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Die Gartenlaube (1874)/Heft 45

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 45.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Geschichte vom Spötterl.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Aus den bairischen Bergen. Von Herman Schmid.


(Fortsetzung und Schluß.)


4. Ich weiß nur, was ich hab’.


Der Sommer ging wieder zu Ende. In den Kirschbäumen um Tegernsee glühten und dunkelten die rothen und schwarzen Früchte, die immer später reifen als draußen im milderen Flachlande; in den Grasgärten um die Bauernhöfe fingen die Zwetschen zu blauen an, und als wollten sie mit freundlicher Färbung nicht zurückbleiben, vergilbten die Birken an den Höhen und begannen die Buchen der Wälder sich zu röthen. In Haus und Hof rüstete man sich überall für den Herbst, dem oft nur zu rasch der Winter auf die Fersen tritt. Um Fenster und Thüren wurde das Brennholz als Schutzwand und Vorrath aufgeschichtet, und aus den Scheunen klopfte schon hier und da der Tactschlag der Drischel, während auf den Berghalden das Winterheu schon in den zerstreuten Hütten untergebracht und von den höher gelegenen Almen die Abfahrt bereits gehalten war. Schwalben und Staare bereiteten sich zum Abzuge; dafür waren im Seethale andere Zugvögel angekommen – Gäste, die man gleich gern sah und mit gleicher Freude willkommen hieß wie jene, wenn sie zum Beginne des Frühjahrs kamen, den Lenz zu verkünden. König Max war wieder da, um den Jagdfreuden obzuliegen, das Herz zu erfreuen an der Schönheit des Thales und den Sinn zu erfrischen an seiner paradiesischen Ruhe und Einsamkeit.

Um diese Zeit war Handel und Wandel und das ganze Leben in den Seedörfern ein viel regeres und lauteres, und besonders an einem schönen klaren Septemberabende konnte der Wiederhall in den Bergen gar nicht zu Ende kommen, auf all’ das Jauchzen, die Horn- und Trompetentöne und das Büchsenknallen zu antworten, das an der Neureit hinan aus dem Bergeinschnitte ertönte, durch welchen der Albach sich das abschüssige Bett gegraben. Der König hatte den Bergschützen ein großes Schießen mit reichen Preisen gegeben; in der schattigen Thalschlucht waren die Scheiben aufgestellt und der Schützenstand errichtet worden, und Alles, was irgend mit dem Stutzen umzugehen verstand, hatte sich eingefunden. Da waren die Männer alle, von den jüngsten, die noch mit dem Pulver das Lehrgeld bezahlten, bis zu den wackeligen Greisen, welche die Büchse nicht mehr ruhig halten und den Schwarzschuß nicht sicher abzielen konnten, sondern im Auffahren und wie im Fluge abfangen mußten.

Auf dem geräumigen Platze vor dem Hause des Bäckers, der zugleich den Wirth machte, war der Mittelpunkt des ganzen Festes.

Da stand noch von der Frühlingsfeier her ein Maibaum von solcher Höhe, daß er mit den Kirchthürmen wetteiferte. Während den Stamm unten ein Mann kaum zu umklammern vermochte, bog er sich oben fast zur schwachen Gerte, welche nicht im Stande schien, den bekränzten und bebänderten Reifen und die weiß-blaue Flagge zu tragen, welche im frischen Abendwinde und in den Pulverwolken flatterte, die jeden Augenblick neu aus den krachenden Büchsen und Böllern emporstiegen. Unweit von den Schießständen waren Tische und Bänke im Schatten aufgeschlagen, damit auch andere Bewohner Tegernsees mit ihren Gästen und mit Frauen und Mädchen Gelegenheit hätten, an dem Feste der Schützen theilzunehmen. Daneben saßen die Musikanten, eifrig bemüht, durch allerlei Tänze, Märsche und andere Stücke die Zeit auszufüllen, bis ihre Hauptaufgabe herankam, am Schlusse des Festes bei der Preisvertheilung jeden Fahnenträger mit einem Tusche zu begrüßen und dann dem feierlichen Aufzuge durch die Dorfgassen voranzublasen. Ueber einer großen, aus Tannengewinden aufgebauten Pforte, die auf den eigentlichen Schießplatz führte, waren die Preisfahnen ausgestellt, meist schwere Seidentücher mit angereihten Goldstücken und blinkenden Silbermünzen oder feinen Gemälden aus dem Jäger- und Schützenleben. Unweit davon befand sich die Schützenschreiberei, von vielen Neugierigen umdrängt; eben war eine neue Scheibe aufgestellt und die alte hereingebracht worden; der Forstmeister als Schützenmeister und ein paar Bauern als Beisitzer waren eifrig darüber, die Schüsse abzuziehen und zu bestimmen, was jeder gelten solle, und welcher in zweifelhaften Fällen für den bessern zu halten sei.

Die Versammlung vieler Menschen hatte, wie gewöhnlich, auch allerlei Leute herbeigeführt, die eine solche Gelegenheit gern ausbeuten und daher mit allerlei Kleinkram erschienen, den sie in der erhöhten und freigebigeren Stimmung der Anwesenden an den Mann zu bringen hofften. Da waren Lahninger herübergekommen aus dem nahen Tirol – fahrende Leute, die ihren kleinen Blachenwagen selbst zogen, in dem sie mit Weib und Kind hausten und doch noch Raum fanden für einige Körbe rothblauer Küchelberger Trauben aus den Weinbergen von Meran, für schöne Goldreinettenäpfel oder zartflaumige Pfirsiche. Ein Ständchen mit Lebkuchen, Pfeffernüssen und ähnlichen Näschereien fehlte ebenso wenig wie ein anderes mit bescheidenen einheimischen [720] Kirschen und Brombeeren und ein drittes mit Amuletten, Rosenkränzen und anderem heiligem Krame für Leute, die es liebten, auch mitten in der fröhlichsten Lustigkeit ihres vielleicht bedrohten Seelenheils zu gedenken. Auch ein Zillerthaler hatte sich eingefunden – ein stattlicher Bursche mit rothem Haare und mächtigem Barte und mit starkem Lederrücken in der Jacke, um den schweren Ruckkasten leichter tragen zu können, in welchem Handschuhe und Hosenträger kunstvoll eingepfercht waren, während er einige grüne Teppiche über dem Arme trug.

Obwohl die Sonne sich schon zum Untergange neigte, krachten die Schüsse doch noch um die Wette; der alte Sonnen-Moser meinte, es sei jetzt das allerbeste Licht, und die Luft schmeichle die Kugel von selber mitten in das Schwarze hinein.

Auch viele der anderen Seebauern waren zugegen. Am Herrentische saßen der Landarzt, der Pfarrer, der Doctor und der Landrichter als Honoratioren beisammen; der Extratisch war leicht daran zu erkennen, daß über denselben ein weißes Tuch mit rothem Besatze und Fransen gebreitet war, während die Krüge niedrigerer Gäste unmittelbar auf der blanken Ahorntischplatte standen. Auch Jessik, der illyrische Schneider und Theaterdirector, fehlte nicht. Ihm war das Amt des Zielers zu Theil geworden, das er, in einen buntscheckigen Harlekinsanzug gekleidet, mit seinem Kauderwälsch und allerlei lächerlichen Geberden und Stellungen zur großen Zufriedenheit der Schützen und noch mehr der zuschauenden jüngeren Bursche versah. Sie fanden gar viel zu lachen über die wunderlichen Sprünge, die der närrische Kerl zu machen wußte, und manch Einer reichte ihm den Krug, damit er ihm Bescheid thue zum Lohne für das gewährte Vergnügen.

So zahlreich die Versammlung und so groß und laut deren Heiterkeit gewesen, kam doch neue und noch lebhaftere Bewegung in dieselbe, als gegen Abend sich auch die Jäger einfanden, von einer größeren Jagd zurückkehrend, die für einige Gäste des Hofes und vornehme Herren eigens veranstaltet worden war, um ihnen die Mühen und Freuden einer Hirschjagd in den Bergen zu zeigen. Nach Jägerart gab es da eine Menge zu erzählen; besonders aber war es heute eine Neuigkeit, welche alle gewöhnliche Jagdereignisse vollständig in den Hintergrund drängte.

Der eine der Jäger war, noch ehe er Platz genommen, zum Forstmeister getreten und hatte demselben eine Meldung gemacht. Obwohl er leise gesprochen, hatten die Beisitzer beim Scheibenabziehen doch etwas davon vernommen, und als der Forstmeister, in freudiger Ueberraschung aufspringend, ausrief: „Was sagt Ihr? Ihr habt herausgebracht, wer der Gamstod ist?“ da war das Geheimniß nicht wohl mehr zu bewahren.

„Da komm her, Bäck!“ rief der Sonnen-Moser dem geschäftigen dicken Wirthe zu. „Ich geb’ Dir Deine Ehr’ wieder: Du bist nicht der Schütz, der mit zinnenen Kugeln schießt; man weiß jetzt, daß Du nicht der Gamstod bist.“

Die Männer traten lachend zusammen und umstanden in dichtem Ringe den Jäger, der von der wichtigen Entdeckung, die er gemacht, berichtete. Er sei, sagte er, mit dem fremden russischen Cavalier, der mit dem Hofe herausgekommen, auf dem Anstande gestanden; gerade da, wo sich die Buchenleite von der Gindelalm gegen die Neureit herunterzieht, auf der kleinen Waldblöße gegen den Weg hin, wo die große einzelne Eiche stehe. Der Forstmeister erinnerte sich sogleich genau des Platzes. „Das ist derselbe Platz,“ sagte er, „wo im vorigen Jahre auf den russischer Herrn, den Baron Worinoff, geschossen worden ist, daß ihm die Kugel durch den Hut ging.“

„Genau an demselben Orte war’s,“ fuhr der Jäger fort. „Der Trieb hatte noch nicht begonnen, und so erzählte mir der Herr Baron, wie es zugegangen, und zeigte mir, wo er und wie er gesessen, als der Schuß auf ihn gefallen.“

„Ich kenne den Platz auch,“ sagte der Landrichter. „Ich habe ihn nach dem Vorfalle in Augenschein genommen und zu Aller Verwunderung eine Kugelspur nicht finden können.“

„Heute haben wir sie gefunden,“ rief der Jäger freudig. „Sie muß ein Bischen stark gestiegen sein. Wie ich genauer nachsah, entdeckte ich ein kleines Löchlein. Ich nehme geschwind mein Messer heraus, schnitze die Rinde weg, und was finde ich?“

„Wirklich eine Kugel?“ fragte der Forstmeister.

„Ja wohl, eine Kugel, aber was für eine! Da schauen Sie her!“

„Das ist ja eine Zinnkugel, wie sie der Gamstod schießt!“ riefen Mehrere, als sie das plattgeschlagene Geschoß erblickten, das der Jäger auf der Hand herumzeigte.

„Freilich ist’s eine Zinnkugel,“ rief der Jäger vergnügt, „und jetzt ist Alles auf einmal heraus; den Schuß hat kein anderer Mensch gethan, als der Quirin, der Steinhauer im Marmorbruche. …“

„Wenigstens ist der dringendste Verdacht gegen ihn,“ sagte der Landrichter. „Er hat kurz vorher mit dem Baron Worinoff in einer Sennhütte auf der Gindelalm Streit angefangen und ihn auf Leib und Leben bedroht. Ueberdies ist er gerade seit jenem Tage spurlos aus der Gegend verschwunden. Wenn der also, wie es wahrscheinlich ist, auf den Baron geschossen, wenn diese jetzt aufgefundene Kugel, wie kaum zu zweifeln, von jenem Schusse herrührt, und wenn feststeht, daß der Gamstod mit solchen eigentümlichen Kugeln zu schießen pflegte, so ist wohl auch kein Bedenken darüber, daß der Steinhauer mit dem gefährlichen Raubschützen ein und dieselbe Person ist.“

„Merkwürdiges Zusammentreffen!“ sagte der Pfarrer. „Wieder ein Beispiel, wie doch zuletzt Alles an das Licht der Sonne kommt, und wäre es noch so fein gesponnen.“

„Schau, schau – der Quirin!“ sagte der Hofbauer kopfschüttelnd. „Das hätt’ ich dem Burschen nicht zugetraut.“

„Warum nicht?“ rief der Forstmeister. „Verwegen genug sah er aus. Jetzt, wenn ich mir’s überdenke, wundere ich mich, daß ich nicht schon längst auf den Gedanken verfiel. Und der freche Bursche hatte noch die Keckheit, mich um Verwendung als Jäger anzusprechen. Er hat offenbar noch seinen Spott mit mir getrieben.“

„Desto schwerer wird das Loos sein, das ihn nun erwartet,“ entgegnete der Landrichter. „Die vielen gefährlichen Wilddiebstähle, die er verübt, dazu der offenbare Mordversuch! Wenn er je in die Hände der Justiz fällt, ist die bürgerliche Gesellschaft für ein zwanzig Jährchen gesichert.“

„Na, da wird er sich hüten und wird nimmer in die Näh’ kommen,“ sagte der Sonnen-Moser. „Weiß Gott, wo der sich in der Welt herumtreibt, wenn er noch lebt, und ich muß sagen, ich möcht’ fast wünschen, daß er nicht wieder käm’; es ist doch schad’ um ihn, und daß es so weit mit ihm hat kommen müssen. Wild ist er g’wesen und gach (jäh) – das läßt sich nit abstreiten – aber sonst doch ein richtiger Bursch.“

Das Gespräch wurde durch das Klingeln vieler Glocken und das Geblöke einer Viehheerde unterbrochen, die in der Wegschlucht des Albaches herabgetrieben wurde; zugleich krachte draußen bei den Scheiben ein Böllerschuß; ein glücklicher Schütze hatte den Punkt herausgeschossen, und Jessik, der Zieler, kam schreiend unter Capriolen und Purzelbäumen heran, die Scheibe zu überbringen, die nach jedem solchen Schusse abgenommen zu werden pflegte. Die Burschen und viele von den Gästen liefen dem Hohlwege zu, um das Vieh zu sehen.

„Das kommt von der Gindelalm herunter. Die fahren ab von der Alm,“ rief es durcheinander. „Wer sind denn die Sennerinnen?“ Und bald klang die Antwort der Vordersten zurück: „Das ist ja gar das Spötterl, das abtreibt. Da schaut’s her! Schaut das hoffartige Dirndl an, dem Keiner gut genug gewesen ist! Wie ist’s, Spötterl? Jetzt brauchst selber nimmer zu sorgen für’n Spott.“

Das Mädchen erwiderte nichts. Todtenbleich und gesenkten Blickes schritt sie den Hohlweg hinab, während Clarl die vom Geschrei erschreckten Kühe zu bändigen suchte und die Spöttereien der Bursche mit lauten Schmähreden vergalt. Auch der Zieler war durch den Lärm aufmerksam gemacht und herbeigelockt worden; er hatte Corona kaum erblickt, als er mit wildem Lachen, in dem sich Hohn und Bosheit mischten, sich über den Zaun hinunter in den Hohlweg schwang und auf Corona loseilte. Ehe sie sich des unerwarteten Angriffes erwehren konnte, hatte er sie bereits ergriffen und im Kreise gedreht.

„Oho!“ schrie er, „Spötterl, bist Du da? Das ist recht. Hast nicht wollen Narren machen auf Theater meiniges und bist zum Narren gemacht worden in der Stadt? Bist wieder da und möcht’st jetzt wohl zu mir; ich will Dich auch nehmen für ein rupfiges Hemd auf das ganze Jahr. Juhe! Gieb mir ein Bussel! Sind wir gleich und gleich, und gehört ein Hanswurst zum andern.“

[721] Er versuchte, der Widerstrebenden die Hände festzuhalten und sein Gesicht, das mit Ruß beschmiert war, damit es aussehe, als habe er einen Bart, an das ihrige zu drücken. Sie wehrte sich mit aller Kraft des Zornes; dennoch wäre sie erlegen, denn die Burschen zauderten ihr zu Hülfe zu kommen, wenn auch das Benehmen des Schneiders nicht ihren Beifall hatte. Plötzlich aber sprang ein Mann den Hag hinunter, packte Jessik und hatte ihn mit Einem Rucke von Corona weggerissen.

„Hanswurst, elender!“ schrie er. „Willst das Madl in Ruh’ lassen?“ Es war der rothbärtige Zillerthaler, der inzwischen mit seiner Handelschaft herumgegangen war und von Allem, was geschehen und gesprochen worden, nichts vernommen hatte. Corona war durch seine Hülfe augenblicklich frei; der Zieler aber ließ sich nicht so leicht abschrecken. Wie eine wilde Katze raffte er sich zusammen und sprang dem Helfer an die Kehle, indem er ihm zugleich, um ihn zu sich niederzuzerren, in das Haar fuhr; dasselbe wich der krallenden Hand, und vom Jubel und Rachegeschrei der ebenfalls herbeigeeilten Jäger begrüßt, erschien darunter Quirin’s kahle Stirn mit der mächtigen Narbe darüber.

Der nächste Augenblick sah ihn schon von seinen grimmigen Feinden umringt; trotz heftigen Widerstandes vermochte er sich der Ueberzahl nicht zu erwehren und ward zu Boden gerissen.

Auch Corona hatte ihn erkannt. Sie wollte hinzu, ihm den Beistand zu vergelten; aber Clarl hatte sie mit starker Hand gefaßt und schleppte sie hinweg. „Ist Dir’s noch nit genug?“ flüsterte sie ihr zu. „Willst noch mehr Schand’ und Spott auf Dich bringen?“ Von ferne sah die Widerstrebende noch zurück, sah ihn wegführen, sah, wie ihm über Stirn und Angesicht das Blut aus einer Wunde rieselte, die er im Geräufe davongetragen. Auch er schaute sich nach ihr um mit einem Blicke von Trauer und Vorwurf; dann waren sie einander aus dem Gesichte geschwunden.

„Was wollt Ihr von mir?“ fragte Quirin seine Gegner, während sie ihm die Arme auf den Rücken banden. „Warum fallt Ihr über mich her wie die Räuber?“

„Weil Du noch viel was Aergeres bist!“ schrieen die Jäger. „Willst Du’s etwa leugnen oder meinst Du, wir wissen nicht, daß Du der Gamstod bist?“

Ueberrascht sah er die Sprechenden einen Augenblick an. „Nein,“ sagte er dann kaltblütig; „wenn Ihr’s doch einmal wißt, dann leugn’ ich’s nicht; ich bin der Gamstod.“

Während sie ihn fortführten, spähte sein Blick noch einmal wie suchend in der Richtung, in welcher Corona dahingegangen, und ein Gefühl unsäglicher Bitterkeit stieg ihm im Herzen auf. Es war wahr – er hatte ihr das Blatt, das ihn verrieth, selbst gegeben; er hatte gewollt, daß sie davon Gebrauch machen solle: aber nun, da sie es, wie er glauben mußte, wirklich gethan, fiel es ihm dennoch wie ein stürzender Fels auf die Brust, daß ihm fast Pulsschlag und Athem stille stand.

Es war schon dunkel, als er sich im Gerichtshause untergebracht sah. Das Landgericht besaß damals keine peinliche Gerichtsbarkeit, die ohnehin höchst selten etwas zu thun hatte; das Gebäude war daher nur mit einem leichten Gefängnisse versehen, wie es zur Verwahrung geringerer Uebelthäter hinreichte; doch machten starke Eisengitter das Entrinnen zu einer immerhin nicht leichten Aufgabe.

Der Versammlung oben am Schießplatze hatte sich inzwischen ein förmlicher Freudentaumel bemächtigt, nicht nur, weil die Person des gefürchteten Wildschützen ermittelt und dieser unschädlich gemacht war, sondern noch mehr, weil es nun möglich war, dem guten König eine Freude zu machen und ihm zu zeigen, daß Niemand in dem Gebirge mit dem Wildschützen im Einverständnisse gewesen. Lebehochrufe erschollen; Trompeten und Hörner schmetterten, und Freudensalven krachten darein, bis der Mond über die Berge heraufblickte, als wollte er verwundert fragen, was der ungewohnte Lärm zu so später Stunde bedeute. An allen Tischen war kein anderes Gespräch und zugleich die Frage, wem nun der ausgeschriebene Preis gebühre, in Aller Munde. Der Jäger nahm ihn in Anspruch, weil er durch Auffinden der Kugel auf die erste Spur geholfen; Jessik aber begehrte ihn für sich, weil er es gewesen, der den Verbrecher festgehalten und ihm das Falschhaar vom Kopfe gerissen. Es war spät in der Nacht, als man mit schweren Köpfen, die unentschiedene Streitfrage in ihnen, nach Hause wandelte.

Allmählich war das Schweigen Herr geworden im Dorfe; nichts regte sich mehr als ein Haushahn, der, durch den frühen Lärm aufgestört, sich in der Zeit seines Morgenrufes irrte, oder hie und da ein vereinzelter Windstoß, der über den See her fuhr, daß die Bäume wie auffahrend rauschten und die schlaftrunkenen Wellen plätscherten. Nur in Quirin’s Gefängniß und vor demselben wollte es nicht gleich ruhig werden. Der Verhaftete fand keinen Schlaf; er stand am Gitter seines Fensters und sah in den klaren Mond empor, der so verständig herunterschaute, als nehme er Theil an dem Schicksal des Genossen, dem er so oft im Walde und auf den höchsten Felszinnen zugesehen und bei seinen nächtlichen Jagdfährten geleuchtet hatte. In Quirin’s Seele vermochte er diesmal nicht Einen lichten Funken zu werfen. Es war nicht die verlorene Freiheit und die Erinnerung an ihre kühnen Freuden, nicht der Gedanke an das traurige Loos, das ihm bevorstand und ihn wahrscheinlich in langwierigen Kerker vergrub; was ihn quälte, war der Gedanke an Corona; wie in alten Zeiten der Folterblock, der, wie der Gemarterte sich auch drehte, an allen Enden mit Stacheln und Spitzen versehen war, so quälte ihn dieser Gedanke. Als er von Corona schied und die Selbstanzeige gegeben hatte, mußte er darauf gefaßt sein, daß die Gerichte Alles aufbieten würden, ihn aufzufinden und sich seiner zu bemächtigen; trotz des Geständnisses hielt er sich aber für berechtigt, seine Freiheit gegen diese Maßregeln, so gut es nur anging, zu vertheidigen. Er hatte sich deshalb noch in derselben Nacht ebenfalls aus seinem Dienste und aus der Stadt entfernt und nach Tirol gezogen, wo man es in den einsamen Thälern mit den Fragen nach Stand, Namen und Herkunft nicht so genau nahm, und hatte sich leicht als tüchtiger Holzarbeiter das Bischen Unterhalt, dessen er bedurfte, verdient. Als es aber Frühling ward, als der Schnee zerging und auf den höchsten Gipfeln das Eis zu thauen und zu rücken begann, da litt es auch ihn nicht mehr; Sehnsucht und Neugierde ruhten nicht, ihm das Bild der Gindelalm vorzumalen mit der Sennhütte im Grünen und der Sennerin, die vor derselben saß. Das Bild wurde immer deutlicher; die Farben wurden immer brennender, bis er nicht mehr zu widerstehen vermochte und, alle Gefahren verachtend, sich auf den Weg begab.

Unterwegs in einem Dorfe, wo zur Osterzeit die Passion gespielt ward, gelang es ihm, sich den Rothbart zu verschaffen, in welchem der Judas gegeben wurde; so entstellt durfte er wohl hoffen, unerkannt und ungefährdet seine Reise machen und sein Ziel erreichen zu können. Schon war er in der Nähe der Grenze angekommen, als ihm ein Jäger begegnete, den er erkannte, und von dem er daher auch erkannt zu sein fürchtete; er glaubte also schon den Verdacht gegen sich geweckt und zog es vor, noch einen Umweg von einigen Monaten zu machen und seinen Besuch auf der Gindelalm bis zum Herbste zu verschieben. Bis dahin, hoffte er, werde der Argwohn, wenn ein solcher gegen den Zillerthaler Handschuhhändler wach geworden, wieder vergessen sein. So war er mitten am Tage des Schützenfestes eingetroffen und hatte vor, am anderen Morgen die Gindelalm zu ersteigen und Corona wiederzusehen, als ihn das plötzliche Begegnen mit derselben seine Rolle vergessen ließ, und er mit seiner Freiheit allen Hoffnungen und Entwürfen selbst ein rasches und klägliches Ende machte. Als das Schmerzlichste aber, was ihn dabei betroffen, drängte sich ihm immer wieder die Ueberzeugung auf, daß es doch eigentlich nur Corona war, durch welche er gefangen worden. Hätte sie nicht die Anzeige an das Gericht übergeben gehabt, so würden die Jäger nicht mit solcher Entschiedenheit auf ihn eingedrungen sein – das saß ihm im Herzen wie ein abgebrochener Pfeil.

Nun starrte er in die Nacht hinaus und auf den dunklen Hügel gegenüber, zwischen dessen nickende Büsche sich das Mondlicht hineinlegte, daß es manchmal den Anschein hatte, als sei es etwas Lebendiges, was durch dieselben husche. Er sah wieder und wieder hin, und immer deutlicher wurde, was er anfangs für Täuschung gehalten, ja, es wurde wirklich und lebend – eine Gestalt kam vorsichtig bald hinter dem Gesträuch hervor, bald verschwand sie wieder hinter demselben … Jetzt war sie so nahe, daß ein Zweifel nicht mehr möglich war. Es war eine weibliche Gestalt, die sich offenbar vorsichtig und auf Umwegen dem Gefängnisse näherte und zuletzt im Schatten der großen Linde, die vor demselben stand, verschwand. Jetzt hatte auch [722] Quirin’s jagdgeübtes Falkenauge sie bereits erkannt, und Freude stieg in ihm empor wie eine aufwallende Grundquelle, die er mühsam zurückdämmen mußte … Es war Corona. Auch sie hatte ihn gewahrt, und es dauerte nicht lange, so stand sie, von dem Baumschatten gedeckt, unter seinem Fenster, wo sie sich emporstreckte, soviel sie konnte … Wenn er den Arm durch die Eisenstäbe streckte, war es möglich, sich mit den Händen zu erreichen.

Beide waren so ergriffen, daß sie nicht gleich Worte fanden, ein ordentliches Gespräch zu beginnen. Die beiderseitigen Namen waren das Einzige, was sie hervorbrachten, und auch diese waren nicht gesprochen, sondern nur gehaucht, damit kein lauschendes Ohr die geheime Zwiesprache störe.

„Bist Du’s wirklich, Corona?“ fragte Quirin. „Mir ist, als wenn ich von Dir geträumt hätt’, und wie ich aufwach, bild’ ich mir ein, ich träum’ noch immer und seh’ Dich vor mir wie im Traum.“

„Ich bin’s schon,“ sagte das Mädchen. „Wie kannst fragen? Muß ich denn nit kommen und hereinbringen, was ich Dir Alles schuldig bin? Muß ich Dir nicht danken, was Du Alles für mich gethan hast?“

„Wüßt’ nit was,“ war Quirin’s ausweichende Antwort.

„Was? Hast Du mir nicht aus der Stadt fort g’holfen? Hast Du Dich nicht heut’ wieder so ang’nommen um mich?“

„Ist gern gescheh’n; ich wollt’ nur, es wär’ besser ausg’fallen. Ich hab’ nit g’wußt, daß Du heut’ schon abtreibst, und wär’ morgen in aller Früh’ bei Dir auf der Gindelalm gewesen. – Dann hätt’ Alles noch recht werden können; aber jetzt ist’s vorbei – vorbei mit Allem; jetzt brauch’ ich mich nit mehr zu kümmern um die Sägmühl und um die Sägmüllerin.“

„Wer weiß? Meinetwegen bist Du in’s Gefängniß kommen; also ist’s meine Sach’, daß ich Dir helf’. Ich weiß noch ein Mittel, das Dich frei macht. …“

„Da giebt’s kein Mittel mehr; ich bin schon allzu tief eingetunkt.“

„Mach’ mich nit selber kleinmüthig!“ rief Corona ängstlich. „Ich muß ohnehin meine ganze Kuraschi zusamm’nehmen. Aber g’schwind – vor Allem nimm, was Du mir ’geben hast! Es könnt’ wer kommen und könnt’ mich versprengen.“

„Was ich Dir ’geben hab’?“ fragte Quirin staunend. „Du bringst mir was?“

„Frag’ nit so! Hast das Papier vergessen, das Du mir ’geben hast, selbiges Mal, wie wir beim Kreuzlgießergarten auseinander sind?“

„Das willst Du mir z’rückgeben? Du hast es also noch? Du hast es nit her’geben?“ rief Quirin, sich vergessend, in heller Freude.

„Nit so laut!“ flüsterte Corona. „Wie fragst so gespaßig? Wenn ich gewußt hätt’, was in dem Papier steht, hätt’ ich’s nie angenommen. Wie ich’s aber gewußt hab’, da hab’ ich Dich nimmer finden und erfragen können, also hab’ ich’s wohl behalten müssen.“

„Du hast es noch? Du hast es nit hergeben?“ fragte Quirin nochmals.

„Gewiß. Das hast wohl im Ernst nit von mir glauben können – Du hast nit glauben können, daß ich Dich verrath’, blos damit ich mir leichter thu’. Nein, und wenn sie mir’s noch so arg gemacht hätten, und wenn ich keinen Dienst gefunden hätt’, lieber hätt’ ich im Taglohn gearbeit’t, daß mir das Blut aus den Nägeln gespritzt wär’, als daß ich das Sündengeld angenommen hätt’. … Da hast es – nimm’s wieder! Ich weiß ja doch, was Du für mich gethan hast, und werd’s nie vergessen.“

„Sie hat’s nit hergeben! Sie hat’s noch!“ rief Quirin entzückt zum dritten Male. Er faßte nach ihrer Hand, die ihm das Blatt entgegenstreckte; aber er ergriff nicht dieses, sondern die Hand, die es ihm reichte. Diese hielt er fest, zog sie hinauf zwischen seine Gitterstäbe und bedeckte sie mit Küssen. „Jetzt kommt’s mich erst hart an, daß Alles vorbei ist,“ rief er. „Sie sperren mich ein – wer weiß wie lang; sie schicken mich zum Weveldt nach München, und das halt ich nit aus. Ich bin’s zu sehr gewohnt, daß ich meinen freien Lauf hab’; da geh’ ich ein im ersten halben Jahr wie ein Baum, der kein’ Regen und kein’ Thau hat.“

„Mußt noch nit verzagen,“ rief Corona leise. „Aber ich hör’ was; und der Mondschein ruckt auch schon ganz nah’ – ich muß fort, und nur noch das Einzige will ich Dir sagen: Wenn Du wieder herauskommst und mich wieder fragen willst, wie damals auf der Gindelalm, dann bin ich um die Antwort nimmer verlegen; dann weiß ich Dir Eine, die gern drei Jahr’ und noch länger warten und Deine Sägmüllerin werden will.“

Ein Hund schlug an; von ferne klirrte ein Schlüsselbund; der Gerichtsdiener war wach geworden und eilte, nach seinem kostbaren Arrestanten zu sehen. Er fand nichts; als er schlaftrunken näher kam, war das Fenster des Gefangenen leer und verschlossen und der Besuch verschwunden. – Nur der Hund schnupperte am Boden hin, als wolle er zeigen, daß ihn sein Spürsinn nicht betrogen. – –

Ein herrlicher Herbstmorgen lag über den Bergen, die schon in voller Klarheit ihre Häupter emportrugen, während noch von der Seefläche einzelne Nebelflecken zu ihnen emporstiegen. Da stand Corona schon zu frühester Stunde in den Gebüschen an dem Parapluie, das der König an einem der schönsten Aussichtspunkte, dem Wallberge gegenüber, hatte erbauen lassen, und das er täglich zu besuchen pflegte, allein und in der Kleidung des einfachsten Bürgers. In dem freundlichen Manne im dunkelblauen Fracke mit gelben Knöpfen, grauen Beinkleidern, hohen Stiefeln und schlichtem Rundhute hätte wohl Niemand den Beherrscher des Landes gesucht. Eben schlug er den Heimweg ein, als die kleinen, roth und weiß gefleckten Wachtelhündchen, die er immer bei sich hatte, vor dem Gebüsche stehen blieben und durch lautes Gebell anzeigten, daß sich etwas darin verberge. Zögernd trat Corona auf des Königs Ruf hervor; mit brennenden Wangen und niedergeschlagenem Blicke stand sie vor ihm: sie war beim ersten Begegnen im Königszelte nicht im mindesten in Verlegenheit gekommen; jetzt vermochte sie kein Wort hervorzubringen.

„Wer bist Du, Mädl?“ fragte der König. „Willst Du etwas von mir? Ich meine, ich soll Dich kennen.“

„Du kennst mich freilich, Herr König!“ entgegnete Corona furchtsam. „Aber ich weiß halt nit, ob Du nit harb sein wirst, wenn ich mich nenn’.“

„So hast Du etwas begangen, daß Du mich fürchten mußt?“

„Begangen –“ sagte sie verwundert, „das heißt wohl so viel wie angestellt? Nein, angestellt hab’ ich just nichts; aber ich bin halt das Madl, das im voriges Jahr vor Dir gesungen hat – weißt wohl, wie die fremden Kaiser alle bei Dir auf Besuch g’wesen sind.“

„Ah! Jetzt erst kenn’ ich Dich,“ rief der König lachend. „Du bist ja das Spötterl, das eine Sängerin werden wollte und meinen Münchnern den Spaß so versalzen hat.“

Da sie die gute Laune des Königs bemerkte, sah auch Corona lächelnd zu ihm empor. „So bist nit harb,“ sagte sie, „daß ich damals davon bin, und daß alles das Geld, das Du wegen meiner ausgegeben hast, zum Fenster hinausgeworfen war?“

„Nein, ich bin nicht harb,“ erwiderte der König ihre Worte wiederholend. „Leider konnte ich an jenem Abend nicht im Theater sein; ich habe eben wieder Besuch gehabt. Aber ich habe viel darüber gelacht, daß Du Dich so resolut aus der Affaire gezogen hast, und was das Geld betrifft, so behauptet mein Schatzmeister, das sei nicht das Einzige, was zum Fenster hinausgeworfen werde. Aber was willst Du denn? Vermutlich heirathen?“

„Wär’ mir auch nit zuwider,“ entgegnete Corona, „wenn’s der Rechte wär’. – Aber es ist das nit. Du hast voriges Jahr erlaubt, daß ich mir eine Gnad’ ausbitten und mich darauf besinnen darf, bis mir was Richtig’s einfallt.“

„Und jetzt ist Dir das Richtige eingefallen? Nun gut, so sage Deinen Wunsch! Wenn es möglich ist, soll er Dir gewährt sein.“

Ermuthigt von der Leutseligkeit des Fürsten, erzählte Corona erst stockend, dann frei vom Herzen weg, was zwischen ihr und Quirin sich begeben, wie er nun als Wildschütz gefangen sitze und einem schlechten Ende entgegensehe, wenn nicht die Gnade des Königs, um die sie für den Burschen bitte, helfend und rettend dazwischen trete.

Der König war ernst geworden. „Da hast Du Dich in

[723]

Reiche Judenmädchen in Tunis. Nach der Natur aufgenommen von Robert Leinweber.

[724] einen bösen Handel gemischt, Spötterl!“ sagte er. „Da kann ich Dir noch nichts versprechen; das geht die Gerichte an; denen darf und will ich nicht vorgreifen. Aber Wort muß ich halten. Also will ich vorerst Deinen Schützling sehen und überlegen, was zu thun ist.“ Er hieß die Zagende ihm folgen und schritt mit ihr den Berg herab, dem Landgerichte zu.

In diesem herrschte schon große Thätigkeit; der Landrichter und der Actuarius waren vollauf beschäftigt, den Raubschützen zu verhören und alle die einzelnen Wilddiebereien festzustellen, die ihm schon seit Jahren zur Last gelegt wurden. Auch der Forstmeister hatte sich eingefunden, um seinen etwaigen Gedächtnißlücken nachzuhelfen. Aber es bedurfte dessen nicht; Quirin hatte sich alles Widerstandes, den er doch für überflüssig hielt, begeben und erzählte ohne Rückhalt, was man von ihm zu wissen begehrte. Alle waren im vollsten Amtseifer, als die Thür sich öffnete und der oberste Gerichtsherr des Landes in eigener Person erschien und den überraschten Beamten erklärte, daß er den berüchtigten Wilderer, von dem er so viel gehört, selber in Augenschein nehmen wolle.

Hinter ihm, im Winkel der Thür stand Corona. Niemand bemerkte sie, da Alles nur auf den König sah. Quirin allein erspähete sie sogleich; sein Blick traf den ihrigen, aus dem ein Strahl der Hoffnung blinkte; mit der Hoffnung kam auch die Lust des Lebens wieder und mit der Lebenslust seine alte Geradheit und Offenheit.

Fest und doch nicht keck stand er vor dem König und erzählte ihm auf sein Verlangen von seiner Geburt und Jugend, von den Leiden, die er ausgestanden, und wie er in seiner gänzlichen Verlassenheit dazu gekommen, aus Noth zum Wildern zu greifen, wie ihm aber sein Leben lang niemals so wohl gewesen, und er sich nirgends so daheim gefühlt, wie im Walde – wie er den Leibhirsch in der Nacht und in der Entfernung nicht erkannt, sondern für einen wilden gehalten, und wie er keineswegs im Sinne gehabt, dem Russen ein Leides zu thun, sondern wie er ihm nur handgreiflich zeigen wollte, daß er Macht gehabt hätte über ihn. Er erzählte die Veranlassung seines Hasses gegen den Baron und versicherte, daß er das Wildern seitdem schon aufgegeben und sich von der Arbeit und herumziehenden Handelschaft genährt, auch fest vorgehabt habe, nicht wieder in das alte Leben zurückzufallen.

Theilnehmend hatte der König zugehört. „Das kannst Du leicht sagen,“ entgegnete er dann. „Wer bürgt mir aber dafür, daß das Dein Ernst ist?“

„Die Bürgschaft hast Du mir selber mitgebracht, Herr König,“ sagte Quirin bescheiden. „Laß Dir von dem Madl den Zettel geben, den sie schon vor einem halben Jahr von mir ’kriegt hat. Ich hab’ mich selber angeben wollen; das ist wohl der beste Beweis.“

Der König überflog das Blatt und sah dem Burschen fest in’s Gesicht. „Und das ist Dein wirklicher Ernst?“ sagte er. „Und das Mädl hat das Blatt so lang aufbewahrt und nicht benützt? Das gefällt mir von ihr. Nun sag’ mir aber, Du wilder Kerl, was ich mit Dir anfangen soll!“

Da lachte Quirin, daß unter dem Schnurrbart die weißen Zähne sichtbar wurden. „Ja, wenn Du mich fragst, Herr König,“ sagte er, „bin ich nit verlegen um die Antwort. Wenn Du den Wildschützen für alle Zeit los sein willst, so mach’ einen tüchtigen Jäger daraus! Der Herr Forstmeister kann’s bezeugen, daß ich ihn schon im vorigen Jahr darum angegangen hab’.“

Der Forstmeister bestätigte das und pries sich glücklich, daß er nicht darauf eingegangen, den Bock zum Gärtner zu machen. „Der Bursche würde als Jäger schön unter dem Wildstande aufgeräumt haben,“ meinte er.

„Was meinst Du dazu?“ sagte der König, indem er den Blick forschend auf Quirin richtete. „Hättest Du das gethan?“

„Ah, bei Leib’! Niemals nit,“ rief dieser. „Wirst mich doch nit für einen so schlechten Kerl halten? Ich bin all’ mein Lebtag’ ein richtiger Bursch gewesen.“

„Ja wohl, wir haben die Proben davon gesehen,“ sagte der König mit wohlwollendem Lächeln. „Aber ich will’s mit Dir versuchen. Ich hab’ dem Spötterl erlaubt, sich von mir etwas auszubitten; sie hat Deine Begnadigung verlangt, – also muß ich wohl Ja sagen. Herr Forstmeister, wir wollen’s mit dem Gamstod versuchen; er soll Jagdgehülfe sein in Ihrem Revier, und dem braven Mädl da soll der Preis ausgezahlt werden; sie hat ihn verdient, weil sie ihren Wildschützen so tapfer verschwiegen hat. Hab’ ich’s nun recht gemacht?“ fuhr er gegen Quirin gewendet fort, der, seinen Ohren nicht trauend, vor ihm auf beide Kniee niederplumpte und ihm den Frackschooß küßte. „Steh’ nur auf und halte Dein Wort! Die Küsserei, denk’ ich, ist bei dem Mädl da besser angebracht. Ich meine, sie hat es verdient um Dich.“

Mit freundlichem Gruße trat er aus dem Gebäude und ließ die Beamten zurück, erfreut und gehoben durch den neuen Beweis der Milde des besten Herzens, Quirin und Corona aber, in einem Meere von Freude hin- und wiedertreibend, das plötzlich wie ein Wolkenbruch auf sie herabgestürzt war. Als sie gingen, mußte der Actuarius dem Burschen nachrufen, daß er seinen Hut vergessen habe – so sehr hatte er den Kopf verloren.

Nun ließ auch die Hochzeit nicht lange auf sich warten. Oben gegen die Neureit hin war ein Häuschen feil (das seitdem und noch lange nachher „zum Jäger“ hieß); das wurde gekauft und eingerichtet, und nach wenigen Wochen führte der königliche Jagdgehülfe Quirinus Grabner das Spötterl von der Gindelalm in sein jägerhaft eingerichtetes Haus. Ganz Tegernsee, die umliegenden Dörfer und Bergthäler, alle sandten Gäste zu der Hochzeit des Paares, das sich so seltsam gefunden, noch mehr aber dem edlen König zu Ehren, der einem verlorenen Menschen wieder aufgeholfen und ihn der Gesellschaft zurückgegeben. Das Hochzeitsmahl wurde bei dem dicken Bäcker am Albach gehalten, und als man eben aus der Kirche von der Trauung dahinzog, kamen noch zwei Gäste aus München angefahren – der Pianist, der sein entflattertes Spötterl noch immer in freundlichem Andenken hielt, und Frau Carl, die liebenswürdige Künstlerin, die ihr schönes Herz drängte, dem Mädchen Glück zu wünschen, das die bescheidene Bahn eines stillen Glückes einer vielleicht glänzenderen vorgezogen. Sie brachten einen herrlichen Doppelstutzen mit, ein Geschenk Worinoff’s mit einem Briefe, worin er dem Bräutigam Glück wünschte und ihn bat, die einstige Jugendübereilung, die er längst selber bereut, zu vergessen.

Als Corona ihr neues Heim betrat, fand sie am Fenster einen Vogelkäfig hängen; in ihm saß ein munteres Spötterl, das sie beim Eintritt wie absichtlich mit lautem Freudengeschmetter begrüßte.

„Grüß Gott, Camerad!“ rief sie darauf hineilend. „Dich will ich schon besser hüten, als Deinen ersten Gesellen.“

„Und ich Dich,“ sagte Quirin, sie umfassend. „Es hat so viel Hitz’ gekost’t, bis ich Dein Nestl gefunden und Dich eingefangen hab’. – Jetzt sperr’ ich Dich in das Häusl da ein und das Glück mit Dir, und werd’ wohl Acht geben, daß es nit davonfliegt.“

– Und es flog nicht davon. – Lange Jahre blieb es heimisch, als das kleine schmucke Jägerhaus schon mit ein paar Buben und Mädchen bevölkert war, die unter Clarl’s Obhut gedeihlich heranwuchsen. Die alte treue Freundin hatte sich auch da eingesiedelt. Sie war zufrieden; waren auch ihre hochfliegenden Pläne mit Corona gescheitert, so hatte sie doch noch einen „Angestellten“ zum Manne bekommen, der in der grünen, goldgestickten Uniform gar stattlich aussah. Quirin Grabner, der frühere Gamstod, hielt sein Versprechen. Der Forstmeister mußte zugestehen, daß er nie einen so eifrigen und unermüdlichen Gehülfen gehabt. Er besiegelte auch seine Diensttreue mit seinem Blute; einmal wurde er im Walde gefunden, todt, die Kugel eines Wildschützen in der Brust.

Damit endet auch die Geschichte vom Spötterl.




[725]
Israel in Tunis.



Zu den unbekanntesten Weltwinkeln gehört für den Europäer ohne Frage auch das durchaus nicht uninteressante Tunis, obgleich seine Entfernung vom südwestlichen Sicilien auf einer längeren Seespazierfahrt leicht zu überwinden ist; aber die große Heerstraße geht für die Afrika-Reisenden eben über Alexandrien und Cairo, und nur Wenige verirren sich nach dem entlegneren Tunis.

Ich werde vielleicht in einem späteren Artikel einmal Gelegenheit nehmen, die Gartenlauben-Leser mit den charakteristischen Eigenthümlichkeiten dieser echt-orientalischen Stadt bekannt zu machen. Heute will ich mich nur mit den Juden in Tunis beschäftigen, welche dort einen wesentlichen Bestandtheil der Bevölkerung bilden. Während die maurische Einwohnerschaft in Tunis, Algier und Marokko immer mehr abnimmt und in einigen Jahrhunderten vielleicht ganz ausgestorben sein wird, wächst die Zahl der Israeliten dort von Jahr zu Jahr. Seitdem neue Reformen eingeführt sind und der Jude mehr als früher den Schutz der Gesetze genießt, ist er mächtiger und stärker geworden. Gegenwärtig leben in der Stadt Tunis über dreitausend Juden; dieselben haben den größten Theil des dortigen Handels in den Händen. Vor wenigen Jahren noch waren sie nur die Geduldeten und mußten sich von der mohamedanischen Bevölkerung alles Mögliche gefallen lassen. Jeder Jude, und mochte er noch so wohlhabend sein, mußte jedem Mohamedaner, und war es selbst der lumpigste Kerl (Marokkaner oder Neger oder Beduine oder Kabyle), auf der Straße ausweichen; er hatte aufzustehen, wenn der Mohamedaner sich setzen wollte, durfte von jedem Kerle angespieen und mißhandelt werden und konnte nur in seltenen Fällen, und dann meist nur durch Bestechung, sein Recht erlangen. Ein Jude, wollte er zum Mohamedanismus übergehen, wurde gezwungen, erst Christ zu werden, eine Satzung, welche noch heute in Kraft sein soll.

Durch die modernen Reformen, die der vorige Bey eingeführt – wohl unter dem Schutz der Europäer – ist der Jude freier geworden und braucht sich die obengenannten Mißhandlungen nicht mehr gefallen zu lassen. Trotzdem ist er dem Dünkel der Mohamedaner gegenüber noch immer ein gründlich verachteter Mensch, noch weit mehr verachtet und gehaßt als der Franke, der Europäer oder, wie der Araber den Fremden nennt, „der Rumi“, das heißt: der Christ oder der Römer.

Wie mir vielfach versichert wurde, sollen aber die tunesischen Juden in der That moralisch weit herabgekommen sein und tiefer stehen als ihre Stammesgenossen in andern orientalischen Ländern. Von sechs Juden befindet sich in Tunis stets nur einer in bessern Verhältnissen; die fünf andern schlagen sich auf alle mögliche Weise durch, um ihr Leben nothdürftig zu fristen. Da sie mit den Malthesen, der von Malta stammenden Bevölkerung, den Verkehr zwischen Mohamedanern und Franken vermitteln, haben Viele sich gewissermaßen emancipirt, die Lebensweise der Europäer im Aeußeren nachgeahmt und Manches von ihrem orientalischen Charakter aufgegeben. Doch lebt die größte Anzahl noch in Sprache und Sitten nach arabischer Weise, die Religionsgebräuche ausgenommen, die sie starr und unveränderlich dem Buchstaben nach befolgen. Als z. B. ein jüdischer Dolmetsch, den wir auf einem längern Ausfluge in’s Land mitgenommen hatten, mit seinen Lebensmitteln zu Ende war und wir ihm alles Mögliche an Eiern, Käse, Brathuhn etc. anboten, nahm er nichts an, weil die Speisen nicht nach seinen Religionsgesetzen bereitet waren. Sein Herr, ein Kaufmann, wurde darüber zornig und drohte ihm mit Dienstesentlassung – der Jude aber blieb starr und genoß zwei Tage lang gar nichts, bis er Stammesgenossen antraf und sich wieder mit „Koscherem“ versehen konnte.

Die Lebensweise des tunesischen Juden ist, wie gesagt, äußerlich der maurischen ähnlich. Sein Haus ist fast ganz so gebaut und eingetheilt, wie die maurischen Wohnstätten. Ein kleiner, niedriger Steinbau, mit weißer Tünche überstrichen, hat es auf der Gassenfront nicht den geringsten Schmuck, nur ein paar Fensterlöcher und eine niedrige Thür, Alles von arabischer Bauart. Das Familienleben in solchen kleinen Steinhütten, wie in den größeren Gebäuden, concentrirt sich im Hofraume, der vom Gebäude rings umschlossen ist. Auf diesen Hofraum hinaus münden die einzelnen Kammern mit Fenster und Thür. Im Hofraume wird Feuer gemacht und gekocht – hier überhaupt bringen die Leute ihr Leben unter freiem Himmel zu, entweder eine Familie oder mehrere beisammen. Die kleinen niedrigen Zimmer werden blos zur Nachtzeit benützt. Die reicheren Juden in Tunis leben meist in italienisch gebauten Häusern, wie der beigegebene Holzschnitt ein solches vergegenwärtigt. Das Haus hat große Fenster, die keine Brustwehr haben, bis zum Fußboden offen (wie Thüren), mit Eisengitter verschlossen und gegen Sonne und schlechtes Wetter mit Matten überdeckt sind. Der Europäer, welcher mit Juden Geschäftsverbindungen hat oder sonst befreundet ist, hat Zutritt in ein Judenhaus. Auf wiederholtes Klopfen wird ihm aufgethan und er in das Haus eingeführt. Auf das Klopfen hin sind alle weiblichen Wesen im Hause verschwunden, kommen aber gewöhnlich nach und nach zum Vorscheine, wenn sie sehen, daß der Hausherr seinen Gast ehren will oder mit demselben befreundet ist.

In ein arabisches oder maurisches Wohnhaus zu dringen, ist dem Europäer nur in wenigen Fällen möglich. Kommt ein Nachbar, ein guter Muselmann, auf Besuch, so verschwinden die Frauenzimmer in die Wohnräume und sind während der Dauer des Besuches unsichtbar. Alle Fenster, selbst diejenigen, welche auf den Hof münden, sind klein und eng vergittert. Die Handelsgeschäfte werden überhaupt nur im Bazar abgemacht, dem sogenannten „Tuck“. Dort hat jeder Geschäftsmann und Handwerker seine Bude und offene Werkstatt.

In der männlichen Kleidung sind die Juden ähnlich den Mauren, nur daß sie nicht dieselbe Freiheit in der Farbenwahl haben, wie die Moslemins. So darf der Jude über seinen Fez (der rothen Kappe) keinen anderen Bund (Turban) tragen als einen schwarzen oder dunkelblauen. Die Kleiderstoffe sind meist hellblau, grau oder schwarz, während die Mauren die glanzvollsten Farben wählen.

Die Judenfrauen sehen in ihrer häuslichen Kleidung ganz so wie die maurischen aus, für unsere Begriffe äußerst häßlich und europäischem Brauche widersprechend. Während unsere Frauen Kopf und Oberkörper in einer Art kleiden, daß die Formen recht zur Geltung kommen, verhüllen die Tunesinnen diese Körpertheile so, daß jede Form verschwindet. Während wir gewohnt sind, die Frauen stets mit langem Rock bekleidet zu sehen, das heißt, auf eine Weise, daß der untere Körpertheil von dem herabfallenden Kleide vollständig verhüllt ist, wird bei den maurischen und jüdischen Schönen dieser Theil ganz eng bekleidet. Sie tragen enge Hosen und die reicheren an den Unterschenkeln sogar noch eine Art Beinschienen, so dick mit Seide, Gold und Silber gestickt, daß die Beine wie ein paar überladen verzierter Säulen aussehen. Die Füße stecken in zierlichen Pantoffeln, die oft so weit ausgeschnitten sind, daß sie nur von den Zehenspitzen gehalten werden. Beim Ausgehen nehmen sie noch des Schmutzes wegen hohe Holzpantoffeln, an deren Sohlen hohe Klötzchen angebracht sind. Diese werden mit einem Querriemen am Fuß gehalten, und auf diese Weise balanciren die Damen sicher durch die schlammigen Straßen. Ganz Arme bedienen sich überhaupt nur dieser Klötzchenschuhe.

Die Frauen und Mädchen der ärmsten Classen tragen Hosen von Leinwand, die, unten eng, mit einer Zugschnur um die Hüften zusammen gezogen werden. So sehen sie aus, wie wir ungefähr mit unsern Unterhosen zur Nachtzeit. Die reichere Frauenclasse trägt Hosen von Seide, roth oder grün, reich gestickt und mit Beinlingen, die ebenfalls Gold- und Silberstickerei zeigen, je nach Vermögen der Trägerin. Von Hals und Schultern herab hängt ein Kleid, mit kurzen weiten Aermeln versehen, bei Armen von Linnen oder geblümtem Zeuge, bei Wohlhabenderen von Seide, Damast, Atlas oder goldgestickten Stoffen. Ich sah auch diese Kleider bei reichen Jüdinnen ganz von glänzendem Goldbrokat. Darüber befindet sich bei Wohlhabenderen ein kurzes Jäckchen, auf dessen Seiden- oder Goldstickerei der größte Fleiß verwandt ist. (So das stehende Mädchen auf dem Bilde.) Unter alledem tragen sie ein Hemd von durchsichtigem Florstoffe, dessen feingestickte Aermel bis zur Hand herabfallen. Diese Florärmel [726] trägt jede, auch die ärmste und sogar die ekelhafteste Negerin. Nur die armen Araberbeduinen- und Kabylenweiber müssen dieses Schmuckes entbehren. Letztere tragen sich noch fast so, wie’s in der Bibel beschrieben wird, auf die einfachste Weise.

Auf dem Kopfe haben die Jüdinnen einen eigenthümlich nationalen Putz – es ist ein Wirbel, von Gold gestickt und von einem Haik (Schleiermantel) bedeckt, wie ein Kamm. Um diesen sind seidene Binden und Tücher gewickelt, welche, unter dem Kinn zusammengenommen, das Gesicht umrahmen und den übrigen Kopf, sowie den Hals und mitunter den halben Oberkörper verhüllen. Ein weißer oder buntseidener Schleier fällt rückwärts herab.

Ueberdies ist allen Orientalinnen eigen, sich so viel wie möglich mit Schmuck und Juwelen zu überladen, und dies repräsentirt ihren Reichthum. Manche tunesische Jüdin stellt auf diese Weise ihr ganzes Vermögen zur Schau, während es daheim recht elend ausschaut.

Ich habe hier geschildert, wie beide, Jüdin und Maurin, in der häuslichen Tracht ziemlich übereinstimmen. Ganz anders ist das auf der Gasse, im öffentlichen Verkehre.

Die Maurin verbirgt alle diese Herrlichkeit vor fremden Blicken. Wenn sie auf der Straße erscheint, sieht sie aus wie ein Räthsel. Man weiß nicht, ob sie alt oder jung, schön oder häßlich ist. Mit Ausnahme der Beine bis zum Knie sieht man gar nichts, was einer weiblichen Form gleichkommt. Sie trägt über ihrer Kleidung einen weißen seidenen Mantel, der, malerisch gefaltet, vom Kopfe bis über’s Knie alles verbirgt. Sogar die Hände hat sie sorgfältig darein gewickelt. Das Gesicht ist mit einem äußerlich undurchsichtigen schwarzen Seidentuche so eng umwickelt, daß, von der Seite gesehen, die Contouren des Profils mitunter sich ganz scharf abheben. Will sie ein Uebriges thun, so trägt sie über dieser Hülle noch einen langen schwarzen Seidenschleier, den sie mit den Händen schief abhält, um den Weg vor sich zu erkennen. Die Araberweiber und Armen tragen mitunter blos ein loses, grellfarbiges Seidentuch über dem Kopfe, das über das Gesicht lang herabfällt.

Die Jüdinnen dagegen erscheinen unverschleiert, nur ein weißes Linnen über Kopf und Schulter, so daß man ihre Kleidung darunter erkennen kann. Gesittete jüdische Mädchen leben zurückgezogen, kommen nur selten auf die Straße und bewundern die Welt blos von ihren Fenstern oder dem Plateau des Hauses aus.

Eine solche Scene habe ich dargestellt. Die neugierigen Schönen sind im eifrigsten Gespräche – am Schabbes, mit ihrem schönsten Putze angethan, hat eine Freundin die anderen zwei besucht, damit sie von deren günstig gelegener Wohnung einmal einen ungenirten Blick in die Menge thun kann. Dabei wird gelacht und gescherzt. Ich hatte von einem benachbarten italienischen Hause aus die Scene mit angesehen und skizzirte sie flüchtig; da kam der alte Jude; die Mädchen bemerkten mich, und – husch, waren sie weg.

Es mag noch hervorgehoben werden, daß diese Mädchen sich nicht am Fenster zeigen, um gesehen zu werden, denn das thun dort nur Leichtsinnige und Freudenmädchen, sondern um selbst zu sehen und ihren Spaß zu haben. Trotz der Aehnlichkeit der arabischen und jüdischen Lebensweise genießen die Jüdinnen in Tunis, wie schon gesagt, einer gewissen Freiheit, wenn auch nicht in dem Maße, wie unsere Frauen. – Da nach dem Begriffe eines Orientalen kein Mann sich nach einem Frauenzimmer umsieht, ohne „Absichten“ zu haben (denn bloße Bewunderung versteht er nicht), in es auch höchst verpönt, ein weibliches Wesen zu beachten oder gar deswegen still zu stehen, und es wird dies immer übel genommen. Daher wandeln auch die Frauen und Mädchen jedes Volkes und Stammes unbeachtet durch die Straßen, und Jude und Mohammedaner würden es sehr übel nehmen, wollte man die Schönheit ihrer Töchter bemerkt haben, oder gar es wagen, ihnen etwas Schmeichelhaftes darüber zu sagen.

Robert Leinweber.




Die Wittwe eines Freiheitskämpfers.


Zum 9. November.


Am 18. März dieses Jahres ging gegen Abend ein Leichenzug durch die Straßen Leipzigs. Der Sarg war reich geschmückt mit Blumen und Palmen, der letzten Liebesgabe aus Freundeshand; der Regen fiel klatschend nieder auf die Steinplatten der Trottoirs; der Sturm fegte darüber hin, und in Regen und Sturm blieb manch’ ein alter Mann stehen; mit der Hand winkend wie zum Gruß, blickte er dem Trauerzuge nach – die Lippe nannte leise einen Namen.

Mit der, die hier zur letzten Ruhestatt fuhr, hatte einst ein ganzes Volk getrauert, und ein ganzes Volk hatte tröstend ihr die Sorge tragen helfen, als mehr denn fünfundzwanzig Jahre früher der Gewaltstreich in Wien sie zur Wittwe, ihre Kinder zu vaterlosen Waisen gemacht. Jene stille Fahrt unter duftender Blumenspende, durch Regen und Sturm, war der Schlußstein eines Menschenlebens, das reich gewesen war an Glück und Stolz, noch reicher an Leid und nimmer endender Trauer. Man begrub an jenem Nachmittage die Wittwe Robert Blum’s.

Wie selten in ein Frauenleben, so hatten in ihres die geschichtlichen Ereignisse unseres Jahrhunderts eingegriffen. Die Kanonendonner der Schlacht bei Leipzig klangen in ihre erste Kindheit; die darauf folgenden Staats- und Kriegswirren trieben sie mit ihrer Familie aus dem Vaterhause, dem Vaterlande. Dann, auf der Höhe von Glück und Leben, entriß ihr die Revolution des Jahres 1848 den Gatten, und als der letzte deutsch-französische Krieg die deutsche Einheit erstehen ließ, für die einst Robert Blum gekämpft und gelitten, da durfte wohl seine Wittwe mit einstimmen in den stolzen Siegesjubel, und doch mußte zu gleicher Zeit bei jeder neuen Nachricht vom Kriegsschauplatz ihr Herz sich zusammenziehen in Angst und Sorge: Stand doch ihr jüngster Sohn mit in der Reihe der Kämpfer, und in dem beständigen Bangen um sein Leben achtete sie nicht die Erkältung, die der harte Winter ihr zuzog und deren Folgen sie nach mehr als dreijährigen Leiden am 15. März 1874 erlegen ist.

Nicht eine Wiederholung der Geschichte unseres Jahrhunderts will diese Lebensskizze geben, sie will nur darlegen, wie die große Zeit einen Frauencharakter herangezogen, so mild, daß er sein Schicksal tragen konnte ohne hart und bitter zu werden, so fest, daß die edle Frau den letzten Willen des Gatten vollführen und ihren Kindern den Vater ersetzen konnte.

Eugenie verw. Blum wurde am 13. Febr. 1810 als die Tochter des Fabrikbesitzers Johann Georg Günther in dem an der Mulde freundlich gelegenen Städtchen Penig geboren. Drei ältere Schwestern und ein Bruder freuten sich des jüngsten Schwesterleins in der Wiege. Unter ihnen erwuchs sie zum fröhlichen Kinde, das, als die Kriegsunruhen ihnen das Haus voll Einquartierung legten, keine größere Sorge kannte, als die schönen Puppen vor den wilden Gästen in’s Nachbarhaus zu retten. Ihre Zweifel an der Zuverlässigkeit der bärtigen Soldaten wurden nicht gemindert, als durch die Kinderstube die dunkle Sage von lichter- und seifeverzehrenden Barbaren ging, und sie wußte sich bis an ihr Lebensende zu erinnern, wie von da an die Mutter bei jeder großen Serviettenrevue erzählte: „Zwei haben die Kosaken mitgenommen!“ Die Familie Günther wurde von dem Kriege schwer heimgesucht. Das Geschäft des Vaters ging rückwärts und stand endlich ganz still. Es war ein besonderer Glücksfall, daß ihm von Prag aus das Anerbieten gemacht wurde, in eine dortige Kattunfabrik einzutreten; der schwer geprüfte Mann nahm dieses Anerbieten freudig an, und am 18. October 1820 fuhr die Familie in das vielthorige Prag ein. Kanonendonner und Militärmusik empfingen die neuen Ankömmlinge, denn man feierte den siebenten Jahrestag der Schlacht bei Leipzig. Die nunmehr zehnjährige Eugenie, die schon in der Heimath eine reiche geistige Begabung an den Tag gelegt hatte, wurde in Prag zu den Ursulinerinnen in die Klosterschule geschickt. Allein der dort herrschende streng katholische Geist veranlaßte die freidenkenden Eltern sehr bald, das Kind aus dieser Schule zu entfernen, und nun genoß Eugenie mit ihrem um zwei Jahre älteren Bruder [727] den Privatunterricht eines geistvollen und gelehrten Juden. Dann folgte als Vorbereitung zur Confirmation der protestantische Religionsunterricht. War es nicht, als habe das Schicksal sie durch diese confessionslose Vorschule für den Mann heranbilden wollen, der später ihr Gatte werden sollte, für den Mann, der auf allen Gebieten seines Wirkens, auch auf dem religiösen, für das Recht der Freiheit und Humanität eintrat? Nachdem die Schulzeit Eugeniens mit der Confirmation abgeschlossen, fuhr sie noch eifrig fort, die Lücken ihres Wissens auszufüllen, und namentlich war es die Ferienzeit des Bruders, welche ihr eine Zeit des Lernens und Studirens wurde. Mit ihm, der solche freie Wochen im Elternhause zu verleben pflegte, wußte sie in den ihr sonst fremden wissenschaftlichen Werken manches Goldkorn der Bildung aufzuspüren, das ihr im späteren Leben oft reiche Früchte getragen hat.

Nachdem sich nunmehr die Lage der Familie schnell gebessert, übernahm der Vater wieder ein selbstständiges Geschäft. Seine Fabrik blühte rasch auf. Da er in seiner Tochter Eugenie einen klaren, schnell arbeitenden Geist wußte, so nahm er sie in sein Comptoir auf. Sie trat mit großem Eifer in diesen neuen Wirkungskreis und fand sich schnell zurecht in einfacher und doppelter Buchführung. Bald vereinigten sich in ihren Büchern, in ihrem Kopfe alle Zahlenverhältnisse des immer schöner sich entfaltenden Geschäftes. Der ganze Bekanntenkreis staunte. Sie hatten zwar immer „Günther’s Jenny“ für eine halbe Gelehrte gehalten, obgleich man wußte, daß sie bisher regelmäßig ihre „Kochwoche“ gehabt, wie die andern Schwestern, und daß es zu Mittag niemals besser schmeckte, als wenn sie Küchenregentin war, aber daß ein Mädchen auch Buchhalter werden und seine Stellung ausfüllen könnte, trotz einem Mann, das war damals noch unerhört und gab Anlaß zu großer Verwunderung.

Aber in ihre fröhliche Arbeit sollte sich bald schwere Sorge mischen. Der Vater begann zu kränkeln und sichtbar schwächer und hinfälliger zu werden – am 21. October 1834 weinten Mutter und Kinder an seinem Sarge. Eugenie war damals vierundzwanzig Jahre alt; es war ihr erster Schmerz und sie meinte, die ganze Welt sei ihr genommen mit dem Vater. Die letzten Jahre gemeinsamer Arbeit hatten sie noch inniger zusammengeführt, und jetzt empfand sie die Verwaisung doppelt bitter. Neue Sorgen von außen zwangen sie bald, sich aus dem dumpfen Schmerz aufzuraffen. Das junge Geschäft war erfreulich vorwärts gegangen, aber sein ganzes Gedeihen hatte in der Hand gelegen, die es geleitet.

Jetzt fehlte diese Hand, und dem Bruder, den das Familienunglück von Leipzig weggerufen, wo er sich auf eine Professur der Geschichte vorbereitete, dem Gelehrten, der elf Sprachen kannte, der sich in die Geschichte aller Völker versenkt hatte, mußte nothwendig der rein praktische und technische Geschäftsgang fremd sein. Die Familie sah sich bald genöthigt, einen Vergleich mit den Gläubigern zu suchen, und hier war es, wo Eugenie mit so klarem Ueberblicke, mit so muthiger Ausdauer die Unterhandlungen leitete, daß die Fabrik zwar geschlossen werden mußte – aber sie konnte ehrenvoll geschlossen werden.

Jetzt suchte Jenny eine Stellung als Erzieherin und fand sie sofort in einem Kaufmannshause, das früher mit ihrem Vater in Geschäftsverbindung gestanden hatte. „Nie vorher war ich so stolz gewesen,“ erzählte sie, „wie damals, als ich meiner Mutter die ersten selbstverdienten Gulden bringen konnte.“

Die Mutter überlebte den Fall ihres Hauses nicht lange. Als der Vater gestorben, hatte sie an seinem Sarge gesprochen: „In zwei Jahren folge ich Dir,“ und genau zwei Jahre und zwei Tage später, am 23. October 1836 starb sie, und die drei noch unverheiratheten Schwestern standen nun ganz allein.

Unterdessen hatte ihr Bruder Georg die Redaction der in Leipzig bei Brockhaus erscheinenden „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ übernommen. Er bot den Schwestern eine Heimath, und im November des Jahres 1837 kam Jenny mit einer ältern Schwester in Leipzig an.

Leipzig war damals, wie heute noch, der Sammelpunkt vieler geistig anregender Bestrebungen. Der Bruder konnte durch seine Stellung den Schwestern schnell einen Kreis eröffnen, in dem sie neben gemüthlicher Geselligkeit ein reges politisches und literarisches Leben fanden.

Eines Nachmittags erwachte Jenny aus einem kurzen Schlafe, den sie sich wegen heftiger Kopfschmerzen gegönnt hatte, und sah durch das Glasfenster der Thür, wie im Nebenzimmer Bruder und Schwester einen ihr fremden Herrn zur Ausgangsthür begleiteten. Der Fremde kehrte ihr den Rücken; sie sah nur eine kräftige untersetzte Gestalt und dunkelblondes gelocktes Haar. Alle Drei gingen auf den Fußspitzen, um die Leidende im Nebenzimmer nicht zu wecken. Als später die Schwester zu ihr hereintrat, erfuhr Jenny, daß der Besuchende Robert Blum gewesen, ein Freund, dessen der Bruder schon öfter erwähnt. Er war gekommen, um mit Freund Günther über den Empfang der erwarteten sieben Göttinger Professoren zu berathen. Robert Blum war damals Secretär am Stadttheater und mit der lieblichen, erst achtzehnjährigen Adelheid Mai verlobt. Er kam öfter und machte die beiden Schwestern seines Freundes mit seiner jungen Braut bekannt. Es entstand eine herzliche Freundschaft zwischen der ältern Eugenie, die das Schicksal schon durch eine so harte Schule geführt hatte, und der jungen anspruchslosen Adelheid, die im Elternhause noch das gehegte, gehütete Kind war, im Elternhause, das sie so bald schon verlassen sollte, um sich einen eigenen Herd zu gründen.

Und diese Freundschaft hatte Bestand. Die zweite Frau ehrte und pflegte das Andenken der ersten. Sie war es, die in den letzten Jahren ihrer Ehe den vielbeschäftigten und daher oft zerstreueten Gatten erinnerte, daß der Geburts- oder Todestag der Frühverstorbenen gekommen; sie war es, die dann für die Bekränzung des Grabes sorgte, ja, die alte, schon schwer leidende Frau ist noch am letzten Johannistage, den sie erlebte, hinaus auf den alten Friedhof gepilgert, den Hügel von Der zu schmücken, die der Gatte vor ihr geliebt.

Am 21. Mai 1838 wurde Robert Blum mit Adelheid Mai getraut; vier Monate später starb die junge Frau an den Folgen einer Erkältung, die sie sich auf einer Reise nach Berlin zugezogen.

Unterdessen hatte sich Eugenie Günther schnell und leicht in der neuen Heimath eingelebt. In des Bruders Hause sammelten sich geistig bedeutende Männer; politische Bestrebungen, literarische Unternehmungen wurden dort besprochen. Die Freiheitsbewegung, die in der 1848er Revolution gipfelte, regte sich damals schon und führte Alles, was nach Befreiung und Unabhängigkeit strebte, wie durch Nothwendigkeit zusammen. Dieses stille Gähren, dieses rastlose Vorwärtsstreben, das alle aufgeklärten Geister ergriff, war es, was Robert Blum dem tiefen Schmerze um die junge anmuthige Frau entriß. Er lebte wieder dem Freundeskreise und wurde ungesucht der Führer ihrer stillen Pläne.

In Eugenie fand er einen begeisterten Nachhall seiner Freiheitsideen. Sie aber trat jetzt zum ersten Male einem Manne näher, dessen starker willenskräftiger Geist den ihrigen noch beherrschte. War sie doch auch mit einem guten Theile Energie und Thatkraft bedacht, hatte sie doch diese ihr von der Natur verliehene Gabe durch sorgsames Arbeiten an sich selbst zu entwickeln gewußt, hatte sie sich doch in harter Zeit Gemüthsruhe und Geistesgegenwart bewahrt – aber hier war ein Charakter, der noch mächtiger seinen Willen geschult hatte, der aus Armuth und Unwissenheit sich emporgerungen zum Führer wissenschaftlich gebildeter Geister. Und dazu die Verwandtschaft ihrer Neigungen und Interessen! Eugenie fühlte immer mächtiger den neuen Einfluß, aber das geistig selbstständige Mädchen glaubte ihn abschütteln zu müssen um jeden Preis. Um für sich den Bann zu brechen, in dem sie sich befangen wähnte, beschwor sie unter Thränen den Bruder, sich von diesem Freunde loszusagen. Sie redete sich selber ein, er, der Freund, meine es nicht redlich, er biete nur allen Einfluß auf, um die Anderen für seine Plätte auszunützen. Es half nichts; der Bruder vertheidigte den Freund: sie solle doch nur in seine ehrlichen klaren Augen sehen. – Als ob sie das nicht schon längst gethan hätte!

Im Juni 1839 besuchte Jenny ihre in Kappel bei Chemnitz verheirathete jüngste Schwester; wenige Tage nach ihrer Ankunft hatte sie den Brief Robert Blum’s in Händen, in dem er sie bat, die Seine zu werden. Sie gab ihr schriftliches Ja; den Sonntag darauf kam er, sich auch das mündliche zu holen.

Das Brautpaar erstieg eine Höhe bei Chemnitz; sie sahen auf das grünende Land hinab, aber auch in Glück, Liebe und Sonnenschein sprach doch sein hoher Beruf zu dem Kämpfer für [728] Freiheit und Recht. „Und wenn die Zeit käme,“ sprach er zu der Geliebten, „wo ich zu wählen hätte zwischen Dir und dem Kampfe, vielleicht dem Tode für meine Ueberzeugung, würdest Du mich ziehen lassen?“

Da war es, als griffe ihr künftiges Schicksal ihr schneidend in’s Herz; sie sah auf den Geliebten, der in Glück, Gesundheit und Thatenmuth dastand, sollte sie dem kaum erblühten Glücke das Todesurtheil sprechen? Aber sie war nicht umsonst unbewußt die Schülerin des freiheitsbegeisterten Mannes gewesen, und so sprach sie fest: „Du müßtest gehen, und ich dürfte Dich nicht halten.“

Am 29. April 1840 ward in der Dorfkirche zu Thekla bei Leipzig ihre Vermählung geschlossen. Eugeniens Bruder, Georg Günther, wurde in derselben Stunde, vor demselben Altar getraut. In der äußersten Vorstadt Leipzigs, im kleinsten Hause der sogenannten „großen Funkenburg“ vor dem Ranstädter Steinweg wohnte Robert Blum während der ersten Jahre seiner Ehe. Das Häuschen war drei Fenster breit und hatte über dem Erdgeschosse nur ein Stockwerk; hinten schloß sich ein schöner, obstreicher Garten an. Damals zahlte man für Beides, Wohnung und Garten, zusammen jährlich fünfzig Thaler Miethe. – Jetzt sind dem Häuschen noch auf jeder Seite zwei Fenster angesetzt; trotzdem nimmt es sich noch gar unscheinbar unter seinen stattlichen Nachbarn aus.

Der Weg unter den Pappeln, dem Kuhthurme und dem Dorfe Lindenau entgegen war Abends der Lieblingsspaziergang des jungen Paares. In ihren letzten Lebensjahren wohnte die Wittwe in derselben Stadtgegend, und wieder war es die Lindenauer Chaussee, die sie, jetzt auf ihrer Kinder Arm gestützt, mit Vorliebe entlang wanderte, so lange die müden Glieder sie noch tragen mochten. „Hier ist mir immer, als lebte ich jetzt nur in einem Traume, und jede alte Pappel hat für mich eine Geschichte.“

Die politische Bedeutung Robert Blum’s wuchs. Das kleine Haus der Vorstadt beherbergte oft Männer mit vielgenanntem Namen; im Herbste 1842 sammelten sich bei Robert Blum freisinnige Männer aus allen Gauen Deutschlands zur Berathung, der alte Itzstein, Herwegh, Trützschler, die Grafen Reichenbach und Andere saßen da an Frau Eugeniens Tisch. Auch die literarischen Größen des Tages verkehrten häufig in der Familie. Mit Herloßsohn arbeitete Robert Blum am Theaterlexikon; auch mit Marggraff stand er durch gemeinsame Arbeit in Verbindung; der muntere Lortzing sprach nachbarlich bei ihnen vor, und bis in ihre letzten Tage erzählte Frau Blum noch mit Behagen, wie Karl Gutzkow sie einmal die Treppe kehrend angetroffen, sie für das Dienstmädchen gehalten, und wie sie als solches die Auskunft gegeben: Der Herr Secretär sei zwar jetzt nicht, dafür aber Nachmittags sicher zu Hause anzutreffen. Nachmittags empfing die Frau des Hauses den werthen Gast; er soll sie aber manchmal zweifelnd von der Seite angesehen haben. Die Frage, ob er seinen Irrthum vom Morgen inne geworden, ist ihr bis zuletzt ungelöst geblieben.

Das enge Haus konnte die Familie nicht länger fassen; drei Knaben wuchsen zur Freude der Eltern heran; da wollten die drei Stuben, von denen zwei nur Kammern waren, bald nicht mehr ausreichen.

Robert Blum kaufte sich ein Haus mit Garten in der Eisenbahnstraße, ebenfalls in äußerster Vorstadt. Im Frühling 1845 bezogen sie das neue Grundstück, aber nach wenigen Wochen schon trug man ihnen den Sarg des jüngsten Kindes hinaus. Der Vater und besonders die Mutter litten schwer unter diesem Todesfalle; es existirt noch ein Brief von Robert Blum, der den Schmerz des Mannes, der sich mit so großen, idealen Plänen trug, dessen Name schon unter den Besten genannt wurde, um das fünfvierteljährige Kind in ergreifender Weise ausspricht. Die Mutter aber konnte, obgleich ihr später noch eine Tochter und ein Sohn geschenkt wurden, den Verlust des hoffnungsvollen Knaben nie vergessen.

Zu derselben Zeit ging die Befreiung der deutsch-katholischen Kirche von der römisch-katholischen als Vorspiel zur spätern politischen Revolution durch Deutschland. Wie Robert Blum, der jedes Streben nach Freiheit auf jedem Gebiete als sein großes Ziel erfaßte, sich auch in diese Bewegung warf, ist bekannt. Er, der Katholik, trat zuerst in die Reihe der Deutsch-Katholiken, aber er billigte es durchaus, daß seine protestantische Gattin sich von diesem Uebertritte ausschloß. „Meine Kirche erlaubt mir die Geistesfreiheit, die ich bedarf, und wenn Jedes nach seinen religiösen Ansichten sich eine Confession bilden sollte, so gäbe es ebenso viel Confessionen wie denkende Menschen,“ so etwa beantwortete sie alle Fragen, die damals und auch später deshalb an sie gerichtet wurden.

Immer bewegter wurde die Zeit. Die wachsende Gährung im Volke rief die traurigen August-Ereignisse jenes Jahres hervor. Eugenie Blum verlebte den ersten dieser Schreckenstage allein zu Hause; ihr Mann war verreist und wurde erst Abends zurückerwartet. Sie sah von ihrem Hause aus, wie dem Eisenbahnzuge Reihe um Reihe von Soldaten entstieg, die heimlich herbeigerufen worden waren, die aufgeregte Stadt in Schach zu halten. Da eilte sie dem ankommenden Gatten am Bahnhof entgegen, setzte ihn von den Ereignissen des Tages, dem Eintreffen der Soldaten in Kenntniß, und so konnte er, unterrichtet von Allem, was er wissen mußte, unter die Versammelten im Schützenhause treten. Den andern Morgen führte er die ganze Menschenmenge vom Schützenhause auf den Marktplatz und sprach dann jene versöhnenden Worte vom Balcon des Rathhauses herab, nach denen die Menge ruhig und vertrauend auseinander ging. Die Dankadresse, die Robert Blum alsdann, von Tausenden von Unterschriften bedeckt, für sein Eintreten überreicht erhielt, hat seine Frau, seine Wittwe, wie ein Heiligthum aufbewahrt.

Sie war stolz; sie war ehrgeizig; sie war begeistert, aber nur für ihn und sein Ziel. Sie hemmte nicht durch kleinliches Zagen seinen hohen Flug; sie war die ebenbürtige Gefährtin seines Strebens, und wenn er nach Hause kam aus der Last des Berufes, den Sorgen um die neugegründete Buchhandlung, dem Widerstreite der Parteien, dann hatte sie gesorgt, daß er ein friedvolles Daheim fand, daß er ganz das sein konnte, was er so gerne war, Hausherr und Vater.

Dann pflanzte er in seinem Garten, stieg die Leiter empor zum Taubenschlag, ließ die Knaben die Glieder üben an den aufgestellten Turngeräthen, oder setzte sein kleines Mädchen zwischen die beiden Käfige der beiden Kanarienvögel, während er den gelben Thierchen frisches Wasser gab. Schon ging der älteste Sohn zur Schule, durfte mit dem Vater die Schwimmanstalt besuchen, und wenn sie dann Beide in der Mittagsgluth zusammen dem fernen Heim zuwanderten und der lebhafte Knabe schon von fern auf jeden noch so geringen Schatten aufmerksam machte, dann dämpfte der Vater mit dem Humor des Rheinländers die Schattenbegeisterung des Kleinen:

„I, das ist ja nur ein Mauseschatten.“

„Aber der dort, Vater!“

„Das ist allerhöchstens ein Katzenschatten.“

Wohl war es ein volles, reines, ungetrübtes Glück, das über dem Hause und seinem flachen Dache lag; nach außen sah die Hausfrau den Gatten Ruhm und Ehre ernten und besonders in dem Stande, aus dem er hervorgegangen, eine an Vergötterung grenzende Liebe gewinnen, im Innern nur stilles klares Familienglück, das beste, herzlichste Einvernehmen der Eltern, gesunde, gutgeartete Kinder.

Aber die Zeit kam schnell – da stellte das Schicksal sie vor jene Alternative, vor der die Braut vorahnend gebebt; er mußte sich selbst einsetzen für das, was er gewollt; sein Verhängniß trieb ihn nach Wien, und die Frau, die Mutter mußte doch sprechen: „Ich darf Dich nicht halten.“

Schritt für Schritt kam es heran, das Unglück, das seinen Schatten vorauswirft. Zu Weihnachten 1847 – der jüngste Knabe war erst zwei Tage alt – brach der Vater beim Taubenfüttern den Arm; noch gefährlicher als der Knochenbruch erschien anfangs die Erschütterung des mächtigen Brustkastens; es waren schwere, angstvolle Festtage. Dann entführten die Märzerrungenschaften der Familie den Vater nach Frankfurt, und wunderbar klingen in seine Berichte über jenen herrlichen Frühling des erwachten Deutschlands, über die enthusiastische Aufnahme, die er als Träger seiner Idee in Süddeutschland findet, die leise Sehnsucht nach dem Familienkreise, die Sorge: was wird unterdessen aus Frau und Kindern, denen im eigentlichsten Sinne der Erhalter fehlte.

Zweimal war den Gatten noch ein kurzes Wiedersehn beschieden; im August kam er zu mehrtägigem Aufenthalte nach Leipzig, sich [729] und sein Wirken im Reichstage vor den Wählern zu vertreten. An seiner Seite genoß Blum’s Frau alle die Huldigungen mit, die das Volk in jenen Tagen seinem Lieblinge darbrachte; ihr Herz hat dabei wohl am stolzesten mitgejubelt.

Dann kam jene Nacht im October, in der er auf der Durchreise von Frankfurt nach Wien nur wenige Stunden in seinem Hause zubrachte. „Besorge Zuckerwerk, das ich den Kindern mitbringe,“ schrieb er seiner Frau, als er die Durchreise meldete. Die Kinder hatten gehört, daß der Vater kommen werde; sie sollten frühzeitig zu Bett gehen, damit sie in der Nacht munter wären. Aber die beiden ältesten Knaben waren vor Freude aufgeregt und wollten den Vater wachend erwarten. So fand er, als er sehr spät kam, den Aeltesten auf dem Sopha eingeschlafen, den Zweiten schlaftrunken auf seinem Stuhl am runden Tisch.

Die Eltern saßen auf dem Sopha, das der junge Schläfer mit ihnen theilte; der Vater hielt das inzwischen aufgewachte Töchterchen auf den Knieen; das Dienstmädchen brachte den zehn Monate alten Jüngsten herein – so war die Familie zum letzten Mal beim Kerzenlicht vereint. Unaufhaltsam rückte der Zeiger der Uhr vor und wies auf die Stunde der Trennung – die Gattin mußte ihn ziehen lassen; sie konnte, sie durfte ihn nicht halten.

Die Briefe, die Robert Blum von Wien aus an seine Frau gerichtet, kennen Tausende; Niemand aber kennt das Ringen zwischen Hoffen und Bangen, zwischen der Begeisterung für die große Bewegung und dem Zittern um das Leben des Theuersten, das im gepreßten Herzen auf und abwogte.

Am 9. November, als schon die Kugel seine Brust zerrissen hatte, meldete sein Brief vom 6. seine Gefangennahme, sprach aber die feste Hoffnung auf sofortige Freilassung und Heimkehr aus. Und von da an ging sie jeden trüben Novembermorgen mit den Kindern zum Bahnhof und hoffte, den Gatten aus dem heranbrausenden Zug winken zu sehn, bis jener schwere 13. November kam. Da saß die Familie wieder um den runden Tisch, der sie so oft froh und glücklich um sich versammelt hatte. Die Kinder ahnten nichts von dem Verhängniß, das über sie hereingebrochen, und ließen sich die Frühstücksmilch trefflich munden. Richard, der Zweite, hatte durch eingebrockte Semmeln eine wunderschöne „Torte“ zu Stande gebracht, die auch nicht zusammenfiel, als er sie aus der Ober- auf die Untertasse stülpte. Die kleineren bewunderten das Kunstwerk und sahen auch dann nicht auf, als des Vaters naher Freund mit verstörtem Gesicht eintrat. Sie hörten ihn wenige Worte zur Mutter sprechen und sahen diese starr, wie verständnißlos zu ihm aufblicken, während Hans, der Aelteste, mit dem verzweifelten Aufschrei: „Mein Vater, mein Vater!“ das Gesicht in die Kissen des Sophas drückte.

Was damals in dem weichen Herzen, dem starken Geist der Frau, der Mutter gewühlt, weiß Niemand. Sie selbst hat nie davon gesprochen. Die Fluth von Beileidsbezeigungen, von Tröstungen, ja, von Huldigungen, welch’ letztere man vom gefeierten Volksmanne auf dessen Wittwe übertrug, hat sie wohl in halber Betäubung getroffen.

Dazu kam der Zweifel, ob das Schreckliche wahr, ob der Tod nicht nur erfunden sei, um den gefürchteten Freiheitskämpfer um so sicherer im Kerker halten zu können. Wie diese Ungewißheit, die mit ihr anfangs Viele theilten, benutzt wurde, um der gequälten Frau den klaren Geist zu verwirren und sie dadurch unfähig zu machen zur Erzieherin ihrer Kinder, ihren Besuch bei der Gräfin Kielmannsegge, hat vor mehreren Jahren eine genau unterrichtete Feder in der „Gartenlaube“ erzählt. Aber ihre Kinder, die Nothwendigkeit, ihren Kindern sich zu erhalten, ließen sie auch diesen Sturm bestehen.

„Erziehe unsre, jetzt nur Deine Kinder zu braven Menschen, daß sie ihrem Vater nimmer Schande machen!“ das war des Gatten letzter Wille, und sie fand die Kraft, ihn auszuführen. Sie entrückte die beiden ältesten Knaben der wechselnden Liebe und Feindseligkeit der Parteien, deren Einfluß selbst schon auf die kindlichen Gemüther sie erkannte, und brachte sie in ein Institut bei Bern in der Schweiz.

Die herrliche Natur übte den alten Zauber an ihr aus; beruhigt und geistig gestärkt, kehrte sie in ihr verwaistes Haus zurück. Um sich alles Grübeln fernzuhalten, um den Geist zu beschäftigen und dadurch den nagenden Seelenschmerz zu übertäuben, begann sie das Studium der englischen Sprache. Wie Alles, was sie ergriff, führte sie auch dieses neue Lernen mit so ausdauerndem Eifer durch, daß sie nach einem halben Jahre die fremde Sprache vollkommen in ihrer Macht hatte. Jetzt wollte sie ein Mädchen-Institut gründen; die Vorverhandlungen waren in vollem Gange, Lehrerinnen engagirt, Schülerinnen von fern und nah schon angemeldet, da ergriff eine schwere Krankheit den ohnehin schwächlichen Körper der schwergeprüften Frau und bannte sie dreiviertel Jahr lang an’s Krankenlager.

Unterdessen waren die Vermögensverhältnisse der Familie geordnet. Die opferfreudige Theilnahme des ganzen Volkes hatte der Wittwe, den Waisen seines Märtyrers eine sorgenfreie Zukunft gesichert; so konnte die Mutter mit den zwei jüngsten Kindern in die Schweiz ziehen, um von nun an auch den ältesten Söhnen nahe zu sein.

Dort nun übte sie still und treu hingebend und aufopfernd das letzte Vermächtniß des Gatten, die Kinder zu erziehen zu braven Menschen. Was sie dort gehalten und gewirkt in nimmer ermüdender Arbeit, mit festem Muth und zärtlich wachendem Auge, das sagen Bücher nicht aus. Welche Worte erschöpften auch die Liebe einer Mutter?

Sie spielte, sie lernte, sie lebte mit ihnen; mit den ungelehrigen ward sie ein schwer lernendes Kind, mit den vorwärtsstrebenden ein eifriger Schüler. Sie that ihnen die Augen auf für die Schönheit der Natur, der Kunst; sie lehrte ihnen früh schon Hochachtung vor jeder freien, selbstständigen Ueberzeugung. So durfte sie die Söhne ohne Bangen in’s bunte Leben hinausschicken; die Mutter selbst hatte ihnen die beste Wehr gegen die Verlockungen der Welt gegeben. Und sie kehrten zu ihr zurück, wie der Vater sie gewollt, als brave Menschen.

Im Frühlinge 1864 mußte sie schweren Abschied nehmen von ihrem zweiten Sohne; er ging als Ingenieur nach Amerika. Ein Jahr später kehrte sie in die alte Heimath, nach Leipzig, zurück; der älteste Sohn hatte dort einen eigenen Hausstand gegründet, und in der Stadt, die sie als gebeugte Wittwe verlassen, sah sie das junge Glück ihrer Kinder aufblühen.

Im Jahre 1867 unternahm die siebenundfünfzigjährige Frau die beschwerliche Reise nach Amerika, um dem zweiten Sohne die ihm früh verlobte Braut zuzuführen. Sie blieb beinahe zwei Jahre drüben in der neuen Welt; dort sah sie den geliebten Bruder, die älteste Schwester wieder und lebte sogar mehrere Wochen lang im fernen Urwalde des Westens, wo ein Anhänger ihres Mannes die Colonie Bloomfield gegründet hat.

Körperlich und geistig frisch, glücklich durch das Wiedersehen der theuren Verwandten, angeregt durch all die neuen Eindrücke und Beobachtungen, kehrte sie im Mai 1869 zu ihren Kindern nach Leipzig zurück. Ein Jahr später rief der Krieg ihren jüngsten Sohn in’s Feuer. Sie ließ ihn ruhig und ohne Klage ziehen; sie freute sich stolz jedes Sieges der deutschen Waffen; sie jammerte nicht um das Geschick des Sohnes, den sie in blutigen Schlachten wußte, aber als er gesund, kräftig und unverletzt, mit dem eisernen Kreuze geschmückt, zur Mutter zurückkehrte, da trug sie schon den Todeskeim in der schwerathmenden Brust.

Sie konnte den Verlauf der eignen Krankheit schon im Voraus an dem theuren, einzigen Bruder beobachten, der sie im Herbst 1871 besuchte und von demselben asthmatischen Leiden hart bedrängt war. Er war nach jahrelangem Exile aus Amerika gekommen, in deutscher Erde begraben zu werden; er starb am 30. Januar 1872 im vierundsechszigsten Lebensjahre. Damals glaubte die Schwester nicht, daß sie dasselbe Alter erreichen würde, aber ihre energische, thatkräftige Natur besiegte immer wieder die Schwäche des Alters, der Krankheit. Unermüdlich thätig im Hause, kannte sie für sich weder Schonung noch Rast. Ihre liebste Erholung war Abends ein Spaziergang durch die Wiesen und Wälder auf der Südwestseite der Stadt, und wenn die Kräfte dazu nicht ausreichen wollten, saß sie im Sommer unter den grünen Tannen ihres Gärtchens, versammelte alle Kinder der Nachbarschaft um sich, erzählte und lehrte ihnen.

„Frau Blum ist im Garten,“ hieß für die junge Schaar so viel wie: „Aber jetzt wird’s hübsch.“

Das Leben, das ihr so früh das Höchste geraubt, ihr auf der Mittagshöhe so schwere Stürme gebracht, zeigte ihr jetzt, da es Abend ward, nur sein friedliches, mildes Licht. Sie sah die [730] Söhne als geachtete Männer ihren Kreis ausfüllen und hatte die Tochter sich zur Freundin herangezogen. In den Familien der beiden ältesten Söhne erwuchsen liebe, blühende Enkel und der jüngste Sohn wollte in wenig Tagen die junge Braut heimführen.

Ihre letzte, ihre einzige Sorge war noch, daß sie dieses Freudenfest erleben möge, ihr ängstlich immer wiederholter Wunsch der: es solle, möge kommen was wollte, die Hochzeit am bestimmten Tage gefeiert werden.

Ihr Wunsch ist erfüllt worden, aber sie hat seine Erfüllung nicht mehr erlebt.

Am 13. März fuhr sie noch mit ihrer Tochter im Rosenthale spazieren. Sie war schon sehr schwach, aber die Freude an der Natur, das glückliche Auge, das überall Schönes findet, hatte sie sich bewahrt bis in die letzten Tage. Sie wies auf eine junge Buche, in deren welke Blätter sich der Schnee gehängt hatte: „Da sehe ich doch noch einen blühenden Baum.“

Zwei Tage später, Sonntags, am 15. März 1874, Abends um halb sechs Uhr, entschlummerte sie ruhig und sanft dem Leben, an dem sie trotz Geistesgröße und Seelenmuth doch so schwer zu tragen gehabt, und Blumen, Blüthen, die sie so geliebt, überdeckten ihren Sarg.

Wohl mögen Viele ihr nachtrauern, der geistig hochbegabten Frau, der treuen, ausharrenden Freundin, der edlen Gattin des edlen Freiheitshelden, ein Laut, ein Wort, ein Ehrentitel aber ist, der klingt voller als alles Lob, der schlingt fester den nimmer welkenden Kranz der Liebe um ihr Andenken:

Das Wort heißt: Mutter.




Aus unserem papiernen Zeitalter.


Fabrikation von Briefcouverts und Düten. – Die Cartonnagen, Attrapen und Papierlaternen. – Kleider aus Papier. – Papier-Gardinen. – Erzeugnisse des Buntdrucks: Pathenbriefe und Luxusbriefbogen. – Bouquet-Manschetten und Torten-Unterlagen. – Die Herstellung des Papiers und Surrogate für den Stoff desselben.


Ob die Alten, welche von einem goldenen, silbernen und eisernen Zeitalter der Menschheit zu sprechen pflegten, sich wohl etwas von einem „papiernen“ hätten träumen lassen? Gas- und Wasserleitungsröhren, die bei nur einem Centimeter Wandstärke fünfzehn Atmosphären Ueberdruck aushalten, Eisenbahnräder, welche sich durch geringe Abnutzung und Elasticität auszeichnen, ganze Wohnhäuser und Kirchen werden aus Papier hergestellt, ja die Japaner tragen sogar aus ihren vorzüglicher Papieren gefertigte Kleider, Taschentücher und Schirme und ihre Papierfächer haben sich, so häßlich sie sonst sein mögen, seit der Wiener Weltausstellung, wo sie rasend gekauft wurden, einen Markt in Europa geschaffen.

Obwohl die Papierwaaren-Fabrikation bei uns verhältnißmäßig neuen Datums ist – abgesehen von der Futteralmacher- und Buchbinderkunst – hat sie doch schon eine nicht geringe Bedeutung im Binnen- und Exporthandel erlangt.

Der einfachste und nicht unbedeutendste Zweig derselben ist unstreitig die Maschinen-Couvertfabrikation, aus England zu uns gelangt, welche ihre deutsche Wiege in Elberfeld gefunden hat. Großartige Etablissements mit Dampfbetrieb und vielen Arbeitern sind dort Jahr aus, Jahr ein beschäftigt, dem Verkehre diese so bequemen Briefhülsen in den verschiedensten Formaten und Papiersorten zu Preisen zu liefern, welche eine Concurrenz der Hausindustrie gänzlich ausschließen. Das linksrheinische, nicht zu entfernte Düren, berühmt durch den Erfolg, mit welchem es die den deutschen Markt früher fast ausschließlich beherrschenden feineren englischen und französischen Briefpapiere zu ersetzen, ja zu übertreffen gewußt hat, liefert die feinen Couvertpapiere, während die westphälische blühende Papierfabrikation in Stadtberg, Osnabrück, Hemer etc. sowie belgische Fabriken den überwiegend größern Bedarf in mittleren und billigen Papieren decken, der bei einer Jahresproduction von circa tausend Millionen Stück immerhin ein bedeutender genannt werden kann.[WS 1]

Wie aus früheren Jahrgängen der Gartenlaube ersichtlich, ist die Anpreisung dieses verhältnißmäßig neuen Fabrikationszweiges als sehr ergiebiges Erwerbsmittel von speculativen Köpfen benutzt worden. Wer sich durch solch eine Annonce verführen ließ, seinen Thaler einzusenden, bekam eine sauber gedruckte Anweisung „Couverts zu machen“, worin wenig genug von der Fabrikation, desto mehr aber von dem voraussichtlichen Nutzen gesprochen wurde.

Die Fabrikationsvortheile beruhen im Wesentlichen auf mit der Handhabung von Papier eingeschulten Leuten und guten, correct arbeitenden Maschinen, welche der Handarbeit wenig zu thun übrig lassen, also das Umbrechen, Kleben, Stempeln und Zählen selbst besorgen. Die Papierstücken müssen in ausgestanztem Zustande der Maschine aufgelegt werden, und kann eine gute Couvertmaschine achtundzwanzig- bis dreißigtausend Stück täglich liefern. Begreiflicher Weise sind die Anforderungen, die das vielköpfige Publicum an die Couverterzeugung stellt, sehr verschieden, zunächst betreffs der Formate. Es giebt deren, welche groß genug sind, um ein Zwanzigmarkstück gerade zu umhüllen, es giebt aber auch solche von der Größe umfangreicher Actenstücke. Die gebräuchlichsten können natürlich am billigsten hergestellt werden, und gilt dies namentlich von dem gewöhnlichen Postcouvert, welches einen Briefquartbogen einmal quer, zweimal lang gebrochen aufnimmt. Die unverhältnißmäßige Billigkeit dieses Couverts wird auf Kosten der Güte durch den Umstand erzielt, daß man die gewöhnlichen Gebrauchssorten fast nur noch mit sparsamem Zuschnitt der Couvertklappe in den Handel bringt. Das große Postcouvert, zur Aufnahme eines über’s Kreuz gefalteten Quartbriefbogens, unterliegt diesem Uebelstande weniger. Das Damencouvert, für dreimal auf der Langseite gebrochene Octavbriefbogen, wird aus ein- und zweiseitig gefärbtem Briefpapiere vom schönen Geschlechte besonders stark benutzt, während das Kartencouvert, für über’s Kreuz gefaltete Octavbriefbogen, sich besonders zu Festeszeiten einer starken Verwendung erfreut. Die Geldcouverts haben, trotz der Concurrenz der Postanweisungen, sich in der Gunst des Publicums erhalten, zunächst als allerdings zu tadelndes Mittel, sich des an Ort und Stelle nicht cassenfähigen Papiergeldes kostenlos zu entledigen, dann aber auch als billigeres Beförderungsmittel für größere Papiergeldsendungen auf kürzere Entfernungen. Die neuen Zweisiegelcouverts mit hochgeschlossenen Seitenklappen, deren oberer Theil zugleich mit der Schlußklappe umgefaltet wird, bieten, obgleich sie nur zwei Siegel tragen, doch größere Beförderungssicherheit, als die frühern Fünfsiegelcouverts.

Durch Einführung der Packetbegleitadressen ist das Couvert als Packetbegleiter dem großen Publicum zwar entbehrlich gemacht worden, allein es hat bei der zahlreichen Beförderung mancher Firmen nunmehr seinen Platz auf der Außenseite der Sendung selbst, zur Aufnahme des Begleitbriefes gefunden. Für letztere Zwecke werden meist starke, gröbere Papiersorten verwendet; für Geldcouverts kommt zuweilen stoffunterklebtes Papier (Papyrolin) zur Anwendung. Die amerikanisch-gelben Couverts, in den billigsten Sorten dem Strohpapier sehr ähnelnd, in den bessern Arten die feinsten Lederfarben mit hohem Glanze zeigend, haben für das correspondirende Publicum den Vortheil, daß, ebenso wie bei blauen Couverts, die Einlage nicht durch das Papier hindurch von Unberufenen gelesen werden kann. Die neuerdings stark, zuerst von Oesterreich aus in Gebrauch gekommenen Hanfcouverts zeichnen sich durch große Festigkeit bei geringem Gewichte aus, ein wesentlicher Vortheil bei überseeischer oder nach Frankreich gerichteter Correspondenz.

Im Gegensatze zur Couvertfabrikation ist die Dütenfabrikation meist Hausindustrie. Die früher und hier und da noch heute übliche Anfertigung durch die Lehrlinge der Colonialwaarenkaufleute in deren wenigen Mußestunden hat jetzt meist vor der Erkenntniß weichen müssen, daß die mit Hülfe der Papierschneidemaschine hergestellten Düten besser und billiger ausfallen und für ein Geringes mehr gleich mit einer Empfehlungskarte bedruckt werden können.

Mit der riesigen Entwickelung der Maschinenpapierfabrikation in Deutschland (von zwölf Maschinen im Jahre 1840 auf etwa

[731]

Der Mürzsteg zum „todten Weibe“.
Nach einer Skizze von Robert Zander in Wien, auf Holz gezeichnet von Richard Püttner in München.

[732] dreihundert gegenwärtig), womit die englischen Papiermaschinen an Zahl, wenn auch nicht an Production überflügelt worden sind, ist aber noch eine ganze Reihe von Industrieen entstanden.

Hierher gehört die Papierdecorations- und Cartonnagenindustrie, erstere in Dresden, letztere im sächsischen Erzgebirge (Adler in Buchholz), sowie in Lahr, der Heimath des „hinkenden Boten“, zur Hauptblüthe gelangt. Was nur die kühnste Phantasie zu erdenken vermochte, ist hier in Farbe und papierner Gestalt schon verkörpert worden, besonders aber hat sich Karl Wenzel in Dresden nicht nur die Herzen der Kinderwelt durch seine gelungenen Papphelme und Rüstungen, sowie seine prächtigen Christbaumverzierungen und Ostereier alljährlich auf’s Neue erobert; er hat auch im Bereiche der Balldecorationen, durch die prächtigsten Orden und Cotillonstouren, zu denen er immer noch Neues hinzuschafft, die ausgebreitete Verwendbarkeit des Papiers auf’s Schlagendste nachgewiesen. Wahrhaft großartig hat besonders die Phantasie bei den „närrischen“ Kopfbedeckungen gewaltet, und hat zum Aufblühen dieses Industriezweiges namentlich der Leipziger Carneval beigetragen. Es unterscheiden sich diese Kopfbedeckungen von den seidenpapiernen, komischen Einlagen der bekannten Knallhülsen (Knallbonbons mit Kopfbedeckungen, sowie ganzen Anzügen etc.), welche nur als Attrape dienen sollen, durch dazu verwendetes festes Naturpapier in lebhaften Farben, mustergültige Erfindung, reiche Verzierungen und eine über den Augenblick hinausreichende Dauer bei ihrer Benutzung.

Für die Cartonnagenfabrikation Lahrs und anderer Orte, welche den Schachtelbedarf der Apotheken, Parfümeriefabriken und Etikettendruckereien decken, ist die Verwendung des geschliffenen Holzstoffes zur Pappenfabrikation nicht ohne bedeutenden Einfluß geblieben, obgleich die Strohpappe ihres längeren Faserstoffes wegen zu vielen Cartonnagensorten immer noch vorgezogen wird. Die reizendsten Producte dieses Industriezweiges werden aber unstreitig in Wurzen hergestellt. Die Herren Zimmermann und Breiter beschäftigen in ihrem sehr gut geleiteten Etablissement meist Mädchen mit Herstellung der saubersten, zierlichsten Sächelchen (Nippes) aus Papier.

Die so beliebten Attrapen dagegen liefert der Thüringer Wald (Ilmenau) vermittels seiner dort heimischen Papiermachéfabrikation, und mancher biedere Deutsche, der, an den reich aufgeputzten Schaufenstern unserer Großstädte vorüberwandelnd, die ausgestellten Gerichte, Eßwaaren etc. bewundert, läßt es sich nicht träumen, daß diese Schaustücke häufig nur Copieen der wohlschmeckenden Originale sind, welche dem Thüringer Walde ihren Ursprung verdanken. Im Schaufenster verdarb früher so manches, z. B. die Handschuhe, die wohl in den meisten Läden jetzt, aus Papier täuschend nachgemacht, ausliegen, da auch das Leder wie die Eßwaaren höchst empfindlich gegen Licht und Luft ist.

Einen besonders starken Aufschwung erlebte seit 1870 die Papierlaternenfabrikation, stark in Leipzig und Umgegend blühend.

Endlich einmal hatten die Deutschen Ursache, alle vereint zu illuminiren und Lichtfeste in Scene zu setzen, die wahrscheinlich denen unserer darin besser bewanderten italienischen Nachbarn (siehe Gartenlaube 1867) nahe gekommen sind.

Die Papierlaternen, in Ballons-, Zug- und Formlaternen unterschieden, verlangen nicht zu steifes, festes, gutgeleimtes Papier von blendender Weiße als Material. Das Gerippe, beziehentlich Deckel und Boden, wird jetzt meist aus Holzpappe gefertigt; die Farben sind mit Schablone nicht zu dick aufgetragen, um das Licht auch an den farbigen Stellen durchdringen zu lassen. Die japanischen und chinesischen Laternen zeichnen sich vor den deutschen besonders durch die Güte des dazu verwandten Papiers aus, freilich auf Kosten des Preises, da die bezopften Bewohner Ostasiens nicht auf die durch den Export vorgeschriebenen billigen Preise angewiesen sind und in China der Papier- und Laternenverbrauch überhaupt zum religiösen Bedürfnisse gehört.

Bedenkt man, daß in China und Japan die Papierbereitung aus einer in ihrer Wirkung unserer Flachsröste ähnlichen Behandlung aller möglichen Stoffe (nur nicht Lumpen) besteht, deren Fasern, um einer Verkürzung, wie bei unsern Holländern, vorzubeugen, durch hölzerne Stampfen zerquetscht werden, so wird man die Güte des chinesischen Papiers und dessen mannigfache Verwendungsfähigkeit zur Papierwaarenfabrikation, wenn der hohe Preis dem nicht entgegenstände, begreifen. Aus derartigem Papiere gemachte Kleider, wie in China häufig, würden jedoch in Deutschland auf unüberwindliche Hindernisse stoßen, die in Sitte und Klima begründet sind, wie die in Darmstadt erfundenen, den grauen Herrenfilzhüten täuschend ähnlichen Papierhüte bei ihrer versuchten Einführung 1869 bis 1870 dargethan haben. Die ungemeine Leichtigkeit dieser Kopfbedeckung (60 bis 100 Gramm), die Wasserdichtigkeit, welche durch einen Schellacküberzug der wollpapiernen Kopfform, sobald sie dem Holzmodell angepaßt war, erzielt wurde, die vollständig den feinsten Filzhüten gleiche Garnirung der aus Preßspahn (lederartige Pappe) bereiteten Krempe und endlich die ungemeine Billigkeit (circa ein Viertel des Filzhutpreises) konnten nicht das Vorurtheil gegen Papierkleidung in diesem Stücke überwinden. Bessere Erfolge hat die Papierwäsche zu verzeichnen, deren Fabrikation außer in Leipzig (siehe Nr. 23 der Gartenlaube „Ueberwundenes Vorurtheil in einer Bagatellsache“) auch in Berlin eine große Rolle spielt, und werden getollte Unterrockbesätze, sowie Ballwesten aus piquéartigem Papiere mit Zeugrücken zum Anknöpfen zunächst den Kampf gegen dieses Vorurtheil zu bestehen haben.

Ein dem japanischen Papier sehr ähnlicher Stoff wird neuerdings in Chilworth (England) aus Halfa oder Espartogras, welches in kolossalen Massen aus Spanien, Algerien und Tunis nach England eingeführt wird, in Verbindung mit allen möglichen pflanzlichen und thierischen Abfällen fabricirt. Der Preis der Halfa bis an Bord der Schiffe ist nicht höher als der des Heues in Deutschland. Die zu Halbzeug vorbereiteten Rohmaterialien werden nach vorgenommenem alkalischem Waschproceß chemisch gebleicht und gleichzeitig in einen Brei verwandelt, welcher durch verschiedene Bottiche mit Rührapparaten hindurch auf die Papiermaschine gelangt. Aus dieser in Form eines dichten Filzes hervorgehend, wird das nun fertige Erzeugniß einer starken Pressung unterworfen, welche dem Papier eine piquéartige Textur verleiht. Dies ist das Material für die neuerdings von A. und E. Kaufmann in Berlin in den Handel gebrachten prachtvollen japanischen Gardinen von Pavy und Pretto, diesen für den großen Consum berechneten Imitationen jener kostbaren orientalischen Stoffe, die, weil sie oft ganze Menschenalter zu ihrer Herstellung fordern, nur den Reichen und Großen zugänglich sind.

Auf gedeckter Grundfarbe erscheinen, der orientalischen Phantasie entsprechend, die herrlichsten Zeichnungen von Vögeln, Blumen und Arabesken in den lebhaftesten Farben und der geschmackvollsten Zusammenstellung. Diese Stoffe machen denselben Eindruck, wie die schwersten Gobelins, Damaste und Seidenportièren, ohne der Vergänglichkeit derselben in Folge von Staub und Licht unterworfen zu sein. Auch Muster einfacherer Art, bis zur Nachahmung Elsässer Kattune herab, werden, natürlich entsprechend billiger, auf’s Geschmackvollste hergestellt. Der Faltenwurf ist in Folge der Weichheit und Schmiegsamkeit dieses Papieres dem gewebter Stoffe völlig gleich; statt des umständlichen, kostspieligen Waschens bedarf es nur öfteren Abstäubens, und betragen die Herstellungskosten höchstens ein Zehntel des Preises der Damastgardinen. Die Rückseite der Papiergardinen kann der Vorderseite entsprechend hergestellt werden, besteht aber meist nur aus einem Futter gleichen Stoffes mit hellen Kattundruckmustern.

In das Bereich der Papierwaarenfabrikation gehören auch die mannigfaltigen Erzeugnisse des Buntdrucks, welche wir in Form von Gratulationskarten, ausgeschlagenen Blümchen und Figürchen für Kinder, Pathenbriefen, decorirten Briefbogen und Papeterien jetzt allgemein in den Handel kommen sehen, und welche man insgesammt mit dem Ausdrucke Luxuspapier bezeichnet. Abgesehen von den zahlreichen Lithographen und Druckern, welche die vielen Fabriken dieser Branche, behufs Herstellung der nöthigen Buntdruckbogen (zugleich Decorationsmaterial für Cartonnagenfabriken, sowie verkehrt gedruckt als Abziehbilder zum Malereiersatz dienend) beschäftigen, bedarf die Gratulationskartenfabrikation in Berlin allein einige Tausend Arbeiterinnen. Hervorragende Künstler sind stets mit Lieferung auf’s Beste bezahlter Originalarbeiten beschäftigt, und die Fabrikanten überbieten sich beim Beginn jeder Saison (Weihnachtszeit) gegenseitig in überraschenden Neuheiten einfacher und zusammengesetzter Art. Auch der verwöhnteste Geschmack findet hier Befriedigung, da die Mechanik bei Zusammensetzung dieser Karten durch Hebelvorrichtungen, [733] Federkraftbenutzung etc. das Ihrige geleistet, um eine überraschende Wirkung hervorzubringen.

Auch in reich ausgestatteter Couvertform mit wohlriechender Einlage finden diese Karten ihren Weg in außerdeutsche und überseeische Länder, und durch die mit Krepp und Seide verzierten, ähnlich fabricirten Pathenbriefe haben sich in streng protestantischen Gegenden unter gewissen bunten Heiligenbildern sogar eine wächserne Art derselben eingebürgert. In Folge der hierbei nöthig gewordenen mannigfaltigen Buntdruckreliefs zur Fabrikation dieser Karten haben sich in neuerer Zeit die meisten dieser Fabriken auf massenhafte Herstellung zum Verkauf geeigneter billiger Reliefs geworfen. In der Verbreitung und Beliebtheit derselben bei der Kinderwelt dürfte das beste Gegenmittel gegen die oft zweck- und sinnlose Briefmarkenmanie um so mehr zu finden sein, als auch der Anschauungsunterricht und der Sinn für Formenvollendung und Schönheitsgefühl wesentlich dadurch gefördert werden. Wer zumal die reizenden deutschen Märchen mit Versen in ihrer knappen Form und höchst künstlerischen Ausführung im Verhältniß des kleinen Raumes je gesehen, der wird das obige Urtheil nur unterschreiben können. Daß der Export in diesen Reliefs ein bedeutender ist, ja der bei weitem größte Theil des englischen Weltmarktes in Deutschland gedeckt wird, das beweisen die zahlreichen Auflagen in fremden Sprachen und die leider häufig vorkommende englische Grossistenmarke. Anerkennung in dieser Richtung verdient das renommirte chromolithographische Etablissement von Meißner und Buch in Leipzig, welches trotz bedeutenden Exports sich nie zur Anwendung anderer als seiner eigenen Herstellungsmarke herbeigelassen hat.

Der Verbrauch von Luxusbriefbogen und Papeterien ist seit einigen Jahren durch die in Aufnahme gekommene Papierconfection etwas in den Hintergrund gedrängt worden, welche auf Papier und Couverts dem jeweiligen Bedürfniß entsprechende Initialen, Figuren, Blumen etc. reichverziert, mittels Handprägepresse in beliebig kleinen Auflagen herstellt.

Eine Abzweigung der Luxuspapierfabrikation bildet noch die Fabrikation der Spitzenstreifen, Bouquetmanschetten und Tortenunterlagen, welche meist eigene Fabrikwerkstätten besitzt. Auch hier hat Berlin unstreitig in Bezug auf Größe der Production und Schönheit der Formen den Vorrang, sogar vor dem früher hierin dominirenden Paris. Die mit Bleihämmern entweder streifen- oder tellerförmig ausgeschlagenen, zarten Muster finden ihre Verwendung zunächst zum Decoriren der zu exportirenden Manufactur- und Weißwaaren, besonders aber zum Ausputz von Puppen, Schachteln, Kästchen, Schränken, Blumentöpfen und – Särgen. Der wahrhaft großartige Aufschwung, den seit einigen Jahren die Zierblumencultur durch die üblich gewordenen riesigen Bouquets genommen hat, ist, so sehr letztere Unsitte von ästhetischem Standpunkte aus zu tadeln sein mag, doch von gewaltigem Einflusse auf diese Branche geworden. Es kommen Bouquetmanschetten im Preise bis zu zehn Thalern zur Verwendung, deren Herstellung eine geübte Arbeiterin Tage lang beschäftigt, bei denen das kostbarste Material an Sammt, Krepp, echten Seidenstoffen und echten Spitzen in Verbindung mit künstlichen Blumen nicht gespart wird, und wo das Papier häufig nur das Gerippe bildet. Der große Consum hält sich jedoch an die sauberen Bogendüten von Spitzenpapier, welche allen Anforderungen des guten Geschmacks entgegenkommen, indem sie zu einem mäßigen Preis eine höchst anmuthige Umhüllung der Blumenspende darbieten. Die dafür angewendeten Muster bestehen entweder aus Blattwerk oder aus Spitzennachahmung. Der Buntdruck ist gleichfalls zur Decorirung dieser Spitzen thätig gewesen, ohne, mit Ausnahme der zu Gedenkhochzeiten verwendbaren Blattmetallverzierung, irgend welche nennenswerthe Resultate erzielt zu haben. Ein ähnliches Fabrikationsverfahren wird zur Herstellung von Goldborden und papierenen Sargverzierungen, welche letzteren die zinnernen fast allgemein verdrängt haben, sowie von Lampenschirmen, Lampenschleiern und Patentpapierbuchstaben (zur Anfertigung von Firmen und Schildern) angewendet.

Begreiflicherweise sind bei dieser Ausdehnung der Papierwaarenfabrikation der vermehrte Papierverbrauch und die dadurch hervorgerufene Preissteigerung der verwendbaren Rohmaterialien vom höchsten Einflusse auf alle Schreib- und Druckpapier verbrauchenden Unternehmungen. Da die Zunahme der allgemeinen Volksbildung offenbar von der billigen Herstellbarkeit letzterer Papiersorten abhängig ist, so hat sich von jeher die technische Wissenschaft mit der Aufsuchung billiger, leicht zu beschaffener Faserstoffe beschäftigt. Natürlich war von vornherein von der Benutzung spinnfähiger Faserstoffe wegen deren lohnenderer Verwendung zu Geweben aller Art abzusehen, umsomehr, da deren unbedingt erforderliche Eigenschaft, die Kräuselungsfähigkeit der Fasern, nicht zum Erforderniß der Papierbereitung gehört. Letztere verlangt nur eine Verfilzungsfähigkeit der Fasern, am besten so, daß die Fasern, mikroskopisch betrachtet, an den Enden spitz zulaufen. Wenn nun auch durch die heutzutage so billigen Transportwege besonders geeignete Faserstoffe (wie oben die Halfa) zum Zwecke der Papierbereitung unschwer zu importiren sind, so wird sich doch im Allgemeinen die Nothwendigkeit für billige Papierbereitung herausstellen, die jedem Klima entsprechenden billigen Faserstoffe an Ort und Stelle aufzufinden, respective zu erzeugen.

Die von den Alten benutzten Palmenblätter, auf denen nach Virgil das Buch der cumanischen Sibylle geschrieben war, ferner die innere, Liber genannte, leicht ablösbare, zum Gebrauch mit einem Mehlüberzug zu versehende Rinde der am Ausflusse des Nil und Euphrat massenhaft wachsenden Papyrusstaude, sowie der Pappeln, Eschen, Ulmen und Linden, letztere nach Quintus Septimius zur ältesten Niederschrift der Iliade benutzt, waren bereits zu Augustus Zeiten durch eine Papiersorte (empirotica), welche aus Lumpen gemacht wurde, vermehrt; es wurden in der Folge, nachdem sich dieses ursprünglich schlechteste Papier durch die Erfindung der nassen Stampfmühlen etwas vervollkommnet hatte, alle erstgenannten Materialien, insoweit nicht Pergament zur Anwendung kam, durch das Lumpenpapier ersetzt.

In Folge Einführung des Holländers, eines drehbaren Messers zum Zermalmen der Lumpen, mußte auch das Pergament dem nunmehr allen Anforderungen entsprechenden Papiere weichen. Nachdem jedoch die Lumpen immer mehr im Verhältnisse des Verbrauchs zu mangeln anfingen, war man gezwungen, auf die Materialien der Alten zurückzugehen und Blätter- sowie Holzfasern für die Fasergewinnung heranzuziehen. So bereitet man in Italien aus von Seidenraupen abgefressenen Maulbeerbaumzweigen seit neuerer Zeit ein sehr festes und feines Cigarrettenpapier. In Deutschland war durch die von Völter vor einem Jahrzehnt erfundene Holzschleifmaschine, welche allerdings im Verhältnisse der Leistung einen beträchtlichen Kraftaufwand erfordert (drei und eine halbe Pferdekraft produciren täglich nur einen Centner Holzstoff), der Weg zur billigen Faserstoffbereitung gefunden. Leider unterliegt die geschliffene Holzfaser sehr der Veränderung durch Luft und Licht, welche bei starkem Holzstoffgehalte des Papiers nach einiger Zeit zum Braunwerden, ja zum gänzlichen Zerfallen des weißesten Papiers führen kann. Dieser Uebelstand, der von der Verwendung von stark holzstoffhaltigem Papiere für andere als Tagesliteratur absehen läßt, rührt wahrscheinlich von der Entwickelung von Holzsäure bei der auf mechanischem Wege gewonnenen Faser her. Bessere Resultate hat die Chemie in der Fasergewinnung sowohl aus Holz wie aus Stroh erzielt. Letzteres war bisher überhaupt schon vielseitig zu groben Packpapieren verwendet worden und der Export darin nicht unbedeutend gewesen; der bedeutende Kieselsäuregehalt, welcher derartige Papiere hart und brüchig machte, ist, Dank der Chemie, nunmehr mit Vortheil dazu zu verwenden, den beispielsweise bei Schreibpapieren nöthigen, durch Talk- und Infusorienerde (Paperclay) erzielten Angriff des Papiers gleich durch das Fasermaterial selbst mit zu erlangen.

Dieses chemische Verfahren nach Sinclair, Ungerer, Lee u. A. besteht im Wesentlichen in der Anwendung von Dampfdruck auf die der Einwirkung einer starken Lauge ausgesetzten Holzspähne, Strohhäcksel oder sonstigen Fasermaterialien, worauf ein chemischer Bleichproceß mit der erlangten Cellulose vorgenommen wird. Andere basiren ihr Verfahren auf die Eigenschaft der Kohlenwasserstoffverbindungen (z. B. Benzin), den Faserstoffen ihr Gummi und Harz unter hoher Temperatur und starkem Drucke zu entziehen, während z. B. Keegan, erst nachdem er die Laugenflüssigkeit auf kaltem Wege durch Wassersäulendruck in die Faserbündel getrieben, das so getränkte Holz einer großen Hitze aussetzt und dann durch Waschen die Harze etc. entfernt. Den feinsten, sehr weichen und am meisten begehrten Faserstoff ergab bis jetzt das Sinclair’sche Verfahren (von Firmin Didot in Paris


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.

[734] mit sieben Maschinen angewendet). Unter dem Mikroskope zeigten derartige ziemlich lange Fasern eine bandartige, innerhalb der Bandränder häufig unterbrochene Structur, wahrscheinlich die Folge der diesem Verfahren eigenthümlichen starken Laugen- und Chloranwendung. Die Wissenschaft hat jedoch ihre Versuche hierüber noch nicht abgeschlossen, während die Praxis der Papierfabrikanten durch Zusammensetzung ihres Büttenmaterials aus verschiedenartigen und verschieden zubereiteten Faserstoffen unter Zusatz von Lumpen den für jetzt richtigsten Weg eingeschlagen hat.

Schließlich bleibt noch die Verwendung der chemisch erzeugten Cellulose zu Ivorittafeln als Ersatz der zerbrechlichen beim Schreiben kreischenden Schiefertafeln, zu Billardbällen, Messerschalen und Elfenbeingriffen, zu Wurstdärmen ohne Naht, zu künstlichem Pergament und zu wasserdichten, sehr tragfähigen Booten zu erwähnen. Die Eigenschaft des Papiers, sich unter Einwirkung von Kupferoxyd-Ammoniak und anderen Säuren in eine hornartige Substanz zu verwandeln, ermöglicht die Verwendung zu so auseinander liegenden Zwecken.

Apianus.




Blätter und Blüthen.


Der Mürzsteg zum todten Weibe. (Mit Abbildung, S. 731.) Zwei Eisenbahnfahrstunden südlich von Wien, dort, wo die norische Alpe den mächtigen Gebirgsstock des Semmering und Sonnenwendsteins gegen die niederösterreichisch-ungarische Ebene vorschickt, läuft dem Kamme des Gebirgs entlang die Grenze der grünen Steiermark. – Gewiß verdiente dieses deutscheste aller Alpenländer einen ebenso großen Touristenbesuch, wie ihn die Schweiz, Tirol oder die baierischen Hochgebirge genießen. Bewohnt von einem der biedersten germanischen Stämme, bietet Steiermark in seinen Hochgebirgsformationen dem Naturfreunde eine Fülle von Naturschönheiten. Unübertroffen von allen europäischen Bergländern steht es durch die Ueppigkeit seiner Vegetation da. Hier giebt es noch zahlreiche Thäler, in denen der Schöpfer der Tuberculose, der Staub, zu den unbekannten Dingen zählt; hier finden sich noch die Stätten einer frisch wuchernden unverkümmerten Pflanzenwelt. Am eindringlichsten tritt dem Beobachter diese Erscheinung der Naturwüchsigkeit entgegen, wenn er, die Strecke der Semmering-Bergbahn hinter sich, die freundliche Ebene Niederösterreichs betritt. Gleich dem Reisenden, welcher Italiens farbenreichen Boden verläßt, um nach dem Norden zurückzukehren, scheinen ihm Felder, Wiesen und Bäume, Wässer und Gesteine, wie grau in grau gemalt zu sein. – Wir verlassen in der zweiten, auf steierischem Boden gelegenen Südbahnstation Mürzzuschlag den Eisenweg, der am directesten nach Italiens Gefilden führt, und befinden uns in einem von steilen bewaldeten Bergwänden begrenzten Hochgebirgsthale, in dessen Mitte die muntere, klare Mürz rauscht, umgeben von herrlichen landschaftlichen Details.

Eine dreistündige Wanderung, dem frischen Gebirgsfluß entgegen, durch eines der anmuthigsten Alpenthäler, führt uns zur Cyklopenstätte Neuberg. Die Schnee- und Laa-Alpe mit der Donnerwand zur Rechten, den Königskogel zur Linken, sehen wir diese Hochgebirgslandschaft einen wildzerrissenen, aber erhabenen Charakter annehmen. Dieser Theil Steiermarks birgt den bedeutendsten Gemsenstand, weshalb sich die Neuberg-Mariazeller Gewerkschaft veranlaßt fand, die Jagdbarkeit dem Kaiser von Oesterreich zu verehren. Die alljährlich stattfindenden Jagden sind äußerst ergiebig, fordern leider aber auch bei der Waghalsigkeit, mit welcher sie auf den zerklüfteten Terrains betrieben werden müssen, oft Menschenleben als Opfer. Im letztvergangenem Herbste erst wurde ein Hochwildtreiber durch abstürzende Steine in den Abgrund geschleudert und dort zerschellt und todt aufgefunden. Wir gelangen nach Mürzsteg, dessen Alpenscenerie an die schönsten Theile des Berner Oberlandes erinnert. Das Thal verengert sich hier zu einer schmalen Schlucht. Von den senkrecht Tausende von Fuß jäh abstürzenden Felsenwänden ist nur so viel Raum gelassen, um dem Wasser der über die Steinblöcke brausenden Mürz Durchlaß zu gewähren. Hier nimmt der von den Touristen gefeierte Steg über dem tosenden Flusse seinen Anfang; er windet sich stundenlang in der Dämmerung der Thalschlucht hin und endet am heitern Wiesenthale der Wildalpen „in der Freyen“. Indem wir den Steg beschreiten, rauschen die Bergwässer uns machtvoll entgegen; eine prachtvolle Wildniß umgiebt uns. Die krystallklare smaragdfarbene Fluth will sich hier über die entgegengethürmten Hindernisse, in schneeweiße Atome aufgelöst, hinwegstürzen, während sie dort, durch irgend eine unterirdische Hemmung gestaut, scheinbar regungslos stagnirt und inmitten ihrer metallisch glitzernden grünen Färbung selbst den kleinsten Kiesel auf ihrem Grunde erkennen läßt.

Spalten, Klüfte und Höhlen durchsetzen, die abenteuerlichsten Formen bildend, das geborstene Kalkgestein, während die vereinzelten Bewohner dieser unzugänglichen Verstecke, eine Fledermaus oder Eule, in der Dämmerung schüchtern an der Felswand hinflattern. Der Mangel an eindringendem Sonnenlichte begünstigt die vom Flusse aufsteigende Feuchtigkeit; Moose und Farnkräuter wuchern deshalb dem Stege entlang in seltener Pracht. Auf tausendfachen Pfählen und Aesten, die in die Felswand eingelassen sind, und in so kurzen Krümmungen, daß der Pfad jeden Moment sein Ende erreicht zu haben scheint, läuft der Mürzsteg über zahllose Cascaden zum „todten Weib“.

Wir sind nur noch eine kleine Stunde südwestlich von der „Freyen“ entfernt. In einer Höhe von ungefähr zwanzig Klaftern oberhalb unseres Weges stürzt ein starker Gebirgsbach, einen Wasserfall bildend, aus einer Höhle hervor. Die Sage leitet den Namen „das todte Weib“ von einer Bäuerin her, welche hier erfroren gefunden wurde. Die enge Schlucht, die vielfach gewundenen Treppenstege, die obenstehende uralte Einsiedelei, die Kreuze unter den Bäumen, der üppig grünende mit Alpenblumen durchwirkte Rasen, Alles dies vereinigt sich hier zu dem reizendsten Bilde.

Hoch droben, über dem „todten Weibe“, auf einem zerborstenen Abhange der Schnee-Alpe, entdeckte man einst beim Fällen eines Baumes eine tiefe brunnenartige Kluft, die, weit hinabreichend, in einer unermeßlichen Höhle endet und die sich in gerader Richtung zu dem tief unter ihr liegenden Wasserfalle des „todten Weibes“ abstürzt.

Endlich erweitert sich der Weg. Wir genießen das Tageslicht wieder ungeschmälert; die zackigen Kalkwände treten mehr zurück, und sanftbewaldete Bergesabhänge erfreuen das Auge. Wir kommen in jenes wunderbare Waldthal, auf dessen sammetgrünen, von klaren Forellenbächen durchzogenen Wiesen die „stille Mürz“ und die „kalte Mürz“ ihre Vermählung feiern, um mit vereinten Kräften der Schlucht des Mürzsteges zuzuströmen.

Des Menschen Dasein in dieser Gegend datirt erst seit Anfang dieses Jahrhunderts. Um den Eisenwerken des benachbarten so berühmten Gnaden- und Wallfahrtsortes Maria-Zell vermehrten Brennstoff zuzuführen, siedelten sich Holzknechte mit ihren Hütten, welche malerisch zerstreut im Thale und auf den Höhen liegen, hier an. Jetzt hat die Cultur die Urwüchsigkeit auch in dieser Gegend verdrängt.




Die Schlachtmaske. Bekanntlich bestehen, besonders von Seite der Gegner aller Thierquälerei, gegen die jetzt noch allgemein übliche Art, das Rindvieh zu schlachten, mancherlei Bedenken. Selten gelingt es selbst dem geübtesten Metzger, einen Ochsen auf einen Beilhieb zu tödten, ja oft kommt es vor, wenn nicht gerade die richtige Stelle auf den ersten Hieb getroffen worden ist, daß eine Anzahl von Hieben gegen den armen Vierfüßler gerichtet werden müssen, da einerseits die Aufregung des Metzgers die Sicherheit in Führung des Schlachtbeiles beeinträchtigt, andererseits die Unruhe des Thieres ein genaues Treffen erschwert. Wie oft haben schon in dieser Weise gemarterte Thiere sich losgerissen und Unheil angerichtet! Es muß daher als ein wahrhafter Fortschritt auf dem Wege der Humanität entschieden diejenige Schlachtmethode bezeichnet werden, welche neuerlich in verschiedenen Städten durch den sogenannten Bruneau’schen Apparat in Anwendung kommt und welche volle Berechtigung hat, von den Behörden den Metzgern als ausschließlich erlaubte Schlachtart durch das Gesetz vorgeschrieben zu werden. Die Tödtung mit Hülfe dieses ebenso einfachen wie sicheren Apparates besteht in Folgenden: Dem Thiere wird eine Lederkappe über den Kopf gezogen, an welcher der Tödtungsapparat, ein sehr scharfer und starker Stift von Stahl, angebracht ist. Dieser Stift wird nun durch einen Schlag mit einem hölzernen Schlägel derart durch die Stirnwand in’s Gehirn eingetrieben, daß der Tod des Thieres augenblicklich erfolgt. So außerordentlich rasch und ohne jede unnütze Qual wird auf diese Weise das Schlachten der Thiere ermöglicht, daß kaum eine einfachere und mildere Art gedacht werden kann. Die Mittheilungen, welche verschiedene Blätter – namentlich Frankfurter, woselbst der Thierschutzverein bereits bei der Behörde gebeten hat, daß diese Schlachtart für die Metzger obligatorisch gemacht werde – gebracht haben, veranlaßten den Nürnberger Industriellen Georg Leykauf (Besitzer der Dampfschleiferei und Messerwaarenfabrik), einen solchen Schlachtapparat anzufertigen und mit demselben Versuche im Schlachthaus zu Nürnberg anstellen zu lassen. In dreißig bis vierzig Secunden war die Maske umgeschnallt und mit einem einzigen Schlage das Thier gefällt, ohne daß es sich weiter regte. Die Besichtigung des Gehirns ergab, daß dasselbe, das bei der bisher gebräuchlichen Methode ganz mit Blut unterlaufen, zerschlagen und mit Knochensplittern vermengt war, hier vollständig rein und weiß erhalten blieb und selbst keine Spuren des Eindringens des Hohlstiftes in die weiche Masse zurückließ. Fassen wir die Vortheile der Schlachtmaske (von dem französischen Erfinder „Bouterole“ genannt) zusammen, so ergiebt sich, daß ihre Anwendung neben der Erfüllung des ersten Zweckes, die Dauer der Leiden des Schlachtviehes möglichst zu verringern, auch noch den Vortheil gewährt, daß das Fleisch und die inneren Theile des Thieres in besserem Zustande überliefert werden, als früher und das Gehirn vollständig weiß erhalten bleibt. Auch erfordert sie bei vollständigster Sicherheit geringere Kraftanstrengung als das Schlachten mit dem Beil. Wir können darum ebenfalls die Alleinherrschaft derselben allenthalben nur wünschen und deren Einführung vor Allem nicht dringend genug dem Gewerke selbst empfehlen, ehe Publicum und Obrigkeit dasselbe dazu zwingt.




Aus Ober-Ammergau geht uns folgende „Berichtigung“ zu: Die Gemeinde Ober-Ammergau ersucht mich einen Fehler zu berichtigen, der sich in dem Artikel der Gartenlaube über Brixlegg und das dortige Passionsspiel vorfindet. Der Verfasser behauptet, die Ammergauer hätten Text und Musik ihrer Passion nach Brixlegg für dreihundert Gulden verkauft. Was den Text anlangt, so ist derselbe gedruckt zu haben, ein Verkauf also unnöthig. Die Musik ist den Ammergauern um keinen Preis feil. Die größten Anerbietungen sind ihnen gemacht worden, wenn sie nur eine Arie drucken lassen wollten – sie haben dieselben zurückgewiesen, weil sie überhaupt nicht des Gewinnes halber, sondern um ihr Gelübde zu erfüllen, spielen. Die Brixlegger Musik ist eine total verschiedene; man kennt den Componisten nicht, vermuthet aber, sie stamme aus Altenau in Baiern. Die hiesige Passionsmusik ist im Jahre 1815 von dem genialen Lehrer Dedler componirt worden, der 1822 starb. Damals sangen Knaben die Sopranpartien in der Passion. Wenn die Ammergauer sich entschlössen, ihre Musik herauszugeben, so würden sie ohne Zweifel einen großen pecuniären Vortheil erlangen – aber, wie gesagt, sie thun es nicht und werden es nicht thun. Ammergauer sind Verfasser des Textes, der Musik, Mitspieler – die hiesige Passion ist durchaus originell. In Brixlegg besteht der musikalisch mitwirkende Theil aus Innsbruckern. – So viel zur Steuer der Wahrheit.
Georg Baron Dyherrn.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)