orten auch in Aachen vorhanden ist, soll sie im Entschweben dem heiligen Thomas in den Schooß geworfen haben. Falsche Haare sind heute nichts Seltenes, aber so viel verschiedenfarbige Zöpfe und Locken, wie die Maria ihren Verehrern hinterlassen hat, kann kaum die wohlassortirte Perrückenkammer einer Schauspielerin aufweisen. Die Aachener sind meistens blond.

Christus hat außer vielen Blutspuren mehrere Nabel und – damit die Schwindeleien der Geistlichen nicht aus unangebrachter Scham verschwiegen werden – auch mehrmals dasjenige hinterlassen, wofür er seinen Taufnamen eingetauscht hat. Man entblödete sich nicht, diese letztere Reliquie an fünf verschiedenen Orten der Verehrung der Gläubigen auszustellen, und thut es bis auf den heutigen Tag. Die Windeln Christi, welche über die Welt zerstreut sind, zählen nach vielen Dutzenden. Die Aachener bestehen aus einem braunen Wollengewebe und sollen nach alter Tradition aus den Hosen oder Strümpfen des heiligen Joseph gefertigt sein. Ebenso verhält es sich mit Christi Schweißtuch und Gürtel; selbst der ungenähte Rock ist in mehreren Exemplaren vorhanden. Die Marterwerkzeuge, die Dornenkrone, die Nägel, der Schwamm, das Rohr, die Lanze sind so oft gefunden worden, wie man sich nach ihrem Besitze gesehnt hat, und an jedem Stücke kleben einige eingetrocknete Tropfen des kostbaren für die Menschheit vergossenen Blutes. Es sind nach Bestellung gefertigte Waaren, gegen die man höchstens einwenden kann, daß Schnitt und Styl nicht immer richtig getroffen sind.

Interessanter ist der Fall bei den mehrfach vorhandenen Köpfen, Gliedern oder ganzen Skeleten eines und desselben Märtyrers, die sich dann gegenseitig ihre Unechtheit vorwerfen. Allerdings mag der Streit meistens unnütz sein, denn in der Regel sind sie alle unecht. Gleichwohl müssen sie verehrt werden, denn das Concil von Trient hat (1563) gegen alle Diejenigen, die ihnen nicht die schuldige Verehrung erweisen, den Fluch der Kirche geschleudert. Zugleich hat die Kirche wiederholt die Möglichkeit öfteren Betruges zugestanden, aber zugleich einen erheblichen Schaden derartiger Vorkommnisse geleugnet, da es bei der Verehrung weniger auf Echtheit der Reliquie als auf Echtheit des Glaubens ankomme. Selbst die mehrfache Ausstellung derselben Reliquie hat sie niemals anstößig gefunden, denn einmal könne man nicht wissen, welches die echte sei, und andererseits könne sich eine Reliquie, welche Wunder wirke, auch zur Bequemlichkeit der Gläubigen vervielfältigt haben, oder durch ein Wunder Gottes vervielfältigt worden sein. Es ist leicht einzusehen, daß mit solchen Zugeständnissen die Betrügerei geradezu autorisirt wurde. Schließlich hat sich ein ansehnlicher Theil des Clerus selber dieses einträglichen Geschäftes bemächtigt.

Den Anfang mag der Handel mit Kreuzpartikeln und dem Feilstaub der in Rom verwahrten Kette des heiligen Petrus gemacht haben. Man schloß den letzteren in die Höhlung von silbernen, kupfernen oder eisernen Schlüsseln ein, welche der Papst als kostbares Geschenk, sozusagen als Himmelsschlüssel austheilte. Die Nägel vom heiligen Kreuz wurden vervielfältigt, indem man nach einem der angeblich echten Exemplare gefertigte Copieen mit jenem bestrich, wobei die geheimnißvolle Kraft des ersteren wie der Magnetismus übergehend gedacht wurde, ohne daß in jenem die Stärke dadurch vermindert wurde. Man erzählt, daß der heilige Borromäus den angeblich echten Mailänder Nagel auf diese Weise verachtfacht habe, und kann sich sonach nicht wundern, daß die drei oder vier Nägel, welche Helena mitgebracht haben soll, eine zahlreiche Nachkommenschaft gehabt haben.

Aber auch auf andere Gegenstände wurde diese Heiligung durch Berührung zugestandenermaßen häufig angewendet. Wenn man einmal zugab, daß in die Windeln oder den Rock eines Heiligen etwas von der Kraft desselben, Wunder zu thun, eingezogen sein konnte, so mußte dies auch geschehen können, wenn man ein gewöhnliches Tuch kurze Zeit über die wunderthätigen Heiligengebeine ausbreitete. Wir haben das Zeugniß Papst Gregor des Großen, eines der ersten Kirchenlichter, daß dieser Gebrauch schon im sechsten Jahrhundert in Rom bestand. Er antwortet nämlich einer Fürstin, die ihn um das Haupt des vorgeblich in Rom begrabenen Apostel Paulus gebeten hatte, in einem noch erhaltenen Briefe, daß man wahre Märtyrergebeine nicht erheben könne, da Donner und Blitz, Krankheiten und plötzlicher Tod Jeden träfen, der sie zu berühren wage. Alle transportirbaren und aus der Ferne hergebrachten Reliquien seien nach seiner Meinung falsche. In Rom habe man deshalb den Gebrauch angenommen, etwas in einer Büchse eingeschlossenes Leinenzeug den Märtyrergebeinen zu nähern, was ungestraft geschehen könne, und dieses Leinenzeug sodann zu versenden. Es erlange durch die Berührung dieselben Kräfte wie die Reliquien selber und verrichte dieselben Wunder. Als einige Griechen dies bezweifelt hätten, da habe der Papst Leo eine Scheere bringen lassen und in derartiges heiliges Leinenzeug hineingeschnitten. Es sei sogleich Blut herausgeflossen. Man ersieht hieraus, wie früh bereits die römische Reliquienfabrikation die Sanction der Nachfolger Petri erhielt, und sie hat seitdem das Geschäft mit ungeschwächten Kräften, soweit es der Absatz gestattete, fortgesetzt. Vor zwei Jahren wurde ein solcher römischer Reliquienfabrikant, der es gar zu arg getrieben, vor die Gerichte gefordert. Nicht nur, wie der Ablaßkrämer in Chaucer’s Canterbury-Geschichten:

Macht’ er den Schleier, den Maria trug,
Aus eines alten Bettbezuges Resten,

sondern er fabricirte auch ganze Märtyrer, die das den echten versagte Vermögen, auf der Eisenbahn zu reisen, vertragen konnten. Warum sollte auch ein schneeweiß gebleichtes und von allen sündhaften Fleischresten kunstvoll befreites Armsünder-Gebein, wenn es ordentlich in einer Kirche eingesegnet und auf den Namen dessen, den es vorstellen soll, getauft wird, nicht ebenso gut und per procura Wunder thun können, wie der wahre Jakob?

Die Echtheit der Reliquien wird im Allgemeinen selten oder nie durch Documente, Inschriften, Siegel und dergleichen fälschbare Zeugnisse bewiesen, sondern immer nur durch die Wunder, welche sie bewirken. Man erkennt das Grabmal eines Heiligen nicht an dem Epitaph oder an Inschriften, sondern an den [762] Wundern, die auf demselben geschehen. Der fehlende Name wird dann in der Regel durch Traum oder Offenbarungen kund gemacht. Nun könnte ein naiver, junger Mann glauben, der Reliquien-Fabrikant müsse in größter Angst und Sorge sein, wie sein Präparat die Probe bestehen werde. Nicht doch, diese Sorge darf er getrost dem Käufer überlassen. Die Wundersucht der Menge ist, wie sie im Mittelalter war, auch noch heute so groß, daß der betrügerische Fabrikant eher glauben könne, er sei behext, als daß seine Reliquien jemals fehlschlagen könnten. Der heute vergessene heilige Paris in Paris hat seiner Zeit zum starren Schrecken der Jesuiten mehr Wunder gethan, als der Erzmärtyrer Stephan, obwohl dessen Gebeine ihrer Zeit das Denkbarste leisteten und auf der Insel Minorca mehrere hundert Juden freiwillig bekehrten, nachdem man ihre Synagoge verbrannt und sie zwischen Exil und Bekehrung wählen gelassen. Man denke doch an das Wasser von Lourdes, an die Wunder des heiligen Rocks zu Trier und seines Doppelgängers zu Argenteuil. Die heilige Louise von Lateau thut alle Freitage Wunder. Auch der heilige Hohenlohe that sie schon bei Lebzeiten.

Der Cardinal von Retz sah in Saragossa einen zweibeinigen Menschen, den alle Leute der Stadt vorher als einbeinig gekannt hatten und dem der Stumpf durch Einreibung mit Reliquienöl wieder nachgewachsen war. Mehr kann kein Mensch von einer Reliquie und daraus geflossenem Knochenöl verlangen, aber merkwürdig – der Cardinal von Retz, obgleich er den Mann sah und die Domherren seine Identität mit dem ehemaligen Einbein versicherten, scheint nicht an das Wunder geglaubt zu haben. Wir werden also nicht nöthig haben mehr zu thun als er.

Was mich betrifft, so glaube ich, daß der feste Glaube an Reliquien mitunter Krankheiten, nicht allein Nervenübel, sondern auch dem geistigen Processe entfernter stehende Unordnungen im Organismus beseitigt haben kann. Ein fester Glaube an Sympathiemittel, ärztliche Verordnungen etc. thut nicht selten ähnliche Wunder. Der italienische Philosoph Pomponatius, welcher am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts lebte, hat sehr richtig gesagt, daß die Knochen eines Hundes die Heilung eines Kranken ebenso gewiß hervorbringen würden, wie Märtyrer-Gebeine, wenn Jener das gleiche Vertrauen auf ihre Wirksamkeit hätte. Die geistige Umstimmung ist es, welche die Wirkung hervorbringt, nicht, wie die Kirche, welche das Vorhandensein heilender falscher Reliquien nicht leugnet, sagt, die Belohnung Gottes für den (Aber-)Glauben. Der Vater des englischen Ministerpräsidenten, I. Disraeli, erzählt einen prächtigen Beleg für diese Behauptung.

Als die Reformation sich in Lithauen ausbreitete, reiste der Fürst Radziwil, ein entschiedener Gegner derselben, nur darum nach Rom, um dem Papste seine Ergebenheit zu beweisen, und erhielt zum Danke eine Büchse kostbarer Reliquien von seiner Heiligkeit. Sobald die Letzteren in der Heimathskirche niedergelegt waren, ersuchten einige Mönche den Fürsten, die Wirksamkeit an einer Besessenen erproben zu dürfen, deren Krankheit bisher allen Beschwörungen getrotzt hatte. Man brachte die Besessene unter großem Volkszulauf nach der Kirche, versuchte noch einmal und wiederum vergebens, die üblichen kirchlichen Beschwörungsformeln, dann brachte man die Reliquien in Anwendung und sofort wich der Dämon. Dem Fürsten, welcher, als die Menge einmal über das andere Mal Wunder schrie, sich sehr in seinem Glauben gestärkt und glücklich fühlte, war dessenungeachtet nicht entgangen, daß der junge Edelmann, dem er seinen Schatz unterwegs anvertraut, während der heiligen Handlung gelächelt und mit dem Kopfe geschüttelt hatte. Darüber erzürnt, nahm er den jungen Mann bei Seite, um zu fragen, was er mit diesen Mienen habe ausdrücken wollen, und dieser, nachdem er um Verzeihung auch für das noch zu Erzählende gebeten, beichtete Folgendes: Er habe unterwegs die Reliquienbüchse verloren und, nicht wagend, den Verlust zuzugestehen, eine ähnliche anzuschaffen gewußt und sie mit Hunde- und Katzenknochen sowie ähnlichen Trümmern angefüllt. Sein Lächeln über den Pomp, welcher diesen Kehrichtabfällen zu Ehren stattfand, und besonders über ihre Kraft, die Dämonen auszutreiben, dürfte also verzeihlich erscheinen. Disraeli setzt hinzu, daß Fürst Radziwil nach dieser Erklärung ein eifriger Lutheraner geworden sei, überzeugt, daß die Heilung der Besessenen ein bloßer Betrug seiner Mönche gewesen sein müsse.

In der That kennzeichnet auch die Art, wie die Reliquien und Heiligen eine Heilung bewirken, den Vorgang als ganz gewöhnlichen Zauber. Man hängt bekanntlich ein Abbild des kranken Gliedes aus Wachs vor dem Reliquien-Schreine auf, damit die heilkräftige Wirkung erst auf dieses Abbild und dann sympathisch auf das Urbild zurückwirke. Es ist einfach die Umkehrung des bei den alten Griechen und Römern, sowie namentlich vom dreizehnten bis siebenzehnten Jahrhundert herrschenden Aberglaubens, daß man Jemanden durch Beschädigung seines Abbildes, durch das Stechen, Enthaupten oder Schmelzen desselben krankmachen und tödten könnte, eines furchtbaren Aberglaubens, der in Frankreich vielen hochgestellten Personen im Proceßwege das Leben gekostet hat. Der Reliquien-Schwindel schädigt aber die Gesellschaft nicht blos dadurch, daß er dem Aberglauben Vorschub leistet, sondern auch unmittelbar diejenigen Kranken, die im Vertrauen darauf, daß kein Arzt heilen könne, was selbst dem Heiligen unmöglich sei, die Hülfe des Ersteren aufzusuchen versäumen.

Was soll ich endlich von dem meist mit den Reliquien-Ausstellungen verbundenen Ablaßhandel sagen? Ueberall verkauft man nebenbei geweihte Wachsschafe gleichsam als ironische Ebenbilder des Käufers, die „wahre Länge des Kreuzes Christi“, ein heilkräftiges Band mit dem Siegel der Kirche und ähnlichen Unsinn. Am verderblichsten für die Sittlichkeit des Volkes ist ohne Zweifel der für das Anglotzen der Reliquien gewährte Ablaß aller Sünden. Das Aachener Stift behauptet sogar das Recht zu haben, seit den Zeiten des großen Karl einen vollkommenen Ablaß für alle bis zur Heiligthumsfahrt begangenen Sünden gewähren zu können, Ursache genug, die Aachener Heiligthumsfahrt zu einer der bedeutendsten in der Christenheit zu machen. Wie es damit in den alten Zeiten gestanden hat, ist nicht sicher nachzuweisen; Papst Leo der Zehnte soll durch seinen Ablaßbrief Aachen mit Jerusalem gleichgestellt haben; allein auch diese Urkunde ist verloren. Indessen besteht der Ablaßkram noch heute und Papst Pius der Neunte verlängert ihn von zehn zu zehn Jahren. Wie lange wird dieser Schwindel, der doch offenbar direct die Sittlichkeit und das allgemeine Rechtsbewußtsein schädigt, noch vom Staate geduldet werden? Die Reliquien des heil. Nepomuk in Prag, der bekanntlich nicht wegen Bewahrung des Beichtgeheimnisses, sondern wegen einfacher Widersetzlichkeit gegen das Staatsoberhaupt von der Moldaubrücke gestürzt wurde, sind von den Pfaffen sogar in den Ruf gebracht worden, Mörder und Verbrecher aller Art, die voll Vertrauen zu ihnen beten, vor der Entdeckung ihres Geheimnisses durch die weltliche Obrigkeit zu beschützen.

Zu einigen Schlußbemerkungen giebt mir noch das vielgenannte Reliquienkästchen „Noli me tangere“ (Berühre mich nicht!) des Aachener Stifts Anlaß. Dieses im Jahre 1356 mit dem Geheiß, es „der Würde der Kirche wegen“ niemals zu öffnen, verschlossene Kästchen enthielt angeblich Theile der großen Reliquien, die ein frommer Mann – denn Reliquien stehlen ist ja keine Sünde, wenn es aus, wahrer Verehrung geschieht – aus dem Marien-Schreine gestohlen und, wie man sagte, auf dem Todtenbette zurückerstattet habe. Als die Kaiserin Josephine im Jahre 1809 die Heiligthümer des Münsters in Augenschein nahm, ging das Kästchen von selbst auf, und man fand in der That abgeschnittene Gewebstückchen darin, die den vier großen Heiligthümern angehört haben sollen, aber seitdem theilweise verschwunden sind. Es entsteht der dringende Verdacht, daß beim Schlusse des „Noli me tangere“ nicht sowohl der Wunsch, den geschehenen Diebstahl zu verheimlichen, als vielmehr der Umstand maßgebend gewesen ist, daß besagte Abschnitte dem Stoffe nach nicht mit dem inzwischen vielleicht erneuerten Inhalte des Kleiderschrankes übereinstimmend gefunden wurden. Nur ein ähnlicher Beweggrund konnte ein ewiges Verschließen „der Würde der Kirche wegen“ rechtfertigen. Diese meine Hypothese wird durch Zweierlei unterstützt, erstens durch das erneute Verschwinden mehrerer dieser Fragmente, und zweitens durch das alte Herkommen, beim Anfange und beim Schlusse der Ausstellung mit dem Noli me tangere-Reliquiar den Segen zu geben. Man deutete dadurch an, daß hierin die einzigen Ueberbleibsel seien, die einen entfernten Anspruch auf wirkliche Echtheit, das heißt auf die Möglichkeit einer solchen hätten.

Wer weiß, ob nicht überhaupt der ganze Vorrath Carolingischer

[763] 

In der Klosterkirche zu Unter-Riexingen.[WS 1]
Nach der Natur aufgenommen von Robert Heck.

[764] Reliquien bei dem großen Brande des Aachener Münsters (1236) zu Grunde ging. Verdächtig genug ist der Umstand, daß fast alle Reliquienbehälter, der prachtvolle Marienschrein, in welchem die vier großen Reliquien bewahrt werden, voran, Kunstwerke einer späteren Zeit sind, und daß fast alle Documente und Schriftstücke (deren Alter man wissenschaftlich feststellen könnte, was bei Knochenresten und Geweben nicht so leicht ist) aus der Zeit vor dem Brande verschwunden sind. Es wird zwar erzählt, daß der damalige Domdechant noch auf dem Todtenbette versichert habe, alle Heiligthümer des Domes gerettet zu haben, allein wen wird eine solche selbstverständliche „Domtradition“ überzeugen? Mir und den meisten meiner Leser wird es überdem ziemlich gleichgültig erscheinen, ob das jetzt vorgezeigte Gerümpel noch dasselbe ist, welches für zweifellos hohe Preise erworben wurde, denn die Wahrscheinlichkeit irgend einer Echtheit haftete schon jenen nicht an. Reliquien haben vor anderen todten Capitalien den Vortheil voraus, daß man sie nicht gegen Brand, Plünderung etc. zu versichern braucht, denn man weiß beinahe kein Beispiel, daß jemals Reliquien durch Brand oder Plünderung verloren gegangen wären. Als man in der französischen Revolution den Aberglauben mit Stumpf und Stiel auszurotten beschloß, da trug man das Gerippe der heiligen Genoveva und alles ähnliche alte Knochen- und Lumpenthum von Paris zu einem großen Scheiterhaufen auf den Grève-Platze zusammen und verbrannte es sorgfältig im Beisein einer großen Menschenmenge. Nichtsdestoweniger ist heute das Skelet in ziemlicher Vollständigkeit wieder im Pantheon zu Paris beisammen, angeblich aus Stücken gesammelt, die vorher an verschiedene Kirchen vertheilt worden waren. Vielleicht war es überhaupt ganz unnöthig, daß der Aachener Domdechant die Reliquien rettete, denn von dem darunter befindlichen Schweißtuche Christi weiß man durch die Legende, daß es, in’s Feuer geworfen, unverletzt emporstieg und in den Schooß eines Christen niederfiel.

Von der großen Sorgfalt, mit welcher das Aachener Stift jederzeit seine Reliquien aufbewahrt hat, legt ein Umstand Zeugniß ab, der den Gläubigen beinahe unmöglich erscheinen wird. Was werden sie sagen, wenn ich ihnen erzähle, daß der Münsterschatz Hunderte kleiner Reliquien in Beutelchen, Schachteln und Kapseln aufweist, deren Name und Charakter ganz und gar verloren gegangen ist. Sie sind theilweise ganz in Staub und Fetzen zerfallen, wahrscheinlich also älter und beachtenswerther als diejenigen, mit denen man paradirt; nicht einmal die Namen zu notiren haben die frommen Schatzhüter für nöthig gehalten. Doch genug oder vielmehr schon zuviel über diese Alterthümer, den Kehrichthaufen des Aberglaubens, welchen wegzufegen wohl endlich an der Zeit wäre. Aber vielleicht kann man umgekehrt wünschen, daß diese Ausstellungen fortdauern. Diejenige des heiligen Rocks in Trier hat Millionen die Augen geöffnet und die des Aachener Stifts bringen alle sieben Jahre eine Auswahl der schönsten Denkmäler des frommen Eifers zur öffentlichen Notiznahme. Es sind wahre Prachtstücke darunter, z. B. ein kolossaler Mittelhandknochen vom Daumen des heiligen Christophorus, eine Reliquie vom heiligen Georg, dessen Skelet in sechsundzwanzig Exemplaren die Kirchen unsicher macht, obwohl bereits Papst Gelasius 494 seine Legende als Dichtung erklärte etc. Auf Wiedersehen denn nach sieben Jahren!




Blätter und Blüthen.


Aus alter Zeit. (Mit Abbildung, S. 763.) Im Skizzenbuche eines Freundes blätternd, der als feinfühliger Bildhauer häufig an den in reicherem Style ausgeführten Neubauten Stuttgarts beschäftigt ist, unterhielt ich mich mit ihm über den Aufschwung der Architectur in der Schwabenhauptstadt und über deren Eigenart, welche zu ihrem bildlichen Schmuck sehr häufig Motive aus der Pflanzenwelt verwendet und dadurch zierlich, sinnig und fein wird, während zum Beispiel in der Nachbarhauptstadt München die Bauformen gern breit, schwer und gewaltig werden. Von der Untersuchung der Gründe dieser verschiedenen Erscheinung – hier das Weinland mit seinen Hügeln, seiner feinen und doch festen Steinart, welche zu zarten Ausführungen von selbst einladet, und dabei der beweglichere Charakter des Volksstammes; dort die breit ausgegossenen Flächen der Donau- und Isarniederung, der Backsteinbau und der Biercultus – kamen wir auf die vom Urheber des Skizzenbuches so oft angewandte Benutzung der in Pflanzen und Blüthen schon gegebenen Formen für das Ornament, und es war wirklich erstaunlich, wie in diesen Zeichnungen nach der Natur die ordnende Hand des Bildhauers durch scheinbar nur unwesentliche Aenderungen oft aus den einfachsten Pflanzenformen, aus Petersilie, aus einem Waldglöckchen etc., die feinsten Motive für irgend eine Rosette oder andere Ornamentenbestandtheile herausgebildet hatte.

Es mutheten diese Zeichnungen das Auge an, wie etwa die kurze Rede eines verständigen Mannes das Ohr.

Mitten in diesen Blättern hielt ich plötzlich inne und fragte den Bildhauer: „Wo ist denn das zu finden?“ – Es war eine edle weibliche Figur in Nonnentracht, von einer spitzbogigen Nische umschlossen, welche wieder mit reichen Ornamenten und Wappenschildern umsäumt war; die ganze Erscheinung war auch diesmal nur mit wenigen Linien, das Wesentliche wiedergebend, ausgeführt.

„Ja, dies ist freilich schön,“ antwortete er; „es ist ein Grabstein in der Ruine einer Kirche in Unter-Riexingen,[WS 1] der mit noch manchen anderen, umrankt von wilden Pflanzen, dort im Innern der Kirche steht.“

Von da an ließ mir die alte Edelfrau in ihren Nonnenkleidern keine Ruhe mehr, und als eine Woche später der Himmel gar zu mailustig blaute und auf der Erde Blüthe um Blüthe sich aufschloß, da flog ich hinaus zum Stelldichein mit meiner steinernen Ersehnten. In Bietigheim, den Dampf und Ruß des Bahnzuges abschüttelnd, brachten mich schon ein paar Schritte weg vom lärmenden Gewühle und hinein in die sonnenduftige Thalebene der Enz, welche in tiefem Einschnitt hier mit vielfachen weich geschwungenen Bögen thalabwärts schleicht, um eine Stunde weiter unten sich mit dem lustigen Neckar zu verbinden. Wie so ganz anders springt die fröhliche, goldbraune und doch so bis zum Grund klare Schwarzwaldtochter weit hinten in den immergrünen Wäldern von Fels zu Fels, brausend und schäumend vor Jugendlust! Aber freilich in Wildbad schon mußte sie sich von so und so viel übercultivirten Menschen angucken und kritisiren lassen; dann legte man ihr Wehr um Wehr, Damm um Damm vor, bis sie vom vielen Stauen und Hemmen lebensmüde und vom vielen Arbeiten und Menschenverkehr schmutzig und trübe geworden ist. Aber auch auf ihr glänzte nun das Frühlingssonnenlicht und wob seinen silbernen Strahlenschleier über ihren stillen Spiegel.

Kaum eine Stunde an ihren blühenden Ufern aufwärtsschreitend, sah ich nach einer raschen Wegwanderung das Dorf Unter-Riexingen[WS 1] vor mir, auf der einen Seite mit einem neueren Schloß mit Park und einem alten Festungsthurme, auf der andern Seite von der Kirchenruine und einem sanft ansteigenden Hügel flankirt. Wo ein Dorf oder Städtchen zwei derartige Flügelmänner auf den Seiten hat, da ist im Innern desselben in der Regel wenig Einladendes zu schauen; auch hier war’s so; ich vermied deshalb die ärmlichen Häuser, schritt unter lauter blühenden Bäumen an einem munteren Bächlein hin und stand nach wenigen Minuten vor der so malerischen Kirchenruine, deren Vorplatz nun zum Kirchhofe dient; ein Sprung über die Umfassungsmauer und einige Schritte über niedrige Hügel führten mich durch die spitzbogige Thüröffnung, und ich stand vor dem steinernen Frauenbilde, das mich hierher gerufen. Aber meine Blicke blieben nicht allzu lange auf demselben haften, obgleich sie hier noch schöner und in künstlerischer Hinsicht vollendeter schien, als jene flüchtigen Skizzenstriche es ahnen ließen; denn außer ihrem Steinbilde stand noch eine ganze Reihe anderer Figuren, theils Männer in Ritterrüstung, theils Frauen im Costüme der Edeldamen des Mittelalters, theils Kinder, mit mehr oder weniger Kunstvermögen in Relief oder im lebensgroßen Rundbilde in Stein gemeißelt, vor meinem verwunderten Auge; selbst der ganze Boden war überdeckt mit Grabsteinen in ganz unverdorbener Bildhauerarbeit. Ringsum zeigten sich die Umfassungsmauern an Stellen, wo Regen und Hagel die Wand nicht erreichen konnten, mit Fresken übermalt, welche meistens Scenen aus dem jüngsten Gerichte darstellten, oft in wunderschöner Linienführung gezeichnet, aber – höchst wahrscheinlich von anderer Hand – in kindisch einfacher Weise ausgeführt.

Oben über all den Grabsteinen, Bildern und Mauern war aber keinerlei Dach mehr. Regen und Schnee, Wolken und Sonne ziehen durch die offenen Kirchenräume, und dem entsprechend sah denn auch der Kirchenboden aus; wo nur irgend eine Spalte zwischen den Grabsteinen vorhanden war, da hatte sich Erde angesammelt; Samenkörner waren vom Winde hereingetragen worden, und so hatte sich im Reiche der Kirche, der Kunst und des Todes die unsterbliche Natur immer reicher sprossend entwickelt und den jetzigen Zustand herbeigeführt; denn Epheu rankt sich auf an den Edelfrauen und Rittern; Brombeerstauden und Himbeerbüsche haben ein Viertheil des Kirchenraumes in Manneshöhe mit ihrem tiefen Grün überwuchert, und an anderen Stellen haben Holunderstauden sich schon zu kleinen Bäumen entwickelt, haben am Boden, wo die Fuge zwischen den Grabsteinen zu eng wurde, kurzweg eine Ecke der Steinplatten weggesprengt und strecken nun ihre schirmförmigen Blattkuppeln mit den weißen Blüthendolden dem Sonnenlichte zu. Ebenso seltsam, fast wunderbar sieht es im Chore aus, zu welchem vom Kirchenraume aus ein mächtiger Spitzbogen den Zutritt öffnet; dort ist kein Pflanzenwuchs auf dem Boden zu sehen, aber ein desto sonderbareres Dach steht drohend über demselben.

Zeit und Wetter haben nämlich auch hier von außen die Ziegel und Balken, welche dieselben trugen, zerstückelt und vernichtet; Regen und Schnee konnten somit ungehindert auf das Chorgewölbe einwirken und haben denn auch Kalk und Bindemittel von den Gurtbögen und den Füllsteinen der Chordecke auf’s Gründlichste weggewaschen, so daß man, unten im Chor stehend, zwischen jeder Steinfuge durch den Himmel sieht, und die ganze Decke, welche jetzt nur noch durch die gegenseitige Spannung der Steine zusammenhält, wie ein Damoklesschwert über dem Beschauer [765] hängt. Die Abschließung des Lichtes nach oben giebt aber den drei Fensteröffnungen des Chores mit ihrem edlen frühgothischen Maßwerk einen ganz eigenthümlichen Reiz, denn dieselben schließen so als schwarze Rahmen den Dämmerton des Chores ab und lassen die durch die Fenster hinaus sichtbaren Theile des Himmels und der Landschaftsferne nur in desto leuchtenderem Blau und Violett erscheinen.

In vollster Harmonie mit der Gesammtwirkung dieses Bildes steht die lautlose Stille, welche um diesen träumerisch schönen Raum ausgegossen liegt, kaum daß ein Käferlein auf den einzelnen Blüthen summt oder eine kleine Eidechse erschreckt den seltenen Eindringling anstarrt und dann scheu bei der leisesten Bewegung unter dem nächsten Busche sich birgt; sonst ist Alles lautlos still; ja selbst die Wißbegierde ist zum Schweigen genöthigt, da kein Kirchen- oder Rathhausbuch Aufschluß über das frühere Schicksal dieses Raumes giebt, sondern die ganze Geschichte desselben, sein Werden, Blühen und Vergehen aus den Steintrümmern herausgelesen werden muß.

Mit wie stolzer Freude mögen einst vor nun sechshundert Jahren die mönchischen Erbauer dieses Kirchenraumes das fertige Werk angeschaut haben! Wie verächtlich hätten ihre Gesichter drein geschaut, wenn ein Fernsehender ihnen gesagt hätte, daß kaum zwei Jahrhunderte später das Wort eines gegen seine Obern rebellischen Mönches dieser Kirchenschöpfung sowie viel tausend andern den Todesstreich versetzen würde!

Und doch kam es so. Nicht die Kriegsfurie warf die Fackel in die herrliche Kirche; nicht einmal der elektrische Funke vom Himmel bewahrte sie vor dem unrühmlichsten Ende, vor dem Verlassen- und Vergessenwerden, sondern der Blitz der Reformation verjagte auch hier die Priester, nachdem er die ganze Umgegend protestantisch und die Mönche hierdurch brodlos gemacht hatte. Eine Zeitlang mag die Verlassene noch als Begräbnißplatz für die umliegenden Edelgeschlechter gedient haben; als aber auch diese ausstarben oder verkamen und allmählich verschwanden, wurde die Kirche selbst von den Todten verlassen; das Dach verwitterte, verfaulte und stürzte endlich zusammen; die Bauern benutzten für ihre armen Hütten kleine Reste aus den Trümmern, und so schuf sich allmählich der jetzige Zustand der Ruine, der in seiner traumhaften Stille so manches Kunstschöne birgt, aber eine weit größere Fülle innerer Anschauungen über das Grundwesen des menschlichen Strebens erweckt. – Unwillkürlich tritt ein Lächeln des Mitleids über die kindliche Naivetät der Menschen jener Zeiten uns in’s Antlitz, wenn wir einen Theil jener Bilder des jüngsten Gerichtes überblicken; aber hat unser Jahrhundert nicht auch noch seinen heiligen Rock in Trier, Mariahemd und andere heilige Fetzen, Splitter und vergoldete Heiligenknochen an andern Orten? Haben wir wirklich ein so großes Recht, über die Thorheit jener Zeit uns lustig zu machen? Gewiß nicht! Aber was wir thatsächlich haben, das ist eine Fülle von gegründeter Hoffnung, dereinst völlig Sieger noch zu werden über alle jene plumpen und feineren Versuche, die ewige Wahrheit in ihrer einfachen Größe und Schönheit zu umdunkeln und zu übertünchen, und so schritt auch ich aus diesen Kirchenräumen mit ihren gesprengten Gräberdecken und mit ihrem eingestürzten Steinhimmel fröhlich hinaus in die um und um blühende, sonnenglänzende Welt, in froher Siegeshoffnung, wie schon oft, die herrlichen Prophetenworte Lenau’s wiederholend:

„Das Licht vom Himmel läßt sich nicht versprengen,
Noch läßt der Sonnenaufgang sich verhängen
Mit Purpurmänteln oder dunkeln Kutten;
Den Albigensern folgen die Hussiten
Und zahlen blutig heim, was jene litten;
Nach Huß und Ziska kommen Luther, Hutten,
Die dreißig Jahre, die Cevennenstreiter,
Die Stürmer der Bastille, und so weiter.“

K. H.




Eine Leistung der Telegraphie. Die Nr. 302 vom 29. October dieses Jahres der „Kölnischen Zeitung“ enthält folgende Anzeige:

„Heute Morgen hat der Proceß wider Kullmann begonnen. Bei dem Interesse, welches sich demselben zuwendet, haben wir ein stenographisches Bureau unter Leitung eines Mitgliedes unserer Redaction in Würzburg eingerichtet, welches die Verhandlungen wörtlich aufnimmt und uns telegraphisch mittheilt.“

Diese zunächst wohl kaum beachtete Mittheilung gewann erst eine Bedeutung, als die Zeitung ihr Versprechen zu lösen begann und man Berichte las, deren Lesen bei allem Interesse ermüdend war.

Nach Beendigung der Verhandlungen erkennt dieselbe Zeitung in einer Notiz an, daß die Leistungen der Telegraphie bei dieser Gelegenheit, zumal bei Ueberladung der Drähte mit Preßdepeschen über denselben Fall nach England, Frankreich, Amerika etc. ihre Erwartungen bedeutend überstiegen hätten. Man liest wohl häufiger in Zeitungen von der Beförderung englischer Thronreden nach wer weiß wie vielen Orten in unglaublich wenigen Minuten, und das große Publicum nimmt das ruhig hin, während der Techniker an allerhand Dinge denkt, die mit Reclame, Humbug etc. Aehnlichkeit haben. Die angeblichen Leistungen steigen natürlich mit der Entfernung des Ortes, wie man neulich ganz ernsthaft (aus Amerika!) von einem Apparate schrieb, der stündlich 6000 Worte befördert. In Deutschland ist man nicht gewöhnt, dergleichen zu lesen, und die Mittheilungen der „Kölnischen Zeitung“ sind deshalb wohl einer technischen Beurtheilung werth.

Die Artikel der „Kölnischen Zeitung“ über die Gerichtsverhandlung umfassen 33 Spalten mit 160 bis 180 Zeilen, im Mittel 170 Zeilen. Das macht, jede Zeile zu 11 Worten gerechnet, 33 × 170 × 11 = 61710 Worte oder mit Rücksicht auf nicht volle Zeilen circa 60000 Worte. Ein Telegraphist, welcher an dem gewöhnlichen Morse’schen Apparate arbeitet, telegraphirt in der Minute 10 Worte, in der Stunde also 600 Worte. Rechnet man ein Sechstel für Hindernisse, Störungen etc. ab, so bleiben 500 Worte stündlich, und man braucht deshalb für 60000 Worte 120 Arbeitsstunden. Da die Mittheilungen 3 Tage füllen, so würden täglich 40 Arbeitsstunden erforderlich gewesen sein. Man gelangt also mit einem Drahte nicht zum Ziele, muß vielmehr zwei Drähte nehmen, das heißt auf jedem die Hälfte der Depesche befördern. Zwei Drähte würden mit derselben demnach je 20 Stunden auf 3 Tage belastet sein.

Bei Anwendung des Typendruck-Apparates von Hughes gestaltet sich die Sache bei Weitem günstiger. Ein sehr gewandter Telegraphist kann im Maximum etwa 35 Worte in der Minute abtelegraphiren, stündlich rund 2000 Worte. Da der Apparat jedoch wegen seines complicirten Mechanismus vielen Störungen unterworfen ist, kann man in der Praxis etwa nur auf 1200 Worte stündlich rechnen. Dies ergiebt für 60000 Worte 50 Stunden Arbeitszeit, also ungefähr die halbe Zeit. In diesem Falle reicht man also mit einem Drahte aus.

Hiernach kann man sich dem günstigen Urtheile der „Kölnischen Zeitung“ rückhaltslos anschließen. Die Telegraphen-Verwaltung macht beiläufig bei solcher Depesche kein schlechtes Geschäft, denn 60000 Worte zwischen Köln und Würzburg berechnen sich zu 1000 Thaler Gebühren.

Bemerkt mag schließlich werden, daß sich mit dem Siemens’schen automatischen Schnellschreiber und mit dem ähnlichen Wheatstone’schen Apparate (bis jetzt die am schnellsten arbeitenden Apparate) unter günstigen Verhältnissen vielleicht 2400 Worte stündlich abtelegraphiren lassen, wonach überseeische Reclamen zu beurtheilen sind.




Von unserem alten Holtei gehen uns nachstehende Zeilen zur Veröffentlichung zu. Nicht ohne im Innersten ergriffen zu sein, leisten wir der Bitte des trefflichen Veteranen deutscher Dichtung Folge, indem wir seine Worte hier mittheilen. Sie lauten:

„‚Die Kränze, die Du siehst, sind lauter Trauerzeichen
Erblichner Freuden, die den Freuden nach-erbleichen.
Für jede Lust, die starb, zum Denkmal einen Kranz
Hab’ ich geflochten, und umkränzt bin ich nun ganz.
Hier hängt der Freundschaft Laub, und hier der Liebe Flitter,
Und hier das Vaterglück, gemäht vom dunklen Schnitter.
Hier welkt die Jugend, hier der Ruhm, und hier daneben
Ist eine Stelle noch für diesen Rest von Leben.
Wer nach mir übrig bleibt, wenn ich geschieden bin,
Häng’ einen letzten Kranz aus dunklen Blumen hin.
Und wenn ein Gast besucht die leere Siedelei,
Ihr welken Kränze sagt: So geht die Welt vorbei!‘

Laß’ ich das eine Wort ‚Ruhm‘ als auf mich nicht anwendbar weg, und vertausch’ ich’s mit irgend einem auf meine geringe Bedeutung passenden Ausdrucke, dann bilden obige Verse unseres großen Friedrich Rückert den zweckmäßigsten Eingang zu nachstehender Bitte, womit ich Abschied zu nehmen denke von Allen, die mich seit langen Jahren durch schriftliche Grüße beglückten, und denen ich bisher immer noch, wenn schon sehr unregelmäßig, mit alljährlich matter werdender Hand, schriftlich zu danken liebte. Auch dieser letzten Lebensfreude muß ich nun entsagen. Denn ich darf nicht fernerhin empfangen wollen, nachdem ich unfähig geworden, zu geben. Wie viel ich dadurch verliere, ahnen wahrscheinlich diejenigen kaum, deren nachsichtige Huld mir unerschütterlich treu geblieben war. Weder Zeit, noch Raum, noch meine Versäumnisse konnten ihre Geduld erschöpfen.

Von nun an darf ich aber nichts mehr in Anspruch nehmen, als gütige Verzeihung. Der düstere Novembermonat ist so recht geeignet, diese letzte Bitte auszusprechen. Wird sie mir gewährt, dann will ich entsagend des ‚dunklen Schnitters‘ harren, der jeden Zweifel friedlich löset, der jeden Groll versöhnt.

Wer mich ein Bischen lieb gehabt, gönne mir dann auch ein Blümchen zu jenem ‚letzten Kranze für die leere Siedelei‘!

Breslau, im November 1874.

Holtei.

Vorstehendem Lebewohl an Freunde hab’ ich eine höchst prosaische Nachschrift, an Fremde gerichtet, beizufügen.

Mir sind die verflossenen Jahre kümmerlich-kränkelnden Daseins mannigfach noch verbittert worden durch Zusendung verschiedenartigster Manuscripte, zu welchen ich den mir – so wie Andern – unbekannten Verfassern und (!!!) Verfasserinnen Verleger gewinnen, und über welche ich kritische Urtheile abgeben sollte. Beides vermochte ich nicht.

Solche Erzeugnisse waren sodann sorgsam wieder einzupacken, der Sicherheit wegen recommandirt auf die Post zu befördern und machten mir förmliche Sorge. Diese Quälereien, mitunter auch von zudringlichsten Ansprüchen begleitet, gingen bisweilen über eines kranken Greises Kräfte und haben endlich, je älter und kränker ich wurde, nur immer mehr zugenommen. Weshalb ich gerade dazu ausersehen schien, bleibt mir unbegreiflich.

Ich sehe mich gezwungen zu erklären: daß ich derlei Frohndienste nicht weiter verrichten, sondern sämmtliche, mir auf diese Weise über den Hals geschickten Packete uneröffnet zurückweisen werde.

H.“




Schiller katholisch! In Würzburg erscheint ein „Fränkisches Volksblatt“, welches an jesuitischer Frechheit Alles leistet, was nur ein Ultramontanenherz erfreuen kann. In Nr. 249 desselben ist in einem Artikel, „Die Bekehrung der Königin-Mutter“, der Satz aufgestellt: „Das ehrlose Begräbniß während der Nacht scheint in Norddeutschland für Convertiten schon förmlich Brauch zu sein,“ und daran als Beweis dafür die Nachricht gehängt: „Wenige wissen, daß auch Schiller, der ‚Lieblingsdichter der Nation‘, katholisch gestorben ist. Noch sehr viel weniger aber sind Diejenigen (!!), welche wissen, daß Schiller dafür in stiller Nacht von bezahlten Schneidergesellen ehrlos zu Grabe getragen wurde.“ Zum Schlusse heißt es: „Auf das Drängen der Nation, welche ihren Lieblingsdichter in einem würdigen Denkmale (!!) wissen wollte, wurde Schiller’s


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.

[766] Leiche zwanzig Jahre später wieder erhoben. Alles war vernichtet bis auf den Schädel; denn Schiller hatte in einer Kalkgrube gelegen. Der Schädel wurde am 17. September 1826 im Saale des Bibliothekgebäudes beigesetzt.“

Für die Leser der „Gartenlaube“ brauchen wir Diesem kein Wort hinzuzufügen; sie wissen aus einer Reihe von Mittheilungen im Jahrgange des Schiller-Jubelfestes, daß 1) zu jener Zeit nächtliche stille Beerdigungen in Weimar Sitte waren, daß ferner eine kirchliche Feier stets am Tage nach der Beerdigung stattfand und auch für Schiller in würdigster Weise stattgefunden hat; 2) daß Schiller nicht von Schneidergesellen, sondern von einer Anzahl seiner Verehrer aus dem Gelehrten- und Beamtenstande zu Grabe getragen worden ist; 3) daß Schiller’s Leichnam nicht in einer Kalkgrube, sondern in einer Gruft bei der Jakobskirche beigesetzt worden war; 4) daß außer dem Schädel auch seine übrigen Gebeine aufgefunden worden und und endlich 5) daß der so „ehrlos“ begrabene Schiller nun längst bei seinem Großherzoge und Goethe in der Fürstengruft zu Weimar ruht.

Einer solchen Reihe von Lügen bedurfte das Würzburger Jesuitenblättchen, um zu beweisen, daß man Schiller nur für sein Katholischwerden so hart gestraft. Die unerhörte Behauptung, daß Schiller „katholisch gestorben“ sei, steht als ausgemachte Wahrheit da, wenn auch nur „Wenige“ sie wissen. Wir fordern die Redaction dieses „Fränkischen Volksblattes“ auf, für ihre Behauptung den Beweis der Wahrheit zu liefern.




Der fliegende Fuchs. Man schreibt uns aus Australien mit Bezug auf den Brehm’schen Artikel „Fliegende Hunde“ in unserer Nr. 31 des Jahrgangs 1871 Folgendes: „Es war im Jahre 1858, daß man im Sidneyer botanischen Garten in Australien eine Anzahl seltsamer Gestalten bemerkte, die, altmodischen, schwarzledernen Strickbeuteln ähnlich, bewegungslos an den Zweigen der Bäume hingen. Der botanische Garten ist eine der beliebtesten Promenaden der Sidneyer eleganten Welt, und schnell bildeten sich Gruppen von Neugierigen, welche jene ungewöhnliche Erscheinung mit Interesse beobachteten. Bald fanden sich auch einzelne Neunmalkluge, welche diese seltsamen Wesen für fliegende Füchse (flying foxes) erklärten und über selbige allerhand Wunderliches zu erzählen und noch mehr zu fabuliren wußten. Schon früher, in den Jahren 1791 und 1792, während einer Periode außergewöhnlicher Hitze und Trockenheit, hatten diese Thiere der damals noch jungen Ansiedelung einen Besuch abgestattet. Sie waren in Myriaden gekommen, so daß ihre verwesenden Leichen Luft und Wasser verpestet hatten. Dieses Mal aber waren ihrer so wenig, daß man sie ruhig gewähren ließ. Nachdem sie sich an Sidney und die Sidneyer sich an ihnen satt gesehen hatten, nahmen sie denn auch friedlich wieder Abschied, und ließen in den nächsten fünf Jahren wenig von sich sehen und hören.

In den Monaten Februar und März 1863 erschienen sie auf’s Neue in Sidney. Jetzt aber kamen sie leider in solcher Menge, daß sie unendlichen Schaden anrichteten. Im botanischen Garten versuchte man vergeblich, ihrer Verwüstung Einhalt zu thun. Wenn auch Hunderte todtgeschossen wurden, so hatte dies doch keine merkliche Wirkung. Diese im botanischen Garten getödteten Exemplare waren alle männlichen Geschlechts. Sie maßen von dem Ende der einen Flughaut zu dem der andern von vier Fuß bis fünf Fuß zwei Zoll.

Mehr noch litt der Obst- und Orangeriegarten eines Mr. M’Keown auf der Nordseite des Port Jackson. In diesem erschienen nicht weniger als dreitausend dieser hungrigen Gäste und zerstörten binnen einer einzigen Nacht alle Aepfel, Birnen, Feigen und Quitten. Glücklicher Weise waren die Orangen noch grün, und dieser Umstand rettete sie. Eine große Menge Leichen dieser Thiere lagen zu jener Zeit in den Straßen Sidneys umher, und die Straßenjugend schleppte solche an ihren ledernen Flügeln von Ort zu Ort.

Einer ihrer Lieblingsplätze war Levey’s Folly, nahe Kissing Point bei Sidney, wo man ihre Anzahl auf zehntausend schätzte. Diese Localität ließ sich leicht finden, wenn man nur dem Geruche nachging, welchen diese Thiere verbreiteten. Aber auch hier erwiesen sich alle zu ihrer Vertilgung getroffenen Maßregeln unzureichend. Unter den Getödteten fand man ungleich mehr männliche als weibliche Exemplare. Die Letzteren hatten Milch in ihren Brüsten; aber von Jungen konnte nicht ein Einziges, lebendig oder todt, gefunden werden, obwohl die Naturforscher versichern, daß die Mütter solche mit sich herumtragen.

Im Hunter-river-District bildete sich eine Gesellschaft, um diese Räuber in ihren Schlupfwinkeln aufzusuchen und zu bekämpfen. Ein Augenzeuge berichtet darüber in den ‚Singleton Times‘: ‚Wie wir die ziemlich steile Seite des Gebirges hinabstiegen, sahen wir die Bäume in einem Umkreise von mehreren Ackern schwarz von fliegenden Füchsen, und die größere Hälfte unserer Jagdgesellschaft begann zu operiren. Nach einer Viertelstunde des wildesten Blutbades gewahrten wir zu unserer Bestürzung, daß sich die ganze Masse in fliegende Bewegung setzte, und ein wunderbarer Anblick war das. Das Gehölz war etwa anderthalb Meile lang, und seine ganze Länge und Breite war eine einzige Wolke fliegender Füchse. Einen Begriff von diesem Gewühle zu geben, fehlen mir die Worte. Mäßig veranschlagt, konnten der Füchse nicht weniger sein, als fünfzigtausend, doch glaube ich, das Doppelte dieser Zahl würde der Wahrheit näher kommen.‘

Seit dem Jahre 1863 hört man von Zeit zu Zeit aus verschiedenen Theilen des Landes von ferneren Besuchen der fliegenden Füchse, und jeder solcher Besuch ist gleichbedeutend mit einem totalen Verluste der Obsternte. In der That, wenn man bedenkt, daß der fliegende Fuchs nicht der einzige Feind des australischen Obstgärtners ist, daß vielmehr der Letztere gleicher Weise mit zahlreichen anderen Thieren, mit Brand und Mehlthau, sowie einem excentrischen Klima zu kämpfen hat, welches die Früchte auf den Bäumen bald bäckt, bald ertränkt, so wundert man sich, daß es hier zu Lande noch Leute giebt, welche Muth und Energie genug besitzen, sich mit Obstbau zu befassen.

Der fliegende Fuchs oder Hund ist in der That ein wunderliches Thier, wenn auch Vieles von dem, was man in früherer Zeit von ihm erzählte, erdichtet ist. Der fliegende Fuchs lebt ausschließlich von Früchten und Honig haltenden Blüthen und ist ein feiner Obstkenner und Gutschmecker. Gerade das macht ihn so schädlich, daß er von hundert Früchten, die er pflückt, neunundneunzig nur kostet und verwirft und vielleicht kaum eine reif und wohlschmeckend genug erachtet, um sie zu verspeisen. Diese letztere verzehrt er denn auch vollständig bis auf die Schale, welche er in jedem Falle verschmäht.

Der fliegende Fuchs ist eine Art Fledermaus; er schläft des Tages und geht des Nachts auf Raub aus. Seine bemerkenswertheste Eigenthümlichkeit liegt darin, daß er wachend und schlafend nicht sitzt, liegt oder steht, sondern ‚hängt‘, mit den Füßen an einen Zweig angeklammert und mit dem Kopfe nach unten. Wenn er frißt, hängt er an einem Beine und braucht das andere wie eine Hand, um sich die Frucht zu brechen und sie zu halten. Es ist eine gräßliche Idee für einen vollblütigen Menschen, so ein ganzes Leben lang mit dem Kopfe nach unten zu hängen, wie gewisse Seitänzer, welche sich mit den Füßen an ein schlaffes Seil befestigen und, den Kopf nach unten, allerhand wunderliche Kunststücke ausführen.

Wenn der fliegende Fuchs schläft, so wickelt er die ledernen Flughäute um sich herum, wie etwa eine Dame ihr Umschlagetuch. Bei seinem nächtlichen Schmauße gestört, schlägt er mit diesen Häuten um sich. Die fliegenden Füchse verrathen übrigens ihre Anwesenheit ebenso durch ein eigenthümliches Geräusch, wie durch den sonderbaren Geruch, welcher ihnen beiwohnt. Des Morgens ziehen sie sich in ein entlegenes Gehölz zurück, um ihre Raubzüge bei Eintritt der Dunkelheit aus’s Neue zu beginnen.

Das Fleisch dieses Thieres ist wohlschmeckend und wird von den Eingebornen gegessen. Wenn angeschossen, ist der fliegende Fuchs sehr wild und beißt tüchtig um sich. Es bedarf dann großer Vorsicht, um ihn zu fassen.“

O. P.




Deutsches Künstler-Album. Als Vorboten der „fröhlichen, seligen Weihnachtszeit“ stellen sich auch dieses Jahr allmählich wieder unsere alten Bekannten, die illustrirten und nicht illustrirten Prachtwerke, ein. Wie lustige, bunte Vögel kommen sie, eins nach dem anderen, dahergeflogen und bieten sich für das Fest feil. Einer der ersten unter diesen Fest-Verkündern ist auch diesmal wieder das von dem talentvollen Ernst Scherenberg redigirte „Deutsche Künstler-Album“ (Düsseldorf, Breidendach u. Comp.), welches in diesem Jahre zum achten Male erscheint. Was wir schon bei früheren Gelegenheiten an dem trefflichen Unternehmen gerühmt haben, Geschmack und Tact in der Auswahl der artistischen und literarischen Beiträge, sowie höchst elegante und solide äußere Ausstattung, das müssen wir auch an dem diesjährigen Künstler-Album loben. Unter den Illustrationen befinden sich einige wahrhaft reizende Genrebilder, wie z. B. A. Kindler’s „Ein süßes Stündchen“ und A. von Rösler’s „Klosterkätzchen“. An Dichtern hat sich diesmal außer dem alten Stamm – Emanuel Geibel, Ferdinand Freiligrath, Karl Gerok, J. G. Fischer, Friedrich Hofmann, Albert Traeger, Hermann Lingg, Emil Rittershaus u. A. – eine Reihe jüngerer Kräfte, wie P. J. Willatzen, Ernst Eckstein, Albert Möser, Ernst Ziel, Stephan Milow u. A. mit mehr oder weniger ansprechenden Beiträgen an dem Album betheiligt. Den Schluß desselben bilden zwei Novellen, „Die Stiftsdame“ von dem letztgenannten Dichter und „Erlkönigs Töchter“ von Ludwig Salomon. Wir geben dem „Deutschen Künstler-Album“ auf seine Reise in alle Welt den Wunsch mit auf den Weg: es möge mit seinen duftigen Blüthen aus den Gärten der Malerei und der Poesie recht viele Herzen in der Nähe und Ferne erfreuen, namentlich aber unter dem strahlenden Weihnachtsbaum, seiner Bestimmung gemäß, in mancher schönen Frauenhand eine willkommene Gabe sein!




Kleiner Briefkasten.

G. B. in S. Das mit unserer Nr. 45 ausgegebene Blatt: „Der illustrirte deutsche Shakespeare“ ist eine buchhändlerische Beilage, wie jede andere. Daß es nicht zur „Gartenlaube“ gehört, können Sie schon aus der am Fuße derselben angefügten Druckerei-Firma ersehen.




Berichtigung. Unter dem Holzschnitte „Aus dem Regen in die Traufe“ in unserer Nr. 44 ist statt „Nach dem Oelgemälde von J. Rosenthal“ zu lesen: „… von Toby E. Rosenthal“.




Von E. Werner, dem Verfasser der „Gesprengten Fesseln“, sind erschienen:
Werner, E., Gartenlaubenblüthen. 2 Bände. Inhalt: „Ein Held der Feder“ – Hermann Eleg. brosch. 2 Thlr.
Werner, E., Am Altar. 2 Bände. Eleg. brosch. 2 Thlr.
Werner, E., Glück auf! 2 Bände. Eleg. brosch. 2½ Thlr.


Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. a b c Vorlage: Rinxingen