Die Gartenlaube (1874)/Heft 5
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No. 5. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Frau Löhn knixte, während der Hofprediger im Eintreten lächelnd und mit einer sehr eleganten Verbeugung sagte: „Beruhigen Sie sich, gnädige Frau – wir sind sehr harmlos in Schönwerth; mit solchen haarsträubenden Gewaltthaten, wie sie das Märchen vom Knaben Mortara der gerngläubigen Welt auftischt, befassen wir uns nicht – gelt, mein Knabe?“ Er legte seine geschmeidige weiße Hand vertraulich auf Gabriel’s Schulter.
Wären nicht der lange, klösterliche Rock und der elfenbeinweiße Fleck auf dem Scheitel inmitten der dunkellockigen Haarfülle gewesen, man hätte nie und nimmer den Geistlichen in dieser Erscheinung gesucht. Keine Spur jener geflissentlich würdevollen Langsamkeit der Bewegungen, die oft so widerlich gespreizt wird und auf Studium und schauspielerische Vorbereitung zurückführt – keine Spur der breiten Salbung in Ton und Wort! … Es war heute bei Tafel heiß hergegangen auf politischem Gebiet, und da hatte die metallene Stimme dieses Mannes kriegerisch und herausfordernd geklungen wie Trompetengeschmetter.
Bei seinem Eintreten hatte die Kranke das Gesicht wieder in die Kissen gedrückt und war still, als schlafe sie; aber ihr Busen hob sich in stürmischen Athemzügen – sie lag dort wie ein scheuer, zitternder Vogel, der sich unter der greifenden Hand angstvoll niederduckt.
„Was ist das heute wieder, Frau Löhn?“ fragte der Hofprediger. „Sie ist sehr aufgeregt – bis in die Sacristei habe ich ihre Klagelaute gehört.“
„Ihro Hoheit, die Frau Herzogin, ist wieder einmal am Hause vorbeigeritten, Hochwürden – da geht stets der Spectakel los, das wissen wir ja,“ versetzte die Beschließerin respectvoll, aber nicht ohne hörbar hervorplatzenden Aerger und Unmuth.
Ein Zug von feinem Spott flog blitzschnell um seinen Mund. „Dann muß es eben ertragen werden,“ sagte er achselzuckend. „Die Frau Herzogin wird auf diesen Spazierritt im ‚Thal von Kaschmir‘ sicher nicht verzichten – wer würde auch den Muth haben, ein solches Opfer von ihr zu verlangen?“ Er trat näher an das Bett – eine Bewegung, die ein sofortiges Aufzucken der leidenden Frau zur Folge hatte.
„Bei all Ihrer Strenge geben Sie der Kranken doch wohl zu sehr nach, beste Frau Löhn," sagte er über die Schulter zurück zu der Beschließerin. „Wozu immer noch diese schweren Armspangen an den gelähmten Gliedern, dieses Kettenwerk auf der Brust?“
„Es wär’ ihr Tod, Hochwürden, wenn ich mich an den Sachen vergreifen wollte,“ sagte die Frau – das klang eigenthümlich gepreßt zwischen den Zähnen. In den tiefen, schmalgeschlitzten Augen der Frau glomm es wie ein verhaltener Funke.
„Glauben Sie doch das nicht – sie ist ja schwach und abgezehrt zum Zerblasen. Diese Last bei ihrer Unbehülflichkeit regt sie mehr auf, als Sie denken. … Kommen Sie, machen wir den Versuch!“
Jetzt öffnete die Kranke ihre Augen weit – sie waren voll Entsetzen. Die Linke fest an den Busen gepreßt, stieß sie einen jener weichen und doch durchdringenden Klagetöne aus, wie sie heute Nachmittag zu Liane gedrungen waren. Frau Löhn stand sofort zwischen ihr und dem Mann im schwarzen Rock, der sie bedrohte. Sie legte ihre breite, knochige Linke bedeckend auf das blasse, krampfhaft geballte Händchen.
„Hochwürden, da muß ich bitten!“ protestirte sie – es lag eine seltsame Wildheit in dieser entschiedenen Haltung und Geberde. „Das geht mich auch an! … Wenn Sie mir sie wild machen, wer hat nachher die schlaflosen Nächte? Ich armes Weib. … Ich brauchte es freilich nicht – ich könnte es ja auch machen, wie die Anderen im Schlosse, die um keinen Preis einen Fuß hierhersetzen, und hätte meine Ruhe. … Ich will auch gar nicht etwa sagen, daß ich’s aus Liebe thue, oder aus Mitleiden – ich bin ein hartes Weib und will mich nicht besser machen, als ich bin. … Die Leute gehen mich ja auf der Gotteswelt nichts an,“ fuhr sie ruhiger, aber auch mürrisch und verdrossen fort. „Wenn ich hier aus- und eingehe und so viel wie möglich für Ruhe sorge, so thue ich’s für meine Herrschaft, von der ich das Brod habe.“
„Frau, was ficht Sie an?“ beschwichtigte der Hofprediger lächelnd – er schüttelte leise den Kopf. „Wer zweifelt denn an der Pflichttreue, dem kalten Blut der Löhn? … Mag doch die Kranke ihr Spielzeug behalten – ich bin der letzte, der Ihnen Ihr Amt erschwere möchte.“
Mittlerweile ging die junge Frau mit unhörbaren Schritten hinaus. Sie mußte den klaren Nachthimmel über sich sehen und den Sand des Weges unter ihren Füßen knirschen hören, um zu empfinden, daß sie nicht in der Nebelwolke eines phantastischen Traumes wandle, einen so schwerbeklemmenden Eindruck machten ihr die seltsam zusammengewürfelten Menschen unter dem [74] Bambusdache. Es war ihr, als habe sie ein Bild voll Anachronismen gesehen – jenes fremdartige feingliedrige Wesen, das schmuckbeladen, in der weißen Mouslinwolle, wie eine indische Fürstentochter auf dem Rohrbette lag, und das hünenhafte, rauhe Weib mit dem grobkörnigen Deutsch auf den Lippen, mit der steifgestärkten Leinenschürze und dem hochaufgesteckten Hornkamm im graumelirten Zopfknäul am Hinterkopf – ein fast unglaubliches Nebeneinander! …
Betäubend schlugen der Hinaustretenden die Rosendüfte entgegen. Der Nachtwind hatte sich aufgemacht. Er blies durch die schwüle, vom flimmernden Silberlicht gleichsam starrende Luft und trug einen langgezogenen Harfenton über die Gärten. Die junge Frau legte unwillkürlich ihre schlanken kühlen Hände an die klopfenden Schläfen und verließ die Verandastufen.
„Das Thal von Kaschmir – das Paradies, das die erste athmende Menschenbrust nicht verstanden und für uns Alle verwirkt haben soll!“ sagte der Mann im schwarzen Rock, der ihr gefolgt war und nun neben ihr herschritt. „Die Meisten suchen es und gehen, vom alten Fluch geblendet, blöde vorüber; – der Ascet streicht es, seine Entzückungen verlachend, hart und eigenmächtig aus seinem Lebensplan, bis ein Blitz niederfährt und ihm zeigt, daß er ein Thor war, daß er den Fluch nicht ererbt, sondern durch eigene Vermessenheit auf sich geladen hat.“ Seine Stimme klang verschleiert, als dämpfe auch sie der erstickend heiße Athem der Julinacht.
Liane blieb stehen und sah in seine unregelmäßigen, aber tiefbeseelten Züge; sie wollte antworten – da stieg plötzlich eine klare Blutwelle in ihr Antlitz bis über die perlmutterweißen Schläfen hinauf, und ihre großen, klugen Augen wurden hart und kalt wie Stahl – unter diesem feurig beredten Männerblick ging sie nicht auf ein solch seelenbewegendes Thema ein. Sie überwand eine peinliche Empfindung und sagte sehr kühl und abweisend: „Bei solchen Klagetönen, wie ich sie eben gehört habe, kann ich unmöglich an das Paradies denken. … Wer ist die Unglückliche in dem Hause dort?“
Die Wangen des Mannes wurden blaß. Sichtlich gereizt ließ er einen finstern Seitenblick über die junge Dame hinstreifen, die mit einer einzigen stolzen Wendung ihres lieblichen Hauptes sich völlig unnahbar machte. Das war die Gräfin Trachenberg mit ihrer tadellosen Ahnenreihe hinter sich. „Wird es Ihr stolzes Gefühl nicht beleidigen, gnädige Frau, zu wissen, daß man in Schönwerth eine Verlorene beherbergt?“ sagte er mit scharfer Ironie. „Es giebt nichts Unbeugsameres, als die tugendstolze Frau – wohl ihr! Aber auch wehe Denen, die mit ihrem heißen Herzen abirren! … Ich kenne diesen keuschkalten, richtenden Frauenblick – er schneidet wie ein Schwert!“ – Was für Aussprüche von einem Priestermunde! … Er wandte sich um und zeigte nach dem Hause mit dem Rohrdach, das bereits hinter den Rosenhecken verschwunden war. „Wer könnte sich jetzt noch denken, daß jenes gelähmte, stammelnde Geschöpf, dessen Füße und Arme bereits vom Tode berührt sind, einst in den Straßen von Benares getanzt hat? Sie war eine Bajadere, ein armes Hindumädchen, das ein Mainau über das Meer entführt hat. … Dieses sogenannte Thal von Kaschmir unter deutschem Himmel ist um ihretwillen entstanden – Tausende sind verschwendet worden, um ihr ein Lächeln zu entlocken, um ihr den Himmel der Heimath vergessen zu machen –“
„Und jetzt ißt sie das Gnadenbrod in diesem Schönwerth und ist der harten Frau auf Gnade und Ungnade hingegeben,“ murmelte Liane tief erregt. „Und ihr Kind, das man mißhandelt –“
„Gnädige Frau, in Ihrem eigenen Interesse möchte ich Sie bitten, dem Herrn Hofmarschall gegenüber nicht in so scharfer Weise zu urtheilen,“ unterbrach er sie. „Es war sein Bruder, der mit diesem Liebeshandel der Welt ein schweres Aergerniß gegeben hat – der Mann ist seit Jahren todt, aber noch heute darf man dieses Thema nicht berühren, ohne den alten Herrn in stürmische Aufregung zu versetzen. Er ist ein strenger Katholik –“
„Sein strenger Glaube giebt ihm trotzalledem kein Recht, den unschuldigen Knaben zu unterdrücken, und das geschieht – ich war Zeugin,“ sagte Liane unerbittlich.
Sie betraten in diesem Augenblicke das dämmernde Bosquet; die junge Dame konnte das Gesicht ihres Begleiters nicht sehen, aber sie hörte verlegenes Räuspern, und nach einem momentanen Verstummen antwortete er in sonderbar stockenden Sätzen:
„Ich habe jene Frau bereits als eine Verlorene bezeichnet – sie war treulos wie alle Hindus – der Knabe hat nicht mehr Anspruch an das Haus Mainau, als jeder andere Bettler auch, der an das Schönwerther Schloßthor anklopft.“
Liane sagte kein Wort mehr. Sie schritt rascher nach dem Ende des Laubganges – es war erstickend heiß unter den engverschränkten Aesten. Die unheimliche Vorstellung drängte sich ihr auf, dieser Gluthstrom gehe von dem Manne aus, der sie begleitete. Eine ihrer Flechten blieb, wie sie meinte, am Gesträuche hängen – sie griff danach und berührte eine jäh zurückzuckende Hand. Fast hätte sie aufgeschrieen; wäre in Wahrheit der schlüpfrige Leib der Cobra über ihre Hand geglitten, sie hätte nicht erschrockener in sich zusammenschaudern können, als bei dieser Berührung.
Draußen suchte ihr Blick scheu und unwillkürlich die mondbeleuchteten Züge des Priesters – sie waren sehr ruhig, fast steinern. Die kurze Strecke bis zum Ausgange schritten sie schweigend nebeneinander; als die Gitterthür hinter ihnen zuschlug, blieb der Hofprediger stehen – fast schien es, als ringe er nach dem Ausdrucke Dessen, was er noch zu sagen habe. … „Dieses Schönwerth ist ein heißer Boden für zarte Frauenfüße, gleichviel ob sie aus Indien oder aus – einem deutschen Grafenhause kommen,“ hob er mit gedämpfter Stimme an. „Gnädige Frau, durch die Welt geht jetzt ein Sturm, und das Feldgeschrei heißt: ‚Nieder mit den Ultramontanen, mit den Jesuiten!‘ … Man wird Ihnen sagen, ich sei der Schlimmsten Einer, ein fanatischer Römling – man wird Ihnen sagen, daß ich im vollsten Maße die verderbliche Macht über Hochgestellte errungen habe, welche der Jesuitenorden auf dem ganzen Erdenrund erstrebe – denken Sie darüber wie Sie wollen. … Aber wenn Sie je in schlimmen Augenblicken – und die werden nicht ausbleiben – einer eingreifenden, stützenden Hand bedürfen, so rufen Sie nach mir – und ich werde da sein.“
Er verbeugte sich und schritt rasch und elastisch nach dem nördlichen Schloßflügel. Liane eilte in den Salon zurück. Sie verschloß mit bebenden Händen die in’s Freie führende Doppelthür und untersuchte mißtrauisch jeden Spalt zwischen den Vorhängen, damit kein unberufener Blick hier wieder eindringe. … Nie war ihr im Hinblick auf Das, was die Zukunft bringen sollte, unheimlicher zu Muthe gewesen, als in dieser Stunde – nie! Selbst nicht in jenen schrecklichen Tagen, wo der Hammer des Auctionators durch das Rudisdorfer Schloß scholl, wo ihre Mutter händeringend durch die kahlen, hallenden Säle und Zimmer lief, sich in wildester Verzweiflung auf den Boden warf und Gott anklagte, daß er die letzten Trachenberger Hungers sterben lasse. … Damals hatte die geistesstarke Ulrike das Steuer ergriffen und in ein verhältnißmäßig erträgliches Leben eingelenkt, und der Retter für sie und ihre Geschwister war – die Arbeit gewesen. Die Arbeit – eine ehrlichere Stütze, als „die eingreifende Hand“ jenes katholischen Priesters! Nein, lieber sterben im Ringen mit den „schlimmen Augenblicken“, als nach ihr rufen! …
Liane entdeckte am anderen Morgen neben ihrem Ankleidezimmer ein dürftig eingerichtetes, aber freundliches Cabinet, das offenbar als Garderobe dienen sollte. Sie trug ihre Pflanzenpresse, ihre Bücher und Malutensilien herüber – hier wollte sie arbeiten. Das große Fenster gewährte ihr einen Ausblick auf malerische Partien des Gartens und darüber hinaus nach den hochaufgethürmten Waldbergen. Sie zog den Schlüssel ab und machte dem eben eintretenden Kammermädchen begreiflich, daß die Garderobe in einem anderen Raume unterzubringen sei. Die Jungfer entschuldigte athemlos ihr spätes Erscheinen mit der Messe – noch hing der Weihrauchduft in ihren Kleidern. Der Herr Hofprediger sei zu streng, klagte sie, und wenn der kranke Mensch nur noch kriechen könne, in die Messe müsse er. … Er bleibe oft zwei bis drei Tage in Schönwerth, habe da seine eigenen Appartements, und regiere dann immer noch viel strenger, als der Herr Hofmarschall selbst. In der Residenz sei das nicht anders; der Herr Hofprediger gelte Alles bei der Frau Herzogin. … Damit war die langathmige Entschuldigung
[75] beendet, von der die Schlußworte: „Gott sei Dank, er ist eben nach der Stadt zurück!“ auch für die Herrin tiefberuhigend klangen.
Ein Bedienter kam und meldete, daß das Frühstück im Eßzimmer vorbereitet sei. Dieser Speisesaal schloß die Flucht der Gemächer, welche der Hofmarschall bewohnte; aber die Fenster lagen nach Morgen und mündeten in den weiten Schloßhof. Mit schwerfälligeren Eichenmöbeln, einer größeren Anzahl von Hirsch- und Eberköpfen an den Wänden und mächtigeren Humpen auf dem Schenktische konnte auch im wuchtigen, wildmordenden und durstigen Mittelalter kein Rittersaal ausgestattet gewesen sein, als dieser große, holzgetäfelte Raum. Aus dem einen Eckkamine knisterten Funken in den breit über das Parquet hinfließenden Morgensonnenstrahl; aber die Gluth der lodernden Scheite drang nicht weit über den Rollstuhl des Hofmarschalls und das daneben placirte, weißgedeckte Tischchen hinaus – der Saal war zu groß.
Mit den Gichtschmerzen in den Füßen des alten Herrn mußte es heute besser gehen – er hatte seinen Stuhl verlassen, stand aufrecht, allerdings auf einen Krückstock gestützt, in einem der Fenster und sah hinab in den Hof, als Liane eintrat. Sie sah seine ganze Erscheinung im Profil. Er war ein hoher, magerer Mann, der einst, wie alle Mainaus, schön gewesen sein mußte, nur mochten diese Gesichtslinien für einen Männerkopf immer ein wenig zu fein und gedrückt erschienen sein – die starke Vertiefung zwischen Stirn und Nasenwurzel, der geringe Raum zwischen Kinn und Nase, Eigenthümlichkeiten, die vor Jahren das Gesicht jedenfalls als pikant charakterisirt hatten, waren jetzt der Sitz der ausgeprägteste Malice.
Aus der halboffenen Thür des Nebenzimmers klang die kräftig lärmende Stimme des kleinen Leo; sie wirkte – sonderbar genug – angesichts der Erscheinung im Fenster, förmlich ermuthigend auf die eintretende junge Dame. … Seitwärts vom Hofmarschall, in respectvoller Entfernung, stand die Beschließerin. Sie hatte ein Buch und verschiedene Papiere – jedenfalls ein Wirthschaftsbuch sammt Belegen – in der Hand, machte aber auch einen langen Hals und bemühte sich, über die Schulter des alten Herrn in den Hof hinabzusehen. … Nicht ein Zug im Gesichte der Frau verrieth, daß sie des nächtlichen Vorfalles gedenke, als die neue Herrin an ihr vorüberglitt und mit einer höflichen Verbeugung den Hofmarschall begrüßte. Er wandte sich um und erwiderte den Gruß ritterlich und gewandt, aber auch mit sichtlicher Hast – sein ganzes Interesse schien durch irgend einen Gegenstand im Hofe gefesselt zu sein.
„Da – da sehen Sie!“ sagte er erregt zu der neben ihn tretenden jungen Dame und deutete durch das Fenster. „Diese infamen Rangen da unten haben in den neuen Anpflanzungen junge Stämme abgeschnitten – Gesindel das! … Es weiß recht gut, daß die Hetzpeitsche am Nagel hängt, seit ich zum Sitze verurtheilt bin. … Na, diesmal wenigstens wird Raoul ein Exempel statuiren – es geht ihm an den Kragen – die Anpflanzungen sind sein Werk!“
Baron Mainau mußte eben von einem frühen Morgenritte heimgekehrt sein – er trug Sporen, hatte die Reitgerte in der Hand und sah bestaubt aus. Vor ihm standen die „infamen Rangen“, ein Paar Dorfkinder, ein Knabe und ein Mädchen. Ein Feldhüter, an dem Alles verwittert schien, nur das blanke Messingschild nicht, hatte sie eingebracht und berichtete, den Knaben an der Schulter haltend, über die Missethat in den Anlagen. Aus allen Fenstern lauschten Köpfe, und der Blick eines Stallknechtes, der breitspurig und behaglich in einem Remisenthor stand, hing gespannt an der Reitgerte, die „der gnädige Herr“ während des Berichtes spielend durch die Luft pfeifen ließ. Das kleine Mädchen weinte bitterlich in die Schürze, und das jämmerlich gesenkte Jungengesicht war weiß wie eine Kalkwand.
Der Feldhüter war zu Ende; Baron Mainau schalt heftig – seine Stimme schallte herauf. Er schwang seine Reitgerte, jedenfalls in Verheißung einer kräftige Züchtigung bei einem Rückfalle, ein paar Mal drohend über den Köpfe der kleinen Delinquenten, dann zeigte er mit derselben nach dem offenen Hofthor – das Mädchen ließ seine Schürze fallen und gab Fersengeld; der Junge folgte schleunigst, und in wenigen Augenblicken waren sie unter dem Gelächter der Schloßleute um die Ecke verschwunden.
„Der Narr, der!“ murmelte der Hofmarschall wüthend und hinkte vom Fenster weg zu seinem Rollstuhle – er war in der übelsten Laune. Frau Löhn schlug die Steppdecke um seine Füße, schürte das Kaminfeuer und fragte mit monotoner Stimme nach den weiteren Befehlen des „gnädigen Herrn“, indem sie auf das Wirthschaftsbuch zeigte.
„Nichts,“ sagte er mürrisch, „als was ich bereits befohlen habe – keinen Madeira mehr drüben im indischen Hause! … Sie sind nicht bei Trost, Löhn, und müssen denken, das Geld falle mir aus dem Aermel. Warum nicht lieber gleich Wein- und Bouillonbäder? – Sie wären dazu im Stande.“
„Mir kann’s recht sein, gnädiger Herr – was geht’s mich denn an?“ versetzte die Beschließerin gleichmüthig. „Es kann mir doch sehr egal sein, ob ich Wein oder Wasser in den Löffel gieße, den ich ihr gebe. … Der neue Doctor hat einfach gesagt: ‚Sie muß Madeira bekommen –‘“
„Der Einfaltspinsel mit seiner Weisheit soll sich zum Kukuk scheren! Er hat nichts da drüben zu suchen.“
„An dem Tage, wo er Schloßdoctor geworden ist, hat’s ihm der junge Herr Baron selbst befohlen,“ referirte die Frau weiter, völlig unberührt von dem groben Ton ihres Herrn. „Er hat sie untersucht und hat mich schon zweimal gefragt – als ob ich das wissen könnte! – ob der Lähmung nicht ein Erstickungsanfall vorausgegangen wäre.“
Liane war inzwischen an den großen, runden Tisch inmitten des Saales getreten – er trug das Frühstück auf seiner Platte. Sie nahm die Kaffeemaschine vor und stand mit dem Rücken den Sprechenden zugewandt – aber sie fuhr erschrocken herum und griff nach ihrem leichten Battistkleide, ein solcher Funkenregen knisterte plötzlich vom Kamin herüber – der Hofmarschall hatte seine Krückstock mit wüthender Vehemenz zwischen die brennenden Scheite gestoßen.
„Machen Sie, daß Sie hinauskommen, Löhn!“ schalt er mit funkelnden Augen und zeigte nach der Thür. „Sie langweilen mich mit Ihrem Altweibergewäsch.“
Die Beschließerin marschirte pflichtschuldigst nach der Thür und legte die Hand derb auf das Schloß. Bei diesem Geräusch stieß er abermals heftig in die Flammen, aber er wandte das Gesicht nach der Hinausgehenden. „Löhn!“ rief er sie zurück. „Sie sind das unausstehlichste Frauenzimmer, das mir je vorgekommen ist – aber Sie haben wenigstens den einen Vorzug vor dem übrigen Schloßgesindel, daß Sie in den meisten Fällen Ihre Weisheit für sich behalten.“ … Er räusperte sich. – „Geben Sie ihr meinetwegen den Madeira fort, aber nur theelöffelweise – hören Sie? theelöffelweise! – mehr ist ihr unbedingt schädlich. … Die Besuche des Doctors aber verbiete ich hiermit ein- für allemal. Er incommodirt sie mit seinen Untersuchungen und kann ihr doch nicht helfen.“
In diesem Augenblicke scholl aus dem Nebenzimmer ein zorniger Aufschrei, dem eine Fluth von Scheltworten aus Leo’s Munde folgte – dazu hörte man den Knaben mit den Füßen stampfen.
„Holla – was ist los da drüben?“ rief der Hofmarschall. „Wo steckt denn wieder einmal diese Person, die Berger –“
„Ich bin hier, gnädiger Herr,“ antwortete die Erzieherin und trat mit gekränkter, aber dennoch demüthiger Miene auf die Schwelle. „Ich bin immer hier im Zimmer gewesen … Leo’chen war erst ganz artig, sehr artig; aber da fiel dem Gabriel eine Zeichnung aus dem Gebetbuche. Der Junge ist doch zu albern, zu dickköpfig, gnädiger Herr. Statt dem Kleinen das Blatt zu lassen, reißt er es ihm aus der Hand –“
Der kleine Leo unterbrach sie, schob sie mit kräftigen Fäusten bei Seite und stürmte herein – in jeder Hand hielt er einen Papierfetzen.
„Zu zerreißen brauchte sie es doch nicht? – war das nicht dumm, Großpapa?“ rief er ganz empört. „Ich wollte es gern haben, das Bild – das ist wahr – und Gabriel gab es mir nicht, durchaus nicht – da nimmt sie den wunderhübschen Löwen und zerreißt ihn in zwei Stücke – sieh nur her!“
„Ich mache Ihnen mein Compliment für die unvergleichliche Entscheidung, Fräulein Weisheit,“ sagte der Hofmarschall mit beißendem Sarkasmus zu der Gouvernante, die im Bewußtsein ihres Rechtes näher getreten war und nun verlegen ihre schielenden Augen wegwendete. Er nahm die Papierstücke und warf einen [76] Blick darauf. „Gabriel!“ rief er mit hartbefehlender Stimme nach dem anstoßenden Zimmer.
Der Knabe kam herüber und blieb, noch blässer als gewöhnlich, mit niedergeschlagenen Lidern an der Thür stehen.
„Du hast wieder einmal geklext?“ fragte der Hofmarschall kurz – er zog seine kleinen Augen blinzelnd zusammen. Wie ein Giftpfeil fuhr der concentrirte Blick durch die grauen Wimpern nach dem sichtbar bebenden Kind hinüber.
Gabriel schwieg.
„Da stehst Du nun wieder und thust, als könntest Du nicht Drei zählen, Du Duckmäuser! Und drüben hinter dem Drahtgitter treibst Du Allotria – ich kenne Dich, Bursche. Verdirbst das theure Papier mit Deinem unberufenen Stift und singst weltliche Lieder, keck wie eine Haidelerche –“
Erschüttert sah Liane nach dem Gescholtenen – das waren die Lieder, die das unglückliche Kind mit angstvollem Herzen sang, um seine aufgeregte Mutter zu beschwichtigen.
Der Hofmarschall rieb das Papier zwischen den Fingern. „Und was ist das für ein prachtvolles Papier, das Du da besudelt hast?“ inquirirte er weiter.
Die Beschließerin, die, das Thürschloß in der Hand, das Hinausgehen vergessen zu haben schien, kam rasch um einige Schritte näher; sie hatte ein vollkommen ruhiges Gesicht – vielleicht war das starke Roth ihrer Wangen ein wenig tiefer, als gewöhnlich. „Das hat er von mir, gnädiger Herr,“ sagte sie in ihrem kurzen, resoluten Ton.
Der alte Herr fuhr herum. „Was soll das heißen, Löhn? Wie kommen Sie dazu, gegen meinen ausdrücklichen Wunsch und Willen –“
„I, gnädiger Herr, zu Weihnachten nimmt man’s nicht so genau; da kommt’s nur drauf an, daß man für seine paar Pfennige auch einen Dank hat – und dem Jungen sein ganzes Herz hängt ja an dem Papier. … Dem Kutscher Martin seinen Kindern habe ich einen ganzen Tisch voll Kram bescheert, und da hat kein Mensch etwas Unrechtes drin gefunden. … Ich kümmere mich das ganze Jahr nicht d’rum, ob der Gabriel malt oder schreibt – das ist ja nicht meine Sache, und ich versteh’s auch nicht; aber ich hab’ mir gedacht: ‚I nun, wenn er auch einmal eine Muttergottes hinmalt, das kann doch keine Sünde sein.‘“
Der Hofmarschall maß sie mit einem langen, tiefmißtrauischen Blick. „Ich weiß nicht, spricht eine grenzenlose Dummheit aus Ihnen, oder – sind Sie gerieben schlau,“ sagte er mit langsamer Betonung.
Frau Löhn hielt den Blick unbefangen aus. „Du lieber Gott – ein Schlaukopf bin ich mein Lebtage nicht gewesen – wird’s ja wohl die Dummheit sein, gnädiger Herr.“
„Nun, dann bitte ich mir’s aus, daß Sie künftig am Weihnachtsabend Ihre dummen Streiche unterlassen. Behalten Sie Ihre paar Pfennige in der Tasche für die Tage, wo Sie nicht mehr dienen und arbeiten können!“ schalt er und schlug heftig mit dem Stock aus das Parquet. „Der Junge soll nicht zeichnen, absolut nicht – es zerstreut ihn. … Ist das eine Muttergottes?“ zürnte er und hielt ihr das Bruchstück eines correct gezeichneten, im Sprung begriffenen Löwen hin. „Ich sag’s ja, der Mosje treibt Allotria da drüben, und Sie sind bornirt genug, ihn darin auch noch zu unterstützen … Antworte!“ herrschte er dem Knaben zu. „Was wird Dein Beruf sein?“
„Ich werde in ein Kloster gehen,“ lautete der leise gegebene Bescheid.
„Und weshalb?“
„Ich soll für meine Mutter beten,“ sagte der Knabe – jetzt brachen Thränen unter den tiefgesenkten Lidern hervor.
„Recht – Du sollst für Deine Mutter beten – dazu bist Du geboren, dazu hat Dich Gott auf die Welt geschickt … Und wenn Du Dir die Kniee wundrutschest und Tag und Nacht Gottes Barmherzigkeit anrufst – Du kannst nie genug thun. Das weißt Du, das hat Dir der Herr Hofprediger unzähligemal wiederholt – und doch hängst Du Deine Seele an weltliche Dinge und legst gar Deine streng verbotenen Sudeleien ist das Gebetbuch – schäme Dich – Du bist ein miserabler Junge! … Marsch, hinaus mit Dir!“
Die geschmeidige Gestalt des Knaben verschwand hinter der Thür wie ein Schatten.
„Löhn, Sie werden drüben das Weihnachtspapier zusammensuchen und mir bringen!“ sagte der Hofmarschall.
„Zu Befehl, gnädiger Herr,“ versetzte die Beschließerin und strich mit der Hand sorgsam glättend über die steife Schürze – diese Hand war ein wenig unsicher, sonst aber behielt die Frau ihre ernsthafteste Miene und verließ nach einer unbeholfenen Verbeugung das Zimmer.
„Der Großpapa ist aber auch zu schlimm heute,“ murrte Leo leise nach der Gouvernante hin. Sie legte ihm erschrocken die Hand auf den Mund. Erbost schleuderte er sie weg, schlug nach ihr und rieb sich in sehr unartiger Weise mit dem Aermel die Lippen ab. „Sie sollen mir nicht in das Gesicht kommen mit Ihrer kalten Hand – ich kann’s nicht leiden,“ brummte er grob.
Vergebens wartete Liane auf einen Verweis von Seiten des Hofmarschalls – er sah abgewendet in das Kaminfeuer, als habe er den derben Schlag auf die Hand der Erzieherin nicht gehört. „Du bist ein sehr unartiges Kind und verdienst Strafe, Leo,“ sagte die junge Frau endlich streng.
„O bitte, das ist ja nicht so böse gemeint,“ lispelte die Gouvernante, indem sie dem Knaben die Frühstücksserviette umband. „Wir vertragen uns im Allgemeinen sehr gut – nicht wahr, Leo, mein Liebling?“
„Mit diesen Maximen werden Sie nicht weit kommen, Fräulein Berger,“ versetzte die junge Frau. „Und für das Kind selbst ist eine solche Behandlungsweise –“
„Bitte, ich handle nach höherer Instruction,“ unterbrach sie die Gouvernante schnippisch mit einem Seitenblicke nach dem Hofmarschall, „und werde mich stets beeifern, nach dieser Richtung hin Beifall zu erringen – Niemand kann zweien Herren dienen und –“
„Wollen Sie mich nicht ausreden lassen, mein Fräulein?“ schnitt Liane gelassen, aber mit einer so vornehmen Geberde den Redefluß ab, daß die Erzieherin schwieg und die Augen niederschlug.
„Erlauben Sie dagegen mir, daß ich Sie unterbreche, meine Gnädigste,“ rief der alte Herr herüber. Er hatte sich nachlässig in seinen Stuhl zurückgelehnt und stippte die ausgespreizten Finger spielend gegeneinander – ein abscheulich impertinentes Lächeln schwebte um seine Lippen. „Sie waren gestern eine imposante, und doch mädchenhaft reizende Braut – ich kann Ihnen versichern, daß Sie mir weit besser gefielen, als heute in dieser angenommenen Mutterwürde; die weise Miene steht Ihrem jungen Gesicht schlecht … Sagen Sie, woher haben Sie die Neigung, sich in die Kindererziehung zu mischen? Von der erlauchten Mama ganz gewiß nicht – die kenne ich.“
Er sagte das Alles lächelnd, scherzend, wobei er unablässig das Spiel mit den Händen fortsetzte und, den Kopf an die Lehne zurückgelegt, sein schöngehaltenes, schneeweißes Gebiß zeigte. „Ah – Sie haben vielleicht in der Pension den ‚Emile‘ von Rousseau, seligen Andenkens, gelesen – mit oder ohne Vorwissen der Frau Pröbstin, gleichviel! .. Diese Ideen sind einmal sehr Mode gewesen, und man hat so lange mit ihnen kokettirt, bis die Meisten ihre verdrehten Köpfe unter der Guillotine gänzlich verloren … Meine Gnädigste, wir sind abermals auf einer schiefen Bahn – die Männer, die nach uns kommen, müssen eisern sein. Da heißt es, Drachenzähne säen, und nicht jene sogenannten ‚Samenkörner des Guten‘, wovon die heutigen Schulmeister alle Rocktaschen voll haben und mit denen sie sich so mausig machen, wenn sie ‚tagen‘. Also verderben Sie künftig Ihre zarten, sehr kindlichen Züge nicht durch unzeitige Strenge, schöne Frau, und lassen Sie nach wie vor mich sorgen … Und nun bitte ich um eine Tasse Chocolade aus Ihren weißen Händen.“
Liane stellte eine Tasse auf einen kleinen Silberteller und präsentirte ihm dieselbe. Sie war äußerlich sehr ruhig und ließ sich weder durch die triumphirenden Schielaugen der Gouvernante, noch das fortgesetzte Spottlächeln des Hofmarschalls aus der Fassung bringen. Er blickte einen Moment zu ihr auf, ehe er die Tasse nahm – sie konnte zum erstenmal tief in diese kleinen geistvollen Augen sehen; sie waren voll funkelnder Bosheit. Dieser Mann war ihr unversöhnlicher Feind, mit dem sie ringen mußte, so lange er lebte – das sagte sie sich sofort. Sie war auch viel zu klug, um nicht einzusehen, daß sie hier bei sanfter [77] Nachgiebigkeit ohne Weiteres verloren sei und unter seine Füße käme, und daß sie ihren Platz nur behaupten könne, wenn sie imponire, das heißt wo möglich „mit gleicher Münze zahle“.
Er ergriff ihre Linke und betrachtete sie. „Eine schöne Hand, eine echt aristokratische Hand!“ Leicht prüfend fuhr er über die Spitze des Zeigefingers. „Sie ist sehr rauh; Sie haben genäht – nicht gestickt – sondern genäht, meine Gnädigste, – wohl Ihre Ausstattung an Wäsche? … Hm, diese zahllosen Stiche und Narben müssen geglättet sein, ehe wir Sie – bei Hofe präsentiren können – der Prüfstein für eine tüchtige Kammerjungfer paßt nicht an den Finger der Baronin Mainau … Mein Gott, wie ändern sich doch die Dinge! Was würde wohl der rothe Job von Trachenberg, der reichste und gewaltigste unter den Kreuzrittern, zu diesen kleinen Wunden sagen!“
Die junge Dame sah mit einem ernsten Lächeln auf ihn nieder. „Zu seiner Zeit schändeten fleißige Hände eine Dame von Stande noch nicht,“ sagte sie, „und was unsere Verarmung betrifft, mit der Sie diese kleinen Wunden in Verbindung bringen, so wäre er vielleicht weise genug, sich zu sagen, daß der Wechsel mächtiger ist, als der Menschenwille, und daß die Jahrhunderte, die nach ihm gekommen sind, nicht spurlos an den verschiedenen Geschlechtern vorübergehen konnten … Die Mainau’s sind ja auch nicht immer Verächter der Arbeit gewesen. Ich habe unser Familienarchiv oft genug durchstöbert, und weiß aus den Aufzeichnungen eines meiner Ahnherren, daß ein Mainau lange Zeit sein Burgvogt und, wie er selbst lobend ausspricht, ‚ein wackerer, getreuer und vielfleißiger Mann‘ gewesen ist.“
Sie trat an den großen Tisch zurück und machte den Kaffee fertig – es war für einen Moment sehr still geworden im weiten Saale. Der Hofmarschall hatte bei den letzten Worten der jungen Frau seine Tasse so hastig zum Munde geführt, als sei er dem Verschmachten nahe gewesen; nun hörte sie hinter sich das leise Aneinanderklirren des Porcellans in seinen Händen, und als er nach einer kurzen Pause rauh und gebieterisch nach etwas geröstetem Weißbrod verlangte, da reichte sie ihm den Teller so zuvorkommend hin, als sei nicht das Mindeste vorgefallen. Er griff tastend nach einigen Schnitten und sah dabei angelegentlich in die Kaminwölbung.
Wer hörte sie nicht schon preisen, die besseren Tage einer fernen Vergangenheit? Wen aber erfüllte diese sogenannte „gute“ alte Zeit nicht auch schon mit Entsetzen und Schauder, stand er vor den Denkmalen jener lang vorübergezogenen Epochen, in denen Fanatismus und Aberglaube sich häufig zu kaum noch begreifbarer Höhe gipfelten und – sagen wir’s offen – ebenso oft Unverstand und Dummheit sich mit einer an Unmenschlichkeit streifenden Grausamkeit verbanden? Voll Ungerechtigkeit den Nebenmenschen zu richten und zu strafen und in unerbittlich starrer Consequenz den Unschuldigen zum Schuldigen zu stempeln – das gehörte zum Wesen dieser Grausamkeit.
Wie Nürnbergs düstere Folterkammern und ihre auf jener romantischen, alten Hohenzollernschen Burg aufbewahrten Folterinstrumente unserer Ansicht nach höchst geeignet sind, alle romantischen Begriffe über die „gute“ alte Zeit zu berichtigen, so sind es auch jene furchtbarsten Denkmale des Aberglaubens, die alten [78] Hexenthürme, die wir noch hier und da auf deutscher Gau finden. Angesichts derselben fühlen wir uns mit Freude und Dankbarkeit darüber erfüllt, daß wir einem aufgeklärteren Jahrhundert angehören und Kinder einer in dieser Beziehung jedenfalls besseren Zeit sind.
Ein solches Schreckensdenkmal früherer Epochen wird in einem der anmuthigsten Thäler der Wetterau, im Dorfe Lindheim, aufbewahrt. Im Lindheimer Pfarrhause beglaubigen eine alte Chronik und vergilbte Documente die vor zwei Jahrhunderten daselbst geschehenen Thaten der Barbarei. Der wundervolle Park des stattlichen Lindheimer Herrenhauses umgiebt jetzt dieses schauerliche Denkmal der Vorzeit, einen alten Hexenthurm. Wie friedlich sich auch in nur geringer Entfernung von demselben die kleine Dorfkirche erhebt, wie reizend und freundlich die ganze herrliche Umgebung, durchströmt und durchfluthet vom hellen, warmen Sonnenglanz, sich im vollen Schmuck des Sommers auch zeigt, jene düstern alten Mauern breiten über alle Pracht und allen Zauber der Natur einen finsteren Schatten, und ihr Anblick bedrückt geradezu gewaltsam Seele und Geist. Vergebens beschwören wir sie herauf, die besseren Erinnerungen, die jenes alte Herrenhaus umwehen; vergebens erzählt man uns so viel von des Schlosses früheren Besitzern, dem edlen und vortrefflichen Gutsherrn von Schrautenbach, dem Freunde und Gönner des Grafen Nicolaus von Zinzendorf, und vielen anderen berühmten Männern, die im Anfange des vorigen Jahrhunderts dort so oft weilten und deren Namen im Dorfe unvergessen blieben; vergebens nennt man uns unter jenen Gästen des Herrenhauses die Namen des berühmten Spener, der Grafen von Stolberg und Isenburg, Zinzendorf sowie Anderer – die Berichte über den Lindheimer Hexenthurm sind so furchtbar und entsetzlich, daß ich nur mit bebender Hand die trostlose Stätte gezeichnet und unter der Beschäftigung mich immer und immer wieder am Blau des Himmels, am unendlichen Reiz der ganzen poesievollen Umgebung erquicken mußte, um das alte Schreckensdenkmal nur auf’s Papier bringen zu können.
Ja, in jenem Thurme, den jetzt die Ranken des üppigsten Schlingkrauts umwinden, den prachtvolle Bäume schattend umstehen, ketteten die Gewalthaber des Gesetzes von 1663 und 1664 die Unglücklichen, die man der Hexerei beschuldigte, an den Wänden an, so daß sie in schwebender Stellung entsetzliche Qualen litten. Sie durften bei der grausamen Execution des Verbrennens keinen Boden unter den Füßen haben, weil der Ueberlieferung zufolge eine verbrennende Hexe durch Berührung der Erde neuen Zauber säete. Jenes kleine Bogenfenster in der Mauer des Thurms, das heute so romantisch in den schattenreichen Park hineinschaut, diente ehemals als Zugloch und mußte jenes furchtbare Feuer in loderndem Brand erhalten, über dem unschuldige Menschen, den Aberglauben ihrer Zeit büßend, unter Höllenqualen ihren Geist aufgaben.
Wie auf unglaubliche Geschichten, blicken wir auf die Blätter in Lindheims Chronik, die über jene Jahre berichten, wo ein Amtmann Namens Geis in dem Dorfe regierte. Dieser Blutmensch brachte, theils um sich zu bereichern, theils um persönliche Rache zu befriedigen, seine Mitbürger als der „Hexerei und Zauberei“ Verdächtige in’s Gefängniß und ließ sie foltern und verbrennen. Wohlweislich hatte er sich zu seinen Schandthaten die Erlaubniß der Obrigkeit, der Burgherren und Ganerben – d. h. der zu gemeinsamem Zwecke, zu Schutz und Trutz verbundenen Burgherren, welche die Gerichtsbarkeit in Händen hatten – von Lindheim eingeholt. Daß sie aber auf seine Eingabe und Bitte um Vollmacht eine zustimmende Antwort ertheilten, ist ein Beweis dafür, eine wie entsetzlich abergläubische Verblendung damals auch in den höheren Kreisen herrschte. Amtmann Geis sagt in jener beglaubigten Urkunde vom 31. December 1662 wörtlich: „daß das leudige Zauberwerk wiederum in Lindheim stark im Schwange sei, daß ein Schmiedsgeselle an einem Trunke gestorben, den man ihm gebracht habe“, setzt dann hinzu: „wenn die hochadligen Gestrengen Lust zum Brennen hätten, wie schon anno 1650 geschehen, die Bürgerschaft das Holz liefern würde“, und deutet an, „daß das Vermögen der schuldig Befundenen nicht nur ausreichen würde, Brücke und Kirche gut in Stand zu setzen“, sondern auch „der Gestrengen Diener besser zu besolden“. Den Schluß des interessanten Briefes, in dem keine Silbe den Gesetzen der Orthographie gerecht wird, bilden die Worte: „Erwarten derowegen von Ew. hochadlige Gestreng gnädige Einsicht und Verordnung in dieser Sachen.“
Die umgehende Antwort lautet:
„Wir Baumeister und Ganerben des Schlosses Lindheim thun kund und bekennen kraft dieser Vollmacht, daß wir unseren getreuen Amtmann Georgium Ludovicum Geisium auf sein bittliches Fürstellen, wie das leudige Zauberwerk, so wir Anno 50 mit Feuer und Schwert zu vertilgen gemeint, wiederum Ueberhand genommen, ermächtigt haben, nach Kaiser Caroli V Halsordnung zu verfahren und das Hexengeschmeiß auszutilgen. Alles zu unserer getreuen Unterthanen Nutz und zur Ehr’ des dreifaltigen Gottes.
- Johann Hartmann von Rosenbach. Franz Christoph von Rosenbach. Henrich Herrmann von Oynhausen. Franz Rudolph von Rosenbach.“
Wohlthuend berührt uns in dieser Zeit der Verblendung, daß bereits Einige der Ganerben sich von einer derartigen Vollmacht ausschlossen und ihre Unterschrift versagten. Mit Bewunderung aber erfüllt uns geradezu das Benehmen Einzelner in der unglücklichen Opferschaar, der Muth, der Heroismus, mit dem sie die entsetzlichsten Qualen, den schrecklichsten Tod ertrugen, ohne ein Zugeständniß ihrer Schuld zu machen. Oft genügte schon die einfache Angabe eines Anderen, den sie der Zauberei anklagten, um sich selbst zu befreien und zu retten – dennoch starben Viele unter den Unglücklichen den Tod in den Flammen, ohne daß alle Martern sie hätten bewegen können, die eigenen Qualen den Mitmenschen aufzuerlegen.
Zu den Ganerben zählten die Familien Buches, Stockheim, Wolf von Wolfskehl, Schelmen von Bergen, Rosenbach, Pfrauenheim, Weiß von Fauerbach, von Büdingen, von und zu der Heese, Wallenstein, Reifenberg und viele andere noch jetzt in Oberhessen vertretene adelige Geschlechter. Mit besonderer Auszechnung nennt die Chronik von Lindheim indessen den Namen des Junkers Hans von Heese, welcher damals die Burg zu Lindheim bewohnte. Gleich guten Klang hat der Name seiner Tochter Bertha, von der wir später hören werden.
Durch die Vermittelung des Junkers von der Heese kam nun zwar zur Zeit von Lindheims Noth und Schrecken ein Abgesandter der Ganerben auf die Burg, um dem Unwesen zu steuern und Ungerechtigkeiten des blutdürstigen Amtmanns zu verhindern. Der Erwählte, ein Junker von Grünrodt, wurde indessen vom Amtmann gegen die Hexen und Zauberer eingenommen; er scheint alles Angeordnete gerecht und natürlich gefunden zu haben, denn den Urkunden zufolge that er keiner der Barbareien Einhalt, sah dem Foltern sogar zu, ging auf die Jagd und lachte seine einstmalige Spielgefährtin, die schöne Bertha, aus, weil sie sich die Strafe der Hexen zu Herzen nahm.
Viele Einwohner Lindheims suchten sich durch die Flucht vor dem Geschicke eines martervollen Todes zu retten, das Jeden zu bedrohen anfing, denn bald schon begnügte sich der Amtmann nicht mehr, alte Frauen zu verbrennen, nein, auch Männer wurden als Mitschuldige der Hexen erklärt, junge Mädchen und Frauen der Zauberei beschuldigt und sogar die kleinsten Kinder so lange nicht mit Foltern verschont, bis Rechtsgelehrte zu Büdingen, Fulda und Rinteln, die man über „die Gefahr, Hexenkinder zu schonen“, zu Rathe herbeizog, deren Unschuld nachwiesen und nur geboten: „durch vielstündiges Beten die List und Macht des bösen Feindes in ihnen zu brechen“. Die Lindheimer opferten nun lieber Habe und Gut, Haus und Heimath, um sich und ihre Kinder dem Amtmanne zu entziehen, und flüchteten in Berge und Steinbrüche, wo sie durch Barricaden, so gut es ging, Blut und Leben zu schützen suchten.
In dem vom damaligen Geistlichen des Orts geführten Buche befindet sich eine Stelle, die den klarsten Einblick in die Lage und Verhältnisse gewährt und über die Schreckensjahre von 1663 und 1664 berichtet. Sie lautet:
„Von der Bürgerschaft habe ich seit drei Tage Niemand gesehen; aus dem Dorfe kommt keine Menschenseele über die Brücke in die Burg, wenn nicht der Büttel eine Hexe vorüberschleppt. Sie haben schon zu Asche verbrannt Heinrich Kuhn’s Frau, den Bierbrauer und sein Weib und Wöppel. Bin nicht bei der Execution gewesen, sondern habe mit den armen Hexenleuten gebetet, ehe sie abgeführt wurden. War auch Niemand [79] von der Bürgerschaft dabei, denn allein die Henker. Metzlers Wittib und Andres Aukaß Frau, wie Just Vollbrecht haben sie am Galgen abgethan und an der Kirchhofsmauer begraben. Gott sei ihren Seelen gnädig!“
„Es ist so still im Ort, daß man meint, er wäre ausgestorben. Der Müller hat die Mühl’ stehen lasten. Wer mag auch an Brod denken, wo das Leben in Gefahr ist.“
„Bin heut’, Sonntag Jubilate, in die Kirche gegangen, hab’ aber Niemand darin gefunden, denn allein den Schulmeister und Nikolaus Kraft. Konnte kein Gottesdienst gehalten werden. Erzählten mir die Männer, wie die ganze Nacht hindurch der Zug Flüchtiger in den Steinbergswald gegangen und wie sie sich verschworen, dem Ersten den Garaus zu machen, der sie vor dem Amtmann bringen wolle.“
Des Ortsgeistlichen, eines Pfarrers Hölker, Bemühen, den Amtmann, der namentlich die Wohlhabenden dem Scheiterhaufen überlieferte und sich durch deren Eigenthum bereicherte, milder zu stimmen, war ohne Erfolg, denn dieser zeigte ihm die Vollmacht der Ganerben und drohte, den Mahner aus dem Hause zu werfen, wenn er sich gegen die Obrigkeit auflehne. Der wackere Mann sagte ihm laut Urkunde: „Reißt mich in Stücke, Herr Amtmann! Aber das Maul halt’ ich nicht dazu; denn es sind keine Hexenleute in Lindheim.“
Das Elend der Gefangenen, die in den engen Behältern des Hexenthurms so lange eingekerkert saßen, bis ihnen der Proceß gemacht wurde, der – wie mir scheint – nur in Foltern bestand, suchte des Burgherrn Heese Tochter, Bertha, zu mildern. Ihre Erscheinung, ihr Handeln zieht sich wie ein lichter Faden durch’s Dunkel der Lindheimer Schreckenszeit. Sie wußte die Wächter zu bestechen, daß sie sie in den Thurm ließen, um die durch’s Foltern entstandenen Schmerzen der Unglücklichen durch Balsam zu lindern und den armen „Hexen“ Nahrung zu bringen. Selbst als der Amtmann endlich Kunde von ihrem Thun erhielt, ließ er sie gewähren. Seine Opfer waren ihm sicher, und die schöne Bertha, die er liebte, wollte er nicht erzürnen, denn trotz aller Abweisung, die er erfuhr, gab er die Hoffnung, sie zu gewinnen, nicht auf.
Zu den ergreifendsten Beispielen des Duldens gehört Leben und Sterben eines der Hexerei angeklagten Weibes Namens Anna Kraft, der keine noch so furchtbare Marter die Geständnisse über Anderer Schuld entriß, die man von ihr erpressen wollte. Sie betete einzig auf der Folter, der sie auch erlag, denn als man sie zum Feuer schleppen wollte, saß sie mit gefalteten Händen und verklärten Zügen todt da, was aber nicht hinderte, daß sie noch durch Flammen vertilgt wurde. Unter den heroischen Geschichten nimmt folgende eines Ehepaars den ersten Rang ein. Des Amtmanns Geldgier brachte endlich auch den reichen Müller und sein junges Weib in den Thurm. Die unglückliche Frau wollte unter den Folterqualen verzagen, als ihr Mann ihr die Bitte zurief „kein Geständniß zu machen, das der Wahrheit entgegen sei, oder gar durch Angabe Anderer sich zu retten.“ – Sie ertrug danach Alles standhafter. Als später der Ortsgeistliche, des Burgherrn Tochter und mehrere Bürger sich verbanden, das allgemein beliebte Paar zu befreien, während der Amtmann eine Nacht abwesend war, da gestatteten die durch das Foltern zerrissenen Glieder der Müllerin nicht, sich zu erheben und mit Hülfe ihres Mannes das Fenster des Thurmes zu erreichen, das unsere Illustration zeigt. Alle Ueberredungen seiner Freunde daß er sich rettete, scheiterten darauf beim Müller. Er wollte sein Weib nicht verlassen. Sie aber richtete eine Gegenbitte an ihn, deren Erfüllung sie auch erzwang. Sie sagte: „Geh – eile! Bist Du frei, so zieh gen Speyer an’s Reichskammergericht oder zum Domdechanten von Rosenbach nach Würzburg! Da sage treulich, wie Dir und mir geschehen ist, die wir unschuldig sind!“
Als der Lindheimer Müller nun nach Würzburg kam, fand er den Domdechanten von Rosenbach nicht mehr dort. Er war bereits gen Lindheim aufgebrochen, dessen Lage er durch den Junker von Heese endlich erfahren. Der Müllerin konnte sein Kommen nicht mehr zum Segen gereichen. Sie war bereits verbrannt, als er an Ort und Stelle erschien. Dennoch kam er als rettender Engel gerade in dem Augenblicke in Lindheim an, wo der Pfarrer sein verzweifelndes Weib über die Brücke geleitete, die auch der Hexerei beschuldigt worden war. Der Geistliche wollte seine Frau auf ihrem Wege zum Kerker begleiten. Als nun der Herr von Rosenbach ihnen auf der Brücke begegnete, da entliefen die Büttel und Henker in großer Angst. Der Amtmann verbarg sich; die Pfarrerin aber war gerettet. Man stürzte nun zum Hexenthurm, auch rasch die übrigen Eingekerkerten zu retten.
Ich erzähle keine Märchen; alle von mir aufgeführten Fälle sind urkundlich festgestellt, und die Geschichte des Müller-Ehepaars ist der Chronik entnommen.
Mit eigenthümlich bewegtem Herzen betrachtet man in Lindheim noch heute die alte Steinbrücke, über welche die angeklagten Opfer zum Hexenthurm geschleppt wurden und auf deren verwitterten Quadern nun fröhlich und friedlich eine muthwillig heitere Dorfjugend ihre equilibristischen Kunststücke macht. Sehen wir im Hintergrunde jener alterthümlichen Brücke aber die poetisch gelegene Mühle mit ihren treibenden Rädern, in der ein intelligenter Müller mit seiner Familie haust, dann freuen wir uns beim Anblicke des friedlichen Bildes, beim Gedanken der gesicherten Existenzen arbeitsamer Menschen, daß kein Amtmann Geis sie mehr zerstören kann, daß die „gute“ alte Zeit, die so böse war, vorüber ist und sich eine neue, bessere Epoche auf der Grundlage der Menschlichkeit und Aufklärung erhob.
Die trotz der vernichtenden Gewalt der Zeit noch aufgefundenen Knochen der verbrannten Unglücklichen sind auf dem Kirchhofe beerdigt worden. – Die That ist geschehen – die Nachkommen wollten sühnen, was die Voreltern durch Aberglauben verschuldet hatten.
Wie verwachsen jene ganze frühere Schreckensperiode noch mit der Jetztzeit ist und wie lebhaft die Erinnerung an dieselbe im Volke fortlebt, ersahen wir bei der Fahrt durch die Berge Lindheims. In einer Schlucht hielt plötzlich der Kutscher, der sich bis dahin ganz stumm verhalten hatte, an und verkündete in fast feierlicher Weise: „Hier endete der Blutmensch Geis, Lindheims früherer Amtmann! Er verfolgte eine arme, Kräuter sammelnde Frau, sie der Hexerei zu beschuldigen – da stürzte sein Pferd mit ihm in den Abgrund hinunter, und er brach den Hals. Die Leute jener Zeit sagten, der Teufel habe ihn geholt, und bis zur Stunde heißt dieser Ort ‚die Teufelsschlucht‘.“
Die Teufelsschlucht ist ein reizendes Stück der schönen weiten Gotteswelt, wie denn überhaupt die Wetterau bezaubernd schöne Landschaftsbilder bietet. Sie werden sicher bei der übrigen Welt zur Geltung kommen, wenn die Eisenbahn erst die geheimen Schätze dieser stillen Gebirgsgegend erschlossen hat.
Wer übrigens das Schreckensdenkmal auf Lindheims ländlicher Flur erschaut, der wähne nicht: nur an einer so von der Welt abgeschiedenen Stelle sei möglich gewesen, daß der Aberglaube Wurzel schlug, derartig blühte und so schauerliche Früchte trug. Nein, Hexenprocesse und -Verfolgungen waren bekanntlich selbst Ende des siebenzehnten Jahrhunderts nicht einmal in den großen Städten ausgerottet. Ich erinnere nur an den Dresdener Hexenproceß „der Frauen von Neidschütz“ (1694), in welchem August der Starke die liebliche Sibylle von Neidschütz, die Geliebte seines Bruders Johann Georg, noch im Tode der Zauberei beschuldigte.
Als Junker von Grünrodt, der Abgesandte der Ganerben, um des Burgherrn von der Heese schöne Tochter, seine Jugendgefährtin, warb, die er lange schon liebte, da führte die edle Bertha, welche den Junker oft vergebens an seine Pflicht gemahnt hatte, ihn zum Fenster ihrer väterlichen Burg, und hindeutend auf den nahen Hexenthurm, in dem so viel Unschuldige den gräßlichsten Tod in den Flammen gefunden, sagte sie einfach: „Der Thurm liegt zwischen Dir und meiner Liebe, und die dort geschehenen Thaten scheiden uns für immer.“
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts stand es bekanntermaßen mit den zeichnenden und malenden Künsten recht schlimm. Nicht als ob es den damaligen Künstlern an technischer Gewandtheit und an akademischen Studien gefehlt hätte. Im Gegentheil, aber die Unnatur, die Hohlheit und Affectation der Zopf- und Rococozeit hatten das Gefühl für die naive Wiedergabe der Natur und das Verständniß für das eigentlich Seelische verloren gehen lassen. Zwar gab es einzelne Künstler, die den ernsten Willen hatten, sich von der Geschmacklosigkeit ihrer Zeit loszusagen, so der talentvolle Dietrich, der theoretisch und praktisch tüchtig geschulte Raphael Mengs, die begabte Angelika Kaufmann und einige Andere. Aber theils fehlte es ihnen an eigenartiger schöpferischer Kraft, theils waren ihre Vorstellungen denn doch immer noch zu befangen von dem Einflusse ihrer Zeit. Nur einer, Daniel Chodowiecki, der lange Zeit die Kunst nur als dilettantische Nebenbeschäftigung übte, erkannte mittelst seines feinen künstlerischen Gefühls, daß in der naiven, ungezierten und ungeschminkten Auffassung der Natur und des seelischen Ausdrucks nicht nur ein großer Reiz, sondern auch der Kernpunkt jedes wahren künstlerischen Strebens liege. Wenigstens in allen seinen Darstellungen aus dem wirklichen Leben bleibt er dieser Erkenntniß mit hingebender Innigkeit treu. Und Diese sind es denn auch, an denen sich heute noch alle Kunstfreunde und -Kenner ergötzen.
Daniel Chodowiecki wurde zu Danzig am 16. October 1726 geboren, verlebte auch dort seine Jugendzeit bis zu seinem siebenzehnten Jahre. Sein Vater war Kornhändler, muß aber kein gewöhnlicher Kornhändler gewesen sein, denn er ertheilte seinem Sohn den ersten Unterricht im Zeichnen. Auch ist es für seinen altbürgerlichen, patriarchalischen Charakter bezeichnend, daß er bei der Geburt seiner beiden Söhne für jeden einen Baum vor seiner Hausthür pflanzte und diese Bäume wie seine Söhne taufte, den einen Gottfried, den anderen Daniel. Sie standen noch, frisch und kräftig, als Daniel bereits ein Fünfziger war. Ueberhaupt muß in der ganzen Familie ein sinniges Wesen und eine künstlerische Neigung obgewaltet haben. So unterrichtete Daniel’s Tante, eine Schwester seiner Mutter, ihn und seinen Bruder Gottfried in der Emailmalerei. Doch wurde diese nur als eine nicht ganz unerträgliche Nebenbeschäftigung betrieben, und nach seines Vaters Tode mußte Daniel als Lehrling in das Specereigeschäft einer Wittwe treten.
So vom Morgen bis zum Abend hinter dem Ladentisch zu stehen, bald Kaffee und Zucker, bald Grütze und Pflaumen und was Alles sonst noch abzuwiegen, scheint allerdings nicht die befriedigendste Beschäftigung für eine junge Künstlerseele zu sein. Doch Ausharren führt mitunter auch unter den ungünstigsten Verhältnissen zum Ziel und auch die prosaischste Seite des Lebens hat ihr Theilchen Seele, das sich künstlerisch oder poetisch verwerthen läßt. Das mochte auch Daniel im Stillen gedacht haben, der trotzalledem mit seiner künstlerischen Sehnsucht nicht brechen konnte. Und wirklich sprach der Beruf zu laut in ihm. Wenn endlich die Erlösungsstunde schlug, wenn am Abend der Laden geschlossen wurde und der lange Abendsegen gesprochen war, eitle er auf sein Stübchen und zeichnete so lange, bis das Talglicht niedergebrannt oder die Augen schlaftrunken den Dienst versagten. Anfangs hatte er nach Kupferstichen gezeichnet, dann aber, als diese nicht mehr zu erlangen waren, machte er sich an seine lebende Umgebung, an die Kunden des Geschäfts, denen es an Verschiedenheit und Eigenthümlichkeit der äußeren Erscheinung nicht gefehlt haben wird, auch an die Principalin selbst. Kurz, Alles wurde gezeichnet und zu zeichnen versucht, was irgend wie dazu geeignet schien. Seinem aufmerksamen, stets beobachtenden Auge entging nichts. Sogar während der Predigt in der Kirche folgte er diesem Trieb, indem er sich die Bilder an den Wänden dadurch in’s Gedächtniß zu prägen suchte, daß er ihre Umrisse mit dem Finger in der Handfläche oder auf dem Deckel des Gesangbuchs wiederholt nachahmte, um sie zu Hause aufzeichnen zu können. Ohne Zweifel haben gerade diese frühen Uebungen des Formgedächtnisses nicht wenig dazu beigetragen, seinen Blick für das Charakteristische an den Dingen zu schärfen; denn um sich eine Form einzuprägen, muß man sich zunächst Dasjenige besonders merken, was sie am meisten von anderen Formen unterscheidet, was beim Künstler bald bewußt, bald unbewußt geschieht, je nach der Eigenartigkeit der Begabung.
Ein Glück für ihn war es, daß er 1743 nach Berlin kam, wo er bei seinem Onkel Ayrer als Buchhalter eintrat. Dieser bekam alsbald eine sehr günstige Meinung von seinen künstlerischen Anlagen und gab ihm den Maler Haid zum Lehrer, unter dessen Einfluß bei ihm der Entschluß reifte, dem kaufmännischen Berufe zu entsagen und sich ganz der Kunst zu widmen – im achtundzwanzigsten Lebensjahre immerhin ein gewagter Schritt, besonders unter seinen Verhältnissen, denn die Tochter des Berliner Goldstickers Barez, die schöne Jeanne, hatte bereits sein Herz so sehr gefesselt, daß er ernstlich daran dachte, sie zum Altar zu führen. Daniel war ein energischer, beharrlicher Charakter. Er führte durch, was er sich vorgenommen. Ueber seine Liebe vergaß er nicht seine Kunst und über seine Kunst nicht seine Liebe. Den Tag über malte er lediglich für den Broderwerb Emailbilder – zum Schmuck der Dosen – und Miniaturbildnisse von zarter und sauberer Behandlung, Abends aber zeichnete er in der Privatkunstschule von Rode nach dem lebenden Modell. Und was ihm dann noch von Mußestunden verblieb, verwendete er auf seine wissenschaftliche Ausbildung und die Erlernung fremder Sprachen.
Mitten in diesem Werden und dieser vielseitigen Thätigkeit – 1755 – verheirathete er sich. Nun galt es erst recht zu schaffen und zu streben, um den vermehrten häuslichen Bedürfnissen zu genügen, ohne die höheren Ziele der Kunst darunter leiden zu lassen. Recht schwer mag ihm dies geworden sein, als im folgenden Jahre der siebenjährige Krieg ausbrach. Halbe Nächte hindurch saß er bei der Arbeit, bemüht durch verdoppelten Fleiß den Ausfall in seinen Einnahmen auszugleichen. Gewiß ist dies bei anderen Arbeiten leichter als bei künstlerischen, welcher Art von Kunst sie auch angehören mögen. Man soll ihnen nicht die Noth und Sorgen ihres Schöpfers, nicht einmal das Mühevolle ihrer Herstellung anspüren. Aus der vollen unbekümmerten Hingebung an den Gegenstand, aus der heiteren, friedensseligen Weihestunde des Geistes sollen sie hervorgegangen scheinen, und müssen es auch sein; dazu bedarf der Künstler in hohem Grade der Kraft, in den Stunden seines Schaffens nur seinem inneren Wesen zu leben und sich von Allem zu isoliren, was ihn darin stören könnte.
Daß dies oft seine argen Schwierigkeiten hat und daß der Künstler trotz seines heiligsten Strebens so gut wie andere Menschenkinder auch den maßgebenden Factoren des äußeren Lebens Rechnung zu tragen gezwungen ist, wird auch der höchstfliegende Idealist zugeben müssen, ja, er wird es in der Ordnung finden. Auch unser Daniel Chodowiecki ist ohne Zweifel oft in dieser Lage gewesen. Aber er war eine praktische Natur und wußte sich zurecht zu finden. Er hatte ja in seiner kaufmännischen Carrière Buchhalten gelernt und kannte den großen Unterschied zwischen Soll und Haben und die außerordentlich wichtige Rolle, die diese Beiden im irdischen Dasein spielen. Er zeichnete und radirte, was die Zeit brachte und wie sie es brachte, wenn es nur irgendwie ein Stück Leben eigenthümlicher Art bot. So stach er während des siebenjährigen Krieges eine Menge kleinere und größere Episoden aus den Zeitereignissen und Tagesbegebenheiten, darunter die russischen Gefangenen in Berlin, ein jetzt sehr seltenes Blatt. Aus den an sich unbedeutendsten Motiven wußte er durch seine Auffassung und geistvolle Zeichnung reizende Kunstblätter, bald gemüthlicher, bald graciöser, bald humoristischer Art, zu machen. Hier ist es ein alter lesender Bauer, dort sind es Bettelbuben und Soldatenweiber, Herumtreiber und Würfelspieler, die er uns vorführt; ein anderes Mal elegante hochfrisirte Frauen mit Reifrock in überaus zierlicher Tournüre, daneben nicht minder zierliche Herren mit Haarbeutel und Chapeauclaque; dann wieder Soldaten, Kammermädchen, Bedienten und Kinder in der Tracht seiner Zeit. Und gerade diese meist kleinen, mit der Radirnadel ausgeführten Arbeiten sind es, die ihn in sein eigentliches Gleis brachten.
Fast zehn Jahre hatte er in dieser Weise gearbeitet, als er sich zu einem Gegenstande von größerem Umfange hingezogen fühlte, der schon an sich durch das höchst Tragische und Rührende [81] seines Inhalts die Sympathien des Publicums in außerordentlichem Grade für sich hatte. Alle Welt sprach damals mit Theilnahme und Entrüstung von dem an dem Kaufmann Jean Calas zu Toulouse verübten Justizmorde. Man hatte ihn nach vorhergegangener Tortur hingerichtet, weil er beschuldigt worden war, seinen angeblich zum Katholicismus übergetretenen Sohn ermordet zu haben. Der junge, an Schwermuth leidende Mann war in dem Waarenmagazine erhängt gefunden worden. Religiöser Fanatismus bemächtigte sich des traurigen Falls und beutete ihn aus. Die Geistlichkeit that alles Mögliche, um das Volk aufzuregen, besonders die Mönche, und das Parlament zu Toulouse war so schwach und leichtsinnig, auf die Aussagen theils in Fanatismus befangener, theils bestochener Zeugen hin, mit acht Stimmen gegen fünf das Todesurtheil zu fällen und vollstrecken zu lassen – an einem bisher als wohlwollend und rechtschaffen bekannten und mit den Seinigen im besten Einverständniß lebenden Manne.
Die ganze Familie stürzte in’s Unglück. Ihr Vermögen wurde confiscirt. Da wandte sich die nach der Schweiz geflohene Wittwe an Voltaire; dieser nahm sich ihrer an und brachte, unter Beihülfe einiger Juristen, es durch seine energische Agitation dahin, daß das Parlament zu Paris den Proceß einer strengen Prüfung unterwarf. Und Calas und seine Familie wurden für vollkommen unschuldig befunden.
Chodowiecki wählte den Moment des Abschiedes des unschuldigen Calas von seiner Familie. Eben wird der Unglückliche gefesselt. Die Kinder umringen ihn weinend. Er weist mit liebevoller Geberde auf die ohnmächtig hingesunkene Mutter, welcher ein Freund des Hauses und die alte Magd beistehen. Soldaten, hinter denen Mönche hereinblicken, halten die Thür besetzt. Die Scene ist klar ausgesprochen, der Ausdruck in den Bewegungen und den Köpfen lebendig und rührend. Das Blatt zündete und förderte Chodowiecki’s Ruf und Ruhm außerordentlich.
Von allen Seiten gingen ihm nun Aufträge zu Stichen und Radirungen zu. Es ist geradezu erstaunlich, wie er allen zu genügen vermochte. Kaum irgend ein Buch erschien, wozu er nicht etwas geliefert hätte, und wäre es auch nur eine Vignette gewesen. Freilich ist auch Vieles darunter, was unseren heutigen Anforderungen nicht im Entferntesten entspricht. Für Ritter- und Heldengestalten, so wie für alles Romantische, Mythologische, Allegorische und selbst für das Historische fehlte ihm die Anschauung, das Verständniß. Auch die malerische Auffassung des Landschaftlichen und des Architektonischen lag ihm fern. Er versteht das Leben und die Menschen nur da, wo er sie in der allernächsten Nähe gesehen; da aber, im Focus seines Gesichtskreises, erkennt und ergreift er sie mit großer Feinheit und mit seelischem Verständniß. Und sein geistreicher Zeitgenosse Lichtenberg hat gewiß Recht, wenn er von ihm rühmt, er wisse auch in den kleinsten Figuren Seelen darzustellen und erscheine darum lehrreicher, als mancher der Romane, zu denen er die Illustrationen geliefert.
Es ist hier nicht der Ort, auch nur einen Theil seiner besten Schöpfungen einzeln anzuführen. Die Gartenlaube ist ja kein Kunstfachjournal. Die Gesammtzahl seiner Blätter beläuft sich auf mehr als Dreitausend. Es mag genügen, zu sagen, daß er die Werke fast aller seiner großen deutschen Zeitgenossen illustrirt, so von Gellert, Lessing, Schiller, Goethe, Voß, Basedow, Pestalozzi und Anderen, außerdem noch nach eigener poetischer Erfindung eine große Zahl von Blättern geschaffen hat, in denen er das bürgerliche Leben seiner Zeit theils in den unterhaltendsten und ergötzlichsten Variationen schildert, theils es in scherzhafter, wohlwollender Weise persiflirt. Darüber kam er freilich nur sehr selten zur Oelmalerei, doch zeigen seine wenigen hinterlassenen Bilder – Genrestücke in der Weise Watteau’s und Lancret’s – eine präcise Behandlung und mitunter einen feinen sonnigen Silberton in der Farbe.
Auch in das Innere seines eigenen Familienlebens führt er uns wiederholt ein. Eines der frühesten Blätter dieser Art ist dasjenige, welches diesem Artikel in einem vortrefflichen Holzschnitte nach einer Originalzeichnung des Künstlers beigegeben ist, die sich in der überaus vollständigen und aus den schönsten Exemplaren bestehenden Chodowiecki-Sammlung des Verlagsbuchhändlers Herrn Dr. Engelmann in Leipzig befindet. Die [82] Zeichnung trägt das Datum vom 3. November 1758, zeigt uns also Chodowiecki’s häusliches Leben ein paar Jahre nach seiner Verheirathung. Die Abendstunden scheinen bereits vorgerückt und des Tages Geschäfte und Sorgen allerseits erledigt. Man ruht aus, spielt, plaudert, erholt sich. Links sitzt der Künstler selbst, behaglich die Beine vor sich hinstreckend. Ich glaube, er beobachtet weniger das Kartenspiel der Frauen und Mädchen, als deren Haltung, Geberden und Mienen. Zunächst neben ihm sitzt seine junge Frau, ein interessantes Profil und einen schönen Augenaufschlag zeigend, neben dieser seine Schwiegermutter. Die beiden Damen gegenüber sind mutmaßlich seine Schwestern, und die stehende schlanke Gestalt, die uns den Rücken zuwendet und liest, ist wohl seine Schwägerin, die Frau seines nebenan sitzenden Bruders Gottfried, der etwas schläfrig dareinschaut und seinen eigenen Gedanken hingegeben scheint.
„Was ist denn“ wird vielleicht mancher unserer Leser fragen, „so vorzüglich, so außerordentlich an diesem Bilde? Haben wir nicht heutigen Tages Hunderte von Künstlern, die solche Scenen mindestens ebenso anschaulich und noch interessanter darstellen?“ Ohne Zweifel, aber an Schlichtheit und Anspruchslosigkeit der Auffassung und an Feinheit der Zeichnung bei solcher Einfachheit werden doch nur Wenige den Meister des vorigen Jahrhunderts übertreffen.
„An Feinheit der Zeichnung?“ frug mich einst erstaunt eine Dame, als ich bei einer anderen Gelegenheit mich ähnlich ausdrückte. Es stellte sich heraus, daß sie unter „feiner Zeichnung“ eine glatte, sauber gestrichelte, sorgfältig ausschattirte verstanden hatte. Ich meinte nun allerdings etwas ganz Anderes. Und was? Das möchten vielleicht auch einige Leserinnen und Leser der Gartenlaube wissen. Es ist Das nicht so leicht zu definiren, doch ich will es versuchen. Unter „feiner Zeichnung“ in höchster Potenz verstehe ich eine solche, die alle jene, oft für das ungeübtere Auge des Nichtkenners kaum bemerkbaren, feinen Formbewegungen wiedergiebt, welche sich innerhalb der größeren Formengestaltungen – als letzte und leiseste Lebensäußerung gewissermaßen des verborgenen Pulsschlages der Natur – offenbaren. Ich sage: in höchster Potenz, gebe also mittlere Potenzen zu, in denen die feine Zeichnung zwar nicht alle jene feineren Formbewegungen wiedergiebt, aber doch den wesentlichsten Theil derselben. So kann eine bloße Contourzeichnung mit Recht fein genannt werden, wenn sie alles Dasjenige giebt, was sich im Contour geben läßt. Andererseits kann eine ausgeführte Zeichnung streng und vollständig correct und dennoch nicht fein gezeichnet sein. Endlich möchte ich nicht behaupten, daß Chodowiecki in vorstehender Gruppe eine feine Zeichnung in höchster Potenz geliefert, immer aber eine Zeichnung von seltener Feinheit. Und nun Verzeihung, daß ich diese ästhetischen Spitzfindigkeiten hier herbeigezogen.
Noch sei mir gestattet, eines späteren Blattes aus dem Familienleben des Künstlers kurz zu erwähnen, für diesmal weniger wegen seines bedeutenden Kunstwerths, den es anerkanntermaßen hat, als weil es hier eine biographische Ergänzung bildet. Er nennt es: le cabinet d’un peintre. Wir sehen ihn hier als glücklichen Familienvater und als wohlsituirten Künstler. Fünf liebenswürdige Kinder bilden, mit der Mutter am Tische sitzend, eine reizende Gruppe, die der Vater, der unweit davon am Fenster sitzt, eben zu zeichnen im Begriff ist. Ich denke, er bereut es heute nicht, die kaufmännische Thätigkeit dem Künstlerberuf geopfert zu haben.
Aus dem ehemaligen Ladengehülfen ist jetzt ein weit und breit berühmter, mit gewinnreichen Arbeiten gesegneter Künstler geworden. Da überkommt ihn die Sehnsucht, einmal seine alte Mutter und seine beiden Schwestern, die er in Danzig zurückgelassen, wiederzusehen. Durften doch beide Theile ein freudiges Wiedersehn erwarten. Dreißig Jahre lagen dazwischen. Damals war eine Reise von Berlin nach Danzig ein großes gefahrvolles Unternehmen. Wie er sie angetreten, wie er feierlichen Abschied von den Seinigen genommen, wie sein Gaul ausgesehen – denn nach der Sitte seiner Zeit machte er die Reise zu Pferde – mit was für zum Theil seltsamen Leuten er zusammengetroffen, was für Quartiere er gefunden, welche kleinen Abenteuer er bestanden, wie er endlich bei dem elterlichen Hause angekommen, und wie er dort die schon erwähnten beiden Bäume, die sein Vater gepflanzt, noch frisch und kräftig vorgefunden, und schließlich von Mutter und Schwestern empfangen und liebevoll umarmt wird: das alles erzählt er in einem Tagebuch, das er nicht geschrieben, sondern auf gerade hundert Blättchen meist mit der Feder gezeichnet. Auch erzählt er von den Besuchen, die er in Danzig bei hohen Personen, beim Fürsten Primas, beim Prediger, bei angesehenen Kaufleuten, bei dem überaus schönen Fräulein Ladikowska etc. gemacht, wie er empfangen und eingeladen worden und was für Leute er portraitirt. Dieses originelle Tagebuch, das bis vor kurzem von seinen Nachkommen als Familienschatz aufbewahrt wurde und sich jetzt in der Berliner Akademie-Bibliothek befindet, der es von der letzten Trägerin seines Namens überwiesen wurde, versetzt uns recht mitten ist seine sinnige und gemüthliche Lebensanschauung, die, stets beobachtend, eine Freude darin findet, die Außenwelt mit all ihren kleinen Abwechselungen in den Charakteren und Scenen in sich aufzunehmen und künstlerisch festzuhalten.
Am Spätabend seines Lebens, bereits einundsiebenzig Jahre alt, wurde dem Meister noch die Ehre zu Theil, die höchste Kunststelle im preußischen Staate als Director der Berliner Kunstakademie, an der er viele Jahre Vicedirector gewesen, zu bekleiden. Wohl schwerlich ahnte er, als er am 7. Februar 1801 seine Augen im Tode schloß, den mächtigen Umschwung der Kunst des eben anbrechenden Jahrhunderts zur entgegengesetzten Richtung, zum Großartigen und Idealen, zur Poesie des Erhabenen in der Weltgeschichte und im Empfindungsleben der Menschenseele. – Welche Richtung den Anschauungen unserer Zeit näher liegt, ist unschwer zu entscheiden.
„Rheinsberg, das göttliche, himmlische Rheinsberg, das Eden des jungen Friedrich des Großen“, oder „die schönen, goldenen Tage von Rheinsberg“, oder auch „die Oase in der Wüste der Mark“, so könnten wir die unsere Zeichnung begleitenden Worte beginnen. Wozu? Vielleicht der größte Theil der Leser der Gartenlaube weiß längst, daß die Mark nicht so schlimm ist, wie ihr Ruf, und daß es auch im classischen Italien, dem gelobten Lande der Touristen und Enthusiasten, langweiligere und reizlosere Strecken giebt, als in der Mark, die mit ihrem Reichthum an schilfumkränzten Seen in ihren dunklen Kiefern- und sonniggrünen Buchenforsten dem Auge und Herzen mannigfache Abwechselung zu bieten im Stande ist.
So wollen wir denn mit nüchternem Verstande an Rheinsberg herantreten, ohne allen übertreibenden Touristenenthusiasmus dem Leser vorzuführen suchen, was wir gefunden, und nichts mehr, damit uns kein Vorwurf gemacht werde, dem neugierigen Wallfahrer kommender Tage mehr versprochen zu haben, als wir verantworten können.
Eine Vorliebe für jene Zeit des vorigen Jahrhunderts, in welcher der knospende Genius desselben seinen schönsten und goldigsten Jugendtraum in Rheinsberg träumte, hatte uns längst schon mit dem sehnsüchtigen Verlangen erfüllt, die Stätte zu besuchen, wo der geistvolle Fürst und Dichter in geheiligtem Bunde mit gleichgesinnten Genossen seiner Jugend, scheinbar unter der Maske der Poesie und Romantik tändelnd, sich vorbereitete zu dem ernsten großen Werke, dessen Erfüllung Europa staunen machen sollte über den kleinen „Marquis de Brandebourg“.
Ueber Neustadt an der Dosse per Eisenbahn und von dort per Omnibus über Neu-Ruppin machten wir vor zwei Jahren einen Ausflug nach Rheinsberg. In Neu-Ruppin nahmen wir einen kurzen Aufenthalt. Dort, wo bekanntlich das Regiment des Kronprinzen Friedrich stand, finden sich noch interessante Spuren seines Aufenthalts. In der alten, verwitterten, mächtigen Stadtmauer sieht man ein jetzt vermauertes Pförtchen im Stile des vorigen Jahrhunderts, einfach und edel in den Linien, durch welches Friedrich von seinem Palais aus die Stadt verließ, [83] um im angrenzenden sogenannten Tempelgarten seine Abende in einer Art von halboffenem Tempel mit seinen Freunden und Officieren des Regiments zuzubringen. Herr Gentz, Bruder des bekannten Malers in Berlin, der jetzige Besitzer dieses reizenden, höchst malerischen Gartens, hat es sich angelegen sein lassen, die historischen Erinnerungen, die sich an dieses Fleckchen Erde knüpfen, in pietätvollster Weise zu pflegen. Der Tempel ist im Innern mit Reliquien und Möbeln jener Zeit ausgestattet, und die Umgebung desselben hat Herr Gentz im Geiste der Zeit mit plastischen Marmor- und Sandsteingruppen, Einzelfiguren und Vasen zu bevölkern gewußt, so daß der überraschte Beschauer eine Schöpfung aus der Blüthezeit der Allongeperrücke und des Zopfes vor sich zu sehen glaubt. Für den Maler der Zeit des vorigen Jahrhunderts ist dieser Garten ein reicher Fundort für Motive und Detailstudien, und hat Herr Gentz sich schon dadurch ein bleibendes, nicht zu unterschätzendes Verdienst erworben.
Rheinsberg selbst ist ein Städtchen von etwas über zweitausend Einwohnern; bisher von allem Verkehre abgeschnitten, mußte es sich selbst genügen und genügte sich selbst. Man lebt dort ruhig und harmlos und läßt die Zeiten an sich vorüberziehen, bis sie einmal etwas Neues und Besseres mit sich bringen. Solche Tage scheinen nun bald für Rheinsberg mit dem erleichterten Verkehre, mit der in’s Leben tretenden Verbindung des Ortes mit der übrigen Welt herankommen zu wollen; ob es dann noch so gemüthlich und idyllisch sein wird, wenn die schattigen Kastanienalleen des Marktes und des Triangelplatzes von staubigen Berlinern durchwimmelt werden, wenn in Rheinsberg Wohnungsnoth die ewige Parole des Tages sein wird? Wir lieben das Rheinsberg, wie wir es gefunden haben, einsam, etwas verkommen, wie einen Ort, der einst bessere Zeiten gesehen, aber umwebt von jenem elegischen Hauche dahingegangener, unwiederbringlicher Tage des Glanzes und des Glücks. –
Ueber das Schloß und den herrlichen Park ist schon Manches bekannt geworden, wie auch die Gartenlaube in der letzten Nummer des Jahrgangs 1862 dem Leben in Rheinsberg zur Zeit Friedrich’s, des Kronprinzen, einen eigenen Artikel gewidmet hat. Nach allen diesen Schilderungen und Fontane’s liebenswürdigem Führer durch die Mark noch etwas über Rheinsberg sagen zu wollen, wäre unnöthig; darum verzichten wir darauf und beschränken uns, die einzelnen Bilder, die unsere heutige Zeichnung uns vorführt, zu erläutern.
Während das Mittelbild uns die Ansicht des Schlosses in seiner heutigen Gestalt von der Seeseite wiedergiebt, zeigt uns die einem gleichzeitigen Kupferstiche entnommene Ansicht darüber das Schloß des Kronprinzen Friedrich, wo noch die Thürme frei sind von den plumpen Ziegeldächern, welche die moderne Barbarei an die Stelle der zierlichen Traillenbrüstungen gesetzt hat; überhaupt ist und wird an dem reizenden Schlößchen viel gesündigt durch sogenannte Reparaturen, die leider mehr zerstören, als sie repariren, durch den beliebten, wo möglich alljährlich wiederholten fingerdicken Anstrich selbst der Sandsteinsäulen, der Verbindungscolonnade, ja sogar der darin in Nischen aufgestellten Amorettengruppen.
Das Herz des Kunst- und Alterthumsfreundes möchte bluten, wenn er sieht, wie auf Schritt und Tritt muthwillig zerstört und modernisirt wird, wo es doch im Interesse der Sache läge, in Pietät für die Bedeutung des Ortes Das zu erhalten, was leicht und mit geringen Opfern zu erhalten wäre.
So sind z. B. in dem in reizenden Verhältnissen von Knobelsdorf, dem Erbauer des Schlosses, geschaffenen Concertsaale, von dem wir rechts vom Mittelbilde eine kleine Skizze geben, die figürlichen Thürfüllungen, welche ursprünglich vergoldet gewesen, plump mit dicker grauer Farbe überstrichen und dadurch fast unkenntlich gemacht worden. Das noch ziemlich gut erhaltene Deckengemälde dieses Saales, von Pesne gemalt, ist groß gedacht. Pesne hat in seinem Bilde, das den Sieg des Sonnengottes und des Lichts über Nacht und Finsterniß darstellt, in prophetischer Weise der Geschichte, die sich damals noch nicht erfüllt hatte, vorgegriffen, indem er dem Sonnengotte die Züge Friedrich’s lieh und hiermit die neue Aera vorausgesagt hatte.
Links vom Mittelbilde sehen wir das Studirzimmer Friedrich’s des Großen, des Verfassers des Antimacchiavell. Auch hier ist Manches gefrevelt worden. Die Wände sind mit einem dicken Anstrich von graugrüner Leimfarbe bedeckt; von den Möbeln scheinen uns nur der zierliche Schreibtisch, die Banquettes in den Fensterbrüstungen, sowie ein Marmortischchen links von der Thür echt zu sein. Die Consolen der Büsten gehören einer bei Weitem späteren Zeit an; die Möbelüberzüge, sowie der Ueberzug der Schreibtischplatte sind vernichtet, wahrscheinlich Opfer der Reliquiensammler geworden.
Die Aussicht aus dem Mittelfenster ist bezaubernd schön und findet ihren Abschluß jenseits des Sees in dem vom Prinzen Heinrich dem Andenken des Prinzen Wilhelm August errichteten Obelisken.
Der Umstand, daß der Kronprinz in Begleitung seiner beiden Söhne in diesem Jahre Rheinsberg einen Besuch abgestattet, dürfte wohl vielverheißend sein für die schon früher gehegte Hoffnung, daß die Tage nicht mehr fern sind, wo die Gestade des Rheinsberger See’s sich wieder der bleibenden Gegenwart eines Mitgliedes des kaiserliche Hauses erfreuen werden. Wenn man verschiedenen, durch die Zeitungen laufenden Gerüchten trauen darf, so wäre über das Schloß bereits zu Gunsten des Prinzen Heinrich disponirt, was denn allerdings den kühnsten Wünschen der Rheinsberger die Krone aufzusetzen geeignet sein möchte.
Bei Gelegenheit des eben erwähnten Besuches des Kronprinzen gewann dieses Studirzimmer Friedrich’s des Großen ein neues historisches Interesse durch eine That „unseres Fritz“, die wir, selbst auf die Gefahr hin, indiscret zu sein, uns nicht versagen können der Oeffentlichkeit hiermit zu übergeben.
Nachdem der Kronprinz in Begleitung seiner Söhne, der Prinzen Friedrich Wilhelm und Heinrich, und des Militär-Gouverneurs derselben, Generalmajor von Gottberg, gegen zehn Uhr im Schlosse zu Rheinsberg ohne vorherige Anmeldung angekommen war, hatte er die Behörden empfangen und war, so zu sagen, den im Schlosse versammelten Herren plötzlich entschwunden. Man suchte und fand schließlich den Kronprinzen im Studirzimmer Friedrich’s des Großen mit den jugendlichen Prinzen eigenhändig beschäftigt, mit Hülfe von einigen Resten der Möbelüberzüge und einem Napfe voll Wasser, die dicke, schon erwähnte, graugrüne Farbendecke der Wände unterhalb der Büsten und Consolen abzuwaschen. Zu großer Freude der emsig Arbeitenden zeigte sich auch sehr bald unter der Schicht eine Malerei, welche goldene Blumenvasen zeigt. (Auf unserer heutigen Zeichnung ist die Stelle angegeben.)
Es mag ein eigenthümlicher Anblick gewesen sein, die hohen Herrschaften bei einer solchen Arbeit zu überraschen und des Kronprinzen scherzenden Ausruf zu vernehmen: „Was nur die Hofkammer dazu sagen wird!“ Die Zeit, welche sehr knapp wurde, ließ die hohen Gäste ihr Werk nicht vollenden; die Spuren ihres Waltens werden aber bleiben und, hoffen wir, Denjenigen, die bisher nur zerstören konnten, ein Fingerzeig sein, in Zukunft zu erhalten und wiederherzustellen.
Für einen sachkundigen Künstler wäre es eine schöne begeisternde Aufgabe, das Schloß, wie auch den Park seiner Geschichte und Vergangenheit würdig wieder herzustellen, und es ließe sich wahrlich bei der ursprünglich bescheidenen Anlage des Ganzen mit verhältnißmäßig geringen Mitteln ein hübsches Resultat erzielen, wenn man frei und unbehindert von der bureaukratischen Commissionsknebelmaschinerie arbeiten könnte – ein frommer Wunsch, dessen Erfüllung unter den obwaltenden Verhältnissen wohl zu den Unmöglichkeiten dieser Welt zu rechnen sein dürfte.
Zur weiteren Beschreibung unserer Zeichnung zurückkehrend, sehen wir oben links den Eingang zum Park von der alten Ruppiner Landstraße her; die Anordnung dieses Eingangs ist dieselbe, wie bei dem zum Park von Sanssouci, welch letzterer nur in größerem Maßstabe ausgeführt ist. Rechts oben der sogenannte Salon, eine offene Halle, die, früher zu Diners und Soupers im Park benutzt, links und rechts noch kleinere Flügel hatte, welche man noch zur Zeit des Prinzen Heinrich entfernt hat. Den dieses Gebäude umgebenden, mit Anlagen und Blumengruppen geschmückten offenen Platz zieren die Marmorfiguren der vier Jahreszeiten, und von hier aus führt eine breite, schattige Allee nach der Grotte der Egeria, die wir unten links abgebildet sehen. Jeder Schmuck derselben, bestehend in Muschelwerk aller Art, sowie die Figur der Egeria sind verschwunden, und der Ort macht einen
[84][85] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [86] melancholischen, verkommenen, elegischen Gedanken raumgebenden Eindruck. Die Mittelansicht unten zeigt uns die sogenannte Sphinxtreppe mit zwei trefflich gearbeiteten Sphinxen, die eine Allee von alten Tannen begrenzen, welche nach dem oben erwähnten Parkeingang führt. Ein Parterre am Fuße der Treppe, welches in früheren Zeiten mit Orangerie besetzt war, zeigt jetzt nur zwei schmale Streifen gut gepflegter Blumenbeete, auf welchen prachtvolle Stockrosen mit dem herrlichen Grün der umgebenden beschnittenen Buchenwände brillante Farbeneffecte bilden; am Ende dieser Blumenbeete stehen die zu beiden Seiten der Zeichnung abgebildeten Gruppen, die eine Apoll und Daphne, die andere den Raub der Proserpina darstellend; beide Statuen sind sehr verstümmelt, aber dafür desto malerischer in Farbe und Wirkung.
Unten rechts sehen wir eine der verschiedenen, im Park zerstreuten Vasen, umgeben von einer charakteristischen Baumpartie.
Die Vasen links und rechts der beiden Figuren-Gruppen befinden sich auch im Parke. Die zwei den Bogen stützenden Karyatiden, sowie die übrigen Details der Zeichnung sind alle dem Schlosse entnommen.
Was nun das Leben in Rheinsberg selbst anbetrifft, so kann man sich wohl kaum einen reizenderen Ort behufs einer Sommerfrische denken, als gerade dieses begnadete Fleckchen märkischen Bodens. Vor dem Rathskeller in unmittelbarer Nähe des Schlosses wölben sich hundertfünfzigjährige Kastanien zu einem grünen, schattigen Dache für den Müden, den Hungrigen und Dürstenden. Während unseres Aufenthaltes vor zwei Jahren und diesen Sommer haben wir fast jede Mahlzeit dort im Freien eingenommen und uns bei herrlichem Lindower Bier und freundlicher Gesellschaft Rheinsberger Einwohner wohl sein lassen.
Eine reizende Partie müssen wir noch erwähnen, nämlich die nach der Remus-Insel, so genannt nach einer alten Sage, die, toll genug, Remus, den Bruder des Romulus (Beide einer der ältesten Gründerfamilien angehörend), mit der Mark in Verbindung setzt und denselben dort begraben wissen will – eine Sage, die in einer Zeit, welche für Romantik aller Art so empfänglich war, wie die des vorigen Jahrhunderts, allen Ernstes aufgenommen wurde, so daß man selbst den Namen Rheinsberg auf das ursprüngliche Remusberg zurückzuführen bemüht war und der Kronprinz Friedrich sich selbst nicht ungern den Gärtner von der Remus-Insel nannte.
Der Leser möge dem Verfasser, ehe derselbe seine kurze Erzählung beginnt, wenige Worte zur Einleitung gestatten. In einer Zeit, in welcher der durch die Jesuiten geschürte Kampf ganz Deutschland bewegt, in welcher die Jesuiten und Ultramontanen unter dem Schleier der Religion die politische Fahne aufpflanzen, in der sie zu den schärfsten Waffen greifen, um ihre erschütterte Macht wiederzuerlangen und die Reste derselben aufrecht zu erhalten, in der sie alle ihnen zu Gebote stehenden Hülfstruppen in’s Feld führen, um gegen die Freiheit des Glaubens und des Geistes zu kämpfen – in einer solchen Zeit ist es auch Pflicht des Erzählers, sich offen auf die Seite der guten Sache zu stellen und diese selbst durch die Unterhaltung, welche er bietet, zu vertheidigen.
Dieser kleinen Erzählung liegt eine entschiedene Tendenz zu Grunde, der Verfasser fügt aber sogleich hinzu, daß durch die Tendenz die Wahrheit in keiner Weise beeinträchtigt wird. Er will den Lesern eine Episode aus dem Treiben der Jesuiten vorführen, die auf das Deutlichste zeigt, wie diese Jünger des so gefährlichen Ordens vor keinem Mittel zurückschrecken, wie sie unter der Maske der Frömmigkeit und des frommen Strebens zu jeder Handlung fähig sind.
Im vorigen Jahrhundert schickten die Jesuiten zahlreiche Ordensbrüder als Missionäre nach Südamerika, um das Christenthum unter den Ureinwohnern jenes Landes zu verbreiten, vor Allem aber auch, um dem Orden dort neue Hülfsquellen zu eröffnen und seine Macht zu verstärken. Diesen letzten Zweck haben die Missionäre ganz besonders vor Augen gehabt, denn sie zogen den Handel in jenen Gegenden an sich und erwarben ihrem Orden dadurch große Reichthümer. Während sie, was sich nicht leugnen läßt, ein Stück europäischer Cultur in jene unwirthbaren Gegenden trugen, brachten sie zugleich viel Unheil mit sich. Ganze Stämme der Wilden wurden durch den Haß, den sie unter denselben entflammten, vernichtet; sie impften den Wilden Laster und Leidenschaften ein, die denselben bis dahin unbekannt gewesen waren. Während die Missionäre die Wilden zu taufen suchten, um sie für die Religion zu gewinnen, deren höchstes und edelstes Princip die Liebe ist, verfuhren sie oft in so grausamer Weise, daß man mit Abscheu sich von ihnen wenden muß. Der Zweck heiligt bei ihnen ja das Mittel.
Einen solchen Fall wollen wir erzählen.
Am westlichen Ufer des Atabapo, eines Nebenflusses des Orinoco in Venezuela, erhebt sich eine Granitkuppe, welche einst den Namen „Der Fels der Guahiba-Indianerin“ oder „Der Fels der Mutter“, „Piedra de la madre“ führte, weil er Zeuge gewesen war der rührenden Mutterliebe einer Wilden und zugleich einer herzlosen, teuflischen Grausamkeit eines Missionärs, des Präsidenten der Missionscolonie San Fernando am Ufer des Orinoco, wo der Guiwara sich in denselben ergießt.
Die Missionäre von San Fernando hatten Indianer von der kriegerischen Nation der Guaypunabis durch Geschenke an sich gelockt, theils um durch sie gegen die Indianer anderer Stämme geschützt zu werden, theils um sich derselben zu verschiedenen Unternehmungen zu bedienen, zu denen sie selbst weder den Muth, noch die Kraft, noch die Erfahrung besaßen. Die frommen Patres, welche die Religion der Liebe unter den Wilden verbreiten sollten, benutzten oft die ihnen ergebenen Indianer, um mit ihnen die Hütten von Indianern anderer Stämme zu überfallen und namentlich die Kinder zu rauben, die sie dann tauften und auf ihren Missionen als Sclaven benutzten.
Selten wurde ein solcher Ueberfall ohne Grausamkeit ausgeführt. Die Männer und Frauen, welche ihre Kinder vertheidigten, wurden meist erschlagen, denn sie waren nicht zu Sclavendiensten zu benutzen, und die Missionäre hinderten auch die größten Grausamkeiten nicht; sie reizten sogar die Indianer dazu, da die geraubten Kinder in ihrem Besitze viel sicherer waren, wenn ihre Eltern erschlagen waren und keinen Versuch zu ihrer Befreiung mehr machen konnten. Mochten die spanischen Gesetze auch einen solchen Menschenraub verbieten, die Jesuiten kümmerten sich nicht um das Gesetz, wie sie sich stets über die ihnen unbequemen Gesetze hinweggesetzt haben, zumal wenn die Macht des Staates nicht stark genug war, dieselben aufrecht zu erhalten und die Uebertretung zu bestrafen.
Zu einem solchen Raubzuge war auch der Präsident der Mission San Fernando, ein frommer Pater, mit seinen ihm ergebenen Indianern ausgezogen. Er bedurfte Sclaven in seiner Mission, und sein Ruf stieg, wenn er einige Kinder der Wilden mehr getauft hatte. Daß diese Taufe eine erzwungene war, daß die Kinder geraubt waren und daß sich vielleicht blutige und grausame Thaten an diese Taufe knüpften, das wurde natürlich in dem Berichte nicht erwähnt, den er über das Wachsen seiner Mission nach Europa sandte.
Er hatte sich mit den Indianern an den Guaviare begeben, und während er im sicheren Boote zurückblieb, durchsuchten die Indianer die Ufer. Bald hatten sie die Hütte eines Wilden vom Stamme der Guahibos entdeckt. Vorsichtig und geräuschlos wie Schlangen schlichen sie hinan, um die Bewohner der Hütte zu überraschen; sie mußten auf einen verzweifelten Kampf gefaßt sein, wenn ihr Ueberfall zu früh bemerkt wurde.
Als sie, zwischen Gebüsch und hohem Grase versteckt, sich der Hütte bis auf wenige Schritte genähert hatten, sprangen sie empor und stürzten auf die Hütte zu. In der Hütte befand sich jedoch nur eine Frau mit drei Kindern, von denen zwei noch nicht erwachsen waren. Sie bereiteten Maniocmehl.
An Widerstand war nicht zu denken, da der Vater am Flusse beim Fischfange beschäftigt war und von dem Ueberfalle der Seinen keine Ahnung hatte. Die Mutter suchte sich deshalb [87] mit ihren Kindern durch die Flucht zu retten. Die Indianer der Mission folgten ihnen jedoch gleich angelernten Bluthunden, und kaum hatten die Unglücklichen die Savane erreicht, so wurden sie von ihren Verfolgern eingeholt, nach kurzem Widerstande niedergeworfen, an Händen und Füßen gebunden und zu dem Boote geschleppt, in welchem der fromme Pater sie erwartete, erfreut über den glücklichen Erfolg der Menschenjagd. Drei junge Sclaven konnte er nun mehr in seiner Mission zählen, das Taufen der Geraubten machte ja ohnehin wenig Schwierigkeit.
In dem Boote wurde die Mutter mit den Kindern nach San Fernando gebracht, und der Präsident der Mission war der festen Ueberzeugung, daß es der Frau nicht gelingen werde, zu fliehen und zu Lande ihre Heimath wiederzufinden. Jene Gegenden, welche dichter Wald bedeckt, sind nämlich während eines großen Theiles des Jahres überschwemmt, und ein Durchdringen dieser überschwemmten Wälder ist in der Zeit fast nur in einem Boote möglich und mit den größten Beschwerden verbunden. Selbst die Indianer benutzen zu ihren Fahrten und Reisen nur die Flüsse und besuchen benachbarte Niederlassungen nie zu Lande, selbst wenn die Entfernung nur wenige Meilen beträgt. Der Pater hatte indessen die Liebe und den Muth einer Mutter nicht in Berechnung gezogen. Das unglückliche Weib hatte daheim noch mehrere Kinder, welche bei dem Ueberfalle mit ihrem Vater auf dem Fischfange gewesen waren. Zu ihnen und zu ihrem Gatten sehnte sie sich. Sie hatte nur den einen Gedanken, dem Vater die geraubten Kinder zurückzubringen, und mehrere Male entfloh sie mit den Kindern.
Der fromme Pater sandte ihr jedesmal seine zur Menschenjagd angelernten Indianer nach, welche die Unglückliche stets wieder ergriffen. Der Pater ließ sie auf das Unbarmherzigste peitschen, in der Hoffnung, daß sie nun ihr Verlangen aufgeben werde, allein die Mutterliebe war stärker. Mochte auch ihr Rücken wund und blutig geschlagen sein, die Sehnsucht nach ihrer stillen Hütte, nach ihren Kindern und ihrem Gatten wich nicht von ihr, und sie entfloh mit den Kindern auf’s Neue.
Und wieder wurde sie von den Indianern eingeholt, zurückgeschleppt und auf den Befehl des Vaters auf’s Neue und Heftigste gepeitscht. Kein Mitleid mit der unglücklichen Mutter erfaßte ihn; er beschloß sogar, sie von ihren Kindern zu trennen und zu den Missionen am Rio Negro zu bringen. Von seinen Indianern begleitet, führte er sie den Atabapo hinauf. Sie war von den Mißhandlungen noch geschwächt. Deshalb nur leicht gebunden, saß sie auf dem Vordertheile des Fahrzeuges. Hinter ihr befanden sich ihre grausamen Peiniger. Niemand hatte ihr gesagt, welches Geschick ihrer wartete; es war ihr nicht mitgetheilt worden, daß sie von ihre Kindern getrennt werden sollte, allein ihr Auge war auf die Sonne gerichtet und aus dem Stande derselben erkannte sie, daß das Boot sie immer weiter von ihren Kindern und ihrer Heimath forttrug. Sie errieth den teuflischen Plan des frommen Paters, und Verzweiflung erfaßte sie. Langsam lockerte ihre Hand die Bande, welche sie fesselten – endlich gelang es ihr, dieselben abzustreifen; sie sprang empor, stürzte sich in den Fluß und schwamm dem linken Ufer zu. Die Strömung trug sie an eine Felsbank, welche später ihren Namen trug. Von dort aus gelang es ihr, das Land und den nahen Wald zu erreichen.
Erbittert, daß seine Beute ihm auf’s Neue entkommen war, ließ der Präsident der Mission das Fahrzeug an’s Ufer fahren und befahl den Indianern, der Spur der Unglücklichen zu folgen. Die Menschenjagd begann auf’s Neue. Die abgerichteten Bluthunde erkannten nur zu sicher jede Spur, welche der Fuß der Flüchtigen zurückgelassen hatte. Wieder wurde die unglückliche Mutter eingeholt und am Abende zurückgebracht. Der fromme Pater ließ sie auf dem Felsen, dem Piedra de la madre, niederlegen und mit einem Seekuhriemen, der dort als Peitsche benutzt wurde, schlagen. Ruhig stand er dabei, und sein Auge weidete sich an der grausamen Scene. Als die Indianer endlich erschöpft inne hielten, rief der Unmensch: „Peitscht sie!“ und auf’s Neue wurde die bereits mit Blut Bedeckte gemißhandelt.
Dann ließ der Präsident der Unglücklichen mit starken Mavacureranken die Hände auf den Rücken binden. Sie wurde in das Boot geschleppt, zu der Mission Javita gebracht und dort in eines der Caravanserais gesperrt.
Es war in der Regenzeit und finstere Nacht. Wälder lagen, fünfundzwanzig Meilen in gerader Linie breit, zwischen Javita und der Mission San Fernando. Man kannte keinen andern Weg als die Flüsse; niemals hatte ein Mensch versucht, zu Lande von einem Dorfe zum andern zu gehen. Hier war an eine Flucht und Rückkehr des unglücklichen Weibes zu ihren Kindern nicht zu denken, denn ein Boot hatte sie nicht, und den Weg zu Lande zurückzulegen hielt man für eine Unmöglichkeit. Aber das Mutterherz kannte keine Schwierigkeit und würde selbst vor Größerem nicht zurückgeschreckt sein. Ihre Kinder befanden sich in San Fernando in den Händen des grausamen Christen, und in ihr lebte nur der eine Gedanke, dieselben zu befreien und zu ihrem Vater am Guaviare zurückzubringen. Sie fragte nicht, ob ihre Kräfte zu dem schweren Werke ausreichten – sie wollte und konnte nicht ohne ihre Kinder leben. Ihr trauriger Zustand, ihre blutenden Arme, ihr geschlagener Rücken hatten selbst das Mitleid der Indianer von Javita erregt; ohne Wissen des Missionärs und des Alcaden hatten diese ihre drückenden und einschneidenden Fesseln gelockert; mit den Zähnen zernagte sie dieselben; es gelang ihr, dieselben abzustreifen, und während der Nacht entfloh sie. Auch jetzt wieder wurde den Indianern befohlen, sie zu verfolgen, aber in den überschwemmten Wäldern war ihre Spur nicht aufzufinden.
Inzwischen war der fromme Pater, der die Unglückliche von ihren Kindern getrennt und nach Javita gebracht hatte, nach San Fernando zurückgekehrt und endlich glaubte er die Mutter, welche von ihren Kindern nicht lassen wollte, in sicherm Gewahrsam. Eine Entfernung von fünfundzwanzig Meilen trennte sie von ihm, und kein menschlicher Fuß schien den Raum, der zwischen ihr und ihm lag, durchschreiten zu können.
Als die Sonne zum vierten Male aufging, sah man die unglückliche Mutter um die Mission von San Fernando, in welcher ihre Kinder eingeschlossen waren, schleichen. Als dies dem Präsidenten gemeldet wurde, hielt er es für unmöglich. Wie konnte Jemand in dieser Jahreszeit durch die Wälder dringen, wo der Boden überschwemmt war, wo düstere Wolken den Himmel bedeckten und Nachts kein Stern die einzuschlagende Richtung zeigte, wo die Sonne tagelang nur für einige Minuten zum Vorschein kam! Wie war es möglich, durch den Wald zu dringen, in welchem stachlige Lianen jeden Schritt hemmten, den zahlreiche tiefe Bäche durchströmten!
Er sandte seine Indianer aus, um die unglückliche Mutter aufzugreifen, für welche kein Hinderniß zu groß war, die Das ausgeführt hatte, wovor der kräftigste und unerschrockenste Indianer, der mit der Gegend vertraut war, zurückgebebt wäre – und diese erfaßten das arme Weib. Gefragt, schilderte sie die unsagbaren Beschwerden ihrer Wanderung, wie sie völlig erschöpft sich stets auf’s Neue aufgerafft, weil das Verlangen nach ihren Kindern ihre Kräfte belebt, wie sie während der vier Tage keine andere Nahrung zu sich genommen als Vachacos, große schwarze Ameisen, welche in langen Zügen an den Bäumen emporkrochen, um ihre harzigen Nester an denselben aufzuhängen, wie ihre nackten Füße von den Dornen der Lianen wundgerissen seien, wie sie alle Erschöpfung, Hunger und Schmerzen überwunden habe, um zu ihren Kindern zu gelangen.
Die Leser werden jetzt erleichtert aufathmen; der Gedanke, daß es der unglücklichen Mutter nun endlich gegönnt war, wieder mit ihren Kindern und ihrem Gatten vereint zu werden, wird sie beruhigen. Wenn ein Mensch, nur durch die Liebe geleitet, so Unsagbares erduldet und so Unglaubliches ausführt, muß er ja selbst das härteste Herz erweichen, der erbittertste Feind muß dadurch versöhnt werden – es kann kein Gemüth so grausam, so sehr entmenscht sein, um solchen Thatsachen gegenüber unbewegt zu bleiben.
Und der Präsident der Mision – der fromme Pater, der Jesuit, der Missionär, der ausgezogen war, um dem Christenthume, der Religion der Liebe, neue Jünger zu gewinnen? Der fromme Pater ließ der unglücklichen Guahiba nicht Zeit, um von ihren Wunden zu genesen und sich von ihren unsagbaren Beschwerden zu erholen; die Indianer mußten sie auf’s Neue blutig peitschen, dann wurde sie in ein Boot geschleppt und in eine Mission am oberen Orinoco gebracht, um dort besser bewacht zu werden. Am Orte ihrer neuen Gefangenschaft angekommen, wies die unglückliche Mutter, welche die Trennung [88] von den Ihrigen nicht überleben mochte, alle Nahrung von sich und starb nach wenigen Tagen.
Lange Zeit führte die Granitkuppe am Ufer des Atabapo zur Erinnerung an diese rührende Mutterliebe einer Wilden den Namen „Fels der Guahiba-Indianerin“ oder „Piedra de la madre“ – sie hätte noch eine zweite Inschrift tragen müssen: „Der Fels eines Jesuiten“. –
Die Leser werden sicherlich glauben, daß diese erschütternde Skizze übertrieben sei, daß die Tendenz sie gefärbt habe; sie werden sich nicht vorstellen können, daß ein Mensch so sehr entarten könne. Der Verfasser nennt als Bürgschaft der Wahrheit seine Quelle: er hat diese Skizze aus den Reisen Alexander’s von Humboldt geschöpft und ist bemüht gewesen, die Darstellung des großen Mannes möglichst getreu wiederzugeben. Chamisso hat denselben Stoff bekanntlich einem seiner schönsten Gedichte zu Grunde gelegt.
Schneckenburger’s Grab. Nachdem uns zur würdigen Ausschmückung von Max Schneckenburger’s Grabstätte zahlreiche Gaben aus vielen Gegenden Deutschlands zugegangen, haben wir uns wegen zweckdienlicher Verwendung derselben an Herrn F. Edinger, einen bewährten Kenner der Schweizer Verhältnisse, Vorstand des deutschen Hülfsvereins in Bern, gewandt. Derselbe schreibt uns in dieser Angelegenheit Folgendes:
Meinem Versprechen gemäß begab ich mich an einem der ersten Tage meiner Neujahrsferien nach Burgdorf, wo mir einer meiner Freunde bei den einflußreichsten Personen schon glücklich vorgearbeitet hatte. Was ich dort gesehen und erfahren, will ich Ihnen heute kurz mittheilen; in nächster Zeit sollen Sie, falls Sie mit meinem Plane im Allgemeinen einverstanden sind, specielle Vorlagen mit Zeichnungen erhalten.
Der Friedhof, auf welchem M. Schneckenburger begraben liegt, ist aufgegeben und wird zwar noch etwa zwanzig Jahre in seinem jetzigen Zustande belassen werden, dann aber sicherlich dem Burgdorfer Unternehmungsgeiste weichen und zu Bauplätzen oder anderen profanen Zwecken dienen müssen. Nun könnte man freilich, wenn man sich durchaus an die Grabstätte halten will, diese während der noch gegebenen Frist bestmöglichst in Ehren halten, um sie später doch eingehen zu lassen. Denn auch ein Ankauf der Stätte würde, selbst wenn er noch so gut verbrieft wäre, dieselbe vor anderweitiger Verwendung nicht sichern, wie ich an mehreren Beispielen in Betreff des Berner Friedhofs Monbijou bestimmt erfahren habe. Eine nur vorübergehende, nach etwa zwanzig Jahren aufhörende Pflege des Grabes kann aber den Gabenspendern, welche dem Sänger der „Wacht am Rhein“ ein bleibendes Andenken wahren wollen, kann dem deutschen Volke, aus dessen Herzen und zu dessen Herzen der Sänger so mächtig gesungen, nicht genügen. Es bleibt darum, wenn man demselben an dem Orte wo er gewirkt und gesungen, ein sichtbares Andenken gründen will, kaum ein anderer Rath übrig, als ein einfaches, jedoch des Sängers würdiges Denkmal zu setzen, etwa einen Obelisk oder sonst einen architektonischen Denkstein aus Solothurner Marmor, wobei das schlichte Kreuz, das ihm die Pietät seiner Freunde auf das Grab gepflanzt hat, wohl auch erhalten werden könnte. Von einer Büste, oder selbst von einem bloßen Reliefbilde Schneckenburger’s kann, abgesehen von anderen Gründen, schon deshalb nicht die Rede sein, weil das einzige Bild des Dichters, das seinen Freunden bekannt ist, nach deren Aussage nichts als eine Carricatur ist, einige Wochen nach des Dichters Tode aus dem Gedächtniß angefertigt von einem unglücklichen Künstler, der später sein Leben in der Berner Irrenanstalt beschloß. Doch ich will über die Form des Denkmals dem Künstler, welcher heute nach Burgdorf gefahren ist, um sich die Oertlichkeit anzusehen und danach seine Vorlagen zu entwerfen, nicht vorgreifen und Ihnen lieber über den Platz, wohin ein Denkmal gestellt werden könnte, einige Worte schreiben.
Das Bild der Grabstätte, das die Gartenlaube seiner Zeit gebracht, liegt mir leider nicht vor; soweit ich mich erinnern kann, hat aber dasselbe die sehr schlichte Localität nicht wenig idealisirt. Ein Denkmal an der Stelle, wo des Dichters Gebeine ruhen, ist nach meiner Ansicht, welche von Allen, die ich darüber gesprochen, getheilt wird, eine reine Unmöglichkeit, denn das Grab lehnt sich unmittelbar an die nichts weniger als ästhetische Hinterseite eines Oekonomiegebäudes, das die eine Seite des Friedhofs begrenzt. „Wo aber könnte man,“ schreibt mit Recht einer meiner Burgdorfer Freunde, „einen schöneren Platz finden, als vor dem Gymnasium unter den schattigen Kastanien der sogenannten Grabenpromenade? Max Schneckenburger soll den Schülern ja immer als das Bild eines warmen Patrioten, eines ideal gesinnten Menschen vor Augen schweben, und unseren jungen Kaufmannssöhnen wollen wir sagen: werdet einst so, wie der dort gewesen ist! Und haben nicht seine deutschen Freunde in Burgdorf Vieles gethan, haben sie nicht in den dreißiger Jahren einen idealen Zug in unsere Schulen gebracht, der in anderen Schweizerstädtchen vergeblich gesucht wurde, einen idealen Zug, welcher in den Leitern unseres kleinen Gemeinwesens noch heute fortwirkt und unsere neue Anstalt, das Gymnasium, geschaffen hat?“ So mein Burgdorfer Freund über die im Innern der Stadt gelegene und dabei doch eine ungemein liebliche Aussicht gewährende Grabenpromenade.
Sollte dieser Platz, etwa aus Besorgniß, es möchte durch das Denkmal der Spiel- und Tummelplatz für die Schuljugend zu sehr geschmälert werden, nicht eingeräumt werden können, so steht ein anderer, fast noch schöner gelegener zur Verfügung. Derselbe liegt, einen weiten Ausblick auf die Ebene und den Jura gewährend, nicht weit von der Grabstätte, am Aufstieg vom Bahnhofe zur oberen Stadt und bildet ein durch die Straße, welche sich in tief eingeschnittener Schlangenlinie um ihn herumwindet, rings abgegrenztes, mit Bäumen bepflanztes Rondel, das zu einem Denkmal eigens geschaffen scheint und den nicht zu unterschätzenden Vorzug hat, daß es unter keinen Umständen zu einem anderen Zwecke verwendet werden wird. Bei den Gemeindebehörden in Burgdorf und zumal bei dem Gemeindepräsidenten, Herrn Nationalrath Bucher, einem persönlichen Freunde Max Schneckenburger’s, findet der Gedanke an ein Denkmal für den Dichter, der in Burgdorf „keinen einzigen Menschen zum Feinde gehabt“, vielen Anklang und freundliches Entgegenkommen.
Die Ausführung desselben würde zwar eine bedeutend höhere Summe erfordern, als bis jetzt zur Verfügung steht, aber hoffentlich bedarf es nur der Veröffentlichung dieser Mittheilungen, um die Gaben recht zahlreich strömen zu machen; auch ich hoffe bei den deutschen Hülfsvereinen in der Schweiz, mit denen ich als Vorstand des hiesigen seit Jahren im Verkehre stehe, einen erklecklichen Beitrag aufzubringen.
Wahrheit oder Dichtung? Seit Herculanum und Pompeji unter dem Schutte der Jahrhunderte wieder an das Licht des Tages hervorgezogen worden sind, hat keine Bemühung, handgreifliche Zeugnisse für ein durch die Dichtkunst verherrlichtes Leben frühester Vergangenheit zu entdecken, mehr und rascher die Theilnahme der Gegenwart gewonnen, als Dr. Heinrich Schliemann’s Nachgrabungen und Funde auf der Kampfstätte des trojanischen Krieges. Die einzelnen Berichte über den Fortgang und Erfolg dieser Arbeiten fanden bereitwillige Leser und Gläubige, und fast etwas spät für die deutsche Forschungsgründlichkeit erhob die Kritik ihre Zweifel – nicht gegen den gewiß für die Alterthumskunde immer sehr werthvollen Fund von Gefäßen, Geräthen und Waffen aller Art, sondern gegen den Zusammenhang desselben mit dem von Homer besungenen Schicksale der griechischen Helden und Trojas. Seltsamerweise ist es der Sohn des berühmten „Griechenliederdichters“ für Sieg und Ruhm des neuen Griechenlands, welcher sich dagegen stemmt, den altgriechischen Sagenruhm über die Grenzlinie bezeugter Geschichte herüberzuziehen, was Heinrich Schliemann damit gewagt hat, daß er namentlich die Schätze von edeln Metallen, die er bei seinen Ausgrabungen gefunden, ohne Weiteres für den Schatz des Priamos und der Hekuba erklärt. Max Müller, unser sprach- und alterthumskundiger Landsmann in Oxford (augenblicklich in Straßburg), hat in der englischen Zeitschrift „Academy“ nachgewiesen, daß die Schliemann’schen Alterthümer mit geringen Ausnahmen von roher Arbeit und gar nicht mit den Schilderungen Homer’s übereinstimmend erscheinen; daß die wenigen Inschriften höchstens auf phönicische Schriftzüge hindeuten, aber ohne erklärbare Zusammenstellung sind. Vor Allem aber weist er nach, daß man es bei Homer nur mit Sage und Dichtung zu thun habe, ja daß, wenn man der Erzählung alles Mythologische wegnehme, nichts Faßliches mehr übrig bleibe. Die Möglichkeit, daß die Dichtung auf einer Thatsache beruhe, könne uns so wenig veranlassen, auf dem ihr vom Dichter angewiesenen Schauplatze auch geschichtliche Denkmäler zu suchen, als wir es berechtigt finden würden, wenn man bei Worms im Rheine dem Horte der Nibelungen oder im Kyffhäuser der Krone des Barbarossa nachgraben wollte.
Wir theilen diese Notiz mit, weil die Schliemann’schen Ausgrabungen auf den Feldern von Troja wohl auch vielen unserer Leser ein Interesse gewähren.
„Magazin für den deutschen Buchhandel“. Mit diesem Jahre ist unter obigem Titel ein von Aug. Schürmann in Leipzig herausgegebenes Monatsblatt in’s Leben getreten, welches, wie schon die beiden ersten Nummern zeigen, keineswegs allein für den Buchhandel, sondern auch für weitere, namentlich für literarische, juristische und volkswirthschaftliche Kreise von Interesse zu werden verspricht. Das Blatt ist durch die Thatsache hervorgerufen worden, daß über das eigenartige buchhalterische und literarische Verkehrswesen heute noch im Allgemeinen nur mangelhafte, vielfach sogar ganz unrichtige Vorstellungen herrschen, wofür unter Anderem auch der deutsche Reichstag Beispiele geliefert hat, die in seiner Mitte keine Berichtigung gefunden haben. Der auf seinem Felde gut bewanderte Herausgeber hofft, indem er sich nicht auf die Darstellung deutscher Verhältnisse beschränkt, sondern die ausländischen vergleichend heranzieht, allmählich ein Gesammtbild des buchhändlerischen und literarischen Weltverkehrs entrollen zu können. Bei der Bedeutung, welche der Buchhandel für die Entwickelung und den Fortschritt des Volks- und Culturlebens hat, darf Herrn Schürmann’s Unternehmen sicher auf eine freundliche Aufnahme in weiteren Kreisen rechnen.
C. St. in Br. August Becker ist der wirkliche Name des Verfassers von „Des Rabbi’s Vermächtniß“. Der Dichter wohnt seit einigen Jahren in Eisenach.
W. H. in E. Artikel rein raisonnirender Art, wie der Ihrige, finden in der Gartenlaube keine Aufnahme.
G. W. in T. Wir haben Ihr Manuscript empfangen und gelesen. Näheres nur brieflich, also nach mitgetheilter Adresse.
Fräulein Clara Pfeiffer, im Sommer 1867 Soubrette am Canstatter Theater, wird dringend ersucht, ihrem Bruder Ferdinand in Amerika Nachricht und genaue Adresse anzugeben. Ferdinand ist vollständig in der Lage, seiner Familie beizustehen, und würde sich unendlich freuen, wenn durch diese Aufforderung Mutter, Sohn und Tochter wieder vereinigt würden. Die Redaction der Gartenlaube ist gern bereit, etwaige Mittheilungen weiter zu befördern.