Die Gartenlaube (1874)/Heft 3
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No. 3. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Von Ulrike gefolgt, trat die Braut am Arme ihres Bruders ein. Der Schleier fiel über ihr Gesicht bis auf die Brust herab, vom Hinterkopfe aber wallte er auf den Saum des weißen Tüllkleides nieder, das in strenger Einfachheit am Halse schloß und nur mit einigen Myrthenzweigen besteckt war – da war kein Faden der silberstrotzenden Robe zu sehen; die einfachste Bürgerbraut konnte nicht bescheidener geschmückt sein. Sie kam mit gesenkten Augen näher und bemerkte so weder den großen, befremdeten Blick, mit welchem Baron Mainau sie maß, noch den darauffolgenden spöttisch mitleidigen Ausdruck in seinen Zügen – aber sie schauerte in sich zusammen, als ihre Mutter in jähem Schrecken auf sie losfuhr.
„Was soll das heißen, Mädchen? Wie siehst Du denn aus? … Bist Du toll?“ Das war der Weihespruch, mit welchem die ergrimmte Frau das junge Mädchen auf seinem ernsten Gange begrüßte. Sie war so empört und vergaß sich so weit, daß sie die Hand hob, um die Tochter über die Schwelle zurückzuschieben. „Du gehst sofort auf Dein Zimmer und machst andere Toilette“ – sie verstummte unwillkürlich; Baron Mainau hatte die dräuende Hand erfaßt; er schwieg, aber mit Blick und Geberde verbat er sich so energisch jegliche weitere Auslassung, daß sich schlechterdings nichts mehr sagen ließ.
Hinter einem der zurückgeschlagenen Thürflügel belauschte die alte Lene mit stockendem Athem den Vorgang und wartete nun mit wahrer Inbrunst auf den Moment, wo der Bräutigam ihre „schöne, schlanke Gräfin“ in seine Arme nehmen und herzhaft küssen werde; aber „dem Stock, dem steifen Peter“ fiel das gar nicht ein – mit einigen freundlichen Worten zog er die herabhängende Hand der Braut so leicht und flüchtig an seine Lippen, als fürchte er, sie zu zerbrechen – dabei überreichte er ihr ein prachtvolles Bouquet.
„Blumen haben wir selber,“ grollte die Alte und ließ ihren Blick den Corridor entlang schweifen, den sie dick mit Tannengrün und Blumen bestreut hatte … Gleich darauf rieselte das verhängnißvolle Tüllkleid über alle die Monatsrosen und Geraniumblüthen, und die Gräfin Mutter, welche nach Fassung ringend am Arm des bestürzten Herrn von Rüdiger dem Brautpaar folgte, kehrte mit ihrer schweren Sammetschleppe die armen Dinger auf einen Haufen zusammen. …
Die steinernen Apostelköpfe, die Kanzel und Altar der Rudisdorfer Schloßkirche umkreisten, hatten wohl oft auf ein blasses, freudloses Brautgesicht niedergesehen, hatten manchmal das „Ja“ von männlichen Lippen leidenschaftlos und kaltentschlossen aussprechen hören – denn es war niemals Sitte im Trachenberger Hause gewesen, die Töchter um ihre Meinung zu befragen, noch der „sentimentalen Liebe“ irgend welche Berechtigung zuzugestehen – aber noch nie war eine Trauung so ohne Sang und Klang vollzogen worden. Der Bräutigam hatte sich alle müßigen Zeugen und Gaffer ernstlich verbeten. Was würden sie auch Alles zu flüstern gehabt haben über den schönen Mann, der allerdings ritterlich galant seine Braut führte, aber keinen Blick für sie hatte! Nur einmal, als sie knieend den Segen empfing, schien es, als gleite sein Auge momentan gefesselt an ihr nieder – ihre Flechten hingen über die Schultern hinab und lagen lang und schwer, wie träge, in rothem Gold funkelnde Schlangen, neben ihr auf dem weißen Steingetäfel des Fußbodens.
Und nach der Ceremonie, wie trieb der Mann zur Eile! Der Geistliche hatte zu lange gesprochen, und der nächste Zug sollte um keinen Preis versäumt werden. … Noch während der Trauung waren einzelne Regentropfen gegen das bunte Glas der Kirchenfenster geflogen – die einzige Musik, welche flüsternd die Einsegnungsformel begleitet hatte – nun brach die Sonne durch das zerflatternde Grau droben; sie entzündete in der bleifarbenen Fontainensäule tausend zuckende Lichter, sie lief durch die dunkle feuchtathmende Allee, über das wogende Gras hin und wischte mit ihrem Feuersaum die Thränentropfen von den Blumenblättern; aber sie funkelte auch in den getriebenen Löwenköpfen des mächtigen silbernen Eiskübels, der mit der ganzen Anmaßung einer glanzvollen Vergangenheit im Gartensalon neben dem Frühstückstisch stand – er konnte freilich nicht wissen, daß mancher alte, brave Camerad, der Jahrhunderte hindurch neben ihm im Silberschranke gestanden, inmitten der Eisstücke und unter der Cliquot-Etiquette vergeistigt moussirte. … Man nahm das Frühstück stehend ein. Die drei Geschwister aber rührten keinen Bissen an und betheiligten sich auch nicht an dem Gespräche, das der Geistliche angeregt. Sie standen zusammen und sprachen halbflüsternd, und Graf Magnus hielt mit thränenverschleiertem Blicke Lianens Hand – erst in diesem Augenblicke schien sich der stille, menschenscheue Gelehrte bewußt zu werden, was er verlor.
„Juliane, darf ich Dich bitten? – Es ist Zeit!“ sagte plötzlich Baron Mainau in das Stimmengewirr hinein – er war an die Braut herangetreten und hielt ihr seine Uhr hin, die ihre kalten Brillantblitze über sie hinschleuderte.
[38] Sie fuhr erschrocken zusammen – zum ersten Male wurde sie von dieser Stimme beim Namen genannt; er sprach ihn mit freundlicher Zuvorkommenheit aus, dennoch – wie hart, wie fremd klang er ihr in seiner Unverkürztheit! Selbst die strenge, liebeleere Mutter hatte sie nie so gerufen. … Sie verbeugte sich leicht gegen ihn und die Anwesenden und verließ, von Ulrike begleitet, den Salon.
Schweigend, aber wie gejagt, eilten die Schwestern treppauf, in das gemeinschaftliche Wohnzimmer.
„Liane, er ist schrecklich!“ schrie Ulrike auf, als die Thür hinter ihnen zugefallen war – und in einen Thränenstrom ausbrechend, warf sich das sonst so unerschütterlich ruhige Mädchen auf das Sopha und vergrub ihr Gesicht in den Kissen.
„Still, still – mache mir das Herz nicht schwer! … Hast Du es anders erwartet? – Ich nicht,“ beschwichtigte Liane, während ein bitteres Lächeln schattenhaft über ihr tieferblaßtes Gesichtchen glitt. Sie nahm die schöne Myrthenkrone vorsichtig aus dem Haare und legte sie in den Schrein, der bis dahin alle kleinen Andenken aus der Pensionszeit in sich geschlossen. … In wenigen Minuten war die Brauttoilette mit dem grauen Reisekleide vertauscht; der runde, mit einem dichten grauen Schleier besteckte Hut wurde unter dem Kinne gebunden und die Hände glitten in die Handschuhe.
„Und nun noch einmal zu Papa!“ sagte Liane gepreßt und griff nach dem Sonnenschirme.
„Nur noch einen Augenblick –“ bat Ulrike.
„Halte mich nicht zurück – ich darf Mainau nicht warten lassen,“ versetzte die junge Dame ernst. Sie umschlang die Schultern der Schwester und trat mit ihr über die Schwelle.
Die sogenannte Marmorgalerie lag in der Beletage und lief in gleicher Richtung mit der drunten sich hinbreitenden Terrasse, auf welche der Gartensalon mündete. Die Schwestern durchschritten sie, umfangen von der tiefen Dämmerung, welche die festgeschlossenen Läden verbreiteten, in ihrer ganzen ungeheuren Länge bis an das äußerste Ende, wo das Tageslicht, dünn und gespenstig hereinschlüpfend, bleiche Reflexe in dem spiegelglatten röthlich glänzenden Marmorfußboden weckte. Ulrike stieß den Laden geräuschlos auf; alle die Portraits der geharnischten Männer mit dem feurig rothen Schnurrbarte und den dräuenden Mienen blieben im tiefen Dunkel; der volle Sonnenschein concentrirte sich verklärend auf dem Bildnisse einer ehrwürdigen Greisengestalt, welche, die volle weiße Hand auf den Tischteppich gelegt, vor einem braunen Sammetvorhange saß. Das unschöne Wahrzeichen der Trachenberg, das rothflammende Haupt- und Barthaar hatte sich hier in seidenweiches Silber umgewandelt und lag voll und glänzend auf dem Scheitel und der Oberlippe.
„Lieber, lieber Papa!“ flüsterte Liane und hob die gefalteten Hände zu ihm empor – sie war sein Stolz, sein Liebling, sein Nesthäkchen gewesen, dessen Köpfchen oft schlafend an seiner Brust gelegen und das er noch im schweren Todeskampfe mit der unsicheren Hand schmeichelnd geliebkost hatte. … Seitwärts dämmerte ein Frauenbild, eine hagere, steifgestreckte Gestalt; ihre Schleppe umsäumte Hermelin; auch die entblößten Schultern hoben sich spitz und gelb aus dem weißen Pelze, und auf der hohen. Frisur saß ein feines Krönchen – das war Lianens Großmutter väterlicherseits, auch eine Prinzessin, aber aus einem kleinen souverainen Fürstenhause. In diesem steifgeschnürten Leibe hatte kein warmes Herz geklopft – die hellen kalten Augen stierten unbarmherzig auf die Enkelin nieder, die niedergeschlagen, mit thränenumflortem Blicke das alte Erbschloß verließ, um dem Glanze und Reichthume entgegenzugehen. Sie reckte den dürren Arm mit dem edelsteinbesetzten Fächer in die Tiefe der Galerie hinein, als wollte sie, mit dieser Bewegung über die Bilderreihe hingleitend, sagen: „Lauter Convenienzheirathen, auserwählte Geschlechter, berufen nicht zum Lieben, wohl aber zum Herrschen bis in alle Ewigkeit.“ …
Und es klang, als gehe ein Flüstern von Lippe zu Lippe – es war aber nur der Zugwind, der hereinsäuselte und den erdentstiegenen Duft, den der Regen geweckt, bis hinunter an die uralten Holztafeln mit den Geharnischten trug. … Draußen auf der Terrasse wurde es aber auch lebendig von Männerschritten, die langsam wandelnd vom Gartensalon herkamen und erst am äußersten Ende in gleicher Richtung mit dem offenen Galeriefenster verstummten. Die Schwestern blickten verstohlen hinab. Baron Mainau stand an der Terrassenbrüstung und sah halb abgewendet in die Gegend hinaus – ein vollständig Anderer als der kühle, gehaltene Bräutigam, der bei der Ceremonie pünktlich und tadellos seine Schuldigkeit gethan, nun aber auch mit sichtlichem Wohlbehagen Alles abzuschütteln suchte, was seine stolze, aber auch feurig gewandte Erscheinung für Augenblicke gleichfalls in eine Schablone gezwungen hatte. Er war vollkommen reisefertig und hatte sich eine Cigarre angebrannt, deren blaue Wölkchen bis hinauf in die Marmorgalerie stiegen.
„Ich sage nicht ‚Schönheit‘ – mein Gott, wie viel tausendfältig ist auch der Begriff!“ fuhr Freund Rüdiger fort, dessen etwas hohe, weiche Stimme schon während der Wanderung in einzelnen Lauten heraufgeklungen war – jetzt hörte man scharf und klar jede einzelne Silbe. „Nun ja, diese kleine Liane hat weder eine römische, noch griechische Nase – bah, ist auch gar nicht nöthig – das Gesichtchen ist so unsagbar lieblich.“
Baron Mainau zuckte die Achseln. „Hm, ja,“ sagte er in unverkennbar persiflirendem Tone, „ein sittig und bescheiden Mägdelein von furchtsamem Charakter, mit schwärmerischen Mienen und blassen Veilchenaugen à la Lavallière – was weiß ich“ – er brach wie gelangweilt ab und zeigte mit einer lebhaften Bewegung in die Landschaft hinaus. „Da sieh ’mal her, Rüdiger! Der Mensch, der den Rudisdorfer Park angelegt hat, ist wirklich ein genialer Kopf gewesen – effectvoller könnte doch der hochgelegene Renaissancebau da drüben nicht herausgehoben sein als durch diese wundervollen Buchengruppen.“
„Ach was!“ versetzte Herr von Rüdiger geärgert. „Dafür habe ich nie Augen gehabt, das weißt Du. … Ein schönes Frauenauge, ein schönes Frauenhaar – tausend noch einmal, was waren das für Flechten, die am Altar heute zu Deinen Füßen lagen!“
„Eine etwas verblaßte Schattirung der Trachenberg’schen Familienfarbe,“ sagte Mainau leichthin. „Meinetwegen! Das Titianhaar ist ja jetzt en vogue – die Romane wimmeln von rothköpfigen Heldinnen, die alle unsäglich geliebt werden – Geschmackssache! … An einer Geliebten wäre es mir undenkbar, aber bei meiner Frau –!!“ Er stäubte am Terrassengeländer die Asche von seiner Cigarre und rauchte behaglich weiter.
Liane zog instinctmäßig den dichten Schleier über das Gesicht; nicht einmal die Schwester, die in wortlosem Grimme und Schmerze auf den Sprechenden hinunterstarrte, durfte die tiefe Gluth der Scham, der Demüthigung auf ihren Wangen sehen.
Drüben umkreiste die Gräfin Trachenberg an der Seite des Geistlichen das Parterre; sie kam rasch näher und eilte die Treppe der Terrasse herauf.
„Auf ein Wort, bester Raoul!“ bat sie und legte ihren Arm in den seinigen. Langsam mit ihm auf- und abgehend, plauderte sie über alltägliche Dinge, bis die beiden anderen Herren sich so weit entfernt hatten, daß sie kein Wort mehr auffangen konnten.
„Apropos,“ sagte sie plötzlich stehen bleibend, „Du wirst meinem besorgten Mutterherzen Rechnung tragen und mich nicht für gar zu indiscret halten, wenn ich noch im letzten Augenblicke eine penible Angelegenheit berühre – darf ich erfahren, wie viel Nadelgeld Du Lianen zugestehst?“
Die Schwestern konnten sehen, wie er amüsirt die Frau mit dem „besorgten Mutterherzen“ fixirte.
„Genau so viel, wie ich meiner ersten Frau zugestanden habe – dreitausend Thaler.“
Die Gräfin nickte befriedigt. „Die kann sich freuen – ich war als junge Frau übler dran.“ – Der Mann neben ihr belächelte spöttisch den tiefen Seufzer, den sie ausstieß. – „Und nicht wahr, Raoul, Du bist auch ein wenig gut mit ihr?“ setzte sie affectirt gefühlvoll hinzu.
„Was verstehen Sie darunter, Tante?“ fragte er, sofort seinen Schritt hemmend, mit mißtrauischem Blicke und in sehr scharfem Tone. „Halten Sie mich für so plump und tactlos, daß ich gegenüber meiner Frau, der Trägerin meines Namens, jemals die schuldige Artigkeit aus den Augen setzen könnte? … Wollen Sie aber mehr, dann ist es gegen die Abrede. – Ich brauche eine Mutter für meinen Knaben und eine Herrin für mein Haus, die mich in meiner Abwesenheit vertritt – und ich werde viel, [39] sehr viel abwesend sein. Das Alles wissend, haben Sie mir Juliane als ein sanftes weibliches Wesen zugesagt, das sich vortrefflich in die Stellung finden werde. … Liebe kann ich ihr nicht geben; ich bin aber auch gewissenhaft genug, in ihrem Herzen keine wecken zu wollen.“
Schmerzlich aufweinend breitete Ulrike ihre Arme aus und zog die Schwester an ihr Herz.
„Um Gott – ereifere Dich doch nicht, Raoul!“ bat eingeschüchtert die Gräfin drunten. „Du hast mich völlig mißverstanden. Wer spricht denn von einem so sentimentalen Verhältniß? Das könnte doch mir am allerwenigstem einfallen. … Ich appellirte einfach an Deine Nachsicht. Du hast ja heute selbst gesehen, wie weit dies ‚ewig Weibliche‘ in seiner Bescheidenheit gehen kann – uns einen solchen Streich zu spielen mit der Brauttoilette!“
„Lassen Sie das, Tante – Juliane kann darin handeln, wie sie Lust hat. Wenn sie sich in die Verhältnisse zu schicken weiß –“
„Dafür stehe ich ein. … Gott – es ist ja zu unsäglich traurig, es aussprechen zu müssen – aber Magnus ist eine Schlafmütze, ein Mann ohne alle Energie, eine Null, allein was ich an ihm verabscheue, das ziert seine Schwester – Liane ist ein unbeschreiblich harmloses Kind, und wenn erst Ulrike, der böse Geist meines Hauses, nicht mehr auf sie einzuwirken vermag, dann kannst Du sie um den Finger wickeln.“
„Mama ist sehr rasch in ihrem Urtheil,“ sagte Liane bitter, während die Schritte der Sprechenden drunten sich immer weiter entfernten. „Sie hat sich nie Mühe gegeben, einen Blick in mein Seelenleben zu werfen – wir waren ja zu allen Zeiten Fremden überlassen. … Warum weinst Du, Ulrike? … Wir dürfen auf den kalten Egoisten da unten keinen Stein werfen – habe ich denn mein Herz befragt, als ich meine Hand in die seinige legte? Ich habe ‚Ja‘ gesagt aus Furcht vor Mama –“
„Und aus Liebe zu mir und Magnus,“ ergänzte Ulrike mit so tonloser Stimme, als sei sie für immer gebrochen an Leib und Seele. „Wir haben Alles aufgeboten, Dich zu überreden; wir wollten Dich retten aus der Hölle unseres Hauses und sind nicht einen Augenblick im Zweifel gewesen, daß Du Liebe finden müßtest, wohin Du auch kämest – und nun wird sie Dir so systematisch verweigert. … Du, so jung –“
„So jung? … Ulrike, ich werde im nächsten Monat einundzwanzig Jahre alt; wir haben viel Bitteres und Schmerzliches zusammen verlebt – ich bin durchaus nicht das Kind an Erfahrung und Lebensanschauung, als welches Mama mich eben hingestellt hat. … Lasse mich ohne Sorge mit Mainau gehen – ich will seine Liebe nicht, und bin stolz genug, ihn darüber nie im Zweifel zu lassen. Meine Institutszeugnisse bezüglich der Sprachfertigkeit geben mir sehr viel Muth – die Baronin Mainau zieht heute in Schönwerth ein, in Wahrheit aber nur die Erzieherin des kleinen Leo. Ich habe dann einen edlen Wirkungskreis und kann vielleicht manches Gute stiften – mehr will ich nicht für mein ganzes Leben. … Lasse uns jetzt Abschied nehmen, Ulrike – bleibe hier bei Papa, während ich das Haus verlasse!“
Sie umarmte die zurückbleibende Schwester wiederholt und stürmisch, dann flog sie, ohne noch einmal die Augen zurückzuwenden, durch die Marmorgalerie hinüber in das Wohnzimmer ihrer Mutter. Dort stand Magnus am Fenster und sah nach dem Wagen, der bereits am Fuß der Freitreppe hielt; die Gräfin Trachenberg kam eben mit den drei Herren über den Schloßhof her. Es war gut, daß sie nicht sehen konnte, wie ihr Sohn, die „Schlafmütze“, der „Mensch ohne alle Energie“ bitterlich weinend die Schwester umfangen hielt – wie würde sie gezürnt haben über diesen herzzerreißenden Abschied, der „so wenig standesgemäß“ war!
Liane stieg mit festem Schritt, den Schleier über das Gesicht gezogen, die Treppe hinab. „Geh’ mit Gott und meinem Segen, liebes Kind!“ sagte die Gräfin mit theatralischer Geberde und ließ die Hand einen Moment über dem Haupt der Tochter schweben; dann hob sie den Schleier empor und berührte die weiße Stirn der jungen Frau mit kühlen Lippen.
Wenige Minuten darauf rollte der Wagen auf der Chaussee, die nach der nächsten Eisenbahnstation führte.
Nach vierstündiger Fahrt stiegen die Reisenden auf dem Bahnhof der Residenz aus. Hier trat bereits das neue Leben in all seinem Glanz an die junge Frau heran. Die Equipage, die sie erwartete, um sie nach dem eine Stunde entfernten Schönwerth zu bringen, fiel auf durch das Feenhafte ihrer ganzen Ausstattung – man mußte sich sofort sagen, daß der mattsilbern schimmernde, milchweiße Atlas im Fond nur bestimmt sein könne, eine junge, verwöhnte Schönheit zu umschmiegen – das staubgraue, schlichte Reisekleid der jungen Dame, die sich still gelassen in die Ecke zurücklehnte, sah demnach fast aus wie die dürftige Hülle eines Köhlerkindes, das ein verliebter Märchenprinz im Walde aufgelesen hat und in sein Schloß entführt.
Während Herr von Rüdiger den Platz neben Liane einnahm, schwang sich Baron Mainau auf den Bock und ergriff die Zügel. Er saß stolz nachlässig droben; das von ihm beherrschte Gespann aber brauste wie tollkühn die glatte, breite Chaussee hin, die einen Theil des Parkes quer durchschnitt. … Dort blinkte der Teich auf, und über dem Fischerdörfchen kreiste ein Flug weißglänzender Feldtauben, sonst war es todtenstill und verlassen drüben. Nun lief die Fahrstraße zwischen dichtgedrängten Waldbaumriesen hin, die ihr nur widerwillig Raum gaben – hie und da ließ ein jäh vorbeifliegender schmaler Durchhau die sonnige Landschaft draußen wie einen Edelstein im Baumdunkel aufblitzen.
Da flog plötzlich, auf fünfzig Schritt Entfernung, seitwärts aus dem Dickicht eine Reiterin mitten auf die Chaussee – fast schien es, als stelle sie die heranbrausende Equipage.
„Mainau – die Herzogin!“ rief Herr von Rüdiger, erschrocken auffahrend; aber schon hemmte das herrliche Gespann, infolge einer einzigen Bewegung seines Lenkers, den rasenden Galopp und ging im Schritt. … Eine zweite Dame sprengte aus dem Walde und folgte der Herzogin. Sie kamen rasch näher. So mag man sich den über das Schlachtfeld reitenden Todesengel denken, wie diese fürstliche Reiterin im langwallenden schwarzen Gewande, unter den in den Nacken zurückgeworfenen bläulich-schwarzen Haarmassen – zu schwer, als daß sie der Windhauch zu heben vermochte – das schöne, aber gespenstig farblose Antlitz, das in diesem Augenblick selbst auf den Lippen nicht die leiseste Färbung der lebendig rollenden Blutwelle zeigte.
„Glück zu, Baron Mainau!“ rief sie mit einer stolz grüßenden Handbewegung ihm entgegen, der sich tief vor ihr neigte. Welcher Hohn lag in diesen fast schleppend langsamen, und doch so scharf accentuirten Lauten der vollen, tiefen Frauenstimme. … Hatte sie eine unvorsichtige Bewegung gemacht, oder scheute das schöne, feurige Thier, das sie ritt – genug, es trug sie plötzlich mit einem wilden Satze dicht an den Schlag des langsam vorüberrollenden Wagens.
„Bleiben Sie sitzen, Herr von Rüdiger!“ winkte sie dem Emporschnellenden herablassend zu, ohne ihn anzusehen – ihre flammenden Augen suchten vielmehr in verzehrender Unruhe den herabgelassenen Schleier der erschrockenen jungen Frau zu durchdringen – im nächsten Augenblick schon stoben die Reiterinnen wieder dahin; einige Secunden lang jagten die zwei Pferde, Leib an Leib, nebeneinander, und die geschmeidige Hofdame bog sich zu ihrer Herrin hinüber. „Diese kleine, graue Nonne ist wirklich ein Trachenberg’scher Rothkopf, Hoheit,“ rief der hübsche Mädchenmund ungenirt. Das Rädergeroll verschlang den Zuruf; aber Baron Mainau, der sich zurückgewendet hatte, sah die bezeichnende Geberde der Dame – er lächelte; Liane sah zum ersten Mal dieses stolze Lächeln des Triumphes, der befriedigten Eitelkeit, sah zum ersten Mal seine Augen in jenem Feuer aufstrahlen, das so gefährlich war. Die Ecke, in der seine junge Frau saß, hatte sein Blick nicht einmal gestreift – diese absolute Indolenz und Gleichgültigkeit war so sichtlich unbewußt, daß selbst Freund Rüdiger einsah, sie habe mit jener affectirten geringschätzenden Ruhe nichts gemein, die der schöne Mann aus Caprice oft den blendendsten Frauen gegenüber zeigte.
Die Apfelschimmel brausten wieder über die Chaussee hin, so wildtosend und schwindelnd schnell, als habe die schöne, bleiche Fürstin mit ihrem „Glück zu!“ alle Gluth in den Adern des Lenkers zur Flamme geschürt. Der Blick der jungen Frau hing an jeder seiner Bewegungen. Die Begegnung im Walde hatte plötzlich ein Streiflicht auf die neuen Verhältnisse geworfen – nun wußte sie, weshalb Mainau ihr niemals Liebe geben konnte.
[40] Die letzten Waldbäume flogen vorüber, dann ging es bergab in das Schönwerther Thal, durch Anlagen, mit denen sich der herzogliche Park nicht messen durfte. Eine Zeit lang lief ein hohes Gitter, fein wie Spinnweben, in gleicher Richtung mit dem Fahrweg; weit drinnen, von diesem durchsichtigen Drahtschleier grau verhangen, hoben sich fremdartige Wipfel in die blaue Luft; aus ungeheuren Staudenkelchen dämmerten glühende Blüthenrispen herüber, wie Korallenschnüre aus grüner Meerfluth. Dann drängte sich secundenlang eine Wand von Mimosengesträuch verdunkelnd an das Gitter – sie zerriß, und erschreckend jäh trat ein grellbemalter Hindutempel mit goldstrahlenden Kuppeln hervor; an seine breit herniedersteigende Marmortreppe klopften die bläulich durchsichtigen Wasser eines großen Weihers, und im Vordergrunde, auf dem feingeschorenen Uferrasen stand ein mächtiger Stier, die breite Stirn majestätisch nach dem vorüberrollenden Wagen gewandt. … Das war wie ein sonnengoldener, über das märchenhafte Indien hinflatternder Traum – mit dem Ende des Drahtnetzes erlosch er spurlos; da rauschten wieder ehrwürdige Linden, und die dunklen Fichten hingen greisenhaft ernst ihre langen Bärte über die jungen weißen Kleeblüthen der Wiesen.
Noch einen kühnen Bogen mitten durch uralten, dunkelnden Maßholderbusch beschrieb der Fahrweg, dann rollte der Wagen über eine freie Kiesfläche und hielt vor dem Portal des Schönwerther Schlosses.
Mehrere Lakaien in Galalivrée stürzten herbei, und der Haushofmeister in schwarzem Frack und weißer Weste öffnete unter einem tiefen Bückling den Wagenschlag … Liane war vor mehreren Jahren ungesehen Zeugin gewesen, wie der junge Förster in Rudisdorf seine Braut mit starken Armen aus dem Wagen gehoben und jubelnd in sein Forsthaus getragen hatte – hier warf der neue Eheherr dem Stallknecht die Zügel hin, trat kühlgelassen, wenn auch mit sehr verbindlicher Haltung, an den Wagen, und die linke Hand der jungen Dame zart, mit kaum fühlbarer Berührung ergreifend, half er ihr über den Tritt herab. Unter etwas festerem Druck legte er die unwillkürlich zurückschreckende Hand auf seinen Arm und führte die neue Herrin von Schönwerth über die Schwelle.
Ihr war, als betrete sie einen Dom, so gewaltig, so feierlich erhaben wölbte sich der Thorbogen über ihrem Haupte, und ein so kirchenartiges Licht fiel durch das bunte Glas der Spitzbogenfenster in die weite Treppenhalle. Diese schillernden Reflexe, die hier das Purpurgewand einer Muttergottes als rosige Fluth auf den hallenden Fußboden warfen, und dort die Palmenkuppel über der ruhenden heiligen Familie leuchtend grün an der rothen Porphyrwand herabfließen ließen, sie waren doch nur ein verfälschtes, erkaltetes Sonnenlicht; selbst der breite, die Treppen herablaufende Teppich, so weich und elastisch er sich auch dem Stein anschmiegte, vervollständigte den Eindruck eines überall absichtlich, wie in einer Abtei, festgehaltenen kirchlichen Stils – er zeigte die sprühende, überladene Farbenpracht, aber auch die steifen, geistlosen Linien des byzantinischen Geschmacks in seiner letzten Periode.
Kaum eingetreten, blieb Mainau überrascht stehen, und seine Augen richteten sich zornfunkelnd auf den Haushofmeister. Der tiefniedergeduckte Mann räusperte sich verlegen hinter der vorgehaltenen Hand – man sah, nicht um die Welt hätte er seine Augen erheben mögen, um dem Blick des Gebieters noch einmal zu begegnen. „Ich durfte nicht, gnädiger Herr,“ sagte er leise. „Der gnädige Herr Baron haben nicht erlaubt, daß die Orangerie aufgestellt wurde, und die Guirlanden mußten auch wieder abgenommen werden – von wegen der hochseligen gnädigen Frau.“
Ein Feuerstrom schoß dem Schloßherrn über das Gesicht. Mit katzenartiger, lautloser Geschmeidigkeit machten die Lakaien einen Rettungsversuch hinaus in’s Freie, die klägliche Gestalt des Haushofmeisters aber, der auf seinem Posten aushalten mußte, sank tief in sich zusammen. … Der gefürchtete Sturmausbruch beschränkte sich diesmal auf ein unbeschreiblich spöttisches Lächeln, das den Mund des schönen Mannes entstellte.
„Du siehst mich beschämt, Juliane,“ sagte er – an seiner Stimme hörte man den inneren Kampf mit dem Zorn – „Ich bin außer Stande, mich zu revanchiren. In Rudisdorf hatten wir Blumen auf dem Wege – hier trittst Du in ein ungeschmücktes Haus. Entschuldige den Onkel – diese hochselige gnädige Frau war seine Tochter.“
Er ließ ihr keine Zeit zur Antwort. Im Sturmschritt – voran der dahinstiebende, in Dienstfertigkeit ersterbende Haushofmeister und mit Kopfschütteln nachstrebend Freund Rüdiger – führte er die junge Frau die Treppe hinauf durch Prachtsäle, denen sich eine herrliche Spiegelgalerie anschloß. Liane sah sich am Arm des hohen, stolzen Mannes dahinschreiten – der Gestalt und Haltung nach gehörten sie zusammen; aber welch eine himmelweite Kluft lag zwischen den Seelen, die ein geschäftsmäßiger Vertrag, sanctionirt durch Priesterwort, heute aneinander geschmiedet hatte!
Der Haushofmeister schlug mit feierlich bedeutungsvoller Geberde die Flügel der Ausgangsthür zurück – eine Art von Schwindel ergriff die junge Frau; trotz der klafterdicken Steinwände und der imposanten Deckenwölbung war es schwül und heiß in der Galerie; die ganze Glühhitze der Julisonne fiel durch die unverhüllten Scheiben der langen Fensterreihe – und dort an der gegenüberliegenden Wand des weiten Salons loderten die hellen Flammen im Kamin. Dicke Teppichstoffe bedeckten die Wände, den Fußboden und drapirten Fenster und Thüren; auf den letzteren lagen noch besondere, hermetisch schließende, wattirte Flügel – überall sah man das ängstliche Bestreben, Wärme zu erzeugen und die äußere Luft abzuwehren, und in dieser schweren Atmosphäre, die auch noch ganze Wolken starker Essenzen erstickend füllten, saß ein fröstelnder Mann. Seine Füße, nahe an die prasselnden Holzklötze gerückt, waren in seidene Steppdecken gehüllt; ihre ganze Lage hatte etwas leblos Unbewegliches; dagegen zeigte der Oberkörper eine fast jugendlich graziöse Leichtigkeit in der Haltung. Er war im schwarzen Frack, und über der schneeweißen Halsbinde saß ein kleines, feines, kluges Gesicht, dessen kränkliche Blässe leichenhaft angehaucht wurde durch das unerquickliche Gemisch von Tageslicht und bleichgelbem Flammenschein – das war der Hofmarschall Baron von Mainau.
„Lieber Onkel, erlaube mir, Dir meine junge Frau vorzustellen,“ sagte Mainau ziemlich lakonisch, während Liane den Schleier über die Hutkrempe zurückschlug und sich verbeugte.
Die kleinen braunen Augen des alten Herrn richteten sich scharf auf ihr Gesicht. „Du weißt ja, mein lieber Raoul,“ versetzte er langsam und bedächtig, ohne den Blick von der Erröthenden wegzuwenden, „daß ich die junge Dame nicht als Deine Frau begrüßen kann, bevor unsere Kirche die Ehe sanctionirt hat.“
„Mit nichten, Onkel!“ fuhr Mainau auf. „Ich erfahre erst in diesem Augenblicke, bis zu welcher haarsträubenden Rücksichtslosigkeit Deine Bigotterie sich steigern kann, sonst würde ich wohl einer solchen Auslassung vorzubeugen gewußt haben.“
„Ta, ta, ta – nicht ereifern, bester Raoul! Das sind Glaubenssachen, und darüber streiten noble Naturen nicht,“ sagte der Hofmarschall begütigend – es war nicht zu verkennen, der schwächliche Mann mit dem geistreichen Gesichte hatte Furcht vor der drohenden Stimme des Neffen. „Einstweilen heiße ich Sie als Gräfin Trachenberg willkommen – Sie tragen einen vortrefflichen Namen,“ wandte er sich an Liane. Er reichte ihr seine Rechte begrüßend hin – sie zögerte, ihre Hand zwischen diese bleichen, schmalen, etwas verkrümmten Finger zu legen; ein zorniger Schrecken zitterte in ihr nach. Sie hatte gewußt, daß die Ehe noch einmal, am selben Tage, nach katholischem Ritus eingesegnet werden solle – die Mainaus waren Katholiken –, aber daß man die in Rudisdorf vollzogene protestantische Trauung für so vollkommen null und nichtig in diesem Hause erklärte[WS 1], das traf sie wie ein niederschmetternder Schlag.
Der alte Baron that, als bemerke er ihr Zögern nicht, und ergriff statt ihrer Hand die Spitze einer ihrer niederhängenden Flechten. „Sieh da, wie hübsch!“ sagte er galant. „Ihr alter, erlauchter Name braucht nicht genannt zu werden, sein untrügliches Wahrzeichen wird Sie überall einführen – Das hat geleuchtet, schon in den Kreuzzügen! … Nicht immer ist die Natur so zuvorkommend, den Stempel der Geschlechter in alle Generationen festzuhalten, wie bei der dicken Unterlippe der Habsburger und dem Trachenberger Rothhaar.“ – Er lächelte so verbindlich, wie man nur lächeln kann nach einer wohlgemeint ausgesprochenen Liebenswürdigkeit.
Freund Rüdiger kämpfte mit einem Hüsteln, und Mainau
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Zweifel.
„Für einen armen Sünder
Versage nicht ein kurz Gebet!“
So spricht die morsche Tafel,
Die hart am Waldeswege steht.
Ich thu’ es gern; doch leise
Kommt mir ein Zweifel in den Sinn:
Kann das Gebet auch helfen
Von einer armen Sünderin?
H.
wandte sich hastig nach dem nächsten Fenster. Da stand der kleine Leo, regungslos und starren Auges die neue Mama musternd; die reizende Knabengestalt lehnte nachlässig an dem riesigen Körper eines Leonberger Hundes, und die Rechte mit der berühmten Gerte hing über den Rücken des Thieres hinab – es war eine Gruppe, wie für den Pinsel oder Meißel hingestellt.
„Leo, begrüße die liebe Mama,“ befahl Mainau in unverkennbar aufgeregtem Tone. Liane wartete nicht, bis der Knabe zu ihr kam. In dieser entsetzlichen Umgebung leuchtete ihr das schöne Kindergesicht, ungeachtet seines feindselig trotzigen Blickes, wie ein tröstender Lichtschein entgegen. Sie trat rasch hinüber. Das zarte Antlitz mit dem blumenweißen Teint bog sich über den Knaben und ein würziger Athem berührte seine Lippen.
„Willst Du mich ein wenig lieb haben, Leo?“ flüsterte sie – das klang flehend, und in ihrer Stimme klopfte es wie leises Schluchzen. Die großen Augen des Kindes verloren den festen Blick. Aengstlich erstaunt fuhren sie über das Gesicht der neuen Mutter hin – da fiel polternd die Gerte zur Erde, und plötzlich schlangen sich zwei Kinderarme festpressend um den Nacken der jungen Frau.
[42] „Ja, Mama, ich will Dich lieb haben!“ versicherte der Kleine in dem ihm eigenen derbaufrichtigen Tone. Er sah neben ihrer Schulter hinweg nach seinem Vater. „Es ist ja gar nicht wahr, Papa,“ sagte er fast brummig, „sie ist keine Hopfenstange, und ihre Zöpfe sind lange nicht so schlimm, wie bei unserem –“
„Leo – vorlauter Bursch’!“ schnitt Mainau die weiteren Auslassungen des Kindes ab. Er war sichtlich beschämt und in der peinlichsten Verlegenheit, während um Lippen und Augen des alten Herrn ein verhaltenes Lachen zuckte. Herr von Rüdiger verfiel abermals in einen heftigen Hustenanfall.
„Mein Gott, was hat denn der arme Sünder da verbrochen?“ unterbrach er plötzlich sein diplomatisches Manöver – er zeigte nach einer der dunkelsten Zimmerecken; dort kniete Gabriel mit gesenktem Kopfe vor einem Stuhle; die Hände lagen gefaltet auf einem dicken Buche.
„Mosje Leo ist unfolgsam gewesen; ich kann den widerhaarigen Burschen nicht empfindlicher züchtigen, als wenn ich Gabriel für ihn büßen lasse,“ sagte der Onkel gelassen.
„Was – sind denn in Schönwerth die Prügelknaben wieder Mode geworden?“
„Wollte Gott, sie wären nie aus der Mode gekommen! Dann stünde es besser um uns Alle,“ versetzte der Hofmarschall schneidend.
„Steh’ auf, Gabriel!“ befahl Mainau, seinem Onkel den Rücken wendend. Der Knabe erhob sich, und Mainau nahm mit einem sarkastischen Lächeln das dickleibige Legendenbuch auf, aus welchem der arme Sündenbock allem Anscheine nach hatte vorlesen müssen.
Mitten in diese peinliche Scene hinein trat der Haushofmeister. Er trug eine Platte voll Erfrischungen. So tief gereizt der alte Herr in diesem Momente auch sein mochte, er richtete doch sofort seine Augen scharf musternd auf den reichbesetzten Silberteller, den ihm der Haushofmeister auf seinen Wink hinhielt.
„Ich werde dem hirnlosen Verschwender drunten in der Küche wohl einmal das Handwerk legen müssen,“ murmelte er ingrimmig. „Solche Berge des theuersten Fruchteises! … Ist er verrückt?“
„Der junge Herr Baron haben so befohlen,“ beeilte sich der Haushofmeister leise zu sagen.
„Was giebt’s?“ fragte Mainau; er warf den Folianten auf den Stuhl und trat mit finster gefalteter Stirn näher heran.
„Nichts von Belang, mein Freund,“ begütigte der Onkel mit einem scheuen Seitenblick – er war erschrocken und so roth geworden wie ein junges Mädchen, das man bei einem oft gerügten Fehler ertappt. „Bitte, liebe Gräfin, legen Sie doch endlich einmal den Hut ab,“ sagte er zu der jungen Frau, „und essen Sie ein wenig von diesem Ananaseise! – Sie werden der Erquickung bedürfen nach der heißen Fahrt.“
Liane strich liebkosend mit der Hand über den Lockenkopf des kleinen Leo und küßte abschiednehmend seine Stirn. „Ich muß danken, Herr Hofmarschall,“ versetzte sie sehr ruhig. „Sie verweigern mir vorläufig die Stellung der Hausfrau und den Namen Mainau – die Gräfin Trachenberg aber kann unmöglich dem Anstand und der guten Sitte in das Gesicht schlagen, indem sie ohne weiblichen Schutz in einem fremden Hause in Herrengesellschaft verbleibt. Darf ich bitten, daß man mir ein Zimmer anweist, in welches ich mich bis zu der Ceremonie zurückziehen kann?“
Vielleicht war der alte Herr mit dem impertinenten Diplomatengesicht noch niemals so energisch zurechtgewiesen worden, oder er hatte in der überaus einfach gekleideten Mädchengestalt, unter dem das jugendliche Antlitz halb verdeckenden grauen Schleier die Schüchternheit und das Gedrücktsein der finanziellen Verarmung nothwendig vorausgesetzt – genug, seine Augen öffneten sich weit, und der sonst unleugbar geistvolle Ausdruck seiner Züge wich einer nichts weniger als schlagfertigen Verblüfftheit. … Herr von Rüdiger rieb sich hinter seinem Rücken schadenfroh die Hände, Mainau aber fuhr in sprachloser Ueberraschung herum – hatte wirklich „das bescheidene Mägdelein mit dem furchtsamen Charakter“ gesprochen?
„Eh – wir sind sehr empfindlich, meine kleine Gräfin,“ sagte der Onkel nach einem verlegenen Räuspern.
Die Pflege ihres schwer erkrankten ältesten Bruders, der im folgenden Herbste an der Schwindsucht starb, führte zum Unglück Molly-Augusten gegen Weihnacht 1780 auf die lange Zeit von anderthalb Jahren in Bürger’s Haus. Sie hatte bis dahin theils bei der Stiefmutter, theils bei der verheiratheten Schwester in Bissendorf gelebt und den Geliebten nur selten bei einem flüchtigen Besuche in Gesellschaft Dorettens wiedergesehen.
Die Gedichte Bürger’s, vor Allem die „Elegie, als Molly sich losreißen wollte“, verrathen uns, daß ihr frommes, keusches Gemüth noch strenger und pflichtgetreuer, als Jener, die allverzehrende Liebe bekämpft, daß sie dem stürmischen Drängen seiner Leidenschaft, so sehr sie dieselbe theilte, Jahre lang unter den stärksten Prüfungen widerstanden hatte. Der erneuerte Anblick des Geliebten, der ohne das Lächeln ihres Mundes, den beseligenden Strahl ihres blauen Auges, das „süße Huldgekose“ ihrer Flötenstimme einem frühen Grabe entgegen zu siechen schien, brach endlich den Heldenmuth ihrer Tugend. Nicht als Sünde, sondern als ein vorbestimmtes Verhängniß, als eine unheilbare Krankheit oder ein allmächtiges Gebot der Natur erschien es den Liebenden, wenn sie dem „blöden Wahne“ der „Menschensatzung“ Trotz boten und dem lockenden Sirenenliede ihrer Herzen folgten.
Die Sonne, sie leuchtet; sie schattet, die Nacht;
Hinab will der Bach, nicht hinan;
Der Sommerwind trocknet; der Regen macht naß;
Das Feuer verbrennet. – Wie hindert ihr das? –
O laßt es gewähren, wie’s kann!
Und Dorette? – Ohne Zweifel hatte das jahrelange eigene Leid und der tägliche Anblick ihres Gatten, der „wie ein Schlaftrunkener, in ein dumpfes Grab verschlossen“, umherschwankte und sich nur noch den Tod wünschte, ihrer tief erschütterten Seele jedes besonnene Denken und sichere Fühlen geraubt. Und dann – auch sie hatte Goethe’s „Stella“ gelesen und wieder gelesen. Cäcilie wies ihrer großmüthigen Dulderseele den Weg. Wie die Gemahlin des thüringer Grafen, als dieser ihr die junge Morgenländerin brachte, welche seine Fesseln gelöst und ihn aus der Sclaverei gerettet hatte, rief sie der Schwester – auch wohl „unter tausend Thränen“ – zu: „Nimm Alles, was ich Dir geben kann! Nimm die Hälfte Deß, der ganz Dein gehört. – Nimm ihn ganz! Laß mir ihn ganz! – Du hast ihn gerettet, von ihm selbst gerettet – Du giebst mir ihn wieder.“
Es ist nicht unseres Amtes, diese Sophisterei der Leidenschaft zu entschuldigen oder zu verdammen. Wir suchen einzig, aus dem uns vorliegenden Material das psychologische Verständniß einer Verirrung zu gewinnen, die ein Glied in der langen Kette seltsamer Herzensgeschichten an Ende des vorigen und Anfang des jetzigen Jahrhunderts ist. „Werther“, „Stella“, „Die Geschwister“, „Die Wahlverwandtschaften“ führen den Leser nur darum in das Nachtgebiet elementarer Leidenschaft, weil die Krankheit, welche sie schildern, wie eine geistige Epidemie auf den Gemüthern der Zeitgenossen lag. Der Frevel wider das ewige Gesetz der Sittlichkeit rächte sich zudem ja bitter genug an Denen, welche sein in toller Verblendung spotteten.
Während ihres Aufenthaltes in Appenrode malte Auguste in Pastellfarben das wohlgelungene Bild ihrer Schwester Dorette und, vor einem Spiegel sitzend, ihr eigenes Bild, als Geschenk für ihren jüngsten Bruder George, aus dessen Nachlasse mir die beiden Portraits von ihrem jetzigen Besitzer zur Nachbildung für die Gartenlaube freundlichst übersandt worden sind. Ein anderes, [43] von unbekannter Hand gemaltes Molly-Bild, das sich in Bürger’s Nachlaß befand und nach seinem Tode in den Besitz seiner Tochter Marianne kam, ist, wie die Vergleichung mit dem mir vorliegenden Original erweist, durch die Kunstanstalt von A. H. Payne in Reudnitz bei Leipzig nicht allzu glücklich nachgebildet worden; namentlich der Ausdruck des schöngeformten Mundes ist durch eine seltsame Zuspitzung der Oberlippe unangenehm entstellt.[1]
Das naturwidrige Verhältniß einer zwischen den Schwestern getheilten Liebe konnte nicht von Bestand sein. Im Sommer 1782 entriß sich Auguste den Armen des Geliebten, um zunächst bei seiner in Langendorf verheiratheten Schwester Friederike, der Mutter des Dichters Müllner, zu verweilen, und kehrte erst nach dem Tode Dorettens als angetraute Gemahlin in sein Haus zurück. Der Verkehr zwischen den Gatten gestaltete sich nach ihrem Fortgange um Vieles erfreulicher als in den verflossenen Jahren; Bürger begegnete der schwer gekränkten Frau mit warmer Herzlichkeit, und Dorette sah aufathmend einer besseren Zukunft entgegen.
Rührend klingt der innige Weihnachtsbrief, den sie dem Bruder sendet:
„Ich seze mich heute früh nieder, Dir einige Stunden dieses Tages zu widmen. Das Wetter ist so erschrecklich, daß man nicht denken darf in die Kirche zu kommen. Doch die Unterhaltung mit meinem Bruder wird eben so süße, so heilige Empfindungen in mir erregen, wie das was mir von dem heutigen Feste gepredigt würde. Froh sein und fröliche Geschöpfe zu machen, ist nach meinem Gefühl die innigste Dankbarkeit für die Güte unsers Gottes. Lieber George, heute mögte ich beinah Deinen Ausspruch wiederlegen, wo Du sagst, ‚es sey unser Loos Unglücklich und traurig zu sein! etc.‘ – ich fühle in diesen Augenblicken, daß es doch Gefühle giebt, die alles Elend überwiegen, und uns zu seeligen Geschöpfen machen. Du wirst lachen, George, wenn Du nun eigentlich die Ursache erfährst, die mich so froh und heiter macht, wirst sagen, daß es gar kein Vorzug sei, sich auf diese Art heitre Laune zu verschaffen, weil es nichts auserordentliches sei, daß ein Geschöpf seine Pflicht erfülle? Recht, lieber George, ich habe auch nichts weiter gethan, aber herzliche innige Freude durchglüht mich, daß Gott mir die Wonne schenkte, die Pflichten der Wohlthätigkeit ausüben zu können … O George, so ein Gesicht welches mir mit dankbarer Freude entgegen lächelt – bei Gott, der gnädigste Blick des größten Monarchen würde mir nicht so angenehm sein! Könnte ich mir den nicht auch durch weniger Gute und Edle Mittel erwerben? – Du wirst lachen über mich, George, daß mich die Austheilung einiger Weihnachtsgeschenke an unsere Leute so frohes Muths gemacht hat: – und doch ists nicht anders. Der Dank, welcher aus ihren Seelen in die meinige überging, und hier innige Anbetung gegen Gott wurde, der mir die Mittel gab, Freude verbreiten zu können, hat mich mit diesen Leben auf lange wieder ausgesönt … Uebrigens jage nur immerhin alle dunklen Grillen zum Henker, daß wir nun gerade just zum Unglück sollten geboren sein, ich protestire öffentlich dawider. Besonders in meiner heutigen Laune. Es wird Dir schon gut genug gehn, George, Du bist ein guter Junge, und sieh nur, ich bin ja auch seit einiger Zeit glücklicher, Du weist, wie wenig ich sonst auf den Sinn dieses Worts Anspruch machen konnte! ich freue mich des herzlich, ob ich gleich fürs Künftige vom Schicksal keinen Freibrief erhalten habe. … Dank noch für Deine Sorge um meine Augen. Gott sei Dank, noch habe ich sie. Dies ist Beweis davon. Auch glänzen sie gleich 2 hellen Sternlein des Himmels, und lächeln dem Bruder meines Herzens hier Liebe und Dank für seine Liebe und die Versicherung ewiger Treue von seinerNicht lange nachher erlag sie derselben auszehrenden Krankheit, an welcher auch ihr Bruder Karl gestorben war. Zuvor gab sie noch einer Tochter das Leben, einem schwächlichen Kinde, das ihr bald in die Gruft folgte. Sie litt lange und schwer, auf’s Treueste von ihrem Gatten und ihrer Stiefschwester Wilhelmine gepflegt, und schied ungern aus der Welt, die ihr doch so wenig ungetrübter Freuden bescheert hatte.
„Die ganze Zeit her,“ schrieb Bürger ihrem Bruder in einem ausführlichen Berichte über ihre Krankheit, „hat die arme Leidende dennoch die durstigste Liebe zum Leben geäußert; aber seit einigen Tagen scheint sie das Herannahen des Todes zu fühlen und sich mehr darein zu ergeben. – Gott mache alles nach seiner Barmherzigkeit! Ich weiß, er wird es gut machen.“
Wir eilen zum Ende; denn der Abschluß dieser ergreifenden Liebestragödie ist bekannt. Bekannt ist, wie Bürger, der sein „Hungeramt“ niedergelegt und die Laufbahn eines Universitätslehrers in Göttingen ergriffen hatte, um endlich vor dem Altare mit der „Ganzvermählten seiner Seele“ verbunden ward, wie sein hinwelkendes Leben unter dem Sonnenblicke ihres Lächelns „aufzugrünen und zu blühen“ begann, wie sich Molly-Auguste durch Fleiß und Sparsamkeit auch der Verbesserung seiner zerrütteten Finanzen befliß, und wie nach kurzem Wonnetraume ein hektisches Fieber sie jählings entraffte, nachdem sie ihm zu dem Sohne, den sie früher geboren, fünfzehn Tage vor ihrem Tode noch eine Tochter geschenkt hatte. Nur das sei erwähnt, daß George Leonhart, der in diesen Trauertagen im Hause seines Schwagers verweilte und neben dem treuen Schwager, Dr. Althof, am Sterbelager seiner Schwester stand, mit den Worten: „Sie hat vollendet!“ in das Vorzimmer trat, um dem wortlos zusammenbrechenden Bürger und seiner Tochter Marianne, welcher dieser Moment stets unvergeßlich blieb, das entsetzliche Geschick zu verkünden. Vor mir liegt, während ich diese Erinnerungen aufzeichne, eine seidenweiche, lichtblonde Locke, die George Leonhart, wie die von ihm herstammende Inschrift der vergilbten Papierhülle bezeugt, am Todestage Augustens von ihrem Haupte abgeschnitten. Sie ist zu einem Kranze geflochten und mit einer verblichenen rosaseidenen Schleife befestigt. – –
Sollen wie noch des unseligen Nachspiels jener dritten Ehe gedenken, zu der sich Bürger durch das anscheinend so treuherzige Gedicht des „Schwabenmädchens“ verlocken ließ? Ach, er mußte es hart genug büßen, daß er einen Augenblick gewähnt hatte, dieses „Kind der Unnatur“ würde ihm seine „Molly-Adonide“ ersetzen. Er war fortan ein an Leib und Seele gebrochener Mann, den nur die Sorge für seine Kinder zu fieberhaft rastloser Thätigkeit spornte, und dem diese schwere Sorge noch die letzten Stunden verbitterte. Deutsches Dichterelend! Empfing doch der Sänger unsterblicher Lieder, die sein ganzes Volk entzückten, von der hannoverschen Regierung nach zehnjähriger angestrengter Lehrthätigkeit statt des erbetenen bescheidenen Professorengehalts auf seinem Sterbelager kaum den Bettlerpfennig von fünfzig Thalern, um ihn vor dem Hungertode zu schützen!
Ohne die thatkräftige Hülfe des wackeren Althof würde das Schicksal der armen Waisen traurig genug gewesen sein. Er ließ sich die Vormundschaft über dieselben übertragen, suchte für sie durch Verhandlung mit den Gläubigern aus der stark verschuldeten Erbschaftsmasse zu retten, was möglich war, und nahm den Sohn Agathon aus der unglücklichen letzten Ehe zu seinen eigenen Kindern in’s Haus. Der kränkliche, geistig verkrüppelte Knabe starb schon in seinem elften Lebensjahre. – Marianne, die Tochter Dorettens, kam zu der jüngeren Schwester Bürger’s in Langendorf bei Weißenfels, welche auch den Sohn Augustens, Emil, erzog. Später folgte sie einer Einladung der ältesten Schwester ihres Vaters, der Wittwe des Pfarrers Oesfeld, nach Waldenburg, und blieb nach dem Ableben derselben bei ihren Kindern und Enkeln, in deren Armen sie hochbetagt und unvermählt am 11. November 1862 zu Remse entschlief.
Die Tochter Molly’s, welche gleich ihrer Mutter Auguste hieß, wurde bei der Elderhorst’schen Familie in Bissendorf erzogen und vermählte sich dort mit dem Amtsassessor Mühlenfeld, der 1813 in Winsen an der Luhe als Friedensrichter starb. Sie hatte das trübe Geschick, ihren Gatten, einen erwachsenen Sohn, der als Hauptmann im Geniecorps zu Hannover stand, und eine blühende Tochter, die sich eben verlobt hatte, jählings durch Schlaganfälle in’s Grab sinken zu sehen. Sie selber starb zu Celle am 11. November 1847. Zwei ihrer Söhne sind noch am Leben, der älteste als Obergerichtsdirector zu Nienburg an der Weser, der jüngere als Apotheker zu Hoya.
[44] Das unglücklichste Loos fiel dem Sohne Molly’s, Emil, und seinen noch lebenden Hinterlassenen zu. Seine ersten Kindheitsjahre verbrachte er, wie erwähnt, bei der Tante in Langendorf; nach der Scheidung Bürger’s von seiner dritten Frau verweilte er kurze Zeit im väterlichen Hause. Seine spätere Ausbildung empfing er in der Schulpforte bei Naumburg; als er diese Anstalt verließ, trat er zur Erlernung des Buchhandels bei dem Freunde seines Vaters, J. Ch. Dieterich zu Göttingen, in die Lehre. Nachdem er in mehreren renommirten Buchhandlungen Deutschlands servirt hatte, fand er im F. A. Brockhaus’schen Geschäft zu Leipzig eine Anstellung. Dort verlobte er sich, und der Wunsch, bei Begründung eines eigenen Herdes sich zugleich eine feste Lebensstellung zu schaffen, veranlaßte ihn, sich 1821 in Naumburg zu etabliren. Zwei Jahre später vermählte er sich mit seiner Braut, der am 6. Februar 1801 geborenen Marie Concordia Wilhelmine Anton, die ihn im December desselben Jahres mit einer Tochter, Friederike, und im Sommer 1825 mit einem zweiten Kinde, Emilie, beschenkte. Letztere ist jetzt mit dem Buchdruckerei-Factor einer Leipziger Officin verheirathet.
Trotz des emsigsten Fleißes wollte es Emil Bürger mit seiner Buchhandlung nicht glücken. Ohne ausreichende Mittel, hatte er sich aus Localrücksichten bewegen lassen, den Verlag einiger kostspieliger Werke zu übernehmen, und mußte schließlich sein Geschäft liquidiren. Er zog nach Leipzig zurück, konnte aber als verheiratheter Mann keine seinen Wünschen und Fähigkeiten entsprechende, gut salarirte buchhändlerische Stellung finden. Die Pflicht des Gatten und Vaters nöthigte ihn, ein Unterkommen mit nur spärlichem Ertrag anzunehmen; doch bei dem unterstützenden Fleiße der Mutter hätte der bescheidene Erwerb wohl ausgereicht, wenn nicht der Vater bald erkrankt und nach langem Siechthum am 28. März 1841 seinen Leiden erlegen wäre. Zwar arbeitete die treue Mutter unermüdlich Tag und Nacht mit der Nadel, um die schlimmste Sorge von den Häuptern der geliebten Kinder fernzuhalten, und diese, welche nach zurückgelegter Schulzeit die Anfertigung künstlicher Blumen erlernten, halfen der Mutter nach Kräften, die mäßigen Bedürfnisse der Familie durch den Ertrag ihrer Hände zu bestreiten.
Aber wie karg ist der Gewinn, den weibliche Handarbeit erzielt! Friederike steht heute noch, wie seit achtundzwanzig Jahren, einem Blumengeschäfte vor; allein sie hat in vollstem Maße die Schwere des Kampfes um das Dasein erfahren.
„Gern,“ schreibt mir das brave Mädchen, welches mir diese Anführung ihrer Worte verzeihen wolle, in einem ihrer anspruchslosen Briefe – „gern möchte ich der Mutter nach einem so vielgeprüften, an Mühen überreichen Leben einen heiteren Lebensabend bereiten, aber der Wunsch bleibt hinter der zwingenden Macht der Verhältnisse zurück. Zumal da alle, auch die unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse eine so enorme Steigerung erfahren, reducirt sich der ohnehin mäßige Gewinn auf noch weniger. Wir haben, so weit meine Erinnerung zurückreicht, entbehrt und ertragen, ohne den weniger Eingeweihten ahnen zu lassen, wie schwer es uns oft zu tragen wurde.“ Wie Friederike mir in demselben Briefe mittheilt, ließ der verstorbene König Friedrich August von Sachsen den Hinterbliebenen des Dichters eine Summe von hundert Thalern anweisen. Die Schillerstiftung erfreute sie zweimal mit einer Pension.
Möge der „Unstern“, der bis jetzt über den letzten Erbinnen des großen Dichternamens geruht hat, erbleichen, und mögen sie, belohnt durch das Bewußtsein treu erfüllter Lebenspflicht, dereinst das müde Haupt versöhnter mit dem ihnen beschiedenen Geschicke zur Ruhe legen, als ihr unglücklicher Großvater![2]
In einer klaren Octobernacht, wenn die Sterne hell herniederfunkeln und wir von einer Kirmeß oder einem Beisammensein mit guten Freunden den Heimweg suchen, bemerken wir gewöhnlich zum ersten Male im Herbste ein eigenthümliches, tausendfältiges Flimmern und Glitzern auch vom Erdboden her, und die hölzerne Bachbrücke, Bohlen wie Geländer, erscheint mit einem leichten weißen Anstriche versehen.
Am Morgen sehen wir dann die ganze Landschaft mit Lappen und Streifen des weißen Winterpelzes ausgeziert, von der frischgrünen, kaum aufgegangenen Wintersaat an, bis zu dem entlaubten Gebüsche des Parkes, über dessen Aesten sich in Diamantenschnüre verwandelte Spinngewebe und Fäden des Altweibersommers hinziehen; nur der eiserne Staketenzaun und das Zinkdach der Laube haben vorläufig den weißen Besatz abgelehnt.
Wenn meine alte hustende Großmutter auf unser Thema zu sprechen kam und den Winter eine abscheuliche Jahreszeit schalt, die höchstens dazu gut sei, uns den Frühling werther und theurer zu machen, dann pflegte der Großvater in seiner poetischen Art zu erwidern: „Und ist das nicht auch ein Verdienst? Frühling, der holde, lächelnde Knabe, würde nicht halb so oft besungen, nicht entfernt so heiß ersehnt werden, wenn er nicht auf den gestrengen Herrn Winter folgte; aber was Deine Meinung von der Häßlichkeit und Langweiligkeit des Winters betrifft, da sind wir Nordländer so wenig urtheilsfähig, wie der Schweizer in Betreff der Gebirgsschönheit, und wir alten Leute, die nur noch seine Beschwerden empfinden, sind’s erst recht nicht. Man müßte einem Aequatormenschen – natürlich ganz mit Pelzen verwahrt – unsern Winter in seiner Pracht zeigen; der würde sicherlich in einem Feengarten zu wandeln glauben, wenn er Busch und Baum mit edelsteinblinkendem Rauhfroste neubelaubt sähe, und wie die Sonne in unendlicher Klarheit über das unabsehbare Schneefeld, auf die rüstigen Heere munterer Schlittschuhläufer und Schlittenfahrer und die Häuser mit den gastlichen Rauchsäulen strahlt.“
Die nachfolgenden Skizzen sollen den Beweis liefern, daß der Winter nicht nur der Augenlust, sondern auch dem Wissensdurste eine Quelle reicher Anregungen bietet. Wir werden uns in das warme Zimmer zurückziehen und durch eine Reihe leicht anstellbarer Versuche das Verständniß der Wunder draußen zu erleichtern suchen.
Wenn es kalt genug ist, können wir uns jeden Augenblick überzeugen, daß ein geheizter eiserner Ofen, lange bevor er die Zimmerluft über den Schmelzpunkt des Eises erwärmt hat, die Fensterscheibenblumen aufzuthauen beginnt. Es gehen also Strahlen von dem erhitzten Metallmantel aus, die ihre Wärme nicht an die kalte Luft verlieren, und solche Wärmestrahlen – wie die Lichtstrahlen eine Wellenbewegung des feinen, das ganze Weltall erfüllenden Stoffes – sind es, durch welche die Sonne mitten durch den ungeheuer kalten Weltraum hindurch (man rechnet auf zweihundert Grad Kälte in demselben) alles Leben unserer Erde weckt und erhält. Wenn wir uns unserer kleinen Zimmersonne, die wir bekanntlich mit verwandelter Sonnenkraft (Holz oder Kohlen) speisen, gegenüberstellen, so bläst sie uns ihre Hitze in recht aufdringlicher Weise entgegen, und wir möchten vorn verbrennen, während wir hinten Frost empfinden, bis die [45] ganze Zimmerluft auf dem langsamen Wege der Leitung eine behagliche Temperatur angenommen hat. Glücklicher Weise genügt schon ein ganz dünner Papierschirm, uns vor dieser „strahlenden Wärme“ vollkommen zu schützen; ein Thermometer zeigt vor diesem Schirme im Bereiche der Strahlungswärme mindestens zehn Grad mehr als unmittelbar hinter demselben. Das Vermögen der Wärmestrahlung richtet sich im Allgemeinen nach der Oberflächenbeschaffenheit der Körper, und zwar erkalten in Folge dieser Wärmeabgabe gegen entfernte Dinge rauhe Körper schneller als glatte oder glänzende, dunkelgefärbte schneller als hellfarbige, solche, welche die Wärme schlecht leiten, stärker als gutleitende. Sie haben dafür das Vermögen, genau in demselben Grade, wie sie die Wärme leichter abgeben, sich in dem Bereiche der strahlenden Wärme anderer Körper, z. B. der Sonne, schneller und stärker zu erwärmen. Wir benöthigen der Kenntniß dieses einfachen Gesetzes zum Verständnisse der Reifbildung. Reif ist gefrorener Thau und folgt daher in seinem Auftreten im Allgemeinen den Gesetzen der Thaubildung.
Man hat früher geglaubt, daß der Thau wie ein feiner Regen vom Himmel herabfalle, bis der Engländer Wells im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts durch im Grunde höchst einfache, aber mit großem Scharfsinn aneinander gereihete Experimente, die Hauptgesetze dieses Vorganges darthat. Ein Bäuschchen Wolle, welches er bald frei auf die Erde, bald auf Unterlagen mannigfacher Art unter Schutzdächer oder zwischen Schutzwänden der Bethauung aussetzte, und welches, wie das Fell Gideon’s in der Bibel, bald stark bethaut erschien, bald völlig trocken blieb, je nachdem seine Eigenwärme durch Ausstrahlung gegen den Nachthimmel mehr oder weniger tief unter die Lufttemperatur gesunken war, bildete sein Hauptbeweisstück. Wenn der Nachthimmel klar bleibt, strahlen alle Gegenstände der Erdoberfläche ihre von den Sonnenstrahlen empfangene Tageswärme mit verschiedener Schnelligkeit gegen die sichtbaren und unsichtbaren Weltkörper des Raumes aus, am schnellsten das mit feinen Rauhigkeiten begabte Pflanzenlaub. Da diese Gegenstände weder vom Boden her, wegen ihrer geringen Leitungsfähigkeit für die Wärme, noch aus der Luft, wenn nicht ein lebhafterer Wind geht, einen hinreichenden Ersatz der verlorenen Wärme erhalten, so sind sie bald stärker abgekühlt, als die umspülende Luft. Wenn aber wärmere, mit aufgelöstem Wasserdampf gesättigte Luft durch Berührung mit einem kalten Körper abgekühlt wird, so muß sie auf der Oberfläche desselben so viel Wassertropfen absetzen, als sie im kälteren Zustande weniger aufgelöst erhalten kann. Das ist eine sehr einfache und bekannte Erscheinung, die wir an dem Beschlagen der Stubenfenster, an dem Bethauen des Glases eines aus dem kühlen Keller in das warme Gastzimmer gebrachten Trunkes, an dem ärgerlichen Beschlagen der Brillengläser beim Betreten menschenerfüllter Räume und bei vielen anderen Gelegenheiten alltäglich wahrnehmen, die aber dessenungeachtet die Leute mitunter in Schrecken versetzt hat, wenn zum Beispiel beim Witterungswechsel ein Götterbild oder ein bronzener Heiliger zu schwitzen anfing. Die Alten dachten dann, der in der Bildsäule steckenden Gottheit sei etwas an ihrem Thun nicht angenehm und sie schwitze vor Angst oder Zorn.
Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß nur solche Gegenstände stark bethauen können, die den klaren Nachthimmel frei über sich sehen und auch von den Seiten her neue Luftmassen zugeweht erhalten können, um ihnen Feuchtigkeit zu entziehen, daß also z. B. der Rasen rings um einen Baumstamm, so weit der Mittagsschatten seiner Krone reicht, nicht ordentlich bethauen kann, daß Laub- und Holzwerk stärker als Steine und Erde, diese wiederum stärker als die gutleitenden Metalle, welche ihre an der Oberfläche abgegebene Wärme leicht wieder durch Leitung von innen her ersetzen können, bethauen, daß hervorragende Theile, zum Beispiel die Zähne der Blattränder, oder die erhabene Nervatur und die Härchen der Blattoberfläche, stärker bethauen und namentlich bereifen, als die dazwischen gelegenen tieferen Theile, und daß endlich ein leichter Luftzug die Erscheinung befördern, stärkerer Wind aber sie gänzlich verhindern wird, indem er es unmöglich macht, daß Erdboden oder Rasen beträchtlich kälter werden können, als die darüber befindliche Luftschicht.
Vor Allem ist es zu Thaubildung erforderlich, daß die Luft frei von Nebeldunst ist. Sobald sich das Firmament mit einer noch so dünnen Wolkenschicht bedeckt, wirkt dieselbe wie der Papierschirm vor dem eisernen Ofen, sie strahlt die sonst im Weltenraume verlorene Wärme zur Erde zurück, und die Thaubildung hat ein Ende. Manche Leute haben diese Rolle der Wolken durchaus nicht begreifen können, und der Naturforscher Sertürner, der ein Buch gegen die Wells’sche Theorie geschrieben hat, nahm ihnen das Wort aus dem Munde, indem er sagte: „Wie ein so zartes, leichtbewegliches, mit so großer Ausdehnungskraft begabtes Etwas wie die Wärme, durch ein meilenweit entferntes Hinderniß abgehalten werden könne, die Erde zu verlassen und jene weite Reise zu den Sternen aufzugeben, das können wir auch beim besten Willen nicht begreifen, wenn wir den Wärmestrahlen nicht einen hohen Grad von Verschlagenheit und Verstand beilegen wollen, so etwa, daß sie aus Furcht vor jenem fernen Gewölke ihren Hinterhalt nicht verlassen.“ Indessen die Sache ist so schwer begreiflich nicht, und man kann sich leicht von der Richtigkeit des Gesagten überzeugen, wenn man einen gut polirten Hohlspiegel, in dessen Brennpunkt die Kugel eines Thermometers angebracht ist, gegen den Himmel richtet. Das Quecksilber fällt dabei um so tiefer, je klarer der Himmel ist, und steigt sogleich wieder, wenn man den Spiegel auf eine Wolke richtet.
Was würde Sertürner erst gesagt haben, wenn er von den neuen Untersuchungen Tyndall’s und Garibaldi’s (natürlich nicht des Helden von Caprera, sondern eines italienischen Physikers dieses Namens) gehört hätte, nach denen sogar der unserm Auge unsichtbare, in der Luft aufgelöste Wasserdunst der strahlenden Wärme unüberwindliche Hindernisse in den Weg legen kann. Durch ihre in den letzten Jahren vollendeten Studien ist die Thau- und Reiffrage erst als wirklich aufgeklärt zu betrachten. Professor Garibaldi zeigte, daß die Luft, so lange sie Feuchtigkeit enthält, eine förmliche Schutzhülle um den Erdball zur Verhütung allzu starker Abkühlung durch nächtliche Strahlung bildet und daß sie namentlich die von Wasserflächen ausgehenden Wärmestrahlen unter keinen Umständen passiren läßt. Daher kommt es, daß der Thau die Pflanzen vor einer ferneren Abkühlung durch Strahlung, so lange die Luft einen gewissen Grad von Feuchtigkeit enthält, geradezu schützt. Innerhalb großer Continente, wo die Atmosphäre ungleich trockener ist als bei uns, gestaltet sich der Proceß anders. Die trocknere Lufthülle bietet dort der nächtlichen Wärmestrahlung nur verschwindende Hindernisse, und auf glühendheiße Tage folgen eisigkalte Nächte. In heißen Ländern, wie z. B. in Bengalen, wo die Lufttemperatur auch des Nachts niemals unter den Gefrierpunkt hinabgeht, benutzt man den außerordentlichen Grad der Strahlungskälte, um Wasser in offenen Schalen, die man, um sie vor der wärmenden Wirkung der Winde zu schützen, auf den Boden mit Stroh ausgelegter Erdgruben stellt, zum Gefrieren zu bringen. Hier ist auch die Ursache zu suchen, aus welcher unter den Leuten der französischen Expedition nach Constantine (October 1836) so viele an erfrorenen Gliedmaßen litten, obwohl die Lufttemperatur selbst des Nachts niemals unter den Nullpunkt herabgesunken war.
Bei uns tritt jener Grad der Lufttrockenheit, welcher zur Eisbildung durch nächtliche Strahlung erforderlich ist, erst mit Beginn der kälteren Jahreszeit ein; dann verharrt die an den erkälteten Theilen abgeschiedene Feuchtigkeit nicht mehr in Tropfengestalt, sondern geht durch allmähliches Auswachsen zu den zierlichsten Krystallformen in Reif über. Aus dem Obengesagten ergeben sich von selbst die Mittel, Culturpflanzen vor den schädlichen Einflüssen des Früh- oder Spätreifs zu schützen. Mancher, der es nicht versteht, lächelt über die dünnen Strohhüllen, mit denen der Gärtner seine edlen Obstbäume etc. vor dem Erfrieren zu schützen sucht. Er hält es mit Recht für unmöglich, daß solch undichter Mantel die Luftkälte abhalten könne; er soll aber auch nur vor der viel gefährlicheren Strahlungskälte schützen, und dazu würde selbst eine noch dünnere Hülle genügen. In Ländern, wo die Reifnächte jungen Culturpflanzen gefährlich werden, hat man längst ein anderes Mittel gefunden, die Felder zu beschützen, bestehend in der Erzeugung „künstlicher Wolken“.
Der spanische Geschichtsschreiber Garcilaso de la Vega berichtet, daß die Peruaner in den Zeiten der Inkas ein besonderes Fest feierten, bei welchem sie der Sonne opferten, damit sie dem Froste gebiete, die Maisfelder zu verschonen. Dieses Fest [46] wurde natürlich in einer Jahreszeit begangen, in welcher solche Reiffröste, wie bei uns unter dem Regimente der drei „gestrengen Herren“ im Mai, besonders häufig sind. Wenn dann, erzählt Garcilaso, bei hereinbrechender Nacht der Himmel unbedeckt blieb und die Indianer deshalb Frost befürchteten, verbrannten sie Mist, um Rauch zu machen, und jeder von ihnen im Besondern bemühte sich, über seinem Grundstücke auf solche Art zu räuchern. Dabei erklärten sie, der Rauch verhindere den Frost (auf die Pflanzen herabzusteigen), indem er gleich den Wolken eine Decke über die Erde breite. Die ankommenden frommen Väter verboten in ihrer Bornirtheit den Peruanern, solche heidnischen Rauchopfer ferner zuzurichten; aber ihre Gebete mögen schwerlich eine gleich wirksame Hülfe gebracht haben.
Auch die alten römischen Landwirthe kannten, wie man aus Plinius ersieht, den Nutzen des Rauches gegen Reifschaden, den sie übrigens den erkältenden Strahlen des Mondes zuschrieben, weil er allerdings häufig genug dazu leuchtet. Die Pflanzen erfrieren aber jedenfalls noch leichter im Dunklen, denn der Mondschein ist, wie Graf Rossi kürzlich von Neuem gezeigt, keineswegs ohne alle Wärme. In den letzten Jahren hat man in Frankreich eine große Anzahl erfolgreicher Versuche in derselben Richtung angestellt, um die Weinberge gewisser dem Reiffroste sehr ausgesetzter Striche zu schützen. Die Reifbildung ist an locale Verhältnisse gebunden, im Thale stärker als an Bergabhängen, in trockenen Gegenden häufiger als in feuchten, am Rheine zum Beispiel so gering, daß man die Reben im Winter vielfach nicht einmal zudeckt. Eine Anzahl französischer Berichte aus dem vorigen Frühjahre wies auf den allerseits bewährten Nutzen solcher künstlichen Wolken hin und rieth den Weinbauern, eine sich nach der Größe des zu schützenden Grundstückes richtende Anzahl Pechpfannen bereit zu halten, um in stillen und ruhigen Nächten mit Steinkohlentheer oder einem ähnlichen billigen und stark rußenden Feuermaterial zu räuchern. Wenn ein starker Wind geht, ist dieses Verfahren natürlich aus doppeltem Grunde überflüssig, denn einmal ist dann keine Gefahr vorhanden, und zweitens würden sich die Wolken über den betreffenden Grundstücken nicht halten.
Auf die im vergangenen Jahre von V. Wartha gemachte Beobachtung, daß der Schwefelkohlenstoff sehr leicht durch seine eigene Verdunstungskälte zum Gefrieren gebracht werden kann, habe ich einige Experimente begründet, mit deren Hülfe man jeden Augenblick im warmen Zimmer den Proceß der Reifbildung in seiner ganzen Schönheit beobachten kann. Ich bitte alle meine Leser, den nachfolgend beschriebenen einfachen Versuch selbst anzustellen; er wird sie durch seine ungemeine Zierlichkeit reichlich für die geringe aufzuwendende Mühe belohnen. Man bilde aus einigen wenigen vollkommen getrockneten, möglichst reichbeblätterten Moospflänzchen einen Miniaturstrauß und stecke ihn in einen Fingerhut, der zu drei Viertel mit Schwefelkohlenstoff (aus der Apotheke) gefüllt und in einer Schachtel mit Sand festgestellt wurde. In Ermangelung eines geeigneten Moossträußchens kann man, wiewohl mit geringerem Erfolge, aus einem Dreieck von grünem Seidenpapier oder weißem Filtrirpapier, dessen eine Seite blattartig ausgezackt oder eingeschnitten wird, ein etwa anderthalb Zoll hohes Kunstbäumchen rollen, wobei die Auszackungen, spiralig um den Cylinder laufend, die Blätter vorstellen müssen, und dieses in den improvisirten Blumentopf stecken. Wenn das Sträußchen einige Secunden in jener leider übel duftenden Flüssigkeit gestanden und dieselbe emporgesogen hat, so bemerkt man, daß sich die Blättchen allmählich mit einem körnigen schneeweißen Reife bedecken, der immer weiter aus den Blatträndern hervorwächst, sich in außerordentlich zarte Fiederchen zertheilt und endlich das ganze Gebilde einem dichtbereiften Pflanzenreife zum Verwechseln ähnlich macht. Die Kälte wird zwar bei diesem Versuche nicht durch Strahlung, sondern durch die schnelle Verdunstung der Schwefelkohlenstoffflüssigkeit erzeugt; im Uebrigen aber ist der Vorgang der natürlichen Reifbildung sehr ähnlich. Die abgekühlte Oberfläche des Sträußchens schlägt Feuchtigkeit aus der umgebenden Luft auf sich nieder; diese vereinigt sich mit dem Schwefelkohlenstoffe zu einem überaus zarten, blumenkohlartigen Reife. Wenn nach einigen Minuten sämmtlicher Schwefelkohlenstoff emporgesogen ist, erreicht das Gebilde seine höchste Pracht, dieselbe dauert aber nur wenige Augenblicke, denn wenn keine weitere Kälte erzeugende Flüssigkeit mehr nachsteigt, schmilzt der Reif plötzlich von oben herunter, und das Sträußchen erscheint, seines Schmuckes entkleidet, gänzlich von geschmolzenem Reife durchnäßt. Daß dieser Reif eine ziemliche Kälte besitzt, davon kann man sich leicht durch das Gefühl überzeugen, wenn man das Gebilde in der hohlen Hand zusammendrückt, oder sich damit über die Wange streicht. Bei der leisesten Berührung so wie beim Anhauchen schmilzt er sofort. Wer einen sogenannten Rafraicheur besitzt, kann das Experiment leicht abändern und einen beliebigen Strauß aus frischem Grün durch Aufblasen eines Schwefelkohlenstoffnebels sofort mit weißem Reife bedecken; man kann auch zum Scherze Jemandem den Bart ohne Schaden auf einige Augenblicke schneeweiß anreifen: dieser künstliche Reif hält sich im warmen Zimmer beinahe so lange wie der natürliche. Nur die einzige Vorsicht wolle man beobachten, diese Versuche am Tage anzustellen, da der Schwefelkohlenstoff äußerst brennbar ist und wegen seiner Flüchtigkeit schon aus einiger Entfernung Feuer fängt.
Mit dem Thaureif wird öfter der sogenannte Rauhreif oder Rauhfrost verwechselt, obwohl dieser eine ganz verschiedene Entstehungsweise hat, und deshalb auch nicht die Eigenheit des Reifes theilt, nur die oberen Seiten der Zweige und Blätter zu bekleiden und unter keine Bedachung zu treten. Er steigt vielmehr bis in die Wipfel der Bäume empor und bekleidet die gesammten Winterreste der Vegetation mit dem brillantesten, in allen Regenbogenfarben funkelnden Krystallschimmel, im Sonnenschein ein zauberhaftes Bild hervorrufend. In den meteorologischen Handbüchern liest man, daß diese Festdecoration der Reifriesenpaläste eintreten soll, wenn nach einem sehr starken Frost eine wärmere Luftströmung ihren Wassergehalt auf den tief unter Null abgekühlten Zweigen und Blättern in Form langwachsender Krystalle absetze, wie man in jedem Winter die Thür- und Fensterritzen der mit warmem Dunst gefüllten Viehställe mit ähnlichen Eisschimmelgebilden umkränzt findet. Ich kann in einem solchen Zusammentreffen höchstens den ersten Anlaß der Erscheinung erkennen, denn ich habe solche Rauhfrostkrystalle mehrere Tage wachsen sehen, nachdem die vorausgesetzte innere Kälte der Baumzweige längst ausgeglichen sein mußte, und suche die Veranlassung, dem Sprachgenius trauend, in der Rauhigkeit der Baumäste und Blätter, welche einen gerade auf Null abgekühlten Winternebel veranlassen, Eisnadeln auf den dargebotenen Rauhigkeiten abzusetzen. Alle Substanzen neigen dazu, wenn sie aus gasförmiger oder flüssiger Gestalt Krystallform annehmen, sich auf rauhen Flächen anzusiedeln, vor Allem aber haben fertiggebildete Krystalle der eigenen Art die Eigenschaft, weitere krystallinische Abscheidung, das heißt Weiterwachsen anzuregen. Wenn man so viel Glaubersalz in heißem Wasser auflöst, wie sich auflösen will, so bleibt die Auflösung, wenn man sie ruhig stehen läßt, auch nach dem Erkalten flüssig. Sobald man aber einen festen Körper, zum Beispiel einen Glasstab, der aber nicht vorher ausgeglüht sein darf, hineinsteckt, krystallisirt die ganze Masse im Nu. Noch sicherer bewirkt ein hineingeworfenes Glaubersalzkrystallchen die Einleitung des Gestaltungsprocesses. Ich nehme an, daß beim Rauhfrost eine ähnliche Einwirkung, wenn die anderen Bedingungen günstig sind, die Hauptrolle spielt. Zur Bildung der ersten Eiskrystalle auf den Zweigen mag eine niedrige Temperatur derselben förderlich sein; sobald aber diese einmal vorhanden sind, wachsen sie im Nullgrad warmen Nebels immerfort, wenn dieser so lange anhält, bis zu einer Ausdehnung, daß zuweilen die Aeste unter dem Gewichte brechen.
Da ich dem Leser Experimente versprochen habe, so will ich auch zeigen, wie man die Rauhfrostbildung im Zimmer studiren kann. Wir wollen ihn zur Abwechselung auf warmem Wege erzeugen und schütten ein paar Messerspitzen Benzoesäure auf den Boden eines eisernen Töpfchens oder einer genieteten Blechpfanne, die über einer Spiritusflamme langsam erhitzt wird. Bedecken wir nun das Gefäß mit einem Stück Pappe, an welches wir ein hartblättriges Sträußchen, zum Beispiel aus Buchsbaumzweigen oder Wachholder, so aufgehängt haben, daß es die heißen Wandungen nirgends berührt, so sehen wir es nach wenigen Augenblicken dicht mit den prachtvollsten silberweißen Krystallnadeln überzogen, die im Sonnenschein ebenfalls in allen Regenbogenfarben funkeln. Hat man das Sträußchen nicht zu lange in dem angenehm riechenden, aber zum Husten reizenden Dampfe [47] gelassen, so gewahrt man ganz die Eigenthümlichkeit des Rauhfrostes, daß sich die Krystalle hauptsächlich an den hervorstehendsten Theilen, z. B. auf den Rändern der dütenförmig zusammengerollten Buchsbaumblätter angesetzt haben. Ein gut gerathenes Sträußchen mit künstlichem Rauhfrost bietet ebenfalls einen hübschen Anblick, und wenn es nicht ganz so zierlich ist, wie das Reifsträußchen, so hat es dafür den Vorzug der Dauerbarkeit.
Bewegt von dem Eindrucke, schreiten wir weiter, hinaus in die von Farrenkräutern und schwanken grünen Zweigen fast umsponnenen Seitencapellen mit ihren reizenden Consolen, Nischen und Fensterdecorationen, wie sie unser Künstler so charakteristisch wiedergegeben hat. Hier wie bei dem Durchschreiten des Kreuzganges drängt sich, obwohl wir nur eine einfache Klosterkirche vor uns haben, der Eindruck eines gewissen Reichthums und phantasievoller mannigfaltiger individueller Gestaltungsgabe auf.
Die Kirche ist aus der bessern Zeit der Gothik. Nachdem Karl der Vierte 1349 das Raubschloß der Herren von Leipa, welches früher den Berg gekrönt, erobert und zerstört hatte, wurde zwanzig Jahre später das Cölestiner-Kloster, dessen Ruine wir heute vor uns schauen, gestiftet. Den Bau leitete des Kaisers Hofbaumeister Peter Arler von Gemünd. Im Jahre 1384 wurde die prächtige Kirche von dem Erzbischof Johann von Jenzenstein eingeweiht. In höchster Blüthe stand das Kloster bis zum Hussitenkriege. Blieb es auch während desselben selbst verschont, so verarmte es doch von da an mehr und mehr, bis ein vernichtender Blitzstrahl im Jahre 1577 in die Klostergebäude fiel und den schönen Bau in eine Ruine verwandelte. Drei Jahre zuvor war das Kloster durch Kauf in den Besitz der Stadt Zittau gelangt und ist seitdem ohne Unterbrechung, also durch drei Jahrhunderte hindurch, in deren Besitz geblieben und heute noch die Zierde und der Stolz aller Besitzungen Zittaus.
Durch den Kreuzgang hindurch schreitend, aus dessen Fenstern man in die Tiefe des Hausgrundes hinunterschaut, gelangt man auf den Kirchhof. Ich habe manche berühmte Gräberstätte gesehen; berauschend wirkt auf die Seele der Blick vom Camposanto Neapels auf den blauen Golf, tiefernst und melancholisch wie eine Nachtphantasie der Kirchhof in Prag, imposant und würdevoll der Gottesacker Pisas und der Veronas, reich der Friedhof Münchens; aber eine Todesstätte, die so von dem vollen Zauber einer üppigen Natur, so von Romantik umwoben ist, wie der kleine Dorfkirchhof auf dem Berge Oybin, habe ich nicht wiedergefunden.
Ein besonderer Reiz dieses auf der Höhe gelegenen Friedhofes ist, daß er nicht blos ein Kirchhof der Vergangenheit ist, etwa als malerische Curiosität conservirt wird, sondern daß man ihn noch heute benutzt, daß neben dem Denkmale des Ritters dort in stattlicher Rüstung, welcher schon manches Jahrhundert hier oben schläft, ein frischer Hügel sich hebt, mit frischen Blumenkränzen, bethaut noch von den Thränen der Geliebten, daß Ginster und Epheu dort um den moosigen verwitterten Stein – eine Last von Jahrhunderten – sich schlingt, während sich daneben eine frische Rose wiegt, von goldenen Bienen umschwirrt. Und wendet man den Blick zurück nach der Ruine, von welcher man gekommen ist, so überrascht von Neuem der prächtig gothische Bau, welcher zwischen den hundertjährigen Linden hervorlugt. Ueberall ringsum hat man das Gefühl seliger Befriedigung einer Umhegung von glücklicher Fülle. Von allen Seiten strömt durch das sonnverklärte Laub frische Bergluft auf uns ein. Ist dem Auge irgendwo ein Durchblick durch den üppigen Wuchs gestattet, so erblickt es in violettem Lichte die Gipfel der Berge ringsum und erfreut sich an ihrem Farbenzauber. Aber bei aller Freiheit und Frische der Empfindung, welch ein stiller, heiliger Ernst an dieser Stätte! Hier lösen sich die Gegensätze von Tod und blühendem Leben in Poesie auf.
Ist’s ein Wunder, daß die Seele des armen Dörflers da unten im tiefen Thale mit poetischer Kraft an diesem Friedhofe hängt? Zwar geht die bureaukratische Nüchternheit darauf aus, ihm den schönen Platz hier oben zu entreißen, weil es ihr nicht passend erscheinen will, daß der Kirchhof in unmittelbarer Nähe eines Belustigungsplatzes sich befindet, denn nur wenige Schritte davon, getrennt durch eine kleine Schlucht, liegt die zierliche Schweizerhausrestauration des Berges. Als ob jemals Einer, der hier oben begraben liegt, sich durch die frohe Lust spielender Kinder, die sich wohl einmal zwischen den Grabhügeln herumtummeln, hätte stören lassen! Als ob jemals Einer, der hier traurig an einem Grabe gestanden, sich durch den Klang froher Stimmen, welche an Sommernachmittagen wohl ertönen, gekränkt gefühlt! Als ob irgend Jemand, der hier oben sich bei Lieb’ und Wein des Lebens freute, durch die zauberisch schöne Weihe des ernsten Ortes sich unangenehm berührt gefühlt hätte!
Es muß aber doch solche Käuze geben, wozu sonst mit solchem Eifer darauf hinarbeiten, daß dem Thalbewohner seine liebe letzte Heimath hier oben entzogen werde! Gesundheitsrücksichten können es nicht sein, wenn man aus der freien Höhenluft den Kirchhof in’s enge Thal verlegen will, wo die Häuser nahe bei aneinander stehen, wo freundliche Villen und blühende Gärten emporwachsen. Doch lassen wir die beiden Gegner den Streit ausmachen! Die Liebe zur alten, hundertjährigen schönen Sitte – die Poesie – wird hoffentlich hier die nüchterne und geschäftige Gleichmacherei besiegen, und der Wanderer wird sich auch noch im nächsten Jahrhundert an der zauberischsten aller Grabstätten erfreuen, welche unser Künstler in so entzückend wahrer Weise dargestellt hat.
Nur wenige Schritte noch, und wir befinden uns auf dem sogenannten Gesellschaftsplatz mit seinem zierlichen Schweizerhaus, von schattigen Bäumen und Felsen umgeben. Von hier aus hat man einen herrlichen Tief- und Fernblick in den Eingang des Oybinthales. Vom Einschnitt des Gebirges umrahmt, öffnet sich das reiche Bild von Zittau und Umgebung bis zum fernen Horizont in der Gegend von Görlitz. Namentlich Abends, wenn schon kühle Schatten im Thale lagern, gewährt die im Sonnenlicht erglänzende Stadt mit ihren reichen Fluren ein zauberisches Ruhe- und Friedensbild. Der Steig, der vom Gesellschaftsplatz aus um den runden Felskegel des Oybin führt, oft zwischen engen Felsengassen hindurch, an schwindelnden Abhängen vorbei, bietet eine Fülle der reichsten Aussichtspunkte in das Thal und auf die Höhen. „Der Abend ist das Beste“, lautet ein altes Sprüchwort; so denken auch alle Die, welche in Oybin längeren Sommeraufenthalt nehmen. Sie kehren meist des Abends hierher „auf den Berg“, um erquickende Stunden bis zum Aufgang der Sterne hier zu genießen. Am Tage zerstreut die Gesellschaft sich nach den verschiedensten Richtungen; überallhin laden malerische Punkte in der nächsten Umgebung Oybins zu Spaziergängen und Bergpartien ein. Vor allen anderen sind der sogenannte Pferdeberg und der Johannisfelsen beliebte Aussichtspunkte. Dort lagert sich’s im köstlichen Moos bei einem heiteren Pikenik, wenn froher Sang durch den Wald weithin schallt, unter fröhlichen Menschen gar köstlich. Phantastische Landschaftsbilder gewähren die seltsamen Formen der Mönchshöhe und der Kelchsteine; reizende Waldwege führen nach dem Eschengrund, den Dachslöchern, dem Töpfer, wo Bilder von Waldeinsamkeit sich aufthun, wie man sie nur noch selten erblickt. Erfrischend ist eine Besteigung des Hochwaldes, von wo aus man eines der großartigsten Panoramen nach Böhmen und dem Riesengebirge zu hat; interessant ist der Spaziergang durch die dichten Wälder nach Jonsdorf auf der einen und nach Lückendorf und dem einsamen Jagdhaus Numero Sechs auf der andern Seite. Aber trotz dieser Fülle schöner Excursionen kehrt man Abends gern „auf den Oybin“ zurück. Hier findet man stets fröhliche Menschen, die sich der schönen Natur erfreuen, zu denen Zittau das hauptsächlichste Contingent stellt.
Es ist in der That rührend, wie der Bewohner von Zittau
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an seinem Oybin mit aller Liebe hängt. Sein Leben ist aber auch sozusagen mit ihm verwachsen. Schon als Bambino wird der Zittauer Weltbürger im Kinderwagen nach Oybin gefahren; dorthin macht er seine ersten Marschirübungen; als fröhlicher Schüler wandert er mit seinen Kameraden singend nach der Ruine; als Jüngling begleitet er sein schmuckes Liebchen den reizenden Weg durch die wogenden Saaten, durch den schattigen Wald nach dem grünen Oybinthal. Sehr viele Brautleute lassen sich in dem kleinen Kirchlein dort trauen; als rüstiger Mann zieht der ehrbare Bürger mit Weib und Kindern nach der lieben Stätte seiner Jugenderinnerungen, und der Genesende macht nach schwerer Krankheit gewiß seine erste Ausfahrt nach dem Oybin.
Vollends eine schöne Mondnacht auf dem Oybin zuzubringen, gehört zu den Hochgenüssen der Natur. Hier oben ist die Luft noch warm und lind, wenn unten im Thal schon die kühlen Nebel streichen. Hier labt sich ein Kreis heiterer Männer an einer kühlen Bowle, deren edler Stoff aus der großen und altrenommirten Rathskellerei des wackern Onkel Schwertfeger zu Zittau stammt, und manch frohes Lied erklingt über das Thal hinüber nach dem Waldgebirge, dessen Echo den Klang dreifach zurückgiebt. Dort scherzt und kost Jugend mit Schönheit bei schäumenden Bechern. Ist dann die Nacht am Himmel aufgezogen, so geht man wohl die wenigen Schritte nach der Kirchenruine, die wie ein Phantasiegebilde, in glühendem Rothlicht erleuchtet, aus den Bäumen hervorscheint, während aus dem Innern der Kirche ein vierstimmiger Männergesang, wie einst zur Zeit der Mönche die Hora, erklingt. Inzwischen ist auch der Vollmond aufgegangen und übergießt mit seinen spielenden Lichtern Bäume, Felsen und Gemäuer. Noch einmal setzen wir uns nieder und horchen dem leisen Rauschen des Waldes unter uns zu; noch einmal erklingen die Gläser voll kühlenden Nasses, und der letzte Becher wird zur Erinnerung an die schöne Sommernacht geleert. Dann wandern wir gemeinschaftlich durch die in Silberglanz getauchten Bogen der Ruine, zwischen denen sich geheimnißvoll die Sträucher in leichtem Nachtwind wiegen, hernieder in das mondbeleuchtete Thal, aus dem uns die freundlichen Lichter in den Hütten entgegenwinken. Ein letztes Lebewohl und frohes Wiedersehen – auf dem Oybin!
Wie eine Republik ihre Aristokratie haben kann, so kann sie auch ihre Könige und Fürsten haben. Davon ist unsere Union im gegenwärtigen Stadium ihrer Entwickelung ein Beweis. Es sind dies freilich keine Könige von Gottes Gnaden, auch nicht von Volkes Gnaden, sondern lediglich von Geldes Gnaden; da aber das Geld leider nur zu häufig mehr zu sagen hat als das Volk, so mag daraus auf die Macht unserer Geldfürsten geschlossen werden, die in der That nicht selten eine bedeutend größere ist, als die manches kronentragenden Herrschers jenseits des Oceans. Mehr als irgend eine andere Classe verdienen die Vertreter der Eisenbahncorporationen der Vereinigten Staaten den Namen einer aristokratischen Clique. Die Männer, in deren Händen die Fäden der Verwaltung und die Zügel der Regierung dieser ungeheuren Monopole zusammenlaufen, sind in Wahrheit Fürsten und Könige von fast unumschränkter Gewalt. Commodore Vanderbilt, Thomas Scott und Andere sind Beispiele dafür, welchen verderblichen, Recht und Gesetz beugenden, ja wahrhaft despotischen Einfluß einzelne kühne, rücksichtslose, vom Glück begünstigte Männer selbst in einer scheinbar so freien Republik wie die amerikanische erlangen können. Durch allmähliche Consolidation verschiedener unabhängiger Bahnen haben sich mehrere Corporationen gebildet, die eine vollständige Controle fast über das ganze riesige Eisenbahnnetz der Union und in Folge dessen einen Druck auf das Publicum ausüben, der nachgerade unerträglich geworden ist und gegenwärtig das Volk in seinen innersten Tiefen aufgeregt und zu einem verzweifelten Kampf gegen seine Unterdrücker getrieben hat. Die enormen Geldmittel, über welche diese Blutsauger geboten, öffneten ihnen die Thüren nicht nur fast sämmtlicher Staatsgesetzgebungen, sondern auch des Congresses, ja selbst der Richterstand wurde allmählich so beeinflußt, daß viele hohe Gerichtsstellen von ihren gehorsamen Dienern besetzt wurden und noch eingenommen werden. Die Gesetzgebung stand vollständig in ihrem Solde; ihr Geld kaufte bei jeder gewünschten Gelegenheit Majoritäten in den Hallen der feilen Volksvertreter. Man denke nur an die schmachvolle Affaire des Crédit mobilier in Verbindung mit dem Bau der Central-Pacifischen Bahn, bei deren endlicher Enthüllung sogar der Vicepräsident der Vereinigten Staaten als bestochener Helfershelfer an den Pranger gestellt wurde. Für die Auslegung etwaiger noch ungünstiger Gesetze sorgten die erkauften Richter. Des Volkes Recht wurde dabei selbstverständlich gar nicht beachtet. Dazu kamen die unsinnigen Landschenkungen, die der Congreß den von ihm begünstigten, weil ihm gut zahlenden Linien machte.
Es ist schwer, sich eine richtige Vorstellung von der gewissenlosen Verschwendung zu machen, mit welcher der Congreß die öffentlichen Ländereien an diese unersättlichen Moloche verschleuderte. Millionen von Aeckern des herrlichsten Landes, Landstrecken, die an Flächeninhalt mehreren europäischen Großstaaten gleichkommen, sind an einzelne Eisenbahngesellschaften verschenkt worden, und diese Schenkungen haben sich so oft wiederholt, daß schließlich fast nichts mehr übrig geblieben ist, um als Heimstätten an wirkliche Ansiedler verkauft zu werden. Welch ein Schwindelgeschäft unter solchen Verhältnissen mit Eisenbahnpapieren getrieben worden ist, kann leicht ermessen werden und ist seit der letzten großen Finanzkrisis in diesem Herbst, die eine Folge übertriebener und betrügerischer Actienspeculation war, allenthalben bekannt geworden.
Unter den Leuten, welche durch diese ungesunden und corrupten Zustände schnell zu großem Reichthum gelangt waren, nahm James Fisk eine hervorragende Stelle ein. Er war im Staate Vermont geboren, der Sohn eines Hausirers; in eben diesem Geschäft machte er seine ersten Studien. Die abgelegenen Berge und Thäler Vermonts wurden aber seinem unternehmenden Geiste bald zu eng, und er begab sich deshalb bald nach dem Eldorado aller Geldspeculanten und Börsenschwindler, nach New-York. Hier entwickelte sich sein Finanztalent außerordentlich schnell, und bald hatte James Fisk’s Name einen guten Klang im Hauptquartier der privilegirten großen Spieler in Wallstreet und auf der Actienbörse. Obgleich noch ein junger Mann, wurde er schnell einer der Matadore jener Gesellschaft, und beherrschte sie zeitweise im Verein mit Jay Gould und anderen Magnaten. Gould und Fisk hatten sich namentlich der Leitung der Erieeisenbahn so zu bemächtigen gewußt, daß sie bald die unumschränkten Regenten dieser großen Corporation wurden, was dem Letzteren den populären Titel „Prinz Erie“ eintrug. Daß die übrigen Actieninhaber auf’s Kolossalste beschwindelt wurden, braucht wohl kaum erwähnt zu werden, während Gould und Fisk Millionen in ihre Taschen zu befördern wußten und in ihrem „Ring“ so sicher und unangreifbar regierten, wie „Boß Tweed“ im „Tammany-Ring“. Der Letztgenannte stand übrigens im regsten Geschäftsverkehr mit dem „Erie-Ring“ und dessen Leiter, dem „Prinzen Erie“.
James Fisk war ein vollendetes Musterbild einer gewissen Classe des heutigen Jungamerikas, wie sie sich besonders seit der großen Rebellion zum Verderb des Landes herangebildet hat. Die Gelegenheit, welche der vierjährige Krieg mit seinen ungeheuren Bedürfnissen an Armeelieferungen aller Art zu Betrügereien und offenkundigen, aber selten gehörig bestraften Schwindeleien bot, war zu lockend, um nicht bis zur äußersten Grenze ausgebeutet zu werden. So entstand die sogenannte Shoddy-Aristokratie, ein roher, aufgeblasener, durch und durch corrupter Geldadel, ein wahrer Fluch unserer Republik. Die nach dem Kriege sich immer steigernde Eisenbahnbauwuth war ein günstiges Feld für diese Classe von Menschen, ihre Operationen fortzusetzen, und bis zum Herbste vergangenen Jahres haben sie es treulich gethan.
Wie die meisten dieser Emporkömmlinge, war auch Fisk ohne alle höhere Bildung, roh, ausschweifend und unwissend, ausgenommen im Punkte des intelligenten Geldgeschäfts. In diesem war er Meister. Sein öffentliches Auftreten war der niedrigen Stufe seiner Cultur entsprechend. Er wollte vor Allem Aufsehen erregen, und da er dies durch seinen Geist nicht zu thun vermochte, so mußte es durch äußeren Prunk und durch eine verschwenderische Lebensweise geschehen. Seine persönliche Erscheinung, seine Equipagen, sein Haushalt, seine Feste bezeugten es, daß er auf fürstlichen Rang unter seinen Genossen Anspruch machte. Er hatte sich zum Obersten eines New-Yorker Miliz-Regiments wählen lassen, das auf seinen Betrieb aus jungen, meist reichen Leuten seines Schlages sich gebildet hatte, und wenn er an der Spitze dieser seiner Leibgarde in seiner glänzenden Uniform durch die Straßen paradirte, dann fühlte „Prinz Erie“ sich so recht in seinem Elemente. Auch in seiner Maitressenwirthschaft war er fürstlich. Er hatte zuletzt eine Frau oder ein Fräulein Mansfield, ein Subject aus der höheren Demimonde, zur Hauptfavoritin erhoben, was ihn natürlich nicht abhielt, zahlreiche andere Verbindungen mit verschiedenen Damen von zweifelhaftem Rufe zu haben, ja sogar in einem ihm eigens gehörenden Opernhause ein ganzes Corps französischer Ballettänzerinnen zu seinem und seiner Freunde Vergnügen zu unterhalten.
Dieser zwar grobe, aber prunkvolle Libertinismus, verbunden mit einer völlig grundsatzlosen, kein Mittel scheuenden Kühnheit in den wildesten Speculationen und einer sehr effectvollen Leichtfertigkeit im Durchbringen des schnell und leicht erworbenen Mammons, machten ihn zu einem förmlichen Idol der New-Yorker jeunesse dorée, dem diese ebenso eingebildete wie frivole Gesellschaft ähnlich zu werden sich eifrigst bemühte. Sein Beispiel wurde ein höchst verderbliches, zumal da er die Gelegenheiten geschickt zu benutzen verstand, um seine Popularität zu vergrößern. Als nach dem Brande Chicagos Subscriptionen für die heimgesuchte Stadt allenthalben eröffnet wurden, sah man den Prinzen Erie einen großen mit vier Pferden bespannten Güterwagen durch die Hauptgeschäftsstraßen New-Yorks eigenhändig lenken und rechts und links die Kaufleute auffordern, Beiträge für Chicago auf seinem Wagen niederzulegen. Diese Operation setzte er mehrere Tage fort, erhielt natürlich Alles, was er verlangte, und erreichte seinen Zweck vollständig, der gepriesene Held des Tages zu werden, dessen noble Gesinnung und thätige Menschenliebe für einige Zeit vom Volke laut gepriesen wurden.
[51] Was Boß Tweed für die älteren gesetzteren Classen dunkler Ehrenmänner war, das war James Fisk für die jüngere Generation lebenslustiger Schwindler und Verschwender, ein Ideal, zu dem man mit Bewunderung aufblickte. Mitten in dieser glänzenden Laufbahn traf den Prinzen Erie die Hand des Schicksals schnell und unerwartet.
Es war im Anfange des Jahres 1872, als er einigen Damen seiner Bekanntschaft im „Grand-Central-Hotel“ einen Besuch abstatten wollte. Er befand sich gerade auf der großen Freitreppe des Hauses, als ein Schuß aus einem der Seitengänge auf ihn abgefeuert wurde und ihn tödtlich verwundet niederstreckte. Trotz der Bemühungen mehrerer herbeigerufener Aerzte verschied James Fisk am nächsten Tage. Der Mörder war Edward Stokes, ein New-Yorker Actienmäkler und alter Bekannter des Ermordeten. Stokes machte keinen Versuch zur Flucht, leugnete auch seine offenkundige That gar nicht und wurde demgemäß nach dem Stadtgefängnisse abgeführt, um seinen Proceß zu erwarten.
Die Affaire erregte natürlich gewaltiges Aufsehen. Im Allgemeinen bedauerte man es freilich nicht allzu sehr, daß ein Mann von Fisk’s Charakter und verderblichem Einflusse aus dem Wege geräumt worden war; aber die Art seines Todes erschien eben doch nicht viel anders als gemeiner Meuchelmord, und da überdies nach seinem Tode die Erinnerung an seine besseren Eigenschaften, namentlich in New-York, stark in den Vordergrund trat, so wandte sich die öffentliche Stimmung bald gegen Stokes, und man erwartete allgemein, daß er als Mörder ersten Grades sein feiges Verbrechen mit dem Tode büßen werde. Es sollte aber ganz anders kommen. Der Proceß begann, und da an der Thatsache der Tödtung Fisk’s durch Stokes nichts abzuleugnen war, so griff die Vertheidigung zu dem Mittel, zu beweisen, Stokes habe die That nur gezwungen, in Selbstvertheidigung seines von Fisk bedrohten Lebens begangen. Ersterer hatte früher in freundschaftlicher Geschäftsverbindung mit dem Getödteten gestanden; später war eine Spannung zwischen Beiden eingetreten, die endlich in förmliche Feindschaft ausartete.
Man versuchte jetzt zu beweisen, Fisk habe seinem ehemaligen Genossen nach dem Leben getrachtet, er habe geschworen, ihn finanziell zu ruiniren, ja er habe Meuchelmörder gedungen, die ihm überall nachgeschlichen seien, so daß er endlich, um sich von seinem Verfolger zu befreien, in einer Anwandlung von Verzweiflung und Todesangst denselben erschossen habe. Auf diese Weise hoffte man den Mörder wenigstens vom Galgen zu retten. Die Jury ließ sich indeß nicht irre machen, sondern erklärte ihn schuldig des Mordes im ersten Grade. Er wurde als Todescandidat nach den Tombs zurückgeführt. Statt der Execution kam indeß die Bewilligung eines neuen Processes. Stokes triumphirte; er sah sich schon freigesprochen und prahlte laut damit. Diesmal schlug die Vertheidigung einen andern Weg ein. Es wurde zu beweisen gesucht, Fisk sei gar nicht an der erhaltenen Wunde gestorben, sondern an zu starken Opiaten, die ihm von seinen Aerzten gereicht worden seien. Nach langen Versuchen, diese unwahrscheinliche Geschichte glaubhaft zu machen, erschien zum zweiten Male das Verdict der Geschworenen: Schuldig des Mordes im ersten Grade, und der Richter fällte das Urtheil: Tod am Galgen. Schon war der Tag der Hinrichtung bestimmt, aber man fand auch diesmal wieder verschiedene Formfehler in den Gerichtsverhandlungen, die genügend befunden wurden, um die Sache hinauszuschieben; Wochen und Monate vergingen; Stokes war immer noch Gefangener.
Es saßen damals, im Laufe des Jahres 1873, über dreißig Mörder im New-Yorker Stadtgefängnisse, Alle ihrer Verbrechen überwiesen, ohne daß ein Einziger seine Strafe wirklich gebüßt hätte; die Idee, daß sie gehängt werden könnten, wurde sowohl von ihnen selbst wie von ihren sauberen Advocaten förmlich verspottet. Die Volksstimmung begann eine sehr erbitterte zu werden; man sprach sogar von Volksjustiz, wenn die Gerichte nicht ihre Schuldigkeit thun würden. Es mußten also wenigstens einige Opfer gebracht werden, um den Unwillen zu beschwichtigen.
Zum Glück gab es denn unter dieser Mordbande Delinquenten aus den unteren Classen, und einige von diesen wurden ausersehen, als Beruhigungsmittel zu dienen. Sie wurden gehängt. Aber Stokes war nicht unter ihnen. Er hatte Geld, Freunde und berühmte Abvocaten, die es sich zur Ehrensache machten, ihren Clienten zu retten. So erschien endlich, zum Erstaunen des Publicums, statt des Befehls zur Hinrichtung, die Bewilligung eines dritten Processes für den durch zwei Juries zum Tode verurtheilten Mörder. Und diesmal hatte man sich gut vorbereitet. Ein Gesetz war für diesen speciellen Fall in Albany durchgesetzt worden, welches bestimmte, daß ein Verbrecher nur dann des Mordes im ersten Grade überführt werden könne, wenn seine Absicht, den Mord zu begehen, als schon längere Zeit vor der That in ihm existirend, klar und unumstößlich nachgewiesen werden könne. Dies war fast gleichbedeutend mit Abschaffung der Todesstrafe.
Ferner fanden sich jetzt, fast zweiundzwanzig Monate nach der That, eine wunderbar große Anzahl Zeugen, die Alle auf’s Bestimmteste behaupteten, Fisk habe die Absicht gehabt und dieselbe positiv ausgesprochen, Stokes ermorden zu wollen. Da beschwor ein ehemaliger Polizist, die beiden Hauptbelastungszeugen hätten ihm öfters mitgetheilt, sie seien von Fisk’s Freunden gekauft worden, um gegen Stokes auszusagen. Da erschien eine Waschfrau auf dem Zeugenstand und beschwor, ein Gespräch zwischen Fisk und mehreren Damen im „Grand-Central-Hotel“ angehört zu haben, im Verlauf dessen derselbe geschworen habe, er werde den Hund Stokes niederschießen, so wahr sein Name James Fisk sei, wobei er ein Pistol zeigte, das er immer bei sich führte. Da fand sich sogar eine andere Frau, die gesehen haben wollte, wie Fisk aus dem Dameneingang des Hôtels herausgetreten und gleich darauf wieder in großer Aufregung mit einer Pistole in der Hand die große Treppe hinaufgestiegen sei; unmittelbar darauf seien zwei Schüsse gefallen. Kurz, es wurde Beweis auf Beweis gehäuft, daß Stokes eigentlich gar nichts Anderes, als der unschuldigste Mensch von der Welt sei, der sich ganz einfach gegen den auf ihn eindringenden Mörder Fisk vertheidigt habe, um sein Leben zu schützen, wobei dann unglücklicher Weise sein Schuß dem Angreifer das Lebenslicht ausgeblasen habe.
Das niederträchtige Spiel der Vertheidigung lag so klar auf der Hand, daß man erwarten durfte, es werde keinen Eindruck auf die Jury machen, zumal derselbe Richter, Davis, dem Gerichtshof präsidirte, welcher ein halbes Jahr zuvor den Vatermörder Walworth auf Lebenszeit nach Sing-Sing gebracht hatte. Allgemein war deshalb die Entrüstung, als die Geschworenen den Angeklagten nur des Todtschlags im vierten Grade schuldig fanden, und ihn so den Händen der Gerechtigkeit entrissen. Richter Davis konnte seinen Unwillen kaum verbergen, als er den Mörder nur zu vier Jahren Zuchthaus verurtheilen durfte, eine Strafe, die der dem Galgen schon Verfallene natürlich mit einer Art triumphirender Freude hinnahm.
Daß die Jury bestochen war, lag so deutlich am Tage, daß Davis drei der Geschworenen überweisen und zur Strafe ziehen konnte; aber am Urtheil war jetzt nichts mehr zu ändern, und einer der notorischsten Mörder New-Yorks wird in kurzer Zeit die Gesellschaft mit seiner Anwesenheit zieren. Edward Stokes befindet sich gegenwärtig in Sing-Sing, dem Aufenthaltsorte des Vatermörders Walworth. Als Letzterer von der bevorstehenden Ankunft seines Schicksalsgenossen hörte, schickte er ihm ein Billet, das an Frivolität und schamloser Frechheit seines Gleichen suchte. Er versprach ihm in demselben einen glänzenden Empfang im Zuchthause und hofft, daß sie angenehme Zeiten daselbst miteinander verbringen werden, bis die Stunde ihrer Erlösung schlägt. Daß diese Stunde für Beide kommen wird, ist so ziemlich außer allem Zweifel. Beide werden, aller Wahrscheinlichkeit nach, die Zellen der Mörder wieder verlassen, der Eine nach Ablauf seiner Strafzeit, der Andere, wenn Freunde und Geld seine Begnadigung erwirkt haben werden. Und wer wird dann noch das Blut sehen, das an ihren Händen klebt? oder das Kainsmal, das an ihren Stirnen brennt? Die Gesellschaft, in welcher sie sich bewegen, hat für so etwas weder Auge noch Gefühl, und das Volk, die große Masse, wird sie dann im Strudel der Ereignisse vergessen haben.
Kirchenrock und Soldatenrock. Indem ich bei der Jahreswende mein Kriegstagebuch durchblättere, werde ich wieder lebhaft an eine Begebenheit erinnert, die zu erfahren vielleicht Manchen freuen dürfte.
Vor Straßburg ist’s. Schöne mondhelle Nacht. Kugeln fliegen aus der Stadt und in dieselbe, und Brände zeigen die entsetzlichen Wirkungen. Ich stehe auf Posten; neben mir ein stattlicher Grenadier mit mächtigem Barte, von dem sich bei mir erst schüchterne Versuche zeigen. Natürlich bewegt sich die Unterhaltung in Wünschen und Vermuthungen einer baldigen Uebergabe. Während des Gesprächs nun bemerke ich, wie mein unbekannter Waffengefährte mich beständig scharf prüfend ansieht; auffallend ist noch, daß er den ihm gleichgestellten Cameraden mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Endlich, nachdem er mit seinen Betrachtungen zu einem Resultate gelangt zu sein scheint, sagt er in seinem Pfälzer Dialekt:
„Erlaawe Se gütigst – ich maan als, ich sott Ihne kenne.“
„Nun ja, mag wohl sein. Woher denn?“
„Ich getrau’ mer’s fast nit zu sage.“
„Immerzu, frisch!“
„Sein Se vielleicht im Unnerland bekonnt?“
„Allerdings!“
„Nu, sein Se nit der Herr Vicar von Schwetzinge?“
„Das war ich in der That, nun aber, wie Sie sehen, Soldat, und zwar Freiwilliger.“
„Ach Gott, Herr Vicar, do hewe Se jo mai Kind gedaaft!“ und die hellen Thränen liefen bei diesen Worten dem harten Krieger von den Wangen, und mir selber schlich Wehmuth in’s Herz hinein. Er drückte mir die Hand und meinte, nun habe er keine Sorge mehr, wenn auch „der Herr Vicar“ mitgehe; er wolle es gleich seiner „Fraa“ schreiben, damit sie beruhigt sei.
Die Ablösung kam. „Gewehr auf! Rechtsum! Marsch!“
„Adjes, Herr Vicar!“ ruft es noch von der andern Seite. Ich kroch in die Wachhütte und träumte wirr von vergangenen und gegenwärtigen Zeiten.
Mein Kriegsgefährte hat somit den Lesern verrathen, wer ich bin. Ein halbes Jahr vor Ausbruch des Krieges, als ich über jede Examenpein schon erhaben war, begann ich in dem badischen Städtchen Schwetzingen als Vicar meine theologische Laufbahn. Als der Ruf zum Kampfe ertönte, ließ es auch mir keine Ruhe zu Hause. Noch zu jung zum Feldprediger, wollte ich doch nicht müßig bleiben und stellte mich mit noch manchen Universitätsfreunden zur Einreihung in das Kriegsheer. Ich achtete es nicht für einen Raub an der Würde meines Berufs, den Kirchenrock mit dem Waffenrocke zu vertauschen, und machte bald in dem reizenden an der Mündung der Tauber in den Main gelegenen Städtchen nach Commando rechtsum und linksum, bis ich so glücklich war, zum eigentlichen Heere in’s Feld zu kommen. Ich hatte noch studentischen Humor genug, in das Lagerleben mich zu finden.
Zum ersten Male wurde ich durch die eben erzählte Begegnung an meine einstige Lebensstellung erinnert und allmählich lernte ich eine Anzahl früherer Zuhörer meiner Kanzelreden kennen, die nicht wenig erstaunt waren, mich nun in gleicher Uniform mit ihnen zu finden, denen ich als letztes Abschiedswort von der Kanzel zugerufen: „Und wenn die Welt voll Teufel wär’, und wollt’ uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr – es muß uns doch gelingen!“
Meinen Freund aber von jener Nachtwache fand ich trotz allem Suchen lange nicht mehr. Da kam der für uns Badenser so blutige Tag von Nuits. Des anderen Morgens zogen wir uns auf Dijon zurück. In einem Dorfe war ich so glücklich, ein Stück Brod für meinen Hunger zu erhaschen. Als ich eben mit Behagen dasselbe verzehren will, sieht gar begierig ein Grenadier darnach; natürlich gebe ich ihm ein Stück. Er stutzt; ich kannte ihn im Augenblick nicht, und mein Bart hatte unterdessen höchst kanzelwidrige Fortschritte gemacht.
„Weeß Gott, glaab gar, Sie sinn widder der Herr Vicar.“ – Wie oft er nach mir gespäht und am gestrigen Tag an mich gedacht habe, und wie seine „Fraa“ mich grüßen lasse, das konnte er mir nur in Hast mittheilen. Ein Händedruck und Gott befohlen!
Ich hatte mit ihm schon in anderem Gewande bei feierlichem Anlaß das „Brod gebrochen“, ob nicht auch in diesem Augenblick ein unsichtbares Gotteshaus sich über uns wölbte? Wir lebten noch, und er hatte Weib und Kind zu Hause.
„Friede, Friede!“ – das war Aller Wunsch. Endlich kam er; aber mich sollte die frohe Botschaft im Lazareth treffen. Nach meiner Genesung eilte ich, die alten Freunde in Schw. zu besuchen; nicht zum Mindesten lag mir daran, zu erfahren, was aus dem biedern Grenadier sammt Weib und Kind geworden. Als Munition zur Eroberung des Kindesherzens versah ich mich mit Zuckerbrod. Große Freude! Er lebte noch, war aber noch nicht zu Hause.
Meine Stunden waren gezählt und mußten zwischen so vielen Freunden getheilt werden. Da siehe! wer kommt? Eine Uniform, die wurstförmig aufgebauschten Unterhosen mit den wenigen Habseligkeiten umgehangen. – Er ist es, derselbe! Liebende Arme empfangen ihn in seinem Hause. – Ich selbst kehre freudig zu meinem Beruf zurück, mit doppeltem Eifer nach dem Krieg das Evangelium des Friedens verkündend.
Der ehemalige Grenadier ist für seine patriotischen Verdienste zum Waldhüter ernannt. Ich weile als einsamer Pfarrer in einem schönen Schwarzwaldthale, und wenn ich den hinter meinem Hause sich erhebenden Berg von fast dreitausend Fuß besteige, sehe ich hinaus in die Rheinebene nach dem Straßburg, das wieder unser ist, und denke mit Freuden: „Auch dabei gewesen!
Ein Vorschlag. Wir erhalten aus Wien folgende Zuschrift, die wir vorläufig ohne alle Weiterbemerkung der Oeffentlichkeit übergeben.
Hochgeehrte Redaction!
Es ist leider eine unleugbare Thatsache, daß jedes Jahr die gräuliche Anarchie in der deutschen Orthographie größere, bedauerlichere Fortschritte macht; die Klagen der Erzieher, Professoren, Literaten sind nicht minder an der Tagesordnung als die Beschwerden des großen Publicums, welches fast bei jedem Autor, bei jeder bedeutenden Zeitung verschiedene, oft ganz willkürliche Systeme nicht nur der Orthographie, sondern auch zuweilen der Grammatik angewendet findet, ohne bisher eine Autorität als allein maßgebend in diesem Wirrwarr zu kennen.
Es ist wahrlich die höchste Zeit, daß dieser schnöde Makel von unserer herrlichen Sprache genommen und auch in dieser hochwichtigen Angelegenheit die Gemeinschaft, die Einigung des glorreichen Deutschlands angestrebt und errungen werde.
Wo es sich um die Ehre Deutschlands handelte, hat die „Gartenlaube“ stets mit Energie entweder selbst den Impuls gegeben oder es verstanden, zur Durchführung einer volksthümlichen Reform, kraft ihrer Verbreitung und ihres gewaltigen Ansehens, thatkräftigst mitzuwirken.
Ich glaube nur das Echo der meisten Ihrer Leser und Millionen Deutscher zu sein, wenn ich die Bitte vortrage:
„Die löbliche Redaction der Gartenlaube möge es für gut finden, mit consequenter Energie dahin zu wirken: daß seitens der kaiserlichen deutschen Reichsregierung eine Commission berufener Professoren und sonstiger Gelehrten, Mitglieder der Akademien etc. aus allen Stämmen (Universitäten) Deutschlands mit der Aufgabe betraut werde, mit thunlichster Beschleunigung eine endgültige, für alle Schulen Deutschlands streng maßgebende grammatikalisch richtige Orthographie aufzustellen, welche, wie es bei der Académie française und der bekannten Sprachreinigungsgesellschaft Crusea in Florenz der Fall war, unbedingte Gesetzkraft für alle öffentlichen Schulen im ganzen Reiche und bei allen Behörden zu erlangen hat.“
Vielleicht wäre auch dadurch eine Präcedenz gegeben zur Errichtung der schon so lang ersehnten allgemeinen deutschen Akademie.
Die kaiserlich-königlich österreichische Regierung, welche mehr als zwanzig Millionen deutsch sprechende oder wenigstens verstehende Einwohner zählt, wäre einzuladen, sich diesem Congreß und seinen Bestimmungen anzuschließen, und dürfte mit Freuden die Gelegenheit benützen, dem schauderhaften Chaos der Orthographie-Usancen in ihren Schulen ein Ende zu machen.
Genehmigen Sie die Versicherung meiner hochachtungsvollsten Ergebenheit.
Wien, 7. Januar 1874.
Kein Hasenherz! Der Hase steht, wie männiglich bekannt ist, bezüglich seines Muthes in nicht sonderlich gutem Rufe, und seinen lateinischen Beinamen, timidus, in der Zoologie verdankt er ja seiner eben nicht geringen Furchtsamkeit; daß aber auch er im Stande ist, furchtlos und muthig aufzutreten, wenn es die Vertheidigung seines theuersten Besitzes gilt, dürfte der nachstehend mitgetheilte Fall zur Genüge zeigen.
Einsender dieses war vor einigen Jahren in einem kleinen Dörfchen an dem östlichen Abhange des Westerwaldes in der Nähe des gewerbreichen Städtchens Haiger als Lehrer in Thätigkeit; die freien Nachmittagsstunden benutzte er meistentheils zu Spaziergängen in der nicht uninteressanten Umgebung und richtete dieselben so ein, daß er unterwegs mit einem Freunde, der als Geometer mit der Consolidation der Gemarkung des Dörfchens beschäftigt war, zusammentraf. Wir Beide, mein Freund und ich, waren denn eines Nachmittags aus ganz geringer Entfernung Zuschauer eines Kampfes, der zwischen einem Hasen und einem Raben auf freiem Felde entbrannte. Der Rabe umkreiste beständig die Stelle, in deren Besitz sich der Hase befand und an deren Eroberung ihm außerordentlich viel gelegen schien; der Hase, als Inhaber der gewünschten Position, schien aber nicht gewillt, dieselbe aufzugeben. Die größtmöglichsten Anstrengungen wurden von dem Raben gemacht, den Hasen zu vertreiben, über ihn wegfliegend, ihn dicht umkreisend, suchte er ihn durch Flügelschläge und Schnabelhiebe zur Flucht zu bewegen; mit der größten Gewandtheit und Kaltblütigkeit parirte der Hase und behauptete den Plan.
Nachdem dieses Kämpfen einige Minuten gedauert hatte, schien der Rabe die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen einzusehen und ließ vom Kampfe ab, aber nur, um mit List Das zu erreichen, was er durch Gewalt nicht erlangen konnte. Er setzte sich, nicht weit von dem Lager des Hasen entfernt, auf die Erde, zu welchem Zwecke, sollten wir gleich sehen. Hatte sich nämlich der Hase bisher blos auf die Vertheidigung beschränkt, so ging er jetzt – wir trauten unseren Augen kaum – zum Angriffe über, offenbar willens, seinen lästigen Feind ganz aus dem Felde zu schlagen. Der Rabe, dessen Absicht augenscheinlich erreicht war, flog auf und war blitzschnell an dem von dem Gegner so sehr vertheidigten Punkte; letzterer aber, ebenso schnell hinter ihm drein jagend, hatte ihn rasch wieder vertrieben. Dieses aufregende Schauspiel hatte beinahe zehn Minuten Zeit in Anspruch genommen; da gab der Rabe den Kampf auf und ließ den Meister Lampe als Sieger auf dem wohlvertheidigten Schlachtfelde zurück. Und was war es, das den schwachen Hasen für einige Zeit alle Furcht bei Seite setzen ließ und ihm die Kraft gab, mit einem überlegenen Feinde siegreich zu kämpfen? Die Liebe zu seinen Jungen, denn diese waren es, die er gegen einen frechen Räuber vertheidigte.
Bad Ems.
- ↑ Das im Jahre 1855 von Herrn Rudolph Neuburg in Göttingen veröffentlichte angebliche Molly-Bild ist von der damals noch lebenden Tochter des Dichters sofort als das Portrait der Stiefschwester Augustens, Franziska Strecker, erkannt und dem Herausgeber als solches bezeichnet worden. Der Umstand, daß keine öffentliche Anzeige dem Publicum Nachricht von der zu spät ermittelten Unechtheit dieses Bildes gab, mag es erklären, daß eine Copie desselben auch in der Leipziger „Illustrirten Zeitung“ vom 13. März 1858 als „Bürger’s Molly“ erschien.
- ↑ Ohne Zweifel werden manche der freundlichen Leser und Leserinnen dieser Nachrichten den Wunsch hegen, für die vielen genußreichen Stunden, welche sie den Dichtungen des so schwer vom Schicksale geprüften Mannes verdanken, einen Theil des Unrechts, das ihm seine Mitwelt zugefügt, nun an seinen noch lebenden Nachkommen gut zu machen, damit der greisen, fast dreiundsiebenzigjährigen Frau seines Sohnes und ihren wackeren Töchtern, die den harten Lebenskampf bis hierher so tapfer gekämpft und die Ehre des gefeierten Namens, den sie tragen, vor jedem Makel rein bewahrt haben, ein sorgloserer, froherer Lebensabend beschieden werde. Von der gleichen Empfindung beseelt, hat der Besitzer der oben erwähnten Haarlocke Molly’s mir dies sein theuerstes Kleinod mit der Bitte überantwortet, es zum Besten der Hinterbliebenen des Dichters zu verwerthen. Ich werde die kostbare Reliquie dem Edlen übersenden, der mir zu dem angedeuteten Zwecke bis zum 31. März dieses Jahres das höchste Gebot auf dieselbe zukommen läßt. Zugleich erkläre ich mich mit Freuden bereit, Gaben der Liebe und Theilnahme für die Bürger’sche Familie in Empfang zu nehmen und an dieselbe zu übermitteln, worüber seiner Zeit öffentliche Rechenschaftsablage erfolgen wird.
Adolf Strodtmann,Henni’s Villa in Steglitz bei Berlin.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: erkärte