Die Gartenlaube (1874)/Heft 4
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No. 4. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Mainau trat an die Seite seiner jungen Frau. „Du bist sehr im Irrthume, Juliane, wenn Du meinst, Deine Rechte als Hausfrau könnten Dir in Schönwerth auch nur um ein kleines Bruchtheil verkümmert werden,“ sagte er mit verhaltener Stimme – er kämpfte schwer mit seinem hervorbrechenden Ingrimme. „Für mich ist die Rudisdorfer Trauung vollkommen rechtskräftig – sie giebt Dir für immer meinen Namen, und wie man hier in diesen vier Wänden darüber denkt, das darf Dich nicht anfechten. … Erlaube mir, Dich in Deine Appartements zu führen.“
Er reichte ihr den Arm und ohne den alten Herrn weiter zu begrüßen, führte er sie hinaus. Während sie die Spiegelgalerie wieder durchschritten, sprach er kein Wort; auf der Treppe aber blieb er einen Moment stehen. „Du bist beleidigt worden, und das trifft meinen Stolz genau so empfindlich wie den Deinen,“ hob er viel ruhiger an, als er droben gesprochen. „Aber ich gebe Dir zu bedenken, daß meine erste Frau die Tochter jenes kranken Mannes, sein einziges Kind gewesen ist. Die zweite Frau muß es sich stets gefallen lassen, ein Gegenstand schmerzlicher Eifersucht für die Verwandten der Verstorbenen zu sein. … Ich muß Dich bitten, auszuharren, bis die Macht der Gewohnheit wirkt. … Schönwerth zu verlassen und mit Dir auf einem meiner anderen Güter zu leben, vermag ich nicht – es handelt sich hauptsächlich darum, Leo unter mütterliche Aufsicht zu bringen; der Kleine aber muß hier bleiben – ich darf dem Großvater den einzigen Enkel nicht nehmen.“
Liane stieg schweigend die Stufen weiter hinab; es war ihr fast unmöglich, zu diesem grausamen Egoisten zu sprechen, der sie an sich gefesselt, um sie völlig unvorbereitet den wiederwärtigsten Verhältnissen gegenüberzustellen.
„Sie werden begreifen, daß ich keinen anderen Wunsch habe, als den, wieder da hinaus gehen zu dürfen,“ versetzte sie endlich und zeigte nach der sonnigen Landschaft durch das offene Thor, an welchem sie eben vorüberschritten. „Wäre nicht der Gedanke, daß ich mit meiner sofortigen Heimkehr nach Rudisdorf selbst die bindende Kraft meiner Kirche verneinte –“
„Es sollte Dir auch einigermaßen schwer werden, einen solchen Schritt auszuführen,“ unterbrach er sie eiskalt, indem er einen langen Säulengang im Erdgeschosse mit ihr durchmaß. „Ich brauche Dir wohl nicht erst zu versichern, daß ich mich nicht so ohne Weiteres compromittiren lasse. … Hm, ja – Trauung und Trennung so eng beieinander! Das wäre wieder einmal so Etwas für die guten Leute, die sich vor meinen ‚Bizarrerien und Extravaganzen‘ fromm bekreuzen. … Ich bin stets herzlich gern bereit, ihnen Stoff zu liefern – warum denn nicht? Diesmal aber verzichte ich auf den pikanten Scandal.“
Er ließ ihren Arm von dem seinen niedergleiten und öffnete eine Thür. „Hier Deine Appartements – siehe zu, wie Du sie Deinen Bedürfnissen und Neigungen unterthan machst! Jeder Deiner Wünsche, bezüglich einer Veränderung, wird selbstverständlich ohne Widerrede sofort erfüllt werden.“ Er trat nach ihr ein und ließ den Blick durch die mit übermäßigem Luxus ausgestattete Zimmerreihe gleiten – ein böses Gemisch von Hohn und Groll lag in dem finstern Lächeln, das über sein schönes Gesicht huschte. „Valerie hat sie bewohnt – aber fürchte Dich nicht,“ sagte er, in den frivolen, persiflirenden Ton verfallend, vor welchem „die Damen wie die Lämmer zitterten“ – „ihre Seele war luftig und flatternd, als sei auch sie nur aus den kostbaren echten Spitzen zusammengewoben, in den sie ihren verwöhnten Körper zu hüllen liebte. Zudem trug sie die untrüglichen Engelsflügel einer strengen Frömmigkeit – sie ist im Himmel.“
Er schellte der Kammerjungfer und stellte sie der neuen Herrin vor. Dann machte er Liane darauf aufmerksam, daß er sie nach einer Stunde zur Trauung abholen werde, und ehe sie noch ein Wort erwidern konnte, hatte er das Zimmer verlassen. Zugleich schlüpfte die Zofe durch die entgegengesetzte Thür, um im Ankleidezimmer Alles zur Toilette vorzubereiten.
Da stand die junge Dame allein, inmitten einer wildfremden Umgebung. Im ersten Augenblicke gab sie dem Gefühle einer fast sinnlosen Angst nach – sie lief durch die Gemächer und griff auf jedes Thürschloß; nein, sie war nicht gefangen, selbst die in’s Freie führende Glasthür des einen Salons flog sofort unter dem Drucke ihrer Hand auf, und nichts hinderte sie, das Haus flüchtend zu verlassen. … Flüchten? War sie denn nicht freiwillig hierher gekommen? Hatte es nicht doch einzig und allein in ihrer Hand gelegen, Nein zu sagen, trotz der grimmig drohenden Blicke der Mutter und der Bitten ihrer Geschwister? … Sie hatte sich stumpfsinnig einem furchtbaren Irrthume hingegeben, und an diesem Irrthume trug ihr Institutsleben die Schuld. Die meisten ihrer Mitschülerinnen, Töchter der ältesten
[54] Adelsfamilien, hatten schon nicht mehr über ihre Hand zu verfügen gehabt; sie waren durch Uebereinkommen der Eltern versprochen gewesen und waren fast alle vom Institute aus durch einen sehr kurzen, erklärten Brautstand in die Ehe gegangen, ja, eine derselben, eine schöne junge Dame, von welcher Liane wußte, daß sie eine tiefe Liebe zu einem Bürgerlichen im Herzen trug, hatte sich, ohne ein Wort des Widerspruchs, mit einem alternden Standesherrn verheirathet. … Unter dem Einfluß dieser Erfahrungen und Anschauungen und bestärkt durch Mutter und Geschwister, hatte sie gewähnt, daß dazu gar kein besonderer Entschluß gehöre – vielmehr ergebe er sich von selbst aus den gebotenen Verhältnissen. Magnus und Ulrike hatten sie retten wollen aus der Hölle daheim, und sie hatte sich retten lassen – nicht das mindeste Recht stand ihr zu, Mainau anzuklagen, daß er sie betrogen habe. Sie brachte ja auch nichts mit, als den guten Willen, treulich den neuen Pflichten zu leben. Wie fielen ihr jetzt die Schuppen von den Augen! Sie war für immer losgetrennt von Denen, die sie liebte, und hatte nicht die geringste Hoffnung, für dieses Aufgeben je entschädigt zu werden; ja, sie mußte sich auf eine Art Gefrierpunkt dem Manne gegenüberstellen, an den sie zeitlebens gekettet war, der ihr keine Liebe geben konnte und nichts weniger wünschte, als von ihr geliebt zu werden. … Ein ganzes, langes Leben in der Fremde ohne das Gefühl, einwurzeln zu dürfen durch gegenseitige Sympathie! …
Sie warf einen heißen Blick nach oben – er blieb in Wolken von strahlend blauem Atlas hängen. Jetzt erst sah sie, daß dieser glänzende Stoff sie umrieselte[WS 1], als schwimme sie im Aether. … Nach der bitteren Ironie, mit welcher Mainau von ihr gesprochen, mochte die Frau, die hier gewohnt, wohl ein eigensinniges Köpfchen gewesen sein, ein verzogenes Kind, das in übler Laune mit den kleinen Füßen stampfte und den zarten, verwöhnten Körper rücksichtslos hintenüberwarf, und das konnte sie hier ungestraft – unter den Füßen schwoll ein zolldicker, mit blauen Cyanen bestreuter Teppich, und in dem ganzen kleinen, üppigen Boudoir war nicht eine harte Holzkante zu sehen – Polster und weicher, gleißender Atlas, wohin man sah! … Liane öffnete ein Fenster – diese Verstorbene mußte sich in Jasminduft förmlich gebadet haben; er füllte betäubend die Luft und entströmte selbst den Gardinen und Wandbehängen. Zog nicht in diesem Augenblicke, wo die zweite Frau mit dem eigenmächtigen Oeffnen des Fensters gleichsam von diesen Räumen Besitz ergriff, „die flatternde, aus Spitzen gewobene Seele“, die auf den Engelsflügeln strenger Frömmigkeit in den Himmel zurückgekehrt sein sollte, zürnend und aufseufzend droben am Plafond hin? Wie ein Hauch, und doch bestimmt, hatte der weiche Klagelaut einer Frauenstimme Lianens Ohr berührt. Sie blieb mit zurückgehaltenem Athem stehen und horchte. Da trat das Kammermädchen ein, um zu melden, daß zur Toilette Alles vorgerichtet sei.
„Was ist das?“ fragte die junge Dame – sie war im Begriff, über die Schwelle des Nebenzimmers zu gehen, als jener eigenthümliche Klang wieder durch das Zimmer schwebte – diesmal kam er unbestritten durch das Fenster.
„Da drüben in dem Baume hängen Windharfen, gnädige Frau,“ versetzte das Mädchen.
Sie sah hinüber und schüttelte den Kopf. „Aber es rührt sich ja kein Lüftchen!“
„Vielleicht kommt es von dort her, wo die Frau seit vielen Jahren krank liegt,“ meinte sie und zeigte nach dem fern vorüberlaufenden Drahtgitter, hinter welchem ein röthlich blinkender Obelisk in die Lüfte stieg. „Ich weiß es nicht – ich bin selbst erst seit acht Tagen in Schönwerth. … Die Leute kümmern sich nicht darum, und in der Küche sagten sie nur, sie hätte das Gnadenbrod im Hause – schrecklich – sie soll nicht einmal getauft sein. … Hinter das Gitter traue ich mich nicht – ich fürchte mich vor dem großen, tückischen Ochsen, und die Bäume wimmeln von Affen – gräuliche Thiere – puh!“
Liane ging schweigend in das Nebenzimmer und überließ sich den flinken Händen der Redseligen. Diesmal rauschte und flirrte der Silberstoff um die bräutliche Gestalt her, und als sie nach einer halben Stunde im blauen Boudoir Mainau entgegentrat, da fuhr er sichtlich zurück. … Die „Hopfenstange“ verstand es, die Silberschleppe zu tragen, die „Hopfenstange“ hatte Schultern und Arme von so unvergleichlicher Schönheit, daß nur völliger Mangel an Coquetterie und ein keusches, ernstes Denken diese Vorzüge bisher achtlos unter verhüllenden Stoffen hatten verbergen mögen. … Ein Orangenblüthenkranz lag in dem hochaufschwellenden, vielverhöhnten Rothhaar – es hob sich in wuchtiger Pracht, wie mit goldfunkelndem Thau überhaucht, von den blauglänzenden Wänden des Zimmers.
„Ich danke Dir, Juliane, daß Du Deine Vorliebe für ein bescheidenes Auftreten so tactvoll unterdrückst und in meinem Hause erscheinst, wie es Deine Stellung nun einmal verlangt,“ sagte er freundlich, wenn auch nicht ohne Betroffenheit im Ton.
Sie hob die dunkelblonden Wimpern – das waren keine blassen Veilchenaugen à la Lavallière – ein Paar großer, dunkelgrauer Augensterne voll Klugheit, aber auch voll finsteren Ernstes sahen ihn fest an. „Denken Sie nicht zu gut von mir!“ versetzte sie gelassen – noch brachte sie das „Du“, das ihm so geläufig war, nicht über ihre Lippen. „Nicht aus Bescheidenheit bin ich in Rudisdorf einfach an den Altar getreten – nennen Sie es Stolz, Hochmuth, wie Sie wollen. … Ich weiß recht gut, daß verschiedene Frauen in der Rudisdorfer Marmorgalerie den Hermelin um Schultern und Schleppe tragen – ich habe auch ein Anrecht daran und werde es zu behaupten wissen. … Gerade deshalb mochte ich diese geschenkte Pracht hier,“ sie strich mit der Hand über die steife Robe, „nicht an mir leiden und durch mein Vaterhaus schleifen, von welchem uns augenblicklich kein Stein gehört. Ich meinte, das Geräusch müsse alle die Trachenberger aufwecken, die unter dem Altar in der Gruft schlafen – und ihnen ist gerade jetzt der Schlaf zu gönnen. … Hier repräsentire ich Ihren Namen und dazu gehört das Geschenk.“
Er biß sich auf die Lippen. Etwas wie eine unliebsame, zornige Ueberraschung lag in dem Blicke, der bald an dem zarten, ruhigsprechenden Munde hing, bald sich in die unerschrockenen Augen bohrte, die nicht zurückwichen.
„Nun, die Trachenberger durften getrost aufwachen,“ sagte er sarkastisch. „Ihr weltbekannter Familienstolz lebt ja fort und weiß sehr energisch aufzutreten, und das hätte sie über die leeren Truhen – die Du eben betontest – sicher getröstet.“
Sie schwieg und trat langsam und majestätisch über die Schwelle der Thür, die er mit einer fast ironisch tiefen Verbeugung öffnete. … Wie er so an ihrer Seite dahinschritt, war er ein vollkommen Anderer, als der frivole Weltmann, der sie in Rudisdorf mit einer so graciösen Leichtigkeit, als gehe es zur Tafel, an den Altar geführt – er war ein Anderer, als der kühne Bändiger der wildjagenden Rosse, der bei der Begegnung im Walde, strahlend vor Triumph, der bleichen, dahinfliehenden Fürstin nachgesehen hatte – in diesem Augenblicke kämpfte er denselben Kampf, den seine junge Frau eben durchgemacht; er bereute tief und sichtlich den Schritt, den er im Vertrauen auf die Betheuerungen der Gräfin Trachenberg gewagt – sie hatte ihm ja fälschlicher Weise eine Frau versprochen, „die er um den Finger wickeln könne“ … Noch war es Zeit, noch hatte seine Kirche das ewig bindende Wort nicht gesprochen, das jede Scheidung verneint – das Rauschen der langen, schweren Schleppe verstummte plötzlich, die junge Dame zögerte, den Fuß weiterzusetzen; sie hob die Hand, die auf seinem Arme lag – nothgedrungen hielt er den Schritt an und wandte befremdet das so nachdenklich gewordene Gesicht nach ihr; ein einziges Hinstreifen seiner Augen über ihr tieferblaßtes Antlitz mochte ihn belehren, was in ihr vorging – mit einem ausdrucksvoll spöttischen Lächeln empfing er die niedergleitende Hand, legte sie wieder auf den Arm, wo er sie augenblicklich festhielt, und schritt weiter durch das Spalier, das die festlich geschmückten Schloßleute vor der gewaltigen, erzenen Kirchenthür bildeten. … Nun denn – er war trotzalledem entschlossen, und sie ging mit ihm; aber nicht wie ein in sein Schicksal ergebenes Opferlamm – die stolze Prinzessin Großmutter in der Ahnengalerie hätte sicher nichts auszusetzen gewußt an den majestätischen Geberden der Enkelin, an dem verschlossen ruhigen Gesicht, das nicht im Entferntesten auf das beschleunigte Klopfen eines erregten Herzens schließen ließ.
Mit welchem Glanz wurde hier der Betrug in Scene gesetzt! Ein Silberreichthum, wie ihn Liane selbst in Rudisdorf, in den versunkenen Zeiten der Pracht nie gesehen, umringte und bedeckte den Altar, Hunderte von Flammen auf mattblinkenden Armen emportragend, und die Orangerie, die der alte kranke [55] Mann zur Begrüßung der einziehenden neuen Herrin verweigert hatte, hier dunkelte und duftete sie zu Ehren der heiligen Handlung – ein wahrer Wald breitästiger mit Blüthen bedeckter Bäume. Durchzuckt von den bleichen Lichtflammen und dem goldenglühenden Strahl der hereinfallenden Abendsonne, wogten erstickende Weihrauchwolken in dem säulengetragenen Raume; wie durch einen Nebel sah Liane die Köpfe vieler Anwesenden aus den Betstühlen auftauchen, sah seitwärts die rothseidene Steppdecke leuchten, auf welcher die blassen Hände des Hofmarschalls gefaltet lagen, und das prächtige Meßgewand des Priesters von den Stufen des Altars herabflimmern. Hoch und gebietend stand er droben – sie erschrak, als sie vor ihn hintrat – von dem Gesicht dieses Mannes ging es aus wie ein Feuerstrom; ein seltsam glimmender, tief befremdeter Blick tauchte in ihre großaufgeschlagenen Augen; erst auf ihr scheues Zurückweichen hin wandte er sich zögernd gen Himmel, und nun tönte eine prachtvolle, erschütternde Stimme über ihrem Haupte hin und sprach von der Liebe und Hingebung für immer und ewig – welch ein Frevel! … Die schlichten Worte des Geistlichen in Rudisdorf hatten sie ruhig gelassen – erst diese glühende Beredsamkeit warf ein blendendes Licht auf den Hohn und die schwarze Lüge, unter welchen dieser Bund geschlossen wurde; sie machte jedes Wort zu einer Dolchspitze, zu einem Spottpfeil. – Die junge Frau zitterte vor diesem Priester, dessen zündende Augen nicht von ihr wichen, und – sie wußte selbst nicht weshalb – ihre Hände griffen plötzlich nach dem über den Rücken hinabfallenden Schleier und zogen ihn verhüllend über Busen und Arme.
Und dieser Tag, der schwerste und verhängnißvollste ihres ganzen Lebens, er neigte sich endlich auch; es kam der heiß ersehnte Moment, wo sie die nach dem Säulengange führende Hauptthür ihrer Gemächer schließen durfte, die sie von allen Bewohnern des Schlosses schied. Sie schickte das harrende Kammermädchen fort, entledigte sich selbst der Brauttoilette und warf einen weißen Schlafrock über. Ruhen konnte sie noch nicht; sie mußte, so einsam in der Fremde und gequält von schmerzlichem Heimweh, irgend einen mitgebrachten Gegenstand aus der Heimath sehen und berühren. … Mit hastigen Händen öffnete sie einen kleinen Koffer, den man auf ihren Wunsch in den Salon gestellt hatte. Ein Heft mit lateinischen Aufsätzen von ihrer Hand lag oben auf – unwillkürlich zuckte sie empor und warf einen scheuen Blick auf das große Oelbild, das ihr gegenüberhing – ja, das war er, der schöne Mann mit dem Räthselgesicht, das in so jähem Wechsel Feuer und tödtliche Kälte, seelenvolle Güte und den beißendsten, verwundenden Spott wiederspiegelte! Ihr graute vor diesen Widersprüchen. Sie rollte hastig das Manuscript zusammen; nicht einmal diese gemalten Augen durften das Geschriebene sehen.
„Mainau wird Dir Deinen Gelehrtenkram schon austreiben!“ hatte die Gräfin Trachenberg gesagt, und heute Abend bei Tafel hatte er in Folge einer lebhaften Debatte über die Frauenemancipation mit dem ausgesprochensten Abscheu in allen Geberden geäußert, er wisse nicht, welche Frau er mehr verurtheilen solle, diejenige, die aus Eitelkeit und Vergnügungssucht eine schlechte Mutter sei, oder den Blaustrumpf, der seine Kinder aus dem Zimmer jage, um Verse oder gelehrte Aufsätze machen zu können – ein Tintenklecks an einer Frauenhand sei ihm widerwärtiger als ein häßliches Mal.
Sie trat an den Schreibtisch, um alle Zeugen ihrer bisherigen geistigen Thätigkeit hineinzuflüchten – er war von Rosenholz, das zierlichste Gebild, das je aus kunstreicher Hand hervorgegangen. Welchen Gedanken hatte wohl „die luftige, flatternde Seele“ hier nachgehangen? … Der Aufsatz des Tisches wurde beinahe erdrückt durch Nippesfiguren und Gruppen, die fast alle einer mehr oder minder frivolen, ja anstößigen Idee entsprungen waren – wie hatte sich das mit der strengen Frömmigkeit vertragen? … Liane zog mit Anstrengung ein Fach auf – es war bis an den Rand gefüllt mit Geldrollen – offenbar ihr stipulirtes Nadelgeld. Erschrocken stieß sie den Kasten wieder zurück und drehte den Schlüssel um – das Geld war begraben. Diese Entdeckung und die mit den unvermeidlichen Jasmindüften beschwerte Zimmerluft trieben sie nach der Glasthür des Nebensalons.
Hinter den zugezogenen Vorhängen hatte sie nicht bemerkt, daß draußen der Vollmond am Himmel stand. Sie fuhr zurück, so blendend, so fremdartig lag dieses Schönwerth inmitten felsenzackiger, zum Theil mit dem prächtigsten Hochwald bestandener Berge, die es von allen Seiten umstarrten wie dräuende, ein funkelndes Kleinod hütende Drachenzähne. … Sie trat hinaus unter ein Säulendach – welch ein Contrast zwischen der modernen innern Einrichtung der Gemächer und diesen altersgrauen mächtigen Säulenbündeln, die in strenger Schönheit aufstiegen und hoch droben Rundbogen von tadelloser Reinheit scharf in den Mondhimmel schnitten! Nicht das leiseste Wehen des Nachtwindes strich vorüber, und doch mußte in der höheren Luftregion Bewegung sein – nervenberührend wie die geisterhafte Stimme, die im Glase schläft, zitterte manchmal ein vereinzelter Tonhauch von den Windharfen herüber.
In diese feierliche Nachtstille hinein klangen plötzlich fernhereilende Menschentritte, förmlich erschreckend – die junge Frau trat in den Schatten der Pfeiler, während eine Kindergestalt laufend um die nördliche Hausecke kam; es war Leo. Seine kleinen nackten Füße steckten in Schlafschuhen; das in sichtlicher Eile übergeworfene grüne Sammethöschen hielt er mit beiden Händen, und das spitzenbesetzte Nachthemd fiel von den Schultern offen zurück und ließ das Mondlicht über die kräftige, glänzend weiße nackte Büste des Kindes hinspielen. … Der Kleine sah sich scheu um und lief spornstreichs auf das Drahtgitter zu. Mit einigen raschen lautlosen Schritten stand die junge Frau hinter ihm.
„Was thust Du hier, Leo?“ fragte sie und hielt ihn fest.
Er stieß einen Schreckenslaut aus. „Ach, die neue Mama!“ stammelte er gleich darauf sichtlich erleichtert. „Wirst Du’s dem Großpapa sagen?“
„Wenn Du ein Unrecht vorhast, allerdings –“
„Nein, Mama,“ versicherte er in seinem trotzig festen Tone und schüttelte die verwirrten Locken von der Stirn – er hatte offenbar schon im Bette gelegen. „Ich will Gabriel nur Chocoladenfiguren bringen – ich habe sie nicht genommen, ganz gewiß nicht, Mama! – Herr von Rüdiger hat sie mir bei Tische auf den Teller gelegt. Ich spare sie mir immer ab für Gabriel; aber früh sind sie nie mehr in meiner Tasche – Fräulein Berger ißt sie zu gern; sie kaut den ganzen Tag – sie maust, das abscheuliche Ding.“
„Wo ist denn dieses Fräulein Berger?“ fragte Liane – die Erzieherin war ihr nach der Trauung vorgestellt worden und hatte ihr einen entschieden ungünstigen Eindruck gemacht.
„Pfänderspiele spielt sie im Schulzimmer, und ich darf nicht hinein, sie hat zugeschlossen,“ murrte er. „Sie machen einen gräulichen Spectakel, und Punsch trinken sie auch – ich riech’s durch das Schlüsselloch. … Ich habe Gabriel heute gar nicht mehr sehen dürfen, weil ich zu ungezogen gewesen bin – aber ‚gute Nacht‘ werde ich ihm doch wohl sagen dürfen,“ stieß er trotzig heraus. „Darf ich, Mama? Ja? darf ich?“
Er bat mit all seinem Ungestüme, aber auch mit dem köstlichen Tone des Vertrauens, der unbestrittenen Zusammengehörigkeit von Mutter und Kind – ein freudiges Aufschrecken durchzuckte die junge Frau – dieser Knabe mit dem ausgeprägtesten Trotze in den Zügen, er unterwarf sich ihrer mütterlichen Autorität freiwillig in den ersten Stunden. Mild wie das niederfließende Mondlicht fiel ein wehmüthiges Glücksgefühl in ihre verdunkelte Seele; sie umschlang den Kleinen mit beiden Armen und küßte ihn zärtlich.
„Gieb mir das Confect, Leo! Ich will es Gabriel bringen. Du mußt jetzt in Dein Bett zurück,“ sagte sie und hielt ihm ihre Hand hin. „Ich werde ihm auch ‚gute Nacht‘ von Dir sagen; aber wo finde ich ihn denn?“
Willig kehrte er seine Taschen um und schüttete den ganzen Inhalt in die schönen, schlanken Hände der Mutter. Sie lächelte – diesen Chocoladenreichthum hätte der Großpapa allerdings nicht sehen dürfen – ihrem feinen Ohre war sein halb verbissenes Schelten über das theure Fruchteis heute Nachmittag nicht entgangen.
„Du mußt da drin am Teiche vorübergehen,“ versetzte der Kleine, während er auskramte; er zeigte nach dem Drahtgitter. „In das Haus darfst Du aber nicht – der Großpapa hat es streng verboten, und Fräulein Berger sagt, es wäre eine Hexe drin mit langen Zähnen. Dummes Zeug – ich fürchte mich nicht. Beißt sie doch Gabriel auch nicht. …“
[56] Die junge Mutter zog ihm das Nachthemd über der Brust zusammen, nahm seine kleine Rechte in ihre Hand und führte ihn in das Schloß zurück. … Eine Ampel brannte am Plafond und goß durch ihr grünes geschliffenes Glas einen magischen Schein über das Schlafzimmer des Kindes. Ein Königssohn konnte nicht üppiger und prächtiger gebettet sein als dieser Sproß der Mainaus; aber was halfen diese seidenrauschenden Bettbehänge, diese mit Spitzen und Stickereien besetzten Kissen und Decken dem armen reichen Kinde! Sein Schlaf war doch kein behüteter, und wenn auch der Bronzeengel droben die Seidenfalten gerafft in seinen Händen hielt und die goldglänzenden Flügel darüber hinbreitete. … Vom Schulzimmer her klang gedämpft ausgelassenes Gelächter und das Zusammenklingen der Gläser. Liane meinte, der Geist der geschiedenen Mutter müsse zürnend durch diese Räume flattern und für die Pflichtvergessene dort drüben ein Mene tekel an die Wand schreiben.
„Mama,“ sagte der Kleine und ließ in scheuer Raschheit sein Händchen liebkosend über ihre Wange hingleiten, während sie ihn sorgsam zudeckte, „es ist doch zu hübsch, wenn Du da bist! Kommst Du nun immer? Die erste Mama ist nie an mein Bett gekommen. … Gelt, und Du gehst ganz gewiß noch zu Gabriel und bringst ihm die Chocolade?“
Sie versprach ihm Alles. Er legte befriedigt sein Köpfchen auf dem Kissen zurecht, und nach fünf Minuten verriethen seine Athemzüge, daß er fest schlafe. Die junge Frau verließ geräuschlos das Zimmer und schloß draußen die Thür ab, durch welche der Kleine entwischt war.
Es schlug eben halb Elf, als sie das Parterre wieder betrat, das sich vor ihren Appartements hinzog. Graudurchsichtig, als schlüpfe der Saum der wandelnden Frau Sage durch die Gebüschlücken, lief drüben das Drahtgitter hin. Der Prügelknabe, wie ihn Herr von Rüdiger heute genannt, der bleiche, schweigsame Sündenbock, schlief jedenfalls schon längst – er hatte auch weniger Theil an dem geheimnißvollen Reize, der die junge Frau unwiderstehlich nach jenem abgeschlossenen Reviere zog. Ihr Auge überflog, rückwärts gewendet, forschend das Schloß; in altersgrauer Pracht, mit seinen wuchtigen Steinbogen, seinen Kleeblättern in den gemeißelten spitzenklaren Steinrosetten der Bogenfenster und seinem Schutzheiligen dort auf dem Mauervorsprunge, stieg es auch hier wie eine Abtei in die weiße Mondlichtfluth hinein. Nirgends blinkte ein Licht hinter dem Glase – nur aus dem Salon drunten quoll der Lampenschein grellgelb in das Dunkel des Säulenganges. … War es doch, als lehne dort an einem der Pfeiler ein Mensch und starre lauschend nach der halboffenen Glasthür – Täuschung! Nicht ein Sandkorn bewegte sich unter den Füßen der vermeintlichen Gestalt; nicht die leiseste Bewegung zeigte, daß Athem in ihr sei – es war der Pfeilerschatten.
Nun wandelte die junge Frau unter beschleunigtem Herzklopfen drinnen auf dem weißen Sande eines schmalen Weges; die Gitterthür war hinter ihr zugefallen. Noch beschatteten die letzten Zweige der traulich herüberreichenden Wachholder- und Nußbüsche ihr Haupt; aber dort aus dem Rasenspiegel hob sich fremd der gewaltige Schaft der indischen Banane, und der schräg hereinfallende Mondschein streckte den Schatten der imposanten Blattform riesenhaft über die Grasfläche hin. Dann lief der Weg durch dunkeln Busch; zahllose Feuerfunken stoben umher – die kleine Käferleuchte kam in dem Dunkel zur Geltung. Durch das Geäst droben fuhr es hastig und rauschend; ein abgerissener Zweig flog auf die Schulter der jungen Frau; hier und da griff ein kleiner Arm nach ihr, und glänzende, kluge Affenaugen bogen sich aufgeregt neugierig tief zu ihrem Gesicht herab. Unwillkürlich fuhr ihre Hand nach der Stirn, als wolle sie einen beklemmenden Traum wegwischen – züngelte nicht auch die bunte Cobra Capella aus dem duftenden Laube, und brach nicht die plumpe Masse des Elephanten herein, das Gebüsch und sie selbst unter den wuchtigen Füßen zerstampfend? … Sie zögerte; aber nur ein aufgescheuchtes Perlhuhn lief über den Weg, und nach einigen weiteren Schritten traten Busch und Bäume auseinander, und die Wasserfluth des Teiches lag vor ihr, so still und glatt und unbeweglich, wie ein ungeheures, auf den Rasengrund hingeworfenes Silberstück; der Hindu-Tempel aber trug seine goldstrahlenden Kuppeln fest und zuversichtlich in den Nachthimmel, als führe seine Marmortreppe direct in die heiligen Fluthen des Ganges, und nicht in das Deichwasser eines deutschen Thales.
Tiefathmend und durchrieselt von jenen Schauern des Bangens, welche uns in fremder Einsamkeit so leicht überkommen und die uns gleichwohl unwiderstehlich vorwärts treiben, umschritt Liane langsam den Teich. Sie ahnte aber nicht, daß ihre dahinschwebende Gestalt im weißnachfließenden Gewande, mit dem schöngetragenen Haupte, über dessen Stirn das schwellende Haar flimmerte, wie ein Diadem von tiefdunklem Golde, diese Landschaft voll fremdartiger Gebilde zauberhaft belebte – sie ahnte auch nicht, daß sich vorhin beim Knarren der Gitterthür der vermeintliche Schatten vom Pfeiler gelöst hatte und ihr geräuschlos, aber so consequent folgte, als gehe von den über den Rücken hinabsinkenden im Mondlichte fast phosphorescirenden Flechten ein magnetischer Strom aus, dem er folgen müsse.
Die weißen Wände eines niedriges Hauses tauchten auf. Ein breiter Sandweg umlief das kleine Mauerviereck, und doch lag es wie eingebettet in Rosengebüsch, oder vielmehr in Rosenblüthen – zu Tausenden dufteten sie auf hochstämmigen Kronen und niedrigem Busche, selbst drunten in den Weg herein rankten sich noch einzelne Zweige der Theerose – schwer, wie mondscheintrunken lagen die bleichen Kelche auf dem harten Gerölle.
Man hätte meinen können, jeder stärkere Windhauch müsse das wunderliche Haus zerblasen, so leicht und zierlich stand es da mit seinen Hohlziegeln von Rohr auf dem Dache und den Pfählen aus Bambus, welche die Veranda trugen. Es hatte große Fenster, aber geschnitzte Holzgitter lagen vor dem Glase. Zögernd trat die junge Frau auf die niedrige Verandastufe; der Fußboden war belegt mit Matten von Palmried, so kühl, glatt und glänzend, wie sie nur der heiße Fuß des Indiers ersehnen mag! Hinter dem Holzgitter brannte Licht; es entströmte einer an der Zimmerdecke hängenden Lampe; der niedergelassene Fensterbehang von steifem, buntem Flechtwerke staute sich seitwärts, da wo das verschlungene Gitterwerk einen herzförmigen Ausschnitt bildete – durch diese Oeffnung konnte Liane einen größeren Theil des Inneren überblicken.
An der Hinterwand des Zimmers stand eine Bettstelle von Rohr; auf schneeweißen Decken lag eine Gestalt hingestreckt – war dieses außerordentlich zarte Geschöpf, das eben sein Gesicht in das Kissen einwühlte, Weib oder Kind? Weiche, weiße Mousselinfalten flossen um den hingeschmiegten Leib bis auf die Füße, die nackt, wunderklein, aber auch blutlos wächsern dort ruhten. Ein bis an die Schulter entblößter, schlanker und magerer Arm, wie er kaum dem unentwickelten dreizehnjährigen Mädchen eigen, legte sich in eigenthümlicher Schwere die Hüfte entlang – breite funkelnde Goldreifen umschlossen das Handgelenk und den Oberarm; sie machten den peinlichen Eindruck, als müßten sie dieses weiße, ätherzarte Fleisch wundreiben. … Die große, robuste Frau aber, die, einen Silberlöffel in der Hand, neben dem Bett stand und ihre rauhe Stimme zu sanftbittenden Tönen zwang, kannte Liane bereits. Sie war ihr heute nach der Trauung als Frau Löhn, die Beschließerin, vorgestellt worden.
Der Löffel, den die Frau vorsichtig von ihrer breiten, glänzend sauberen Schürze fernhielt, war offenbar mit Medicin gefüllt und ein Gegenstand des Abscheues für das auf dem Bett liegende Wesen. Alles Zureden, das sanfte Streicheln mit der kräftigen freien Rechten über das tiefeingewühlte Köpfchen verfing nicht.
„Ich kann Dir nicht helfen, Gabriel,“ sagte Frau Löhn endlich nach der Zimmerseite hin, welche die junge Frau nicht übersehen konnte, „Du mußt ihr den Kopf halten. … Sie muß schlafen, Kind, um jeden Preis schlafen.“
Der bleiche Knabe, Leo’s Sündenbock, trat in den Lichtkreis der Hängelampe. Behutsam versuchte er, seine Hand zwischen das Kissen und das Gesicht der Dortliegenden zu schieben. Unter dieser Berührung fuhr der Kopf jäh, wie entsetzt, empor und zeigte ein schmales, verzehrtes, und dennoch schönes Frauenantlitz – Liane erschrak bis in’s Herz vor dem sprechenden Blick aus übergroßen Augen, der so zärtlich vorwurfsvoll und in Todesangst stehend zu dem Knaben aufsah. Er wich zurück und ließ
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die Hände sinken. „Nein, nein, ich thue Dir nichts!“ sagte er tröstend, und seine sanfte Stimme brach in Jammer und Mitleid. „Es geht nicht, Frau Löhn – ich thue ihr ja weh! … Ich will sie lieber einsingen.“
„Da kannst Du bis morgen früh singen, Kind,“ versetzte die Frau. „Wenn es so schlimm ist, wie heute, da verfängt das nicht – Du weißt’s ja.“ Sie zuckte rathlos die Achseln, hatte aber nicht den Muth, weiter in Gabriel zu dringen. Was für ein weiches Herz schlug in der vierschrötigen Frauengestalt mit den groben scharfkantigen Gesichtszügen, die heute so barsch und unzugänglich ernsthaft der neuen Herrin bei der Vorstellung gegenüber gestanden hatte!
Liane drückte die Thür auf, die zwischen den zwei Fenstern in das Zimmer führte, und trat ein. Die Beschließerin stieß einen Schreckensruf aus und hätte fast den Inhalt des Löffels verschüttet.
„Halten Sie die Kranke!“ sagte die junge Frau; „ich werde ihr die Medicin geben.“
Der plötzliche Eintritt der weißen, schlanken Gestalt mit der vornehm gelassenen Geberde mochte förmlich lähmend auf die kranke Frau wirken – sie rührte sich nicht und sah nur groß und starr in das liebliche, junge Gesicht, das sich über sie beugte – ohne jeglichen Widerstand ließ sie sich das Schlafmittel einflößen.
„Sieh, nun ist’s geschehen, mein Junge,“ sagte Liane und legte den Löffel auf den Tisch. „Es ist ihr kein Schmerz zugefügt worden, und sie wird schlafen.“ – Sie strich sanft über Gabriel’s dunklen Scheitel. – „Du hast sie wohl sehr lieb?“
„Sie ist meine Mutter,“ versetzte der Knabe in überströmender Zärtlichkeit.
„Es sind arme Leute, gnädige Frau, arm und gering,“ fiel die Beschließerin mit harter, trockener Stimme ein. Nicht eine Biegung in diesen Tönen, nicht der leiseste Zug des ernsthaften Gesichts verrieth die Weichherzigkeit und Theilnahme, die vorhin ihr ganzes Wesen charakterisirt hatten.
[58] „Arm?“ wiederholte die junge Frau und deutete unwillkürlich nach den blitzenden Armreifen und den Ketten von edlem Metall, die über den Busen der Kranken fielen. Bis zu diesem Moment hatten die Augen der letzteren unverwandt an Liane gehangen; jetzt aber malte sich Angst und Unruhe in ihren Zügen – sie klammerte die zarten Finger der Linken krampfhaft um einen Gegenstand, der an einer der Ketten hing – allem Anschein nach ein Flacon von Silber.
„Na, na, nur ruhig – die gnädige Frau nimmt’s nicht!“ beschwichtigte Frau Löhn rauh und gebieterisch. „Arm sind die Leute, sage ich,“ fuhr sie gegen Liane fort. „Das bischen Zeug da kann man doch nicht essen“ – sie zeigte nach dem Geschmeide – „und eigentlich gehört’s der Frau auch gar nicht; der alte gnädige Herr Hofmarschall könnte ihr auch den Firlefanz noch wegnehmen, wenn er wollte – sie hat auf der Gotteswelt nichts, gar nichts, und daß sie mit dem Jungen ihr täglich Brod im Hause gereicht kriegt und in der Bude da wohnen darf, das ist die reine Gnade von der Herrschaft, die reine Gnade.“
Diese Erklärung, so mitleidslos und in so geflissentlich scharfen und grellen Umrissen gegeben, fuhr der jungen Frau wie ein Messer durch das Herz, um so mehr, als sich Gabriel über seine Mutter bog und sie während der harten Rede streichelte, als sei sie das schutzbedürftige Kind, dem man alles zugefügte Weh durch Liebkosungen vergessen machen könne. … Dieser junge, schöne Knabenkopf mit der müden seitlichen Neigung und dem schwermüthigen Zug um den Mund trug das Gepräge der Duldung und sclavischen Fügsamkeit, das ihm jedenfalls eine jahrelange Mißhandlung aufgedrückt hatte. Wohl hätte Liane fragen mögen: „Wer ist diese seltsame Fremde, und wie kommt sie hierher mit ihrem Kinde, das unter einem so furchtbaren Drucke aufwachsen muß? “ Allein die Furcht vor weiteren schonungslosen Mittheilungen der Beschließerin schloß ihr den Mund. Sie griff in die Tasche und legte die Chocoladenfiguren auf den Tisch. „Das schickt Dir Leo,“ sagte sie zu Gabriel, „und ich bringe Dir auch eine ‚gute Nacht‘ von ihm.“
„Er ist gut – und ich habe ihn lieb,“ versetzte der Knabe mit einem melancholischen Lächeln.
„Recht, mein Kind – aber es darf nicht mehr geschehen, daß Du für seine Unarten gestraft wirst.“ Sie legte den feinen Zeigefinger unter sein Kinn, hob den gesenkten Kopf und sah liebevoll in seine unschuldigen Augen. „Hast Du nie den Muth, zu sprechen, wenn man Dir Unrecht thut?“ fragte sie mit sanftem Ernste.
Ueber das häßliche Gesicht der Beschließerin schoß das Roth der Ueberraschung – sie kämpfte einen Moment sichtlich mit einer tiefen Rührung, aber auch nur einen Moment, dann hing ihr Auge wieder lauernd an der neuen Herrin, und sie sagte mit doppelt scharfer Stimme:
„Gnädige Frau, das schadet dem Gabriel gar nicht, und wenn sie ihm Unrecht thun drüben im Schlosse, so mag er sich bedanken und die Hand dafür küssen. … Er soll ein Mönch werden; er soll in’s Kloster – da heißt’s erst recht schweigen und nicht mucksen, und wenn die Seele gleich aus dem Leibe fahren möchte vor Zorn und Aerger. … Den kleinen Herrn, den Leo, kann er gar nicht lieb genug haben – der setzt es immer wieder durch beim alten Herrn Baron, daß er noch dableiben darf, sonst wär’ er schon längst nicht mehr bei seiner Mutter.“
Die Augen des Knaben füllten sich mit Thränen.
„Du sollst ein Mönch werden? Man will Dich zwingen, Gabriel?“ fragte die junge Frau rasch und dringend.
„Sage die Wahrheit, mein Sohn – wer zwingt Dich?“ ermahnte hinter ihr die Stimme des Hofpredigers, der heute die Trauung vollzogen. Er stand in der offenen Verandathür – schwarz hob sich seine schlanke und doch nervige Gestalt vom mondhellen Rosengebüsche draußen. Liane dachte bei diesen Umrissen überrascht an den vermeintlichen Pfeilerschatten – der Mann hatte sie belauscht und war ihr gefolgt.
Weil bei Anbahnung der Jagd das Gefühl des Triumphes, die erhoffte Beute endlich errungen zu haben, in der Regel von dem Reiz freudiger Aufregung begleitet ist, deshalb darf der Laie nicht meinen, der Jäger finde solchen Hochgenuß etwa im Vernichten eines frischen Lebens. Nein! Vielmehr ist er nur eine Wirkung des geschmeichelten Selbstbewußtseins seiner Ueberlegenheit über das Thier, bekunde diese sich nun in mannhafter Bewältigung eines mit besonderer Kraft und hohem Muthe ausgerüsteten Individuums oder in den Eigenschaften der Klugheit, Vorsicht und Raschheit, mit welchen der Jäger dem ihm hierin stets ebenbürtig ausgestatteten Wilde den Rang abzulaufen verstand. Trotz dieses Gefühls geschmeichelten Selbstbewußtseins kommen aber doch Momente vor, wo selbst der leidenschaftlichste Jagdfreund bittere Reue über einen gethanen siegreichen Schuß empfindet. Kann ich doch aus eigener Erfahrung einen recht schlagenden Beweis für einen solchen Fall anführen, der in mir heute noch – ich schäme mich nicht, es einzugestehen – das nagende Gefühl nur allzu gerechten Unmuthes über mich selber erregt, sobald ich nur daran denke. Nur wie eine Art Sühne betrachte ich es daher, darüber des Weiteren mich auszusprechen.
Ich hatte von dem mir befreundeten, nun längst schon auf himmlischen Etat gesetzten Oberförster C. Schußerlaubniß, ja sogar -Befehl auf ein Spießböckchen oder auch Schmalreh – eines oder das andere gleich erwünscht – erhalten, weil gerade solch ein zartes Stücklein Wild für die Tafel einer hochstehenden kränkelnden Dame dringlichst bestellt worden war. Damit diese so ganz ausdrücklich begehrte Lieferung auch sicher beschafft werden möge, begleitete mich des Försters Sohn, mir von Kindheit her ein guter Camerad, wobei wir das Uebereinkommen trafen: daß Jeder für sich einen bestimmten Theil im Reviere abpürschen und, höre dabei Einer den Andern schießen, jener seine Kugel bewahren und diesem schleunigst entgegen eilen sollte.
So verfolgten wir denn bald von einem sich gabelnden Waldsteig aus unsere verschiedenen Pfade, um die auf den vorgenommenen Strecken liegenden alten Graswege, lichten Stangenhölzer, kleinen Blößen und weiten Schläge nach dem Begehrten abzusuchen. Auf einem der letzteren, wo ich noch jedes Mal Rehe angetroffen, ich mochte nun jagend oder nur beobachtend darnach gegangen sein, gewahrte ich denn auch heute alsbald einen ganzen Sprung Rehe. Doch selbst von der Holzwand aus, wohin ich mich überhaupt nothwendig erst noch anzuschleichen hatte, um das ganze Gehau übersehen zu können, standen sie noch viel zu weit entfernt, um beschossen werden zu können.
Als ich daher durch den vor mir gelegenen hohen Bestand, wo ich mich immer von Baum zu Baum decken konnte, bis an den hinter Anflug versteckten Rand vorgedrungen war, lugte ich zuvörderst nach rechts und links aus, die nähere Umgebung zu mustern, ob in dieser nicht etwa schon Schußgerechtes stünde. Und richtig! Gar nicht weit von meiner gut gedeckten Stellung, wohin ich übrigens zuletzt auf dem Bauche, die Büchse dabei immer vor mir her schiebend, durch dichtes Heidelbeergestrüpp lautlos gekrochen war, erblickte ich einen einzelnen Capitalbock. Wohl war es mir eine hohe Freude, dem Stattlichen so völlig unbemerkt angekommen zu sein und ihn nun in Muße beobachten zu können, aber auch wiederum eine harte Pein, gemessensten Schußbefehls halber nicht darauf schießen zu dürfen. Gleich einer schweren Last fiel mir’s daher vom Herzen, als der ganz vertraulich Aeßende nun langsam weiter zog und sich endlich meinen Blicken entzog; war ich dadurch doch der Verführung enthoben, trotz des Verbotes auf den gar so prächtigen Burschen „den Finger krumm zu machen“.
Während ich nach dieser Prüfung wieder leichter aufathmete und nun erst den inmitten des Gehaues herumnistelnden und zuweilen scherzenden Rehen meine Aufmerksamkeit zuwandte, [59] regte sich plötzlich wieder seitwärts, links von mir, etwas, und wahrlich – da zog ein altes Reh mit einem Schmalreh heraus! Waren beide auch jetzt noch zu weit entfernt, als daß ich sofort auf sie hätte schießen können, so nahmen sie doch alsbald ihre Richtung, wenn auch unter mancherlei Aufenthalt, weil bald hier bald dort nach süßen Gräslein suchend, schräg auf mich zu. So kam denn das Pärchen näher und näher, zuweilen aber doch recht peinlich lange hinter Hügeln blühender Haide oder anderer Deckung verschwindend, wo die Traulichen dann wohl ruhig äßen mochten.
Unter solcher Verzögerung war aber auch die Sonne, welche im Scheiden noch die pinienartigen Wipfel der übergehaltenen Kiefern mit purpurner Pracht durchglühte, hinter einer mir gegenüberliegenden Waldwand niedergesunken, und heimliche Dämmerung breitete sich nun über die ganze weite, stille Haide. Mit Ungeduld wartete ich daher auf das endliche, hoffentlich diesmal recht nahe Wiedererscheinen meines ersehnten Zieles, denn nicht nur daß mir bei längerem Ausbleiben desselben um’s genügende Büchsenlicht bangte, sondern mit Aufregung lauschte ich dabei auch des Schusses meines Mitpürschenden, welcher jeden Augenblick erschallen konnte, wonach – der getroffenen Bestimmung zufolge – ich ja auf den meinigen verzichten mußte. Endlich trat das Mutterreh wieder und zwar hinter dichtem Fichtenanflug hervor. Es stand in bester Schußweite. Noch fehlte aber sein Schützling, und diesem ja galt heute einzig und allein die Jagd. Da – mit graziösem Sprunge – war er plötzlich an der Seite seiner Mutter. Nun aber begann eine wahre Marter für mich, denn wohl hatte ich endlich mein langersehntes Stück schußweit vor mir, aber bald stand dasselbe dicht vor der Alten, bald deckte diese wieder den gefährdeten Sprößling, und ward dieser wirklich einmal frei, dann blieb er doch jedes Mal spitz nach vorn oder nach hinten gewandt. Kurzum, es schien, als sollte es mir heute nimmer glücken, und diese etwa zehn Minuten, die mich eine Ewigkeit dünkten, brachten mich fast zum Verzweifeln. Solche Stimmung aber ließ mich denn durchaus nicht zu sentimentalen Regungen kommen, die sonst wohl, im ruhigen Anblick der gar so lieben Geschöpfe, dem schmucken Geischen das Leben und dem Altreh seinen Liebling gerettet haben würden. Vielmehr erfaßte mich ob der obwaltenden Hindernisse ein so leidenschaftliches Gefühl, daß ich nur mit verstärktem Begehr nach der ausersehenen Beute trachtete. Darum, als endlich doch einmal das schmächtige Backfischchen nur einen Fuß breit hinter der Rike zurückblieb, benutzte ich rasch diesen Augenblick und, scharfes Korn nehmend, berührte ich den Stecher.
Dröhnend hallte der scharfe Büchsenknall durch den in abendlicher Ruhe grabesstill daliegenden Forst und brach sich in mehrfachem Echo an der gegenüber liegenden hohen Holzwand, das lichtblaue Pulverwölkchen aber strich zurück, mir über die Achsel – und niedergeschmettert lag draußen auf moosigem Grunde das zum Tode getroffene niedliche Thier. Aber nicht verlassen war es – die Mutter stand mit den zierlichen, schreckhaft gespreizten Läuften, wie in den Boden gewurzelt, vor dem todeswunden Liebling und starrte diesen, ihren feingeformten Kopf und Hals darüber hinneigend, mit schwerberedtem Auge an. Und eine bange Weile, während das Schmalreh vergeblich sich aufzuraffen trachtete, fesselte treue Mutterliebe das alte Reh regungslos an die verhängnißvolle Stelle; ja so lange, bis ich wieder geladen hatte und nun rasch auf mein Opfer einsprang, um es, das immer noch lebende, von seiner Qual durch einen Nickfang zu erlösen. Nun erst verließ das geängstete Mutterwild, aber immer noch zögernd, die Unglücksstätte und folgte dem Wechsel der nach dem Schuß flüchtig Gewordenen, welche draußen auf dem Gehau gestanden, um wie diese drüben im nun tief düster gewordenen Walde sich dem grausamen menschlichen Auge zu entziehen.
Von Mitleid gequält, beeilte ich mich möglichst, dem noch immer nicht Verendeten den Gnadenstoß zu geben, aber so sicher ich solchen zu vollstrecken meinte – sterben wollte das Aermste doch nicht daran. Und so oft ich den Fang noch wiederholte – zum Tode traf er heute nicht. Noch einmal aber darauf zu schießen, unterließ ich, um bei meinem Protector, dem Oberförster – so ist der Mensch! – meiner Waidmannsehre nichts zu vergeben. Dazu war auf den Schuß jetzt auch mein Freund herbeigeeilt, und willig überließ ich nun diesem, das leidende Thier zu tödten. Mitleidlos und darum völlig ruhig versuchte es auch Dieser – doch mit nicht besserm Erfolg als ich. Weinen hätte ich mögen, der ich mir in diesem Augenblicke wahrlich wie ein Mörder vorkam, und so recht ward mir dabei die Entstehung des Volksaberglaubens klar, der da meint: dasjenige Thier, welches man bei seinem Todesnahen bedauere, könne nicht ersterben. Endlich, als selbst die wiederholte Anwendung des Nickfängers von der erprobten Hand meines Waidgenossen nicht zum Ziele führte, knüpfte dieser die Fangleine vom Hirschfängerkoppel los, und eine Schlinge daran knüpfend – erwürgte der harte Jägersmann gleich einem Henker das sanftäugige, jungfräuliche Wesen damit, dabei in die Worte ausbrechend: „In’s Lazareth können wir dich doch nicht schaffen.“
Ich aber nahm mir vor, auf Jungwild nie wieder zu schießen, und obwohl noch manches Mal die Aufforderung zum Abschuß auf Schmalrehe und Wildskälbchen an mich erging, da solche Leckerbissen gar oft in die feinen Küchen verlangt werden – ich habe mir mein Wort gehalten.
Gustav zu Putlitz hat ein hübsches Märchen erdacht, in welchem sich der Wald erzählt, wie es vordem auf der Erde hergegangen; so harmlos wie in jener Plauderei dürfte es, wenn die Waldmenschen zu erzählen anfangen, nicht abgehen. Ich fürchte, wir werden schreckliche Dinge zu hören bekommen, und will deshalb die weichgeschaffenen Seelen, und Solche, die etwas auf ihre Abstammung halten, im Voraus gewarnt haben. Die Naturspiele und sogenannten Monstra sind heutzutage nicht mehr, wie vor grauen Zeiten, in denen man sie als Drohzeichen des erzürnten Himmels betrachtete, der Gegenstand eines abergläubischen Schreckens, wenn auch, wie wir kürzlich in einer Zeitung lasen, hier und da ein in der Cultur zurückgebliebener Pastor sie wohl heute noch als Strafgerichte und Bußaufforderungen zu betrachten beliebt. Für den Laien ein Gegenstand neugierigen Staunens, können sie dem Forscher oft wichtigere Aufschlüsse über den Verlauf des Bildungsprocesses geben, als selbst die regelmäßig entwickelten Gestalten. Eine phänomenale Erscheinung dieser Art, die sogenannten russischen Waldmenschen Andrian Jeftichew, dessen Portrait wir heute bringen, und sein dreijähriger Sohn Fedor, haben an allen Orten, wo sie sich bisher öffentlich zur Schau stellten, nämlich in Petersburg, Berlin und Paris, an welchem letzteren Orte sie bis vor Kurzem weilten, das höchste Interesse, namentlich bei Aerzten und Naturforschern, hervorgerufen, da sie ganz und gar nichts mit den gewöhnlichen Fällen übermäßigen Behaartseins, z. B. der Frauen, die sich eines Bartes erfreuen, zu thun haben.
Die biographische Nachrichten aus dem Munde des „Directors“ der beiden Waldmenschen sind dürftig genug. Der jetzt fünfundfünfzigjährige Andrian soll von regelmäßig gebildeten Eltern, die im russischen Gouvernement Kostroma wohnhaft waren, abstammen. Da er zwei vollkommen regelmäßig gebildete Geschwister besaß, wurde seine abnorme Erscheinung im Volksmunde natürlicherweise von einem sogenannten Versehen der Mutter abgeleitet. Sie soll sich bei einem unglücklichen Falle ihres Mannes, der ihm alle Oberzähne kostete, und vor einem Pudel, der sie beißen wollte, dermaßen erschreckt haben, daß das Kind einen Pudelkopf und keine Oberzähne bekam. So weit ist die Sache also höchst einfach und natürlich. Von den Bewohnern seines Dorfes als Pudelhund behandelt, zog er sich in eine einsame Waldhöhle zurück und ertränkte seinen Weltschmerz in Branntwein. Durch das Versprechen, von diesem edeln Getränke so viel zu erhalten, wie er vertragen könne, ist er aus seiner Höhle hervorgelockt worden, und wird, dem Vernehmen nach, hauptsächlich mit Sauerkohl und Schnaps ernährt. Mit Ausnahme [60] der Lippen ist sein Gesicht vollständig mit langen, weichen, braun-schwärzlichen Haaren bedeckt; auch der übrige Körper ist stellenweise stark, obgleich nicht in demselben Grade, behaart. Der Kopf empfängt dadurch eine wirklich frappirende Aehnlichkeit mit dem eines schlichthaarigen Pudels oder Spitzes, ja, der Anblick würde noch wilder sein, da hier auch die Nase bis zur Spitze mit Haaren bedeckt ist, wenn nicht Augen und Mundbildung einen menschlichen Zug in ihre thierische Umrahmung zurückbrächten. Jedenfalls bleibt der Anblick für Jeden unvergeßlich. Das Merkwürdigste indessen ist, daß diese ungewöhnliche Behaarung mit einer unvollkommenen Gebißbildung vergesellschaftet ist. Andrian soll bis zu seinem siebenzehnten Jahre vollkommen zahnlos gewesen sein; seitdem hat er vier Schneidezähne im Unterkiefer erhalten, während der hartgaumige Oberkiefer bis auf einen linken Eckzahn gänzlich zahnlos geblieben ist.
Sein jetzt ungefähr dreijähriger Sohn Fedor scheint die meisten dieser Eigenthümlichkeiten geerbt zu haben. Sein hübsches kindliches Gesicht wird bereits durch zahlreiche Bäuschchen eines ungemein weichen, seidenglänzenden weißblonden Haares, welches über den Augen wohl Zolllänge erreicht hat, entstellt. Wie dem Vater, hängt auch ihm aus dem innern Ohre und den Nasenlöchern je ein Haarlöckchen hervor; das äußere Ohr ist wie bei einem Seidenhäschen lang behaart. Das Kind hat ebenfalls einen zahnlosen Oberkiefer, aber bereits vier Schneidezähne im Unterkiefer. Es scheint von einem ungemein munteren Temperamente zu sein und wendet sich auf den Armen des Wärters, der es bei den Vorstellungen durch den Zuschauerraum trägt, mit der Lebhaftigkeit eines Aeffchens hin und her, hastig nach den Zuckerdüten und Süßigkeiten greifend, welche ihm meist in reichlicher Menge geboten werden. Es küßt die Spender und stößt zuweilen einen hellen Freudenschrei aus, während der Vater, welcher nur Russisch versteht und spricht, bärbeißig hinterdrein schreitet und, wie man sagt, den Jungen um die Gunst des Publicums beneidet. Einigen Personen, die sich mit ihm in seiner Muttersprache unterhalten konnten, soll er sogar gesagt haben, es sei nicht sein Kind, man habe es ihm nur der Aehnlichkeit wegen beigegeben. Uebrigens wird er als ziemlich sanft und im Essen mäßig geschildert; er läßt seine Behaarung und seine Kiefer ohne eine Miene zu verziehen befühlen, obwohl er dabei von übermüthigen jungen Leuten zuweilen, wie ich selbst gesehen, derb an den Haaren gezogen wird.
Das Vorkommen solcher pudelköpfigen Familien scheint nicht so gar selten zu sein, wenn man die große Menge von Berichten überblickt, die von älteren Naturhistorikern und Reisenden über ähnliche Sehenswürdigkeiten gegeben wurden. Die Schriften der Alten sind voll von Erzählungen über europäische, indische und afrikanische Völkerschaften mit behaartem Gesicht und Körper, die sie Hundsköpfe oder gewöhnlicher Waldmenschen nennen. Es ist heute bei den meisten dieser, wie gesagt, sehr zahlreichen Berichte nicht mehr zu unterscheiden, in welchen Fällen etwa ähnliche Phänomene wie das beschriebene, in welchen Verwechselungen mit thierfellumhüllten Wilden, menschenähnlichen Affen, oder bloße Schiffersagen die Veranlassung zu diesen Sagen gegeben haben. Einige darunter lassen sich indessen ziemlich sicher auf entsprechende Abnormitäten zurückführen. Der gelehrte Dominicanermönch Vincentius von Beauvais erzählt, zu seiner Zeit (etwa 1260) habe sich ein Waldmensch am französischen Hofe aufgehalten, im Uebrigen gestaltet wie ein anderer Mensch, nur daß er einen Hundskopf und einen dicht behaarten Rücken gehabt habe. Aldrovandi, einer der Begründer der wissenschaftlichen Zoologie im sechszehnten Jahrhunderte, hat in seiner „Historia monstrorum“ Portraits und Bericht von einer von den canarischen Inseln stammenden Waldmenschenfamilie gegeben. Das Gesicht dieser Menschen war dicht behaart, ebenso der ganze Körper mit Ausnahme der Kehle, Brust, der Hände und Füße. Am stärksten behaart war auch hier der Rücken. Ueber die Beschaffenheit des Gebisses sagt er, oder wenigstens meine unmittelbare Quelle (Caspar Schott’s „Physica curiosa“) leider nichts. Im Jahre 1663 ließ sich wiederum eine Frau mit völlig behaartem Antlitze, Namens Barbara van Beck, in London öffentlich sehen.
Der für die Deutung dieser Abnormitäten neben den russischen Waldmenschen wichtigste Fall wurde indessen in neuerer Zeit bei einer siamesischen Familie beobachtet. John Crawford in seinem „Journal der englischen Gesandtschaft in Ava“[WS 2] erzählt, im Jahre 1829 am dortigen Hofe einen dreißigjährigen Mann gesehen zu haben, dessen Gesicht mit Ausnahme der Lippen, dafür aber bis in die Nasenlöcher und Ohrmuscheln hinein, dicht mit schlichtem silbergrauem Seidenhaare bedeckt war, welches an Wangen und Ohren acht Zoll, an Kinn und Nase etwa halb so lang war. Auch der übrige Körper war mit Ausnahme von Händen und Füßen mit dichtem Seidenhaare bedeckt, welches auf den Schultern eine Länge von fünf Zoll erreichte. Im Uebrigen war er von mittlerer Größe und zarter Körperconstitution; er besaß einen hellen Teint und braune Augen; das Merkwürdigste aber ist, daß dieser Mann, wie Andrian, keine Backzähne erhalten hatte, sondern nur je vier Schneidezähne im Ober- und Unterkiefer und einen Eckzahn im Unterkiefer. Alle diese Zähne waren überdem klein und erst im zwanzigsten Jahre hervorgetreten.
Der König hatte diesen Mann, welcher Schwe-Maon hieß und aus dem Canton Laos gebürtig war, im Alter von fünf Jahren von dem Cantonschef gesendet erhalten und, da er sich für diese Naturmerkwürdigkeit interessirte, den Werbungen des Waldmenschen um eine Frau Vorschub geleistet, um zu sehen, ob die Abnormität fortarten würde. Aus seiner Ehe entsprang ein Mädchen, Maphoon, welches, wie ehemals ihr Vater, mit innen und außen behaarten Ohren geboren wurde. Das Haar verbreitete sich wiederum über den ganzen Körper. Als Capitain Yule im Jahre 1855 diesen Hof besuchte, fand er das Mädchen erwachsen und ihr Antlitz gänzlich behaart, während auch sie nur vier Schneidezähne oben und unten bekommen hatte. Der regierende König hatte Sorge getragen, ihr einen Mann zu verschaffen, was in Ansehung ihres sehr fremdartigen Aussehens nur unter Aufwand einer bedeutenden Summe Geldes gelungen war. Aus dieser Ehe ward ein Knabe geboren, der, obgleich er bei Yule’s Anwesenheit erst vierzehn Monate alt war, schon einen Kinn- und Schnurrbart besaß. Auch die Ohren waren wiederum behaart. Ob er Zähne bekommen hat, weiß ich nicht. Vater und Tochter hatten außerdem andere normal gebildete Kinder.
Man entnimmt leicht aus dem Mitgetheilten, daß dieses Zusammentreffen eines übermäßigen Haarwuchses mit abnormer Zahnbildung in zwei wohlconstatirten Fällen und jedesmal durch mehrere Generationen hindurch doch schwerlich ein bloßer Zufall sein kann, und die Vermuthung des nähern Zusammenhanges der beiden Abnormitäten wird ferner auch durch das Beispiel der wegen ihres behaarten Gesichtes und ihrer abschreckenden Häßlichkeit auf ihren Kunstreisen viel bewunderten spanischen Tänzerin Julia Pastrana bestätigt, welche nach dem Berichte des Zahnarztes Dr. Purland mit einer unregelmäßigen doppelten Zahnreihe im Ober- und Unterkiefer versehen war, wodurch das affenartige Hervorspringen der Kieferpartie ihres Gesichtes bedingt war. Aus allen diesen einen tiefern Zusammenhang mit der Entwickelungsgeschichte bekundenden Abweichungen haben mehrere Naturforscher den Schluß gezogen, daß man es in diesen Fällen mit einer Art von Rückschlagbildung zu thun haben möchte, die uns in mancher Beziehung in der jetzt so vielfach verhandelten Frage nach der Abstammung des Menschen als Wegweiser dienen könne. Selbst der in diesen Fragen so höchst vorsichtige Forscher Professor Virchow in Berlin, welcher der sogenannten Vogt’schen Affen- und Mikrocephalentheorie immer einen entschiedenen Widerstand geleistet hat, empfing bei seiner Untersuchung der russischen Waldmenschen „den Eindruck eines bis zu den Löwenaffen und Affenpintschern zurückgehenden Atavismus“ und gesteht, daß man sich durch den Zahnmangel noch weiter rückwärts bis zu den sogenannten Edentaten (Zahnarmen) leiten lassen könne.
Was es mit jenem Rückschlagen, welches man nach der oft beobachteten Thatsache, daß Kinder zuweilen weniger Aehnlichkeit mit ihrem Vater als mit ihrem Großvater oder einem ihrer Urgroßväter (atavus) zeigen, Atavismus genannt, für Bewandtniß hat, und welche Schlüsse man aus ihm für die Abstammungslehre ziehen kann, wollen wir sogleich sehen. Wenn der geneigte Leser den vortrefflichen Aufsatz über die Abstammungslehre von Professor Bock (Nr. 43 und 44 des vorigen Jahrganges) nachschlagen will, so findet er dort auf Seite 713 eine Erläuterung der Lehre von der Ontogenie, die, namentlich in neuerer Zeit von Häckel entwickelt, ganz abgesehen von allen erdgeschichtlichen Theorien uns von der[WS 3] Entwickelungsgeschichte jedes organischen Wesens, den sichtbaren Beweis liefert, daß dasselbe aus niederen Vorstufen herausgebildet sein muß. Erinnern wir hier kurz an [61] die Hauptstufen der Entwickelung, welche die Anlage des höchsten Naturwesens, welches wir kennen, durchlaufen muß, um die ihm eigene vollkommene Gestalt zu erlangen.
Zuerst erscheint sie als ein kaum mit bloßem Auge wahrnehmbares Bläschen, welches durch kein Mittel der heutigen Wissenschaft von dem Keime irgend eines anderen höheren oder niederen Thieres zu unterscheiden ist. Dieses Bläschen theilt sich in zwei, diese in vier Zellen und so fort, bis die Anlage eines Wirbelthieres deutlich wird. Ob es aber ein Fisch, ein Frosch, ein Vogel oder ein Säugethier werden will, ist auf dieser Stufe nicht zu unterscheiden; der erste Anschein würde für einen Fisch sprechen, denn es sind vier Kiemenbogen in der Nähe des Halses und die deutliche Anlage einer Schwimmblase vorhanden. Aber die Kiemen bilden sich zurück und aus der Schwimmblase wird eine Lunge; statt der Flossen haben sich vier deutliche fünffach getheilte Extremitäten gebildet. Da die Glieder derselben durch Schwimmhäute verbunden sind, so könnten wir, abgesehen von andern Gründen, auf dieser Stufe schließen, einen jungen Frosch oder doch wenigstens einen Sumpfvogel vor uns zu haben. Jetzt wird die Aehnlichkeit mit einem kleinen Hunde oder auch sonst einem Säugethier immer größer. Es ist ein deutliches Schwänzchen vorhanden, und der ganze Leib mit Ausnahme der Hand- und Fußflächen wird von einem dichten Wollhaar überzogen, welches an der Mundpartie am dichtesten zu stehen pflegt. Aber siehe da, auch Schwänzchen und Haar verschwinden wieder, und aus den niedern Anfängen hat sich endlich das anmaßende Wesen entwickelt, welches von alledem nichts wissen will.
Angesichts dieses Bildungsprocesses, der gewiß in der Schnelligkeit seines Vollzugs tausend Mal wunderbarer ist, als jener von den Ungläubigen als undenkbar bezeichnete Umwandlungsproceß, durch welchen sich nach Darwin im Laufe der Zeiten die niederen Naturwesen zu höheren entwickelt haben sollen, ist es unbegreiflich, daß es noch Menschen geben kann, welche der Descendenz-Theorie Unwahrscheinlichkeit vorwerfen.
Die Erscheinungsformen des Atavismus, wie sie namentlich in dem Zurückschlagen der Hausthiere und Culturpflanzen auf ihre Stammeltern in unzähligen Fällen beobachtet sind, erklären sich aus dem entwickelungsgeschichtlichen Grundgesetze – aber auch nur mit dessen Hülfe – ziemlich einfach. Wenn man sich vorstellt, daß jedes einzelne Pflanzen- oder Thierwesen sich wieder durch den Zustand seiner Ahnen selbst hindurcharbeiten, und gleichsam die ihm voraufgegangenen Formen in seiner eigenen Entwickelung kurz – das heißt nur den allgemeinsten Umrissen nach – wieder durchmachen muß, so ist es nicht schwer einzusehen, daß es gelegentlich wenigstens nach der einen oder anderen Richtung auf einer älteren Stufe stehen bleiben kann, wenn auch nur auf einer solchen, die seinem eigentlichen Entwickelungsziele, in welchem es selbstständig lebensfähig wird, nicht allzu fern steht. Man begreift aber auch weiter, daß man aus den hierbei zu Tage tretenden Erscheinungen Rückschlüsse auf die Vorfahren des betreffenden Wesens wird machen können. Von Pferden zum Beispiel, die sich durch nichts von ihres Gleichen unterscheiden, hat man an den verschiedensten Orten zebraartig gestreifte Fohlen fallen sehen; man schließt daraus, daß die Stammform unseres Pferdes ein zebraartig gestreiftes Fell gehabt haben möge. Beim Menschen hat man ähnliche Schlüsse aus entsprechenden Beobachtungen gezogen.
Zuweilen erscheinen bei einzelnen Individuen vorspringende Eckzähne mit Spuren eines Diastema daneben, das heißt jenes offenen Raumes zur Aufnahme des Eckzahnes der anderen Kinnlade beim Schließen des Mundes. Woran soll man dabei anders denken, als daß solche Waffen gewissen Ataven des Menschen eigen und nöthig waren, und nun gelegentlich beim Enkel entstellend wieder erscheinen, um ihn daran zu erinnern, woher er gekommen ist? Aus theoretischen Erwägungen, wie aus Beobachtungen kann man, wie schon angedeutet, erkennen, daß ein Rückschlagen nur auf die nächsten Vorfahren vorkommen kann und also bei dem Menschen mit seiner fortschreitenden Entwickelung immer seltener in das ausgesprochen thierische Bereich fallen wird.
Vielleicht sind die Waldmenschen früher häufiger aufgetreten, und wer möchte nach den ausgezeichneten Beispielen derselben, die man in unseren Tagen gesehen, die alten Berichte von gänzlich behaarten Völkerstämmen unbedingt in’s Fabelreich verweisen? Dem sei nun aber, wie ihm wolle, die allgemeine Behaarung der Waldmenschen lehrt eigentlich dem Embryologen nichts Neues, denn jeder Mann und sogar jede Frau ist in dieser Richtung einmal gründlich Waldmensch gewesen, aber im regelmäßigen Verlaufe bildet sich der allgemeine Pelz zu einem kaum sichtbaren Flaume zurück. Desto lehrreicher ist die Zahnarmuth der Waldmenschen. Sie scheint darauf hinzudeuten, daß der Mensch zu seinen nicht allzu entfernten Vorfahren einen sogenannten Edentaten gehabt, und die erst in neuester Zeit erkannte Verwandtschaft der Lemuren oder Halbaffen mit jener zahnarmen Thierclasse wirft einiges Licht auf die Richtung, in welcher wir den Stammbaum des Menschengeschlechts rückwärts zu verfolgen haben. Und wie sich zuletzt alle Wege der Wissenschaft begegnen, so ist aus anderen Gründen schon längst die Urheimath des Menschen mit derjenigen der Lemuren auf einen jetzt vom Meere bedeckten Welttheil zwischen Vorderindien und Afrika verlegt worden. Es ist mehr als ein Scherz, in unserem Andrian ein vererbtes Abbild eines unserer Ururahnen zu erkennen, und schließlich wird man finden, daß er so ganz und gar abschreckend nicht aussieht, vielmehr einen höchst gemüthlichen Zug um den Mund besitzt. Wie mit diesem Portrait, wird sich die Menschheit mit der Abstammungslehre nach und nach befreunden; wahrscheinlich werden schon nach hundert Jahren unsere Nachkommen fragen, wie es denn nur möglich gewesen ist, daß diese so einfache und einleuchtende Theorie nicht mit einem allgemeinen Jubelgeschrei bei ihrem Auftreten begrüßt worden ist. Aber die Theorie von der Erdbewegung um die Sonne ist auch höchst einfach, und – ich kann mich nicht recht besinnen – ist sie nicht auch einigem Widerspruch bei Gelehrten und Ungelehrten begegnet?
[62]
Nach dem Tage der Sonnenfinsterniß stand selbstverständlich Jedermann spät auf; so auch Amtmanns, Actuariusens, Kanzlistens und Copistens, Wachtmeisters und Hülfsgeisters. Ja, unser zarter Freund, der Actuarius Longus, soll in jenen Tagen sogar an den Folgen eines unfreiwilligen Falles in die Elster bedenklich erkrankt gewesen sein. Als uns nun unser guter Rabe das übliche Morgenfutter an den Thürbarren zu bringen gedachte, hatten die beiden leichtsinnigen Vögel, die gestern Abend noch so fest saßen, ihre Käfige ohne alle Aufkündigung verlassen. Statt ihrer – ein buntes Gemengsel von Ziegeln, Holz, Kohlen, Asche, Kalk, Ofenthüren, zerbrochenen Thürlatten, Besen, wie in einem verlassenen Pfahlbau! Die beiden Kamine von Nr. 12 und 13 starrten dem starren Auge des treuen Wachtmeisters entgegen wie zwei ausgebrannte Krater eines Vulcans, die sein ganzes Glück, all seinen Stolz und all seine Freude auf immerdar verschlungen hatten.
„Hört’ ich das Pförtchen nicht gehen?
Hat nicht der Riegel geknarrt?“
Nichts von alle Dem. Auch keine Spur mehr als die zersplitterte Thüre nach dem Oberboden! Kein Seil? kein Dietrich? kein Brecheisen? Nichts! nichts!
Kurz darauf war das ganze Städtchen alarmirt. Zuerst vernahmen die Officiellen die Schreckenskunde. „Sie sind fort!“ Dann brandete die entsetzliche Nachricht an das Ohr der Officiösen: „Die Kerle sind fort!“ Hierauf aber jubelte es durch alle Gassen, in allen Häusern, auf allen Wegen und Stegen, wo Freunde sich begegneten. „Gottlob! sie sind fort!“
Gleichzeitig durchflogen Beamtencolonnen und Depeschen das ganze Land, und in Adorf selbst wurden die Häuser aller Verdächtigen vom Giebel bis zum Keller durchsucht und weder das Lager kranker Frauen noch die Hutschachteln unschuldiger Handelshäuser waren sicher vor den aufgeregten Argusaugen der Hermandad.
Die noch gegen Caution entlassenen „Maikäfer“ mußten sofort die vacant gewordenen Plätze für uns einnehmen, und sie summten und brummten zornschnaubende Reden herab auf das Pflaster gegen die entflohenen Collegen und Rädelsführer. Die Verzweiflung, uns, die Verführer, fort, sich, die Verführten, in Banden zu wissen, hatte ihnen für den Augenblick den Kopf verdreht. Kurz, wurde gestern zu Ehren der Sonnenverschleierung ein halber Tag den Göttern Bacchus und Bummelius geopfert, so gab es heute unter den Demokraten des Obervoigtlandes einen ganzen Tag „Ausflugfeier“. Auch hob eine gewaltige Untersuchung wegen Fluchtbegünstigung sofort und allen Ernstes an, welcher aber einzig mein frühester Jugendfreund, Schneidermeister Franz in Adorf, zum Opfer fiel, der wegen der Unthat, mir bei einem früheren Fluchtgelüste eine famose Eisensäge zugesteckt zu haben, sechs oder acht Wochen lang in der so gastlichen Frohnveste Aufenthalt zu nehmen gezwungen wurde.
Draußen aber ging es an jenem 29. Julius ganz furibund zu. Wie ich vorauscalculirt hatte, wurde die böhmische und baierische Grenze mit wahren Perlen der Grenzaufseherkunde besetzt, alle gutgesinnten Waldheger, Polizeidiener, Dorfwirthe, Straßenreiter und Dorfrichter mußten „auf Deck“. Wiederfangungsnachrichten durchkreuzten die Luft, und bis nach Friedrichshafen und Lindau hinauf, an die wohlbekannten Ausladungshäfen jener Zeit am schwäbischen Meer, gingen Fahndungsagenten ab; ja der ehedem so gemüthliche Wachtmeister bedauerte unsere Abreise so sehr, daß er einige hundert Thaler auf unsere Köpfe aussetzte. Wohl mehr Blitzableiter für ihn, als Blitz für uns.
In dem bömischen Städtchen Asch, dessen Turnlehrer uns heraus geholt haben sollte und sich der That vielfach selbst rühmte, in dem bairischen Städtchen Selb und nach vielen andern Himmelsgegenden hin wurde gesucht, allein, wie wir wissen, auf falscher Fährte.
Um Mittag herum wälzte sich endlich auch eine Untersuchungscolonne gegen meinen Wohnort, gegen das wunderschöne, wie ein heller Maimorgen am südlichen Abhange des Capellenberges hängende Dörfchen Schönberg in der äußersten Südspitze des königlichen Sachsenreiches. Eben wollten die Meinigen daheim, nach alter Väter Sitte, zu Tische sitzen, als ein Actuarius (jedoch nicht mein viel gerühmter Leibcriminalist!), merkwürdiger Weise gerade jener, der schon im Jahre 1848 zu Voigtsberg mein Revolutionsfieber in erste Behandlung genommen hatte, feierlichst hineintrat. Hinter ihm der gute Wachtmeister, der aber heute, nach seinem Lieblingssprüchworte, nicht „lachen mußte“, trotzdem er’s „nicht wußte“. Eine halbe Compagnie Gerichtsschöppen, Richter und Oberrichter durften nicht fehlen. Meine Mutter hatte sich in jenen Zeitläufen an die Haussuchungen gewöhnt. Unberührt von der etwas unbefangenen Situation ihrer Gäste, lud sie alle scherzweise zum Mittagsessen ein. Da schüttelte der Actuar trauernd das Haupt und sprach mit hohler Stimme: „Ihr Sohn ist entsprungen.“
Das überraschte meine alte um mich schwer besorgte Mutter so, daß sie Messer und Gabeln fallen ließ, und mit dem Rufe, der das ganze Haus alarmirte: „Der Fritz ist fort“ stürzte sie zur Thür hinaus, über den Hof, in die nahe Dorfkirche, um dort am Altare ein heißes Dankgebet zum Herrn der Heerschaaren emporzusenden für meine aufgegebene Rettung.
Die Gerichtsbeamten ließen sie ruhig gewähren, und als mein Vater bald nach Hause kam, begann die Hausdurchsuchung. Der Herr Actuarius begriff wohl, daß der Fritz nicht so einfältig war, sich in’s väterliche Haus zu setzen, dennoch wurde jedes Winkelchen (das sie fanden) pflichtgetreu durchstöbert. Die Arbeit muß gethan werden, dazu ist sie da.
Von all den officiellen und nicht officiellen Pfiffici vermuthete, ganz nach meiner Berechnung, kein Einziger unsern wirklichen Fluchtpfad. Erst nach vierzehn Tagen erfuhr man aus einem „natürlich“ aufgefangenen, das heißt von der Post ausgelieferten Briefe eines unvorsichtigen Freundes, bei dem wir logirt hatten, die Gegend, in welcher wir waren. Kein Einziger glaubte auch an unsere Flucht, wie sie sich wirklich einfach zugetragen. Erst nachdem ich aus der Schweiz dieselbe heimgeschrieben, und mein Brief überall sehr rasch bekannt geworden war, mußte sie ein kühner Kaminfegergehülfe für einen blanken Thaler nachexerciren, und erst als dieser kleine Waghals uns richtig nachausgebrochen war, beruhigte sich Mutter Justitia einigermaßen und stellte die Jagd auf Fluchtgehülfen allmählich ein.
Noch heute glauben manche Bewohner jener Gegend – wie die Franzosen von 1870 – nicht die Kraft habe gesiegt, sondern der Verrath, und der Verdacht heftete sich leider auch an die Familie des alten Wachtmeisters, was mir recht in der Seele leid that. Besagte Familie behandelte uns recht freundlich, aber von einer Pflichtverletzung konnte bei Uhlmann’s strengem amtlichem Pflichtgefühl und seiner starken Familie nicht die Rede sein. Diese Erklärung bin ich dem Manne im Grabe, nach dreiundzwanzig Jahren und unter dermalen ganz ungefährlichen Verhältnissen, zu geben schuldig. –
Es war Morgens gegen drei Uhr, als uns die Kühle aus den „Waldflaumen“ aufjagte. Gerade etwa vierundzwanzig Stunden nach unserm Ausbruch. Schon belebte sich die Straße; Krämer, nach Gespräch und Körben zu urtheilen, suchten einen Markt;
Denn hier war keine Heimath! Hier ging
Der sorgenvolle Kaufmann und der leicht
Geschürzte … Flüchtling.
Ich wußte nicht zu fern eine einsame Waldschenke. Diese Aussicht war für uns romantisch und praktisch zugleich. Wir sehnten uns nach etwas Wärmerem als Waldeshauch. Bald standen wir vor der niedrigen Pforte dieser sehr bescheidenen Osteria des mittleren Voigtlandes. Wir klopften leise. Eine nicht mehr ganz im Flügelkleide rosiger Jugend sich befindende Walddame, barfuß, im leichteren Nachtgewande, als die schwere Zeit erlaubte, ein wenig schiefwinkelig gebaut, die Haare etwas morgenlich unwirsch, öffnete die Pforte. Statt zu brummen, wie wir nach dem ersten Anschauungsunterricht erwartet hatten, war das Mütterchen äußerst artig. Es lud uns zuvorkommend [63] „in die Stube“ ein, und uns erging es, wie es so manchmal geht im Menschenleben; ein allzu schlichter Band umfing ein freundlich Buch, an das man gern denkt sein Lebtag.
„Ihr werdet zum Markt wollen?“ eröffnete sie das Gespräch.
„Ja, ja, Mutter? Wir kommen von Schöneck und sind schon die halbe Nacht auf dem Wege –“
„So, so Weber! Ist ein Glas Branntwein gefällig?“
„Ein Kaffee wär’ uns lieber!“
„Je nun, den könnt Ihr auf der Stelle haben. Geht gar nicht lang’!“ sagte sie und verschwand im dunklen Raum der Küche.
In kaum fünfzehn Minuten brachte uns die „Frau Wirthin“ wirklich einen landesüblichen Mocca mit Butter, Brod und Handkäse, wie ihn der stolzeste Fuhrmann, alten Datums, Land auf Land ab, nicht stattlicher hätte verlangen können,
„in Anbetracht der Stunde und des Zweckes.“
Hungrige Husaren auf Commissariatseilvormärschen, die vierundzwanzig Stunden lang im Sattel standen, können nicht toller einhauen, als wir es thaten. „Waldmütterchen“ schaute uns schmunzelnd zu, sichtlich erfreut über die Ehre, die wir ihrer Kochkunst angedeihen ließen. Sie unterbrach uns nur einmal mit der Frage: „Ihr sucht wahrscheinlich Arbeit?“ denn für einen ehrlichen Marktkrämer schien ihr denn doch unser Appetit allzu en gros.
„Ja, Mutter, wir haben unsern alten ‚Schütz‘ quittirt, um uns auf die ‚Walze‘ (Wanderschaft) zu begeben.“
Endlich fragten wir nach der „Schuldigkeit“. Sie lautete auf ganze drei Neugroschen vier Pfennige. In unsern dermaligen Zeitläufen ein wahres Waldmärchen!
Dies war wieder der erste Verkehr mit einem vaterländischen Wirthshaus, mit einer menschlich fühlenden Brust. Heiter und wohlgemuth, von den besten Wünschen der geraden Seele unter gekrümmtem Rücken begleitet, verließen wir die edle Waldschenke, deren Schild ich leider nicht erkannte. Sie heiße „Zur Heimath“.
Auf mir wohlbekannten Wald- und Feldwegen schlugen wir nun die directeste Linie nach Greiz ein, um die Grenzen eines zweiten deutschen Großstaates gelassen zu überschreiten. Nicht lange, und wir huschten zwischen zwei Wärterhäuschen über die bairisch-sächsische Eisenbahn, unter dem Telegraphendraht hinweg, der gestern und heute gewiß etwas Weniges von uns zu erzählen gewußt hatte; dann hinab in das Göltzschthal und hinüber auf den gegen die Residenzstadt vorspringenden Waldhügel, dessen Stirn damals noch das unverkennbare Merkzeichen „höherer“ Gerichtspflege trug, einen sichtlich wohlgepflegten Galgen. So waren wir dem Zuchthaus entsprungen, um am Galgen Anker zu werfen. Da wir es nicht für rathsam hielten, in der Hauptstadt Greiz mit ihren schwarz-roth-goldenen Schlagbäumen und Verbotstafeln am hellen Tage unsern Triumpheinzug zu halten, so wurde das letzte Marienbrod aus der Bergner Pfarre verzehrt und hierauf im warmen duftigen Waldschatten „ein Schläfchen unterm Galgen“ draufgesetzt.
Als es dunkelte, sagten wir unserem Galgenberg fröhlich Adieu und stiegen guter Dinge hinab in die civilisirten Staaten der später noch berühmt gewordenen Carolina.
Kurz wurde die weithin bekannte Hellmund’sche Liqueurfabrik sondirt und hierauf bei Papa Berg, dem damaligen unumschränkten Beherrscher unzähliger geistreicher Fässer, eingefahren – wie der Drache in der Volkssage. Hier, im Hinterhause, besorgt und aufgehoben, genossen wir wieder das erste christmenschliche Nachtessen in der Freiheit. Suppe! Braten! Bier! Herz und Mund ging über und unsere Seelen flammten empor zu einem verzehrenden Hymnus an die Küche der liebenswürdigsten deutschen Hausfrau. – Auch die erste Zeitung kam uns hier in Sicht; es war die gute alte „Leipziger“; an ihrer Brust das urgemüthliche königlich sächsische Wappen, auf ihrem Rücken eine Masse Concursanzeigen, Edictalladungen, Verlobungs-, Geburts-, Todesnachrichten und unsere solennen – – Steckbriefe! – Unsere Freude war groß bei einem Glase echt fürstlichen Schloßbieres, uns von sachverständiger Hand so recht Schwarz auf Weiß abconterfeit zu lesen. Blankmeister’s Bildniß, ebenso bezaubernd schön wie das meinige, ging mir verloren. Das letztere habe ich für die Unsterblichkeit und meine spätesten Nachkommen gerettet. Die „Tante“ aber drückte ich noch einmal zärtlich an’s Herz. Dann lullte sie mich ein in lieblichen Schlummer.
Selbstverständlich interessirt ein größeres Publicum nicht Alles, was den Flüchtlingen damals und heute noch Herz und Erinnerung erfreut, und so werde ich von nun an nur die wichtigeren „Augenblicke“ hervorheben, „wo uns der Weltgeist näher stand als sonst“.
… In kurzer Zeit trug uns ein zweispänniger Fiaker durch die landstädtischen Thore der großherzoglich weimarischen Kreishauptstadt Weida. Das genannte Großherzogthum schwamm damals, wie später und früher, nicht mit in dem dicken Schlammstrome der Reaction. Wir waren in diesem Ländchen ein gut Theil sicherer, als auf jedem anderen Stückchen deutscher Erde. Dazu kam, daß ich von Jena her, burschikosen Angedenkens, eine ziemliche Anzahl Freunde in der „Kümmeltürkei“ besaß. In Weida selbst residirte und regierte einer meiner intimsten Jugend- und Universitätsfreunde, als wohlbestallter und gestrenger Herr Bürgermeister, und so rief ich Blankmeister zu:
„Zu ihm laß mich mit Dir, Geliebter, ziehn!“
Zum Tyrannen von Weida!
Kutsche und Kutscher schwammen wie ein Staubwolkenkomet in’s Greizer Ländel zurück. Wir zogen stolzen Schrittes, wie zwei Spanier, in Weidas Mauern ein. Mitten unter den Vätern der Stadt saß August, der lebensfrohe Kämpe, und sonnte sich in den Strahlen seiner Macht. Ich winkte ihm. Er nahm mich in das Nebenzimmer. Ein flotter Kuß und: „Ich habe Dich erwartet, Junge, laut Steckbrief. Ich kann die Stadtverordnetenversammlung nicht aufheben. Hier der Schlüssel zu meinem Bureau! Dort ruht aus. Ich komme nach.“
Wir besetzten das Bureau und ebenso eilig benutzten wir die schöne Stunde und entnahmen dem ziemlich umfangreichen Paß- und Paßkartenvorrath das Nöthigste. Blankmeister reiste von nun an als simpler Müller und ich als „jebildeter“ Tapetenhändler Fischer. Alles in Ordnung, ohne August’s Mithülfe.
Sobald es tief Abend geworden war und selbst Freund August nicht zu uns sagen durfte: „Herr, bleibe bei uns!“ verließen wir aus naheliegenden Nützlichkeitsgründen auch diese Metropole deutschen Gewerbfleißes selbdritt und hoch auf Schusters Rappen, um auf’s Neue die Nacht, die rabenschwarze Nacht, auf unsere Pfade zu streuen.
Es wurde Vielerlei geplaudert, und wir gedachten einen langen Marsch zu thun; jedoch der Mensch denkt – der Bürgermeister lenkt, und auch in Großebersdorf war das Wirthshaus nicht umsonst an die Straße gebaut, wenigstens nicht für ehemalige Studenten, die heute zum letzten Male miteinander kneipen sollten:
„So zogen die Bursche wohl gegen den Rhein,
Bei einer Frau Wirthin da kehrten sie ein;
Die hatte ein schönes Töchterlein.“
Ja wahrhaftig, die hatte ein schönes Töchterlein, und uns kam die uralte heitere Studentenstrophe in den Sinn:
„Des Landes Töchter an das Herz zu pressen,
Des Dorfes Bier und seine Stärke messen,
Ist praktische Geographie.“
Hier wollten wir nun geographische Studien, wenigstens im Betreff des zweiten Capitels, beginnen, während andere, nicht vom Schicksale so wie wir hinausgerüttelte und ‑geschüttelte Menschenkinder längst schon auf dem Ruheohr lagen. Der Wirthin Töchterlein führte uns auf einen Wink des gestrengen Herrn Bürgermeisters in das matterleuchtete Hinterstübchen; aber so hold und süß auch diese letzte Rose das Voigtlandes dareinsah, so sauer war leider das neue Schenkbier, vermuthlich eine traurige Folge der vorgestrigen Sonnenfinsterniß, so daß uns von solch fürchterlicher Sauertöpferei das Töchterlein selbst besorgt und ernstlich abrieth. Meine beiden Bürgermeister dagegen („Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitte“), die von Alters her einem gespürlichen Tropfen gar nicht abhold waren, ließen sich von dem hübschen Kinde, der Königin Agnes, wie sie sie nannten, einen steifen Grog brauen. Ich blieb, der fortzusetzenden Waldnachtwanderung wegen, beim prosaischen Zuckerwasser und Mädchengeplauder. Die beiden Verfechter der menschlichen Gerechtigkeit geriethen nur allzubald in eine gewaltige Aufregung und seltene Schwerhörigkeit, so daß sie unsere Fahrt so leise und geheimnißvoll behandelten, daß man es deutlich vor den Fenstern hätte vernehmen können, weß Geistes [64] Kind die späten Wanderer waren. So wurde denn der Wirthin Töchterlein wohl oder übel zur gewissenbeladenen Mitwisserin zweier flüchtiger Hochverräther. Es hat ihm das Herz nicht gebrochen, denn so viel ich aus den sagenhaften Klängen vergangener Tage erlauschen konnte, credenzt unsere jugendliche Wirthin von damals noch heute munter und frisch die Becher der wandernden, wie der stabilen Menschheit.
Mühler’s „Grad’ aus dem Wirthshaus’ komm’ ich heraus etc.“ wäre nicht übel angebracht gewesen, allein – die Scheidestunde hatte uns betrübt gemacht. Wir drückten uns warm an die Brust. Ein letzter Kuß, ein letzter trauter Druck der Hand! Es war der allerletzte![1]
August und der Wirthin Töchterlein hatten fürsorglich für uns gedacht; der „Nachtwächter von Großebersdorf“, ein ernstes Exemplar seiner nun halbverschollenen Zunft, begleitete uns für ein angemessenes Trinkgeld und im altgermanischen Ornate, mit Horn und Pike, bis an die Marken seiner Staaten, allwo uns am rauschenden Walde die breite, mir wohlbekannte Straße aufnahm. – Noch ein letzter Blick hinab zur freundlichen Herberge, in welcher das Licht soeben erlosch – und wir standen wieder allein „auf weiter Flur“. Wem wäre da wohl nicht die bittersüße Strophe eingefallen:
Auch Keinem hat’s den Schlaf vertrieben,
Daß ich am Morgen weiter geh’.
Sie konnten’s halten nach Belieben –
Von Einer nur, da that mir’s weh.
Etwa anderthalb Stunden später, Morgens nach drei Uhr, schwangen wir uns im Städtchen Münchenbernsdorf über den Gartenzaun des damals dort wohnenden Apothekers Becker, ebenfalls eines alten Universitäts- und Herzfreundes von mir. Auch in diesem stillen Wirkungskreise der alten Firma Mercur und Aesculapius war „der Steckbrief als Vorreiter“ bereits galoppirend eingetroffen. Wir ruhten in diesem Hafen um so sicherer.
- ↑ August Berg, der damalige Bürgermeister von Weida, starb vierzehn Jahre später in Weimar als Director einer Versicherungsgesellschaft in seinen kräftigsten Jahren. Ich sah ihn seit meiner Flucht nicht wieder.
Wem gilt unser Krieg? – Euch sei es gesagt,
Die mit tückischer Lippe ihr winselt und klagt,
Daß er wider den Glauben gerichtet,
Daß in Fesseln geschlagen das göttliche Wort,
Daß die christliche Kirche vernichtet!
Wem gilt unser Krieg? – Euch werde es kund,
Die im Dunkeln ihr schleicht, zu verderblichem Bund
Eure Fäden und Maschen zu schürzen;
Die mit Wälschen ihr äugelt, mit Wälschen ihr wühlt,
Unser Reich und den Kaiser zu stürzen.
Wem gilt unser Krieg? – O, ihr wißt es so gut!
Er gilt jener pfäffisch verlogenen Brut,
Er gilt nicht der Kirche und nicht dem Altar,
Er gilt jener heuchlerisch frömmelnden Schaar,
Doch nimmer dem Glauben der Frommen.
Wem gilt unser Krieg – Nicht dem stillen Gebet,
Gleichviel, wie die Lippe es flüstert –
Doch dem Priesterhaß und dem Dogmenzwang,
Der die Seele des Volkes vergiftend durchdrang
Und den Frieden des Hauses umdüstert.
Der Afterkirche, dem Götzen voll Lug,
Daß dem Sturm er des Geistes erliege.
Du Gottheit der Treue, der Liebe, des Lichts,
Du schleuderst die Lüge zum Abgrund des Nichts
Als ich mich im August vorigen Jahres auf der Durchreise nach Wien kurze Zeit in Dresden aufhielt, wurde ich, noch ehe ich in den dortigen zoologischen Garten ging, durch große Anschlagezettel darauf aufmerksam gemacht, daß seit Kurzem dort ein Schimpanse, „noch nie hier gesehen“, gezeigt werde. Im Interesse des Gartens freute ich mich darüber, denn daß dieser Affe, ich wollte sagen dieser Halbmensch, eine große Anziehungskraft auf das Publicum ausüben und den zoologischen Finanzen sehr unter die Arme greifen würde, war nach aller Erfahrung vorauszusehen. Sonst aber versprach ich mir keinen neuen Anblick, denn Schimpanses kommen in der That jetzt bereits fast zu viel herüber, insofern nämlich, als die ganz kleinen offenbar besser thäten, wenn sie zu Hause in ihren Wäldern blieben. Um so erstaunter war ich, als ich Mafuca, so heißt die Schimpansin, von Angesicht zu Angesicht sah; denn der Anblick war mir in vieler Beziehung ein neuer. Alle Geschöpfe dieser Art, die ich bisher sah, trugen sich im Gesicht fleischfarbig, Mafuca aber ist besonders um die Augen herum nebst der ganzen, nicht kleinen Gegend bis an’s Maul, Mund wollte ich sagen, ganz schwarz, und auch die anderen noch fleischfarbenen Gesichtsstellen zeigen durch viele schwarze Flecken eine zärtliche Neigung zum Schwarzwerden an. Dieser Unterschied zwischen Mafuca und den mir sonst bekannt gewordenen Schimpanses – denn auch die fleischfarbenen Theile der Hände und Füße haben diese Flecken – kann sehr wohl einen dazu geneigten Naturforscher veranlassen, diesen Halbmenschen einen anderen Artennamen zu geben, denn die eigentliche Basis für die Artenunterscheidung ist ja bekanntlich, Gott sei’s geklagt, spurlos verloren gegangen. Dem sei wie ihm wolle, Mafuca ist schwarz im Gesicht – das war das Eine, was mir auffiel; das Zweite war aber das außerordentlich behagliche Daheim, welches der Director Schöpff ihr eingerichtet hatte.
Alle Schimpanses, die ich bisher sah, befanden sich in einem Käfig, Mafuca aber wohnt. Sie bewohnt einen Raum im Winterhaus, der in Leipzig, wenn ein Ofen darin steht, sofort ein Zimmer genannt wird, wenn er auch noch lange nicht so hoch ist, wie die Wohnung Mafucas. In diesem Zimmer also steht ein Tisch, ein Stuhl, eine Bettstelle; an den Wänden befinden sich verschiedene Bücherbretter, aber ohne Bücher, einige Sitzstangen, und von oben hängen sogar mehrere Seile herab, welche Einrichtung bekanntlich unseren Wohnungen sonst noch fehlt. Ein Kasten mit Holzgitter, worin Mafuca früher eingesperrt gewesen sein mag, vervollständigt die Ausstattung, die also für einen Schimpanse ganz nett ist. Strohsack zum Schlafen und Bettdecke zum Zudecken bekommt sie erst Abends, denn am Tage würde sie beides sehr bald zerbissen oder zerrissen haben, da ihre Bildung erst im Werden begriffen ist. Denn – und nun kommt das Dritte, das mir auffiel – Mafuca[WS 4] ist von einer Ausgelassenheit, über welche, wenn sie ihre Eltern sähen, diese gewiß den Kopf schütteln würden, und die in der That für ein junges Frauenzimmer etwas Auffallendes hat. Selbst ihre Gesellschafterin muß oft darunter leiden, schickt sich aber glücklicher Weise mit gutem Humor in die ihr angewiesene Rolle. Diese Gesellschafterin, eine Schnurrbartmeerkatze, die wir aber auch mit ihrem Taufnamen „Membrole“ nennen wollen, ist mit Mafuca zugleich aus Afrika gekommen. Sie sind von daher auf’s Innigste befreundet, und so jagt denn die große Freundin in ihrer rosigen Laune oft hinter Membrole her, packt sie, wenn sie kann, an deren überflüssig langem Schwanze und schleudert sie nach dem Sprüchwort: „Was sich liebt, das neckt sich“, mit solcher Energie
[65][66] umher, daß der armen Membrole Hören und Sehen vergeht, und der Director auf Aushülfe sinnen mußte. Es wurde deshalb in ziemlicher Höhe ein Loch in die Holzwand geschnitten, gerade groß genug zum Durchschlüpfen für Membrole, und dahinter nun ein geräumiger Verschlag für dieselbe eingerichtet. Hier findet sie also in ihren Nöthen stets eine sichere Zuflucht; hier steckt ihr der Director die Delicatessen hinein, die ihr bestimmt sind, weil Mafuca sonst in aller Freundschaft ihr Alles entreißt. Aber auch so sah ich es, daß, als ein feiner Apfel in Membrole’s Gemach spedirt war, Mafuca sofort hinzusprang, den Arm bis an die Schulter in’s Schlupfloch steckte und den Apfel glücklich erwischte. Hat aber hingegen Membrole etwas ihr Zugedachtes wirklich erlangt, dann verhöhnt sie wohl ihrerseits ihre Freundin, indem sie derselben aus dem Loch heraus die Beute lächelnd – denn so sieht sie immer aus – zeigt und dann verschwindet.
Gleich meine erste Anwesenheit vor Mafuca’s Wohnung sollte mir eine interessante Scene bringen Die Essenkehrer waren gerade im Winterhaus in ihrem dunkeln Berufe thätig gewesen und ein kleiner Schornsteinfeger, angethan mit dem ganzen Reiz seiner Erscheinung, trat ebenfalls vor das Gitter, wobei wir ihm natürlich ehrerbietig Platz machten. Wie ganz anders aber wirkte dieses Zeichen auf Mafuca ein! Alles, was sie bisher beschäftigt hatte, war vergessen, und nur der kleine Schimpanse, denn für einen solchen hielt sie offenbar den Schwarzen, nahm ihre ganzen Sinne gefangen. Sie betupfte ihn durch das Gitter mit ihren Fingern, roch dann diese an, um die Echtheit der Farbe zu prüfen, und suchte den kleinen Verwandten zur genaueren Untersuchung näher an sich heranzuziehen. Wir bauten darauf den Plan, später eine noch anziehendere Scene dadurch herbeizuführen, daß wir bei Abwesenheit des Publicums diesen oder einen andern Schornsteinfeger mit in das Zimmer Mafuca’s hereinnehmen wollten. Aber dieser schöne Gedanke scheiterte an ihrer Unzuverlässigkeit. Denn als sie dann später wieder einen Kaminfeger, allerdings einen andern, erblickte, trat sie sofort feindlich gegen ihn auf, zog ihn zwar auch an sich, aber blos um ihn zu beißen, so daß alles Weitere unterblieb. Noch später, als einmal unaufgefordert ein erwachsener Schornsteinfeger zu ihr in’s Zimmer getreten ist, hat sie denselben so durch Bisse und Kratzen angefallen, daß dessen schleunigste Entfernung nöthig wurde. Es muß so etwas, wie Concurrenzneid bei ihr aufgetaucht sein, ein Gefühl, das ja selbst bei uns herrlichen Menschen, vom Schleußenräumer bis zum göttlichen Dichter, nicht ganz selten ist, und selbst bei den sonst tadellosen Malern vorkommen soll.
Selbstverständlich geht Mafuca mit Löffel, Tasse und Topf ganz angemessen um, obgleich sie auch manchmal zur Abwechselung den Kopf in den dastehenden Blechtopf steckt, um bequemer zum Ziele zu kommen, wenn der Director eben nicht hinsieht. Dieser nämlich bringt aus gewissenhafter Fürsorge für das Wohl des wichtigen Pfleglings demselben täglich sein reichliches Frühstück selbst und ebenso Nachmittags den Thee, und diese Zeiten sind nun allerdings die, wo Mafuca ihre ganzen Talente entfalten kann. In kühnem Bogen schwingt sie sich ihrem Pfleger entgegen, umarmt ihn zärtlich und küßt ihn, untersucht dabei seine Taschen nach mitgebrachten Delicatessen und ist im Nu an der Decke, wenn sie etwas wegstibitzt hat. Kann sie den Schlüssel zur Eingangsthür erwischen, so steckt sie denselben sofort in’s Schlüsselloch, und schließt auch auf, wenn der Außenriegel nicht vorgeschoben ist. Dabei sieht sie sich aber, ganz mit der Miene eines vorsichtigen Gauners, immer um, ob sie bemerkt wird, und wie der Blitz schwingt sie sich nach oben, wenn ihr Herr sie hindern will. Beim Sägespähnstreuen, wenn die Dielen gekehrt werden sollen, ist sie äußerst behülflich, und mit geschwungenem Arm greift sie in den Kasten, um mit königlicher Freigebigkeit die Spähne umherzuschleudern. Ebenso ist Mafuca’s Anlage zur Scheuerfrau eine außerordentliche. Wird ihr ein Waschlappen zur Verfügung gestellt, so taucht sie denselben mit großer Umsicht in ihren Blechtopf, ringt ihn aus, fängt manchmal wirklich an, die Dielen oder die Bretterwand zu scheuern, und springt mit dem Lappen in ihrem Salon herum, daß die Nässe den Zuschauern hinter dem Gitter in das Gesicht spritzt. Der durch diese Drangsale immer nachgiebiger werdende Lappen geht natürlich bald auseinander, und Mafuca ist gern bereit, ihn dabei durch Reißen zu unterstützen, windet sich dann den kläglich Gedehnten graziös um die haarigen Schultern und Arme, und nachdem sie so abermals herumgetollt, geht das Eintauchen und Ausringen von Neuem los, bis der Topf leer ist und ihr etwas Anderes gereicht wird.
Mafuca ist eine wahre Tausendkünstlerin. Sie ist eben im Begriff, eine neue Kunstfertigkeit zum Besten zu geben: sie zieht ihrem Herrn die Stiefeln aus. Das hat sie keineswegs erst in Dresden gelernt, denn der Director Schöpff, als sie ihn so bediente, war selbst erstaunt darüber, und sogar ihr vorheriger Herr, der mehrere Jahre in den holländischen Factoreien Westafrikas gewesen war und sie von dort mitgebracht hatte, kannte diese ihre Fertigkeit nicht. Daß die Schimpanses dort schon Stiefeln tragen, ist von den Naturforschern noch nicht behauptet worden. Es muß Das also seine eigene Bewandtniß haben. Genug, es ist ein urkomischer Anblick, wenn Mafuca die Stiefeln ihres Herrn kunstgerecht mit der einen Hand an der Spitze, mit der andern an der Ferse erfaßt und nun, sich stemmend, ruckweise dieselben auszieht, wobei sie gewöhnlich zuletzt auf den Rücken fällt. Dann sucht sie selbst dieselben anzuziehen, fährt, wenn Das mit dem Fuße zu langsam geht, mit dem Arme hinein und schwingt sich nun so am Seile empor, und mit der Hand tief im Stiefel, benutzt sie dieselbe immer noch zum Klettern. Wer denkt dabei nicht an die famose Affenfangmethode mit den geleimten Stiefeln?
Den höchsten Grad von Uebermuth zeigt Mafuca, wenn Jemand anders als der Director sie besucht. Denn vor diesem hat sie selbstverständlich immer einigen Respect, und deswegen flüchtet sich auch Membrole auf dessen Schulter, wenn sie doch bei der Partie sein will; aber jeder Andere ist für Mafuca der willkommene Gegenstand ihrer tollsten Laune. Das Bild stellt dar, wie einer der Wärter in Mafuca’s Zimmer tritt. Wie ein schwarzer Kobold schwingt sie sich mit lachender Miene auf denselben los, sitzt ihm sofort im Nacken, stampft mit dem Fuße auf ihm herum, um ihn dann, an dem Seile in die andere Ecke fliegend, auf einen Augenblick zu verlassen, aber schon im nächsten ist sie wieder da; hörbar kichernd erfaßt sie ihn abermals, tractirt ihn mit einigen ganz correcten Ohrfeigen, reißt an den gar nicht mehr überzähligen Haaren und packt ihn an der Nase, als wolle sie dieselbe entwurzeln, so daß der Arme gar nicht weiß, welche Stellungen er zum Schutze der verschiedenen bedrohten Gegenden annehmen soll. Der Eifer, welchen dabei beide Parteien entwickeln, die eine, um die Gelegenheit zum Juxe möglichst auszubeuten, die andere, um dem zu groben Spaße zu entgehen und sich den Rückzug zu sichern, war in der That hochkomisch, und um so mehr, je schneller die immer mit Lachen ausgeführten Angriffe Mafuca’s geschahen. Werfen oder schlagen mit einem Stock oder dergleichen kann Mafuca so wenig wie andere Affen; denn das stoßartige Vorstrecken des Armes mit gleichzeitigem Fallenlassen eines Gegenstandes ist kein Werfen.
Das schon erwähnte Aufstampfen mit dem Fuße übt sie überhaupt sehr gern aus, besonders wenn sie mit Membrole herumjagt und diese sich unter den Stuhl, den Tisch oder die Bettstelle versteckt; dann springt Mafuca auf das betreffende Möbel hinauf und stampft so dröhnend mit dem Fuße darauf, daß die kleine Membrole stets erschreckt hervorfährt. Uebrigens stellt sich Membrole nicht selten zur Wehr und schlägt manchmal ihre große Freundin in die Flucht.
Töne hört man von Mafuca nicht weiter als das erwähnte Kichern und das allen Schimpanses eigenthümliche O, O, O, welches als Aeußerung sehr verschiedener Empfindungen zu gelten pflegt. Es müssen schwere organische Hindernisse sein, welche es diesem großen Affen unmöglich machen, Wörter nachzusprechen. Bei dem Menschen knüpft sich an die Entstehung der Sprache erst die Möglichkeit des eigentlichen Denkens, denn außerdem können wir uns nur Bilder und Töne vorstellen, und auch die Entstehung des Bewußtseins, dieses räthselhaften Vorganges im anwachsenden Menschen, dürfte nicht außer Zusammenhang damit stehen. Mafuca hat offenbar noch kein Bewußtsein, wohl aber scheint sie schon Gewissensanfänge zu bekommen, denn wenn sie zum Beispiel manchmal durch ihre Plumpheit dem Director wehe gethan hatte und dieser den Schmerz äußerte, so näherte sie sich reuevoll, suchte ihm die Hände aus dem Gesicht zu schieben und ihn durch Küssen zu versöhnen. Diese Gewissensregungen scheinen [67] sich überhaupt bei manchen in der Umgebung des Menschen lebenden Thieren zu entwickeln, zwar bei den Insecten nicht, denn diese, mögen sie kriechen, hüpfen oder fliegen, handeln bekanntlich alle mit grenzenloser Gewissenlosigkeit, wohl aber kann man zum Beispiel bei einem guten Hunde dergleichen oft beobachten.
Mafuca giebt sich natürlich, auch wenn sie allein mit Membrole ist, solchen Betrachtungen nicht hin; in solchen Stunden gehen ihre Beschäftigungen fort, nur in gemäßigterem Tempo. Das Verzehren der Carotten, deren äußere Hülle sie sehr sorgfältig abschält, kann sie sehr lange beschäftigen. Ich selbst sah früher einmal einen Knaben, meinen Neffen, mit den Kniekehlen am Reck, also mit dem Kopfe nach unten hängend, ganz gemüthlich sein Vesperbrod verzehren. Es hat mich daher gar nicht gewundert, als ich Mafuca in ähnlichen Stellungen ihre Carotten bearbeiten sah, ja ich halte das bei ihren Anlagen dazu für ihre Schuldigkeit, und wenn sie dadurch etwas aufgehalten wird – nun, für sie ist Zeit noch nicht Geld.
Die bisher nach Europa gebrachten Schimpanses waren, so viel ich mich erinnere, alle von der Westküste Afrikas nördlich vom Aequator, Mafuca aber stammt aus der Gegend südlich vom Gleicher, ungefähr aus der Gegend, von wo aus die neueste deutsche Expedition das innere Afrika zu erreichen sucht. Vielleicht hängt ihr schwarzes Gesicht auch mit dieser anderen Herkunft zusammen. Es ist schade, daß, obgleich Mafuca offenbar jetzt kerngesund ist, doch selbst im glücklichsten Falle keine Aussicht ist, sie länger als einige Jahre am Leben zu erhalten. Für den Dresdener zoologischen Garten wäre auch diese kurze Lebensdauer Mafuca’s zwar schon ein großer Vortheil, aber recht folgenreiche Beobachtungen könnten doch nur gemacht werden, wenn ihre Entwickelung bis zur völligen Ausbildung verfolgt werden könnte. Gewachsen ist sie in den vier Monaten ihres Dresdener Aufenthaltes sehr merklich und jetzt, ganz aufrecht stehend, ziemlich einen Meter hoch, aber das ist, selbst in Betracht ihres Geschlechts, noch lange nicht die volle Größe eines ausgewachsenen Schimpanses. Mafuca fängt übrigens auch erst jetzt an, ihre Milchzähne zu verlieren.
Wer sich für dergleichen Thiererscheinungen interessirt, Der versäume nicht, wenn er nach Lübeck kommen sollte, das dortige naturgeschichtliche Museum zu besuchen. Dort stehen drei ausgestopfte erwachsene Gorillas und ein Schimpanse. Es graut Einem vor diesen furchtbaren Gestalten, und sind ähnliche Kerle wirklich unsere Vorfahren, dann ist es kein Wunder, daß in uns sonst so himmlischen Menschen noch ein natürlich nur ganz kleiner Rest von Bestialität zurückgeblieben ist. Denn man mag es nehmen, wie man will, der noch so genial eingefädelte und ausgeführte Krieg ist doch im Grunde nichts Anderes, als eine mit außerordentlich viel Bildung und nach einem großen Maßstabe ausgeführte – Bestialität.
Eine tröstliche Erscheinung steht jener Gleichgültigkeit gegenüber, mit welcher so manche Staatsbürger ihre wichtigsten Rechte betrachten, jener Theilnahmlosigkeit, welche die Bethätigung bei politischen Wahlen zum Beispiel versäumen läßt – das ist die lebendige Begier, mit welcher andererseits die Verhandlungen unserer maßgebenden Staatskörper verfolgt werden: das Volk will wenigstens wissen, bis auf das Härchen wissen, wie es von seinen Abgeordneten vertreten wird. Niemand ist heute mehr zufrieden, wenn ihm die Drahtbotschaft das Ergebniß einer hervorragenden Sitzung des Reichstages kundgiebt; kein Gebildeter begnügt sich mehr mit den bloßen Berichten und Erläuterungen der Tagesblätter über Gesetzesverhandlungen; man verschlingt das Alles wohl, aber – man nimmt es nur hin als eine Abschlagszahlung, und gespannt harrt man des nächsten Morgens, welcher den stenographischen Bericht bieten soll, an dessen verbrecherisch kleinem Drucke man sich dann mit Beharrlichkeit die Sehkraft schädigt.
Einst schätzte man den Werth eines Romans nur danach, daß er „vor Allem recht viel geschehen ließ“; erlebnißreich, Gefahr auf Gefahr heraufbeschwörend und besiegend, kurz, abenteuerlich mußte die Erzählung sein, und die beste war die, welche die meisten von ihren Helden durch Gift und Dolch, durch Feuer und Wasser vom Schauplatze ihrer Pilgerfahrt wegräumte. Und jetzt? – Eine Dorfgeschichte der alltäglichsten Art, arm an Ereignissen, reich aber an Schilderungen des innern Menschen, vermag uns mehr zu fesseln und zu rühren, als selbst der thatenreiche „rasende Roland“. In ähnlicher Weise ist man in den Naturwissenschaften in die Tiefen des Thierlebens hinabgestiegen und läßt uns in die Falten eines „Löwengemüthes“ blicken (welchen Ausdruck uns Brehm gewiß erlauben wird). Ein verwandter Zug, ein Verlangen nach Einblick in die innerste Eigenthümlichkeit ist es, welcher uns drängt, in allen Einzelzügen auch jene Männer zu belauschen, welche über das nationale Wohl und Wehe berathen und beschließen. Wir möchten alle selbst den Schall ihrer Rede vernehmen, und da wir Deutschen, selbst nach Abzug der Sondergelüstler, auch im dereinstigen neuen Reichstagsgebäude doch kaum alle Platz finden dürften, so soll im entlegensten Winkel des Vaterlandes jeder Laut, der von der Rednerbühne des Reichstages erklang, wenigstens nachhallen.
Ob nicht Manches nur gesprochen wird, weil es solchen Widerklang findet? Da Gelehrten gut predigen ist; da der Schwerpunkt der Arbeiten eines gesetzgebenden Körpers keineswegs in den öffentlichen Sitzungen, sondern in den Vorberathungen der Ausschüsse ruht; da die schönste Rede wohl schwerlich einen einzigen Abgeordneten von der Ueberzeugung abwendig macht, welche er beim Eintritte in die Versammlung fertig mitbrachte – so sind wir gar nicht abgeneigt zu glauben, daß wohl manches treffliche Wort nicht für das „Haus“, sondern nur für die Stenographen gesprochen wird, für diese Vermittler zwischen dem ganzen Volke und seinen Vertretern.
Was leistet nun ein Stenograph als Diener der Oeffentlichkeit? Ist der Mann zu seiner wichtigen Aufgabe gerüstet, wenn er seine Schnellschrift meisterlich zu üben weiß? – O nein. Den Stenographen macht die Stenographie allein nicht. Wenn er sich nicht auf einen einzelnen Zweig, zum Beispiel Parlamentsstenographie, beschränken will, so muß er an erster Stelle ein Mann von tüchtiger Bildung sein, zugleich ein Mann von Geistesgegenwart und Gewandtheit. Auf dem Felde, wo er arbeiten soll, muß er wenigstens einigermaßen zu Hause sein, sonst wird seine Arbeit immerdar mangelhaft ausfallen. Bedenkt man, daß ein ausübender Stenograph in den allerverschiedensten Gebieten selbstständige Dienste leisten soll – so wird man vielleicht zugeben, daß einem so weit gehenden Vertrauen gegenüber eine encyklopädische Ausrüstung in weitestem Umfange sehr wünschenswerth ist.
Wer da weiß, was es heißt, stundenlang mit gespanntester Aufmerksamkeit jeder Silbe eines Vortrages zu folgen, wird sich leicht ein Bild davon machen können, welch geistige Anstrengung die Arbeit des Stenographirens verlangt. Der Hörer, welcher sich nicht mehr gefesselt fühlt, läßt seine Gedanken in andere Gegenden wandern, wenn er nicht vorzieht, sich selbst auf das Wandern zu begeben. Der Stenograph aber, welchen der verehrte Redner vielleicht auf das Peinlichste langweilt, ist festgenagelt an seinem Pulte, er muß durch Dick und Dünn, über Korn und Dorn, wie weiland der arme Sünder auf der Kuhhaut. – Und umgekehrt, wenn ein einzelner Gedanke ihn fesselt, wenn er diesen weiter verfolgen, ihn ausdenken möchte – er darf nicht: „Schreib’, schreib’, schreib’!“ ruft die Stimme der Pflicht, und er – schreibt. Oder wenn der Sprecher den Kreis seiner Hörer ergreift, erschüttert, wenn er dem Gefühle in ihrer Brust beredsame, warme, begeisterte Worte leiht, daß Alles erregt aufjauchzt, dem Redner zujubelt – der arme Stenograph muß sich mühen, daß ihm im Gewirr der Erregung nicht etwa ein Wörtlein entflieht, und daß er gebührend „Bravo“ in Klammern hinter die Rede setzt, wie es sich geziemt. Noch übler ist er daran, wenn ein Redner etwa in Humor macht und die Lachmuskeln der Hörerschaft reizt – gleich dem trübselig-kindlichen Komiker darf der Stenograph keine Miene verziehen, denn niemals schreibt sich’s schlechter, als beim Lachen. Nur im Vorbeigehen wollen wir noch bemerken, daß auch die körperliche [68] Thätigkeit des Stenographen, namentlich in Bezug auf Hand und Auge, sehr fühlbar werden kann, wenn dieselbe gar zu lange anhält. Und da wir gerade bei den Schwierigkeiten des Berufes sind, so sei noch erwähnt, wie oft, besonders bei größeren Versammlungen und in größeren Räumen, noch allerhand erschwerende Umstände eintreten: leises Reden der Sprecher, undeutliche Aussprache, fremdartiger Dialekt, häufiges Versprechen und Verbessern oder auch offenbare Fehler des Ausdrucks, Störungen, Zwischenrufe und Unterbrechungen sowie Geräusch.
Das Werkzeug des Stenographen ist in der Regel Bleistift, glattes Papier oder Pergament, Alles von der vorzüglichsten Beschaffenheit.[WS 5] Tinte und Feder empfehlen sich schon deshalb nicht für die Zwecke des Stenographirens, weil der ewige Weg vom und zum Tintenfaß viel zu viel Zeit wegnimmt, auch ein unglücklicher Klex leicht ein Wort, ja einen halben Satz der so gedrängten Schrift verdecken könnte. Bei größeren Versammlungen, beim Reichstage, bei Landtagen etc. wird ein stenographisches Bureau von acht, zehn bis zwölf Personen gebildet. Je zwei versehen, der größeren Sicherheit halber, den Dienst gleichzeitig; sie schreiben zusammen einen gewissen, vorher gesetzten Zeitraum hindurch, gewöhnlich zehn bis fünfzehn Minuten, und werden dann pünktlich von den folgenden Beiden abgelöst. Sobald die Ablösung Platz genommen, verlassen Jene den Sitzungssaal und begeben sich in das Uebertragungszimmer, in welchem bereits zwei flotte Dictandoschreiber ihres Winkes gewärtig harren. Die beiden Stenographen theilen Das, was sie soeben niedergeschrieben, in zwei gleiche Hälften, und jeder dictirt die auf ihn treffende Hälfte. Hatten sie zehn Minuten zu stenographiren, so hat also jeder nur das Ergebniß von fünf Minuten in gewöhnliche Schrift umschreiben zu lassen; das nimmt indeß, wenn die betreffenden Redner gerade danach waren, recht wohl dreißig bis vierzig Minuten in Anspruch. Während dieser Zeit arbeiten nun die übrigen Abtheilungen wechselsweise im Sitzungssäle, und wenn die Ersten mit dem Dictiren fertig sind, bleibt ihnen gewöhnlich gar nicht viel Zeit übrig, ehe sie wiederum an die Reihe kommen.
Ist das Bureau stark genug besetzt und geht Alles glatt ab, so kann die Uebertragung der gesammten Verhandlungen einer Sitzung gleich nach Schluß derselben fertig in Currentschrift vorliegen und den betreffenden Rednern zur Durchsicht und etwaigen Verbesserung überreicht werden. Ganz ohne Nachhülfe kann selten eine Rede gedruckt werden, wenn sie auch buchstäblich getreu niedergeschrieben worden ist; es geht den todten, schwarzen Zeichen auf dem Papier so Manches ab, was der lebendigen Rede zu Gebote stand: Ausdruck und Betonung, langsamer Nachdruck und stürmisches Feuer, Blick, Geberde und Bewegung des Sprechers. Es kann eine Stelle, eindringlich gesprochen, sehr wirksam gewesen sein, auf dem Papiere aber blaß verschwimmen. („Der Vortrag macht des Redners Glück!“) Etwas Feilen wird daher in vielen Fällen wohl angebracht sein. Kleinen Unebenheiten oder Versehen, welche in der Hitze der Debatte auch dem geschultesten Redner unterlaufen können, wird der Stenograph schon beim Umdictiren abgeholfen haben – mehr zu thun ist er nicht berechtigt. Desto freier schaltet mancher Sprecher mit seinen Reden, obschon diese, einmal öffentlich erklungen, gar nicht mehr sein alleiniges Eigenthum sind. Namentlich früher kam das ziemlich häufig vor; es geschah zum Beispiel, daß ein Redner ein leidenschaftliches Wort beseitigte, welches ihm den Ordnungsruf des Vorsitzenden zugezogen hatte. Dicht hinterher folgte dann natürlich diese ebenfalls im Stenogramm verzeichnete Zurechtweisung, und der verblüffte Leser suchte vergeblich nach dem Grunde derselben.
Solche elastische Zustände bestehen jetzt wohl nirgends mehr, sonst würde auch für die Stenographie die Möglichkeit aufhören, ihrer schönsten Aufgabe im öffentlichen Dienste gerecht zu werden: Hüterin der Wahrheit zu sein.
Welcher Kunstmittel bedient sich nun der Stenograph? Wie ist seine Schrift beschaffen? Früher hatte so ziemlich jeder einzelne Stenograph sein eigenthümliches Verfahren, so daß Jeder nur seine eigene Schrift lesen konnte, und nur zu oft verließ er sich darauf, das gute Gedächtniß werde das ergänzen, was der Stift bösartig unterschlagen hatte. Das ist jetzt anders. In England, Frankreich, Italien und anderen Ländern, ganz besonders aber in Deutschland, giebt es Systeme, welche den Stenographen in den Stand setzen, das geflügelte Wort in sichtbare Zeichen zu bannen, ohne daß er seinem Gedächtniß etwas bei der Wiedergabe des Geschriebenen zuzumuthen braucht. Auch kann Das, was der Eine geschrieben hat, stets von dem Andern gelesen werden, der das System kennt. Darin liegt zugleich ausgesprochen, daß die Stenographie nicht nur für das Nachschreiben von Reden geeignet ist, daß sie vielmehr auch für jede Verwendung im Geschäftskreis und im Privatleben vollkommen ausreicht und jeden Gebildeten aus den Banden der Currentschrift zu befreien und ihm vorzügliche Dienste zu leisten vermag.
Wir sprachen eben von einem System der Stenographie und kommen damit auf die Qual der Wahl, auf die Reichthumsverlegenheit, welche auch in stenographischer Beziehung obwaltet, und zwar bei den Deutschen ebensowohl wie bei den Völkern anderer Zunge. Wenn wir von jenen Systemen absehen, welche sich nicht auf die Dauer oder noch nicht in hinreichendem Maße Geltung verschaffen konnten, so sind es zwei ganz verschiedene Arten der Kurzschrift, welche alle anderen in den Hintergrund gedrängt haben, die Stenographie von Gabelsberger und die von Stolze, von welchen die letztere sich noch dazu neuerdings in Folge gewisser einschneidender Umgestaltungen in zweierlei Schrift gesondert hat. Thatsache ist, daß beide Systeme, das Gabelsberger’sche wie das Stolze’sche, begeisterte, ja manchmal fanatische Anhänger gefunden und daß tüchtige Vertreter beider Systeme treffliche praktische Arbeiten geliefert haben. Beim deutschen Reichstage arbeiten sechs Stolze’sche und sechs Gabelsberger’sche Stenographen, Stolzeaner und Gabelsbergerianer vereint versehen auch den Dienst beim ungarischen Landtage. Beim österreichische Reichstage, bei den Landtagen von Baiern, Sachsen, Württemberg etc. arbeiten nur Gabelsbergerianer. Gabelsberger’s Schrift hat sich auch – in der Uebertragung auf die betreffenden Sprachen – bei den Versammlungen der Volksvertreter von Dänemark, Schweden, Finnland, Dalmatien, Illyrien, Italien und Griechenland seit Jahren bewährt. Gabelsberger’s System wird zur Zeit von etwa hundertachtzig Vereinen gepflegt, die beiden Stolze’schen Systeme (Alt- und Neu-Stolzisch) haben über hundert Vereine aufzuweisen. Jedes dieser Systeme behauptet das bessere zu sein, während ein drittes, noch wenig in den Vordergrund getretenes, das von Arends in Berlin, sich in ausgeprägter Bescheidenheit als die einzige, wirklich und wahrhaft „rationelle Kurzschrift“ zu bezeichnen beliebt. Es fällt uns nicht ein, an diesem Orte in einen Streit über die Vorzüge der verschiedenen Systeme einzutreten; dazu haben wir stenographische Fachblätter zu Dutzenden.
Gabelsberger’schem wie Stolze’schem (wenigstens Alt-Stolze’schem) Systeme gemeinsam sind folgende Grundzüge:
1) Die Orthographie der Wörter wird dem hochdeutschen Laute gemäß etwas vereinfacht, so jedoch, daß das Wort noch leicht erkennbar bleibt; man schreibt z. B. „Tal“ für „Thal“, „tot“ für „todt“, „di Hare“ für „die Haare“. Schon durch diese Reinigung der Schreibweise von unnützen Zeichen ergiebt sich eine nicht zu verachtende Ersparniß. Aufgabe des Stenographen ist ja nur, schnell zu sein, nicht aber jedem Worte den Stammbaum seiner Herkunft auf das Gesicht zu drücken. Er beachtet daher sogenannte orthographische Unterscheidungen nur da, wo eine Verwechselung zu befürchten wäre, was weit seltener der Fall ist, als ein im Schulzwange ängstlich Gewordener glaubt. Andererseits vermag die Stenographie solche Wörter der Sprache, welche verschieden klingen, aber dennoch in der Currentschrift ganz gleich aussehen, wohl zu unterscheiden (z. B. „modern“ und „modern“, „Gebet“ und „gebet“).
2) Die Buchstaben des stenographischen Alphabets sind äußerst kurz und einfach; zu der gewöhnlichen Schreibschrift verhalten sie sich ungefähr so, wie diese zu der alten ägyptischen Monumentalschrift, oder wie die Ziffern 1888, zu den Zeichen MDCCCLXXXVIII, oder genauer wie die Ziffern 1888 zu den Buchstaben eintausendachthundertachtundachtzig. Die Züge aber, welche die stenographischen Buchstaben bilden, sind nichts Ungewöhnliches; sie finden sich überall in der Currentschrift wieder, und jeder unserer Leser hat schon Millionen stenographischer Buchstaben geschrieben, nur – ohne es zu wissen.
3) Wichtiger als die Einfachheit der Buchstabe ist ihre Verbindungsfähigkeit. Es war eben ein Irrthum fast aller französischen und englischen Kurzschriften, daß sie zu den
[69] verschiedenen Formen der einfachen geometrischen Linie griffen, um recht kurze Theilzüge zu erhalten. Man übersah, daß diese sich oft nicht ohne Schwierigkeit aneinanderreihen. Wie wenig die Currentschrift in dieser Hinsicht leistet, zeigen z. B. die Wörtchen „So“, „Sie“, die man bei all ihrer Kürze in zwei Absätzen schreiben muß, sobald sie mit großem S anfangen.
4) Die Vocale inmitten der Wörter werden nicht ausdrücklich, nicht durch besondere Buchstaben bezeichnet, sondern durch ein für die Hand des Schreibenden nicht aufhältliches, dem Leser aber leicht ins Auge fallendes Kennzeichen ausgedrückt.
5) Für manche besonders häufige Vor- und Nachsilben, sowie für eine Anzahl von Wörtern giebt es feststehende Abkürzungen wie in Currentschrift (z. B. Febr., Dr., Thlr., etc.).
6) Die Bezeichnung der runden Zahlen geschieht auf eigenthümliche kurze Weise.
7) Die Anwendung der Interpunctionszeichen beschränkt sich auf das Unentbehrlichste.
Wenn wir auf eine einzelne Erläuterung einiger dieser Grundsätze eingehen, so ist es der Klarheit halber gerathen, daß wir uns auf ein System beschränken. Wir legen daher dem Folgenden das Gabelsberger’sche System zu Grunde, welches das verbreitetste ist, in einer großen Zahl von Schulen Baierns, Oesterreichs und Sachsens, auch Preußens, bereits Eingang gefunden hat, in Sachsen von einer besondern Staatsanstalt, dem „Königlichen Stenographischen Institut“, sorgsam gepflegt wird.
Wir sprachen von einem stenographischen Alphabet. Damit ist die früher verbreitete Ansicht abgethan, als sei die Stenographie eine Wort- oder Silbenschrift. Stenographische Wörter setzen sich ebensogut aus einzelnen Buchstaben zusammen, wie in der Alltagsschrift, nur auf geschicktere Weise. Unser Alphabet ist um einige Buchstaben reicher, als das der Currentschrift, und seine Zeichen sind so gewählt, daß sie nicht leicht, auch wenn sie äußerst flüchtig geschrieben werden, miteinander zu verwechseln sind. Schlechte Stenographie ist viel eher wieder zu lesen, als undeutliche Currentschrift, ja selbst in der Druckschrift können Verwechselungen (zum Beispiel zwischen s und f, r und x, u und n, e und c) vorkommen, die beim eiligen Stenographiren geradezu unmöglich sind, weil den stenographischen Zügen eine gewisse unverlöschbare Charakterfestigkeit innewohnt. Endlich ist bei der Auswahl der stenographischen Buchstaben auch darauf Rücksicht genommen, die bequemsten Zeichen für die am häufigsten in der Sprache wiederkehrenden Laute zu bestimmen. Wie geschmeidig aber die Gabelsbergerschen Buchstaben sind, möge man daraus abnehmen, daß es öfters möglich ist, zwei bis drei Zeichen in eins zu verschmelzen, das noch nicht den Umfang eines Currentzeichens hat und dennoch die Einzelzüge, aus welchen es zusammengesetzt ist, deutlich erkennen läßt (so in den Verbindungen der zusammenlautenden Buchstaben mp, mpf, schm, cht, dr, spr, str und andern). Das ist für eine consonantenreiche Sprache, wie die deutsche, von wesentlichem Nutzen.
Die Mitlauter bilden den eigentlichen Körper der Wörter, die Vocale sind in unzähligen Fällen von selbst zu errathen. Frühere, namentlich die englisch-französischen Systeme der Stenographie, unterdrückten daher die Selbstlauter ganz, englische und französische Praktiker thun es wohl auch jetzt noch. Daß es wohl möglich ist, ganze Sätze zu lesen, in welchen nicht ein einziger Vocal geschrieben ist, möge folgendes Beispiel zeigen: „Jdrmnn ht snr Zt dvn ghrt, dß S. M. Ksr Npln dr Drtt b Sdn d shnlchst gwnscht Kgl schlchtrdngs ncht fndn knnt.“
Nicht, daß wir in der deutschen Stenographie soweit gingen, die Vocale über Bord zu werfen, aber wir betrachten sie inmitten der Wörter nicht als selbstständige Dinge, sondern nur als Eigenschaften der sie begleitenden Consonanten; diese müssen den Selbstlaut gleich mit angeben, und zwar geschieht dies durch eine gewisse Färbung, die ihnen auch in der größten Eile noch gegeben werden kann, durch eine leichte Schattirung der Zeichnung, durch eine besondere Stellung und dergleichen, Merkmale des Lautes, welche meist in der Sprache ihre Begründung haben.
[70] Feststehende Abkürzungen waren sonst die Hauptwaffe der Stenographie; auch das Alt-Stolzesche System hat noch ein reich ausgestattetes Zeughaus solcher Geschosse aufzuweisen, während die Zahl solcher Abkürzungen (Sigel genannt) bei Gabelsberger nur unbedeutend ist. Bei Aufstellung dieser Kürzungen hat man keineswegs darauf zu sehen, besonders lange Wörter zu verkürzen; man sorgt vielmehr für kurze Bezeichnung solcher Wörter, welche in der Sprache jeden Augenblick vorkommen; man kürzt also die Artikel, die Hülfszeitwörter, die Fürwörter, die gebräuchlichsten Bindewörter und Verhältnißwörter.
Die runden Zahlen werden nicht nur kürzer, sondern auch übersichtlicher, unverwechselbarer geschrieben, als in der gewöhnlichen Schrift. Unsere Ziffern sind dieselben, wie sie Jedermann schreibt. Um nun die Zehner auszudrücken, setzt man der Ziffer eine kleine Null auf der Zeile bei; es ist also 10 gleich 10. Bei den Hunderten dagegen tritt diese kleine Null oben neben die Ziffer, mithin ist 100 gleich 10, 800 gleich 80. Für die Tausende dient ein oben neben die Zahl gesetztes Komma, zum Beispiel 4’ gleich 4000. Aus der Verbindung der Null und des Komma ergiebt sich dann die Bezeichnung der Zehntausende, der Hunderttausende etc.
Diese Schrift, wie wir sie in allerdings nur dürftigen Zügen geschildert haben, ist mindestens fünfmal kürzer, als die gewöhnliche Schrift, das heißt, mit ihr kann man in einer Stunde schreiben, was bei Currentschrift fünf Stunden erfordert. Für den alltäglichen Gebrauch, für jede schriftliche Arbeit, wie auch für den Briefwechsel ist sie im allerhöchsten Grade empfehlenswerth. Ich habe diese Schrift nunmehr dreißig Jahre hindurch Tag für Tag angewandt, und zwar zu den verschiedenartigsten Aufzeichnungen, auch zu philologischen Arbeiten, wo es vorkam, daß auf einer Seite drei, vier oder noch mehr Sprachen sich mischten, aber nirgends hat sie mich im Stich gelassen, selbst bei Anlegung von Listen nicht, welche nur abgerissene deutsche, lateinische, griechische und arabische Namen enthielten. Ich halte es für eine schwärmerische Ansicht, wenn man die Currentschrift vollständig durch die Stenographie verdrängen und ersetzen zu können glaubt („caviare to the general!“), aber ich meine auch, jeder Gebildete, und nun vollends gar ein Gelehrter, sollte froh sein, durch die Stenographie sich von den Fesseln und Fußangeln der lästigen und langweiligen Currentschrift frei machen zu können, um so mehr, da das Erlernen dieser so reichlich lohnenden Kunst durchaus nicht mit besonderer Schwierigkeit verknüpft ist. Das Schriftthum beider Stenographiesysteme bietet eine reiche Auswahl von Lehrmitteln, auch für den Selbstunterricht, die Jedermann leicht zugänglich sein dürften. Gelegenheit zu der allerdings erforderlichen Uebung findet sich im Gang der Geschäfte oder der Studien ganz von selbst. Nicht zum Stenographen von Fach möchten wir jeden Gebildeten machen, aber wir würden es jedem Gebildeten gönnen, sich der angenehmen Vortheile der Stenographie zu erfreuen, der einzigen sich für praktische Menschen im neunzehnten Jahrhundert noch geziemenden Schrift.
Vor Allem würde die Stenographie sich als Unterrichtsgegenstand für jede Lehranstalt mit etwas höherem Ziele eignen, sie ist, im Anschluß an den Sprachunterricht, vielfacher Erfahrung nach ein werthvolles formales Bildungsmittel, wird gerade von jugendlichen Schülern gern aufgenommen und lohnt auch bald ihren Eifer.
Wer, die enge, stets menschenüberfüllte Kärnthnerstraße in Wien verlassend, die Ringstraße und statuengeschmückte Elisabethbrücke überschreitet, gewahrt jenseits der letzteren zur rechten Seite ein weitläufiges, altes Gebäude, das die Spuren vorübergegangener Jahrhunderte deutlich an sich trägt – es ist das Starhemberg’sche Freihaus. Auf einem riesigen Flächenraume mit wahrer Raumverschwendung erbaut und seiner Bauart nach längst nicht mehr den Anforderungen modernen Geschmacks und Comforts entsprechend, mußte es in einer Zeit so reger Baulust bald die Aufmerksamkeit einer begehrlichen Baugesellschaft auf sich ziehen; so wurde das Haus denn auch zur Demolirung bestimmt, und bald werden sich an seiner Stelle neue Gebäude erheben und neue Straßenzüge dem Verkehre Raum schaffen.
Mit dem alten Freihause aber sind persönliche Erinnerungen an den großen Meister der Tonkunst verknüpft, der innerhalb jener Mauern eines seiner bedeutendsten Werke, „Die Zauberflöte“, geschaffen hat – und darum sei der nun der Vernichtung anheimgefallenen Stätte hier in weihevoller Erinnerung gedacht.
Es war im Frühlinge des Jahres 1791, als der Theaterdirector Emanuel Schikaneder an Mozart, dessen Bekanntschaft er schon vor elf Jahren in Salzburg gemacht hatte, mit der Aufforderung herantrat, eine Oper für sein Theater zu componiren, um dem etwas herabgekommenen Musentempel wieder auf die Beine zu helfen. Mozart war die Idee, eine deutsche Oper zu schreiben, hochwillkommen; hatte er ja doch selbst oft genug seine Sehnsucht nach Befreiung der deutschen Bühne von der Herrschaft der Wälschen und nach Begründung einer nationalen Oper ausgesprochen. Am deutlichsten erhellt dies aus seinem Briefe vom 21. März 1785 an den Theaterdirector und Dramaturgen Anton Klein in Mannheim; nachdem er in diesem Schreiben seinen Unwillen über die Ränke der italienischen und die mangelnde Thatkraft der deutschen Partei Ausdruck gegeben, schließt er dasselbe folgendermaßen:
„Die Idee dermalen ist, sich bei der deutschen Oper mit Acteurs und Actricen zu behelfen, die nur zur Noth singen; zum größten Unglück sind die Directeurs des Theaters sowohl als des Orchesters beibehalten worden, welche durch ihre Unwissenheit und Unthätigkeit das Meiste dazu beigetragen haben, ihr eigenes Werk fallen zu machen. Wäre nur ein einziger Patriot mit am Brette – es sollte ein anderes Gesicht bekommen! – Doch würde vielleicht das so schön aufkeimende National-Theater zur Blüthe gedeihen, und das wäre ja ein ewiger Schandfleck für Deutschland, wenn wir Deutsche einmal mit Ernst anfingen deutsch zu denken – deutsch zu handeln – deutsch zu reden und gar deutsch – zu singen! – Nehmen Sie nur nicht übel, mein bester Herr geheimer Rath, wenn ich in meinem Eifer vielleicht zu weit gegangen bin. Gänzlich überzeugt, mit einem deutschen Manne zu reden, ließ ich meiner Zunge freien Lauf, welches dermalen leider so selten geschehen darf, daß man sich nach solch einer Herzensergießung kecklich einen Rausch trinken dürfte, ohne Gefahr zu laufen, seine Gesundheit zu verderben.“
Wenn sich Mozart trotzdem anfänglich weigerte, die Musik zur Zauberflöte zu schreiben, so geschah es wegen des mangelhaften Textes, der ihm nicht zusagen wollte; die dringenden Bitten Schikaneder’s und mehr noch der mächtige Drang zum Schaffen besiegten jedoch seine Bedenken, und er willigte ein. Entscheidend für diesen Entschluß mochte wohl auch die Hoffnung auf pecuniären Erfolg eingewirkt haben; denn vom Wiener Hofe nach dem Tode des Kaisers Joseph schmählich vernachlässigt und ignorirt, in seinem Ringen nach einer festen Lebensstellung stets durch seine zahlreichen Feinde gehindert, mußte er die dargebotene Gelegenheit schon um seiner bedrohten Existenz willen ergreifen. Leider sollte er gerade in diesem Punkte um eine traurige Erfahrung reicher werden. Da in Schikaneder’s Casse die vollständigste Ebbe herrschte, wollte oder konnte Mozart keinen Anspruch auf das dazumal für die Composition einer Oper übliche Honorar von hundert Ducaten erheben, und er begnügte sich damit, daß ihm das Erträgniß von dem Verkaufe seiner Partitur an andere Bühnen zugesagt wurde. Wahrlich bescheidene Ansprüche, wenn man die Forderungen moderner Operncomponisten damit vergleicht! Und ein trauriges Merkzeichen der guten alten Zeit, daß man sich die Werke eines Künstlers wohl gefallen ließ, um den Menschen aber sich blutwenig bekümmerte. Mozart’s gutmüthige Bescheidenheit wurde schlecht belohnt, denn der biedere Schikaneder verkaufte später in aller Stille die Partitur für seine eigene Rechnung, und Mozart blieb das leere Nachsehen.
[71] Da es dem Theaterdirector vor Allem darum zu thun war, die neue Oper möglichst bald auf die Bretter zu bringen, war er bemüht, für den Componisten einen Ort aufzufinden, wo dieser möglichst ungestört an’s Werk gehen könne, und er fand ein Plätzchen, wie es den Neigungen Mozart’s, der ein warmer Freund der Natur und ihrer unvergänglichen Reize war, nicht besser entsprechen konnte.
In dem altmodisch umfriedeten Garten, der die eine Hälfte des mittleren großen Hofes im Freihause einnimmt, räumte er Mozart den schmucklosen, hölzernen Gartenpavillon ein, welcher, an die Einfassungsmauer gelehnt, dem Auge einen reizenden Ausblick auf das Gärtchen gewährte. Hier, die blumenbesäeten Wiesen und blühenden Bäume vor seinen Augen, konnte der Meister den Eingebungen seiner überreichen Phantasie lauschen, und im verständnißvollen Anschauen der Natur enthüllte sich ihm das, was in seinen Werken mit den Mitteln höchster Kunst zum Ausdrucke kam, das Schöne.
Mit vollem Eifer gab sich Mozart dem Schaffen hin, so daß die Oper der Hauptsache nach schon im Juli beendet war; doch verzögerte sich die erste Aufführung noch einige Monate, da in der Zwischenzeit noch die Reise nach Prag und dort die Aufführung der zum großen Theile während der Reise dahin componirten Oper „Titus“ erfolgte.
Zur selben Zeit entstand auch jenes berühmte Ave verum, das, an Schönheit des musikalischen Gedankens und an Formenadel selbst unter Mozart’s eigenen Werken einzig dastehend, den Stempel Mozart’scher Weihe am reinsten an sich trägt. Die weihevolle, religiöse Stimmung, die über dieser Tondichtung ruht, beherrscht auch die ernsteren Theile der „Zauberflöte“; ein Hauch tiefer, edler Trauer zieht durch diese Musik und giebt Zeugniß von dem Gemüthszustande, der den Meister jetzt erfaßt hatte. Die rauhe Wirklichkeit des Lebens hatte mit allzu harter Hand an diese zartbesaitete Natur gegriffen, zugleich aber auch das innerste Wesen Mozart’s vertieft und geläutert.
Am 30. September 1791 ging die „Zauberflöte“ zum ersten Male in Scene. Das Schikaneder’sche Theater, nur aus Riegelwänden erbaut, ist längst verschwunden, und an seiner Stelle erhob sich später ein neuer Tract des Freihauses. Ein Exemplar des Theaterzettels aber, welcher die erste Aufführung der Oper ankündigt, ist noch erhalten und zeigt, welch große Wichtigkeit der Theaterdirector seiner eigenen werthen Persönlichkeit beilegte. Nach den in großen Lettern gedruckten Worten: „Zum ersten Male: ‚Die Zauberflöte‘. Eine große Oper in 2 Acten, von Emanuel Schikaneder,“ sind die handelnden Personen aufgeführt, und erst darunter finden sich in kleinerem Drucke die Worte:
„Die Musik ist von Herrn Wolfgang Amade Mozart, Kapellmeister und wirklicher K. K. Kammerkompositeur. Herr Mozart wird aus Hochachtung für ein gnädiges und verehrungswürdiges Publikum, und aus Freundschaft gegen den Verfasser des Stücks, das Orchester heute selbst dirigiren.“
Der Erfolg der Oper, anfangs ein schwacher, steigerte sich in jeder folgenden Aufführung, je mehr die wunderbaren Schönheiten dieses Werkes in’s Verständniß drangen. –
Bald wird die Stätte, wo die „Zauberflöte“ das Licht der Welt erblickt hat, nicht mehr erkennbar sein, und wo sich im Garten einst die gefiederten Sänger lustig in den Zweigen wiegten, wird geschäftiges Treiben und Wagengerassel wiederhallen. Das hölzerne Gartenhäuschen aber wird den Verehrern Mozart’s auch in Zukunft erhalten bleiben. Nachdem es nach Mozart’s Tode lange verwaist und unbeachtet gestanden, nahm sich seiner der im Jahre 1862 verstorbene Fürst Camillo Rüdiger von Starhemberg an, sorgte für die Erhaltung desselben und ließ eine hölzerne Votivtafel daran anbringen. Als nun in jüngster Zeit die Kunde in die Oeffentlichkeit drang, daß das Freihaus verkauft werden sollte, bewarb sich die „Internationale Mozart-Stiftung“ in Salzburg auf Anregung ihres kunstsinnigen Präsidenten, Freiherrn von Sterneck, um das Häuschen, und nachdem Fürst Starhemberg es bereitwilligst der genannten Stiftung zur Verfügung gestellt hat, wird es künftig die Geburtsstadt des großen deutschen Tondichters zieren. Der nächste Herbst wird es, neu aufgerichtet, in alter Form unter den Bäumen des Mirabellgartens wiederfinden.
Komisch und Komiker. Der Verfasser nachfolgender Zeilen läßt als Verwahrung vorausgehen, daß die Ansichten, welche er hier den geehrten Lesern zu unterbreiten sich erlaubt, lediglich die seinen sind, welche, obwohl dieselben nur auf selbstgemachten Erfahrungen beruhen, durchaus nicht den Anspruch auf positive Richtigkeit zu machen sich anmaßen. Es sind aber über Komik und Komiker so merkwürdige Dinge verbreitet, daß es wohl nicht überflüssig ist, wenn einmal ein Praktiker sich darüber ausläßt.
Sprechen wir von der Komik auf der Bühne. Es giebt geborene Komiker und es giebt dazu gemachte. Der geborene Komiker kommt in zwei Gattungen vor – man entschuldige diesen naturgeschichtlichen Ausdruck! Der geborene Komiker Nr. 1 giebt die Komik von innen heraus; er erfaßt die an ihm im Leben vorübergehenden Charaktere mit dem ihm angeborenen Talent meist unbewußt. Alles, was sich auf das bezieht, was er dem Publicum in heiterer Weise wiedergeben und veranschaulichen soll, bleibt, an ihm vorüberziehend, in seinen Eigenheiten gleichsam kleben, ohne daß er augenblicklich daran denkt, den für seine Kunst so wichtigen Moment festzuhalten. Zum Beispiel ist dem Komiker die Aufgabe gestellt, das Aufgeblasene eines Gecken zu zeigen, seine Manieren im Sprechen, im Sichbewegen oder die Unbehülflichkeit, gutmüthige Tölpelhaftigkeit eines dicken Fleischers hinzustellen, die Leichtfüßigkeit und eigenthümliche Beweglichkeit eines Barbiers, die Manieren eines gewesenen, alt gewordenen Tänzers wiederzugeben oder einen Trunkenen feinen und groben Genres (Ersteres bedeutend schwieriger) vorzuführen: so werden ihm diese Aufgaben so gelingen, daß das Publicum sagt: „Der muß einmal Tänzer gewesen sein,“ ein Barbier ausruft: „Wo hat der Kerl die Bewegungen her? und wie geschickt wetzt er das Messer!“ („Kerl“ ist nämlich der Lieblingsausdruck des Publicums für einen Schauspieler, den es gern hat.) Und der Komiker, der talentirte, hat dies nicht studirt, er sagt sich selbst: „Ich habe alle diese Leute gesehen; sie sind Alle an mir vorübergegangen, aber daß ich in jenem Augenblick daran dachte, sie, so zu sagen, in charakteristischer Beziehung bei mir einzuprägen, oder nachträglich mich ihrer erinnernd, mir ihre Manieren durch Uebung anzueignen, kann ich mit gutem Gewissen verneinen.“
Meine Behauptung ist die, daß ein Komiker – ich spreche nur von diesem – der sich vornimmt, diesen oder jenen Charakter zu studiren, nie den Nagel richtig auf den Kopf treffen wird. Es kommt und es ist da!
Wie viele Schauspieler, welche, die sogenannte edle Richtung verfolgen, sehen oft mit Achselzucken auf ihre das Publicum erheiternden Collegen herab. Sie, die nur gewohnt sind, auf dem Cothurn einherzustolziren, und es unter ihrer Würde halten müßten, sich in die Garderobe eines Hausknechts oder Barbiers zu stecken, sie denken nicht daran, daß der Komiker wenigstens ein ebenso guter Schauspieler sein muß, wie sie, und daß die Musen mit der Göttergabe „Humor“, welche dem Komiker außerdem noch zuertheilt sein muß, nicht allzu verschwenderisch umzugehen gewohnt sind.
Wie oft passirt es dem Berufenen nicht, daß er sich auf der Bühne vergeblich müht, die so oft gespielte und vom Publicum belachte Rolle so wiederzugeben, wie er es früher that – es geht nicht, mag er sich mühen wie er will; wenn das Publicum auch wie immer lachte – er ist mit sich selbst unzufrieden und ärgert sich mehr über den ihm gespendeten, sich selbst gegenüber ungerechten Beifall, als daß er darüber erfreut wäre. Und er hat Recht. Der Humor ist mit eisernen Ketten da oben angeschlossen und löst sich nicht immer auf Commando des Schauspielers – er kommt, wann er will.
Eine Erfahrung, welche der Verfasser machte und welche vielleicht auch Anderen seines Faches begegnete, ist ebenfalls eine eigenthümliche und unerklärliche.
Der eben angegebene Fall von der periodisch auftretenden Humorlosigkeit ist häufig mit äußeren Zufälligkeiten verknüpft, welche nach jedes Menschen Meinung gerade dazu beitragen müßten, den Humor zu fördern, statt im Gegentheil ihm hinderlich in den Weg zu treten. Doch wunderbar! Wie oft ist es mir passirt, daß ich, durch äußere Eindrücke in die rosenfarbenste Laune versetzt, hinter der Coulisse stehend mir selbst sagte: „Heute wirst Du einmal Deinem Affen Zucker geben,“ (ein gebräuchlicher Bühnenausdruck), dann hinausging und wie Petrus bitterlich weinte, daß trotz meiner guten Laune der vorerwähnte Casus eingetreten, das heißt der festgebannte Humor nicht gekommen war, wie ich es wünschte.
Im entgegengesetzten Falle indeß kann ich sicher darauf rechnen, daß der göttliche Humor, sei es nun aus Mitleid für den Zustand des Betreffenden, nicht eine Minute auf sich warten läßt, ja in reichster Fülle herabströmt, sobald der Komiker mißgestimmt, traurig ist, ja vielleicht ein vor wenigen Stunden dahingegangenes liebes Familienmitglied, wenn nicht sein Kind betrauert. – Ist das zu erklären? Nein! Aber bei Gott, es ist so!
Wenden wir uns zu der zweiten Gattung geborener Komiker. Hier spreche ich von Verschiedenheiten, über die ich – selbst Komiker – eigentlich nicht sprechen sollte, und einer oder der andere meiner komischen Collegen könnte vielleicht die nicht ganz unrichtige Aeußerung thun: „Erst spricht er von sich selbst – das ist schon arrogant, und nun will er sich gar noch dadurch hervorheben, daß er uns, als Nr. 2, so ansieht, wie er sich oben von den edeln Charakterspielern angesehen glaubte.“ O nein, das will ich nicht; es handelt sich hier nur um die Verschiedenheit der Individualitäten. Der andere Komiker, über den sich das Publicum oft noch mehr vor Lachen ausschüttet als über den erstgenannten, ist wirklich ein geborener Komiker, das heißt er ist schon komisch, sobald er das Licht der Welt erblickt. Dieses gemüthliche und possirliche und doch dabei hübsche Gesicht, die großen brennenden Augen, das schalkhafte Lächeln, das Jeden, der es sieht, wieder zum Lächeln reizt, sagen uns schon: „Er ist wirklich komisch.“ Dieser geborene Komiker ist jedenfalls der bevorzugteste von Beiden, denn [72] er mag sagen was er will, es wird Allen, selbst Denen auf der Bühne, komisch vorkommen. Und ist Das, was er zu sagen hat, nicht wirklich geeignet, großen Jubel hervorzubringen, so macht es sein Blick mit den großen Augen, sein unwiderstehliches Schmunzeln, seine komische Redeweise wieder gut, und der Verfasser des Stückes muß Gott danken, daß die schwache Rolle in die Hände eines solchen Schauspielers gefallen ist.
Was diesem Komiker möglicher Weise das Charakterisiren erschweren könnte, ist eben das angeborene Aeußere, und will er sich wirklich bemühen, dies zu verleugnen, es gelingt ihm nicht; er muß sich immer wieder sagen: „Bleibe, wer du bist, und du wirst dem Publicum stets Liebling sein.“ Von den gemachten Komikern haben wir die größte Anzahl, und – – sie gefallen auch.
Es sind allerdings solche, die sich zwingen, komisch zu sein, die sich einen Humor selbst fabricirt haben, der sich zu dem wahren ungefähr so verhält wie Cichorien zum Kaffee, Komiker, welche über jeden Witz, den sie zu produciren haben, möglicher Weise schon fünf Minuten vorher und wieder fünf Minuten hinterher lachen, Leute, welche im Gesichterschneiden und im Verschmieren ihres Gesichtes beim Schminken ihre Force suchen, die sich mehr als die anderen einbilden, wirkliche Komiker zu sein, ohne zu bedenken, daß auch der Gebildetste im Publicum über die Späße des Clowns im Circus lacht und daß es sehr oft vom Verfasser einer Posse abhängt, ob der Komiker bejubelt wird oder nicht, denn ein guter Witz oder Kalauer, wie man oft auch jetzt den Witz nennt, wirkt doch immer, aus welchem Munde er auch kommen mag, wenn der Witz nur eben gut ist.
Manche dieser Komiker haben auch die Gewohnheit, fortwährend zu lachen und gut zu lachen, so daß sie endlich das Publicum dadurch mit hinreißen; aber das paßt doch nicht überall hin. Man verzeihe mir den Vergleich: wer einzelne von Dr. Bodinus’ Zöglingen beachtet und studirt hat, der muß bekennen, daß dem Komiker vor allen anderen Schauspielern in den meisten Fällen der Ernst anzurathen ist, um komisch zu wirken. Seht Euch den Affen, den Bären, die spielenden kleinen Löwen, besonders diese an, wie sie bei ihren urkomischen Spielen, bei ihren zum Aufschreien possirlichen Angriffen und bei ihrem zum Lachen reizenden Beobachten irgend eines Gegenstandes den unerschütterlichsten Ernst bewahren. Die Thiere können nicht lachen und sind doch so komisch.
Wie treffend ist doch die vielleicht nicht hierher passende Antwort auf die Frage: „Warum lachen die Thiere nicht?“ „Weil, als sie geschaffen worden, noch kein Mensch vorhanden war; worüber sollten sie lachen!“
Ja, wir Menschen sind eigentlich alle geborene Komiker; die Zeitungen, welche wunderbarer Weise auch von Menschen geschrieben werden, machen uns jeden Tag lächeln über uns und unsere Mitmenschen sowie über die Possen, welche sie aufführen, sei es nun in Italien, in Frankreich oder anderswo. Streichen wir also unsere letzte Betrachtung über gemachte Komiker, und stellen wir uns Alle in eine und dieselbe Kategorie.
Ein deutscher Kunstschatz. Am letzten Mai 1872 trug man in Leipzig einen Künstler zu Grabe, der durch seine Darstellungen des Thier- und Pflanzenlebens sich weitverbreiteten Ruf erworben: Robert Kretschmer. Am bekanntesten ist derselbe geworden durch seine Illustrationen zu dem Prachtwerke des Bibliographischen Instituts: „Brehm’s Thierleben“ und zu Settegast’s „Thierzucht“, sowie durch seine Theilnahme an der Reise des Herzogs Ernst von Coburg-Gotha nach den Bogosländern in Afrika im Jahre 1862. Außerdem zeugen die besten illustrirten Zeitschriften für die Vortrefflichkeit und Gesuchtheit seiner Leistungen. Wie sein Bruder Albert als der „Costüm-Kretschmer“, war Robert als der „Thier-Kretschmer“ in der Kunstwelt allbekannt. – In künstlerischer Gewissenhaftigkeit machte er zu jeder seiner Illustrationen ernste Studien und führte viele davon in Aquarellbildern aus. Da nun nicht blos die afrikanische Reise, sondern auch der Besuch vieler zoologischer und botanischer Gärten ihm Gelegenheit zu Studien bot, so sind dieselben nach und nach zu einer Sammlung angewachsen, die, wohlgeordnet in drei Mappen, hundertzweiundachtzig Cartons umfaßt, auf welche etwa tausend Gegenstände aufgeklebt sind. Davon enthalten 60 Blätter 521 Vögel, 62 Blätter 205 Säugethiere und 60 Blätter 90 afrikanische Studien, meistens aus Abessinien und Aegypten, Menschen, Thiere, Pflanzen, Landschaften aus den Bogosländern, Geräthschaften, Vogelnester etc. Außerdem enthalten die Mappen noch 124 Vögel und 53 Säugethiere in unaufgeklebten Zeichnungen und Aquarellbildern.
Ueber den wissenschaftlichen und künstlerischen Werth dieser reichen Sammlung haben Fach-Autoritäten die glänzendsten Zeugnisse abgegeben, und einstimmig wurde gewünscht, daß dieselbe nicht zerstreut, sondern als Ganzes erworben und womöglich Deutschland erhalten werde.
Gewiß ist dieser Wunsch beherzigenswerth; nur sollten doch Alle, die denselben, namentlich bei verschiedenen Naturforscher-Versammlungen, mit Entschiedenheit äußerten, nun auch das Ihrige dazu beitragen, daß ein Käufer für das Ganze sich finde, und bald finde. Dieser deutsche Kunstschatz bildet das einzige Erbe, welches Robert Kretschmer, der rastlos thätige Mann, seiner Familie hinterlassen konnte. Wie schön nun auch jener patriotische Wunsch klingt, so haben die Sorgen einer Mutter und Wittwe doch auch ihr Gewicht – und die Sammlung liegt schon in’s zweite Jahr vielgepriesen, aber von Käufern unbeachtet da. Alle öffentlichen naturwissenschaftlichen und Kunst-Anstalten kennen sie, aber die meisten bedauern den Mangel an Mitteln zum Erwerbe derselben. Folglich bliebe Nichts übrig, als Versteigerung oder Verkauf in’s Ausland, wäre nicht eine Hoffnung noch vorhanden: die, daß ein reicher und edeldenkender Mann diesen Kunstschatz erwerbe, um einer öffentlichen Sammlung ein Geschenk damit zu machen und so seinem Namen ein unvergängliches Denkmal zu setzen. Sollte unter den vielen reichen und edeldenkenden Männern und Frauen deutscher Nation dieser Gedanke nicht recht bald eine werkthätige Hand, das rechte Herz finden?
Gegenwärtig liegt die ganze Sammlung bei dem Maler, Herrn Albert Kretschmer in Berlin, Ritterstraße Nr. 56 drei Treppen, täglich von zwei bis vier Uhr zur Beschauung auf.
Sammlung für die Wasserbeschädigten an der Ostsee. Wir sind den zahlreichen Gebern über die von uns vereinnahmten Gelder bisher einen Rechenschaftsbericht noch schuldig geblieben und geben denselben hiermit in summarischer Zusammenstellung:
Die gesammte Einnahme betrug | . . . | . . . | . . . | Thlr. | 13636. | 7. 6. |
Hiervon empfingen: | ||||||
der Hülfsverein in Berlin . . | Thlr. | 10214. | –.–. | |||
das Unterst.-Comité in Altona | „ | 2421. | –.–. | |||
das prov. Comité in Stettin | „ | 500. | –.–. | |||
das Centralcomité in Stralsund | „ | 500. | –.–. | |||
Coursdifferenz an ausländischem Golde und Coupons .... |
„ | 1. | 7. 6. | |||
Thlr. | 13636. | 7. 6. | Thlr. | 13636. | 7. 6. |
Leipzig, im Januar 1874.
W. Z. in L. Ihre Anschauung über den jüngst verstorbenen schwungvollen und formgewandten Dichter Hermann Kurz theilen wir in jeder Beziehung, namentlich aber sind wir auch darin mit Ihnen einer Meinung, daß das poetische Streben des Verstorbenen noch lange nicht nach Gebühr gewürdigt worden ist. Gewiß werden Sie die nachfolgenden Strophen Ihres Lieblings, welchen der Tod desselben eine besondere Weihe giebt und welche Ihnen vielleicht noch nicht bekannt sind, mit Interesse lesen:
Ich werde so von hinnen eilen
Mit tief geschlossenem Visier,
Und ein paar arme stumpfe Zeilen
Die bleiben dann der Welt von mir.
Nach diesen werden sie mich wägen,
Verdammung sprechen oder Lob,
Nicht ahnend, ach, mit welchen Schlägen
Sich oft mein Herz in meinem Busen hob,
Wie ich am schönen Tag, in guter Stunde,
Verschmelzend Geist in Geist gewebt,
Mit einem kleinen Menschenbunde
Ein ganzes volles Leben durchgelebt,
Wie wir das Herz, wie wir die Welt gemessen,
Wie manch gewichtig Wort in Lethe’s Wellen fiel,
Und wie wir dann in seligem Vergessen
Manch kecken Scherz geübt, manch übermüthig Spiel.
Vor solchem Leben frisch und reich
Wie sind die Lettern todt und bleich!
Doch was ich mir in mir gewesen,
Das hat kein Freund gesehn, wird keine Seele lesen.
Berichtigung. In Nr. 1 unseres Blattes ist in dem Artikel „Aus meinem Gefängniß- und Fluchtleben“ von Fritz Rödiger statt „jener berühmte englische Naturforscher“ (Spalte 2, Zeile 8 v. u.) zu lesen „jener berühmte griechische Naturforscher“.
Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist soeben erschienen:
Wie sehr die Gemeinnützigkeit dieses Werkes von dem großen Publicum anerkannt worden ist, dafür spricht die günstige Aufnahme der achten Auflage. Dieselbe ist binnen zwei Jahren in 20,000 Exemplaren verkauft worden und das jetzt in neunter Auflage vorliegende Buch nunmehr in den Händen von einigen 90,000 Menschen. Hierin dürfte wohl der Beweis liegen, daß dasselbe jede Concurrenz hinter sich zurückgelassen hat und zu den literarischen Bedürfnissen des Lebens zählt. In Familien, wo es sich schon seit seinem ersten Erscheinen als ein Helfer in der Noth bewährt hat, ist es geradezu unentbehrlich geworden.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: umriesele
- ↑ Vorlage: Arta, siehe Berichtigung
- ↑ Vorlage: und von der, siehe Berichtigung
- ↑ Vorlage: Mufuca
- ↑ Vorlage: Beschagenheit