Die Gartenlaube (1874)/Heft 29
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No. 29. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Der Capitain mußte wohl wissen, was der Brief enthielt, denn er stand dicht an Ella’s Seite, augenscheinlich bereit, sie zu stützen, wie damals im Theater, aber diesmal verrieth die junge Frau keine Schwäche. Sie blickte stumm nieder auf die eisigen Abschiedsworte, mit denen ihr Gatte sich lossagte von Weib und Kind. Mit welcher Hast ergriff er den Vorwand, den die Härte ihres Vaters und ihre eigenen Worte ihm boten, mit welchem Aufathmen schüttelte er die belästigenden Bande ab! Unvorbereitet traf sie der Schlag freilich nicht mehr. Seit jener letzten Unterredung kannte sie ihr Schicksal.
„Er ist bereits abgereist?“ fragte sie, ohne das Auge von dem Briefe zu erheben, den sie noch immer in der Hand hielt.
„Vor einer Stunde.“
„Und – mit ihr?“
Hugo schwieg; er hatte kein ‚Nein‘ auf diese Frage. Ella erhob sich scheinbar ruhig, aber sie stützte sich doch schwer auf das Bettchen des Knaben.
„Ich wußte es. Und jetzt – lassen Sie mich allein! Ich bitte Sie.“
Der Capitain zauderte. „Ich kam gleichfalls, um Ihnen Lebewohl zu sagen,“ entgegnete er. „Meine Abreise war ohnedies bestimmt, und jetzt, nach der Entfernung meines Bruders, hält mich hier nichts mehr. Ich mache keinen Versuch, das erneute Vorurtheil des Onkels gegen mich zu brechen, aber von Ihnen, Ella, wollte ich ein Abschiedswort mit hinaus nehmen. Werden Sie es mir verweigern?“
Die junge Frau schlug langsam das Auge empor, es begegnete dem seinigen, und wie einer unwillkürliche Regung folgend, streckte sie ihm beide Hände hin.
„Ich danke Ihnen, Hugo. Leben Sie wohl!“
Er schloß mit einer raschen Bewegung die Hände in die seinigen. „Ich habe Ihnen immer nur Schmerz bringen können,“ sagte er leise. „Von mir kam die erste Nachricht, die Ihren Frieden rettungslos zerstörte; sie kam zu spät, und heute war es wieder meine Hand, die Ihnen die letzte brachte. Aber wenn ich Ihnen wehe that, Ella, wehe thun mußte – bei Gott! leicht ist es mir nicht geworden.“
Seine Lippen ruhten einen Moment lang auf ihrer Hand, dann ließ er sie fallen und verließ rasch das Zimmer; wenige Minuten darauf war er im Freien.
Es war ein rauher, echt nordischer Frühlingsabend. Einförmig plätscherte der Regen nieder; schwer und dicht hing der Nebel in den Straßen; selbst die Flammen der Laternen schimmerten nur röthlich trübe in dem grauen Dunste. In diesem Nebel trug der rollende Bahnzug Reinhold Almbach nach dem Süden, wo ihm Ruhm und Liebe, wo ihm sonnenhell die Zukunft winkte, und in derselben Stunde lag sein junges Weib daheim auf den Knieen, an der Wiege ihres Kindes und drückte das Haupt tief in die Kissen, um den Verzweiflungsschrei zu ersticken, der jetzt, wo sie sich allein wußte, doch endlich hervorbrach. Er war nicht einmal gekommen, ihr Lebewohl zu sagen; er hatte nicht ein letztes freundliches Wort für sie, nicht einmal einen Abschiedskuß für sein Kind. Sie waren Beide verlassen, aufgegeben – wahrscheinlich schon vergessen.
Die flammende Pracht des Sonnenunterganges schien Erde und Himmel in ein Meer von Gluth und Verklärung zu tauchen. Das ganze wunderbare Farbenspiel des Südens leuchtete auf am westlichen Horizonte, und die Lichtfluth ergoß sich weithin über die Stadt mit ihren Kuppeln, Thürmen und Palästen. Es war ein unvergleichliches Panorama, das sich rings um die Villa ausbreitete, die außerhalb der Stadt auf einer Anhöhe lag, weithin sichtbar mit ihren Terrassen und Säulengängen und umgeben von den tiefer gelegenen Gärten, in denen sich die üppigste Fülle südlicher Vegetation entfaltete. Da hoben die ernsten Cypressen ihre dunklen Häupter; da schwankten Pinien im leisen Abendwinde, weiße Marmorstatuen blickten aus Lorbeer- und Myrthengebüschen hervor; der Strahl der Fontainen rauschte und sprühte nieder auf den Rasenteppich, und Tausende von Blumenkelchen sandten ihren berauschend süßen Duft empor. Ueberall Schönheit und Kunst, Duft und Blüthen, Licht und Farbenglanz.
Auf der Terrasse und in den angrenzenden Partien des Parkes befand sich eine zahlreiche Gesellschaft, die den Genuß des herrlichen Abends und die wundervolle Aussicht hier draußen dem Aufenthalte in den Sälen drinnen vorziehen mochte. Sie schien in ihrer überwiegenden Mehrheit der Aristokratie anzugehören, doch sah man auch manche Gestalt darunter, die unzweifelhaft den Künstler verrieth, und hier und da erschien das dunkle Gewand eines Geistlichen neben den hellen Toiletten der Damen oder den glänzenden Uniformen. Die verschiedensten Elemente schienen sich hier zu vereinigen. Man promenirte, plauderte, und saß oder stand in zwanglosen Gruppen beisammen.
In einer dieser Gruppen, die sich am Fuße der Terrasse, dicht neben der großen Fontaine zusammengefunden hatte, wurde [460] die Unterhaltung mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit geführt; es mußte sich wohl um einen Gegenstand von allgemeinerem Interesse handeln. Die einzelnen Worte und Namen, die genannt wurden, schienen die Aufmerksamkeit eines der Gäste zu erregen, der, von der Terrasse kommend, gerade an der Gruppe vorüberging. Es war offenbar ein Fremder; das verrieth das helle Braun des Haares und der Augen, wie überhaupt das ganze Gesicht, das, obwohl gebräunt von Luft und Sonne, dennoch nicht das dunkle Colorit des Südländers zeigte. Die Capitainsuniform kleidete die kräftig männliche Gestalt äußerst vortheilhaft, und Haltung und Bewegungen vereinigten sehr glücklich das freie, etwas ungebundene Wesen des Seemannes mit den Formen der guten Gesellschaft. Er blieb in der Nähe der lebhaft debattirenden Herren stehen und folgte deren Gespräch mit offenbarer Theilnahme.
„Diese neue Oper ist und bleibt aber doch nun einmal das Hauptereigniß der Saison,“ sagte ein Officier in der Uniform der Carabinieri, „und da begreife ich nicht, wie man sie so ohne Weiteres verschieben kann. Die Aufführung ist bereits festgesetzt; die Proben haben begonnen; die sämmtlichen Vorbereitungen sind fast geendigt, da auf einmal wird das Alles unterbrochen, und die ganze Aufführung bis zum Herbste verschoben – das Alles ohne irgend einen ersichtlichen Grund.“
„Der Grund liegt einzig in dem souverainen Belieben des Signor Rinaldo,“ entgegnete ein anderer Herr in etwas hämischem Tone. „Er ist es nun einmal gewohnt, Oper und Publicum ganz nach Laune und Willkür zu behandeln.“
„Ich fürchte, Sie irren, Signor Gianelli,“ fiel ein junger Mann von vornehmem Aeußeren ein wenig erregt ein. „Wenn Rinaldo selbst den Aufschub forderte, so wird man ihm wohl Anlaß dazu gegeben haben.“
„Um Vergebung, Signor Marchese, das that man nicht,“ versetzte Jener. „Ich, als Capellmeister der großen Oper, weiß am besten, welch eine unendliche Mühe und welche immensen Opfer an Zeit und Geld es gekostet hat, um den Wünschen Rinaldo’s zu entsprechen. Er brachte mit seinen Anforderungen und Bedingungen die ganze Theaterwelt in Verwirrung; denn er verlangte Aenderungen im Personale, wie sie noch nicht dagewesen sind, und dergleichen mehr. Es wurde ihm, wie gewöhnlich, in Allem nachgegeben, und man glaubte nun endlich seines hohen Beifalls sicher zu sein, aber jetzt, wo er aus M. eintrifft, findet er Alles noch tief unter seiner Erwartung, befiehlt Abänderungen und dictirt Neuerungen in der rücksichtslosesten Weise. Es war vergebens, daß man den Versuch machte, ihn durch Signora Biancona umzustimmen; er drohte die ganze Oper zurückzuziehen, und,“ hier zuckte der Maestro spöttisch die Achseln, „die Verantwortung für ein solches Unglück wollten Eccellenza, der Intendant, denn doch nicht auf sich nehmen. Er versprach Alles, gewährte Alles, und da es schlechterdings nicht möglich war, die dictatorisch geforderten Aenderungen in der kurzen Zeit auszuführen, selbst auf den Herrscherbefehl Signor Rinaldo’s nicht, so muß die Aufführung bis zur nächsten Saison verschoben werden.“
„Der Intendant hat ist diesem Falle ganz recht gethan, dem Wunsche oder meinetwegen der Laune des Componisten nachzugeben,“ sagte der junge Marchese bestimmt. „Die Gesellschaft hätte es ihm nie verziehen, wenn eine übel angebrachte Consequenz sie einer Oper Rinaldo’s beraubt hätte. Man weiß, daß dieser im Stande ist, seine Drohung auszuführen, und sein Werk in der That zurückzuziehen, und einer solchen Alternative gegenüber blieb eben nichts weiter übrig als unbedingtes Nachgeben.“
„Freilich! Mein Widerspruch gilt nur dieser Art von Terrorismus, den sich ein fremder Künstler hier im Herzen Italiens erlaubt, indem er die Einheimischen zwingt, sich seiner speciell deutschen Auffassung der Musik zu fügen.“
„Besonders wenn diese Einheimischen schon zweimal mit einer Oper Fiasco gemacht haben, während jede neue Schöpfung Rinaldo’s vom stürmischen Beifall des Publicums getragen wird,“ flüsterte der Marchese seinem Nachbar zu.
Dieser, ein Engländer, sah äußerst gelangweilt aus. Er war des Italienischen nur theilweise mächtig, und die rasch und lebhaft geführte Unterhaltung blieb ihm daher größtentheils unverständlich. Nichtsdestoweniger beantwortete er die leise und verächtliche Bemerkung seines jugendlichen Nachbars mit einem würdevollen Kopfnicken und sah sich darauf hin aufmerksam den Maestro an, als sei ihm dieser auf einmal eine Merkwürdigkeit geworden.
„Wir sprechen von der neuen Oper Rinaldo’s,“ wandte sich der Officier artig erklärend an den Fremden, der bisher einen stummen Zuhörer abgegeben hatte, und jetzt in fremdartig klingendem, aber doch geläufigem Italienisch antwortete.
„Ich hörte soeben den Namen. Irgend eine musikalische Größe vermuthlich?“
Die Herren blickten den Fragenden in sprachlosem Erstaunen an, nur das Gesicht des Maestro verrieth eine unverkennbare Genugthuung darüber, daß es doch wenigstens einen Menschen auf der Welt gab, der diesen Namen nicht kannte.
„Irgend eine?“ betonte Marchese Tortoni. „Verzeihung, Signor Capitano, aber Sie sind wohl sehr lange auf der See gewesen und kommen vermuthlich aus einer andern Hemisphäre?“
„Direct von den Südsee-Inseln!“ bestätigte der Capitain, trotz des ironischen Tones der Frage mit einem verbindlichen Lächeln. „Und da man dort leider noch nicht so vertraut ist mit den künstlerischen Erzeugnissen der Neuzeit, wie es im Interesse der Civilisation wohl zu wünschen wäre, so bitte ich, meiner bedauernswerthen Unkenntniß zu Hülfe zu kommen.“
„Es handelt sich um den ersten und genialsten unserer jetzigen Componisten,“ sagte der Marchese. „Er ist zwar von Geburt ein Deutscher, aber seit Jahren schon gehört er ausschließlich uns an. Er lebt und schafft nur auf italienischem Boden, und wir sind stolz darauf, ihn den Unseren nennen zu dürfen. Uebrigens würde es Ihnen leicht sein, heute Abend seine persönliche Bekanntschaft zu machen. Er erscheint jedenfalls.“
„Mit Signora Biancona – selbstverständlich!“ fiel der Officier ein. „Hatten Sie schon Gelegenheit, unsere schöne Primadonna zu hören?“
Der Capitain machte eine verneinende Bewegung. „Ich bin erst vor einigen Tagen hier angekommen, indessen sah ich sie bereits vor Jahren in meiner Heimath, wo sie damals ihre ersten Lorbeeren einsammelte.“
„Ah, damals war sie ein aufsteigendes Gestirn,“ rief der Andere. „Freilich, im Norden hat sie ihren Ruhm gegründet; sie kam bereits als gefeierte Künstlerin zu uns zurück. Jetzt aber steht sie unbedingt auf der Höhe ihres Talentes. Sie müssen sie hören und zwar in einer von Rinaldo’s Opern hören, wenn Sie sie in ihrem vollen Glanze bewundern wollen.“
„Gewiß, denn da flammt ein Feuer in das andere,“ bestätigte der junge Marchese. „Jedenfalls werden Sie auch heute schon in der Signora eine blendend schöne Erscheinung finden. Versäumen Sie ja nicht eine Vorstellung und Unterredung mit ihr.“
„Falls dies nämlich dem Signor Rinaldo genehm ist,“ mischte sich der Maestro jetzt wieder ein. „Sonst würden Sie ganz vergeblich eine Annäherung versuchen.“
„Hat Rinaldo darüber zu bestimmen?“ warf der Capitain flüchtig hin.
„Nun, wenigstens nimmt er sich das Recht dazu. Er ist so gewöhnt, überall den Herrn und Gebieter herauszukehren, daß er dies auch hier versucht, und leider nicht ohne Erfolg. Ich begreife die Biancona nicht. Eine Künstlerin von ihrer Bedeutung, eine Frau von ihrer Schönheit – und sie läßt sich so gänzlich von einem Manne beherrschen.“
„Aber dieser Eine ist Rinaldo,“ lachte der Officier, „und damit ist genug gesagt. Gestehen wir es nur, Tortoni, wir Alle können uns nicht mit seinen Erfolgen messen. Dem fliegen ja alle Herzen entgegen, wo er nur erscheint – da ist es am Ende kein Wunder, wenn selbst eine Biancona sich willig dem Zauber beugt, den dieser Mann nun einmal an sich zu tragen scheint.“
„Nun, so willig geschieht es gerade nicht,“ meinte Gianelli hämisch. „Signora ist leidenschaftlich im höchsten Grade, aber Rinaldo überbietet sie darin womöglich noch. Es giebt zwischen ihnen mindestens ebenso oft Sturm wie Sonnenschein, und heftige Scenen sind an der Tagesordnung.“
„Dieser Rinaldo scheint ja, wie das Publicum, so auch die gesammte Gesellschaft zu beherrschen,“ sagte der Capitain sich jetzt ausschließlich an den Capellmeister wendend. „Läßt man sich dergleichen denn von einem einzigen Menschen und noch dazu von einem Fremden gefallen?“
„Weil man eben blind ist und sein will für jedes andere [461] Verdienst,“ rief der Maestro mit unterdrückter Heftigkeit. „Wenn die Gesellschaft einmal einen Götzen auf den Thron erhebt, so pflegt sie auch in ihrer Anbetung bis zur Lächerlichkeit zu gehen. Man treibt ja einen förmlichen Cultus mit diesem Rinaldo, da ist es am Ende kein Wunder, wenn sein Hochmuth und seine Selbstüberschätzung in’s Maßlose geht, und er glaubt, ungestraft Alles unter die Füße treten zu dürfen, was ihm nicht unbedingt huldigt.“
Der Capitain fixirte mit einem eigenthümlichen Lächeln den aufgeregten Italiener. „Schade, daß ein solches Talent solche Schattenseiten hat! Aber am Ende ist es mit dem Talente auch nicht so weit her? Modesache – Laune des Publicums – unverdientes Glück – meinen Sie nicht?“
Gianelli hätte wahrscheinlich von Herzen gern bejaht, aber die Gegenwart der anderen Herren legte ihm doch einigen Zwang auf.
„Das Publicum pflegt in solchem Falle zu entscheiden,“ erwiderte er vorsichtig, „und hier ist es verschwenderisch mit seinen Gunstbezeigungen. Ich meinestheils behaupte – ohne dem Ruhme Rinaldo’s irgendwie zu nahe treten zu wollen – er könnte jetzt ein Stümperwerk componiren, man würde es bis in den Himmel erheben, nur weil es von ihm stammt.“
„Sehr wahrscheinlich!“ stimmte der Fremde bei. „Und möglicherweise ist die neue Oper bereits ein solches Stümperwerk. Ich bin durchaus Ihrer Meinung, und werde gewiß –“
„Ich rathe Ihnen, Signor, Ihr Urtheil aufzuschieben, bis Sie Rinaldo’s Werke kennen gelernt haben,“ fiel der Marchese im schärfsten Tone ein. „Er hat allerdings den unverzeihlichen Fehler begangen, den Gipfel des Ruhmes wie in einem einzigen Siegeslaufe zu ersteigen, und sich zu einer Größe aufzuschwingen, an die so leicht Keiner hinanreicht. Das verzeiht man ihm nun einmal nicht in gewissen Kreisen, und er muß es bei jeder Gelegenheit büßen. Folgen Sie meinem Rathe!“
Der Capitain verbeugte sich leicht. „Mit Vergnügen, und dies um so mehr, als es mein Bruder ist, dem Ihre so beredte Vertheidigung gilt, Signor Marchese.“
Diese mit dem liebenswürdigsten Lächeln gegebene Erklärung brachte begreifliche Sensation in der Gruppe hervor. Marchese Tortoni trat erstaunt einen Schritt zurück und maß den Sprechenden von oben bis unten. Der Maestro erbleichte und biß sich auf die Lippen, während der Officier mühsam das Lachen unterdrückte. Der Engländer dagegen hatte diesmal genug von dem Gespräch verstanden, um zu begreifen, welch einen Streich der fremde Seemann den Italienern gespielt, und dieser Streich schien sein höchstes Wohlgefallen zu erregen. Er lächelte mit dem Ausdrucke außerordentlicher Zufriedenheit und steuerte sofort mit langen Schritten zu dem Capitain hinüber, an dessen Seite er sich stumm aufpflanzte, ihm damit ein untrügliches Zeichen seiner Sympathie gebend.
„Den Signori scheint nur der Künstlername meines Bruders bekannt zu sein,“ fuhr Hugo unbeirrt fort. „Der meinige klang Ihnen wohl zu fremdartig bei der allgemeinen Vorstellung vorhin? Wir haben indessen keinen Grund, unser Verwandtschaftsverhältniß zu verleugnen.“
„Ah Signor Capitano, ich hörte bereits von Ihrer bevorstehenden Ankunft,“ rief jetzt der Marchese, ihm mit unverkennbarer Herzlichkeit die Hand entgegenstreckend. „Aber es war nicht schön, uns mit diesem Incognito zu necken. Einen wenigstens hat es in bittere Verlegenheit gesetzt, obgleich er die Lehre reichlich verdient hat.“
Hugo sah sich gleichfalls nach dem Maestro um, der es vorgezogen hatte unbemerkt zu verschwinden. „Ich wollte das Terrain ein wenig recognosciren,“ entgegnete er lachend, „und das war eben nur möglich, so lange mein Incognito noch andauerte. Es hätte doch bald genug sein Ende erreicht, denn ich erwarte Reinhold jede Minute; er wurde noch in der Stadt zurückgehalten, während ich vorausfuhr. Ah, da ist er ja schon.“
Der Erwartete erschien in der That in diesem Augenblicke oben auf der Terrasse, und der Maestro hätte jetzt auf’s Neue Gelegenheit gehabt, seinem Aerger über die „bis zur Lächerlichkeit gehende Abgötterei der Gesellschaft“ Luft zu machen, denn dieses plötzliche Aufhören aller Gespräche, dieses Interesse, womit sich Aller Blicke dem einen Punkte zuwendeten, diese Bewegung, die sich der ganzen Gesellschaft mittheilte, galt einzig Rinaldo’s Eintritt.
Reinhold selbst war freilich ein Anderer geworden in diesen Jahren, ein ganz Anderer. Das junge Talent, das einst so ungeduldig gegen die beengenden Schranken und Vorurtheile seiner Umgebung ankämpfte, hatte sich zum gefeierten Künstler emporgeschwungen, dessen Name weit über die Grenzen Italiens und seiner Heimath hinausdrang, dessen Werke auf den Bühnen aller Hauptstädte heimisch waren, dem Ruhm und Ehre, Gold und Triumphe in reichster Fülle zuströmten. Dieselbe mächtige Wandlung hatte sich auch an seinem Aeußeren vollzogen, und unvortheilhaft war diese Veränderung keineswegs, denn statt des bleichen ernsten Jünglings mit dem verschlossenen Wesen und den tiefen düsteren Augen stand jetzt ein Mann da, dem man es ansah, daß er mit dem Leben und der Welt vertraut war, und erst bei dem Manne kam die stets so eigenthümlich anziehende Art seiner Schönheit zur vollsten Geltung. Es stand dieser idealen Stirn gut, dieses stolze Selbstbewußtsein, das jetzt darauf ruhte, und sich auch in den Zügen, in der ganzen Haltung aussprach, aber es lagen auch tiefe Schatten auf dieser Stirn und in diesen Zügen, die wohl nicht das Glück hineingelegt hatte. Von dem Munde zuckte es wie herber Spott, wie höhnische Bitterkeit, und im Auge schlummerte der einstige Funke nicht mehr in der Tiefe; jetzt loderte eine Flamme dort, brennend, verzehrend und fast dämonisch aufzuckend bei jeder Erregung. Was dieses Antlitz auch äußerlich gewonnen haben mochte, Friede sprach nicht mehr daraus.
Er führte Signora Biancona am Arme, nicht mehr die jugendliche Primadonna einer italienischen Operngesellschaft zweiten Ranges, die in den Städten des Nordens Gastvorstellungen gab, sondern eine Größe von europäischem Rufe, die, nachdem sie auf allen bedeutenderen Bühnen Lorbeeren und Triumphe gesammelt, jetzt an der Oper ihrer Heimathstadt die erste Stelle einnahm. Marchese Tortoni hatte Recht: sie war auch jetzt noch blendend schön, diese Frau. Das war noch der gluthstrahlende Blick, der einst „das ehrsame Patricierblut der edlen Hansastadt so in Flammen zu setzen verstand“, nur schien er heißer, versengender geworden zu sein. Das war noch das Antlitz mit seinem dämonisch bestrickenden Zauber, die Gestalt mit ihren plastisch edlen Formen, nur erschien alles voller, üppiger. Die Blume hatte sich zu reifster, fast überreifer Pracht entfaltet; noch blühte sie; noch stand ihre Schönheit im Zenith, wenn man sich auch sagen mußte, daß vielleicht beim nächsten Jahreswechsel schon die Grenze überschritten sein werde, mit der sie sich unwiderruflich ihrem Niedergange zuneigte.
Die Beiden, besonders Reinhold, wurden sofort nach ihrem Eintritte von allen Seiten in Anspruch genommen. Alles drängte sich um ihn; Alles suchte seine Nähe, seine Unterhaltung. In wenig Minuten war er bereits der Mittelpunkt der Gesellschaft geworden, und es dauerte eine geraume Zeit, ehe es ihm gelang, sich all’ den Aufmerksamkeiten und Schmeicheleien zu entziehen und sich nach seinem Bruder umzusehen, der sich in einiger Entfernung gehalten hatte.
„Da bist Du ja endlich, Hugo,“ sagte er herantretend. „Ich vermißte Dich bereits. Läßt Du Dich suchen?“
„Es war ja nicht möglich, den dreifachen Bewunderungscirkel zu durchbrechen, der Dich wie eine chinesische Mauer umgab,“ spottete Hugo. „Ich habe dieses Wagestück gar nicht versucht, sondern erging mich in Betrachtungen darüber, welch ein Glück es doch ist, einen berühmten Bruder zu besitzen.“
„Ja, dieses fortwährende Herandrängen ist wirklich ermüdend,“ meinte Reinhold mit einer Miene, die nichts von befriedigtem Triumphe hatte, dagegen eine unverkennbare Abspannung verrieth. „Aber jetzt komm! Ich werde Dich Beatricen vorstellen.“
„Beatricen? – Ah so, Signora Vampyr! Muß das sein, Reinhold?“
Der Blick des Bruders verfinsterte sich. „Allerdings muß es sein. Du wirst nicht umhin können, ihr in meiner Begleitung oft und viel zu nahen. Sie ist schon, und mit Recht, befremdet darüber, daß es nicht bereits geschehen ist. Was hast Du denn, Hugo? Du scheinst ja dieser Vorstellung förmlich ausweichen zu wollen, und doch kennst Du Beatrice nicht einmal.“
„Doch,“ entgegnete der Capitain kurz. „Ich habe sie bereits in H. im Concerte und auf der Bühne gesehen.“
„Aber niemals gesprochen. Eigenthümlich, daß man Dich beinahe zu Dem zwingen muß, was jeder Andere als einen [462] Vorzug betrachten würde! Du bist doch sonst stets der Erste, wenn es die Bekanntschaft einer schönen Frau gilt.“
Hugo erwiderte nichts, aber er folgte ihm ohne ferneren Einwand. Signora Biancona war, wie gewöhnlich, von einem Kreise von Herren umgeben und in lebhaftester Unterhaltung begriffen, aber sie brach diese sofort ab, als die Beiden erschienen. Reinhold stellte ihr seinen Bruder vor. Beatrice wandte sich mit ihrer ganzen Liebenswürdigkeit an den Letzteren.
„Wissen Sie, Signor Capitano, daß ich Ihnen bereits gezürnt habe, ohne Sie zu kennen?“ begann sie. „Rinaldo war nicht zu halten, als er die Nachricht von Ihrer Ankunft empfing. Er ließ mich höchst ungalanter Weise in M. zurück, um Ihnen entgegen zu eilen. Ich mußte die Rückreise hierher allein antreten.“
Hugo verbeugte sich artig, aber doch fremder, als er es sonst wohl vor einer Dame that, und er schien es auch nicht zu bemerken, daß die schöne Hand Beatricens sich dem Bruder Rinaldo’s vertraulich entgegenstreckte, wenigstens widerstand er vollständig der Versuchung des Handkusses, der wohl erwartet wurde.
„Ich bin sehr unglücklich, Signora, Ihren Unwillen erregt zu haben. Wer aber so ausschließlich wie Sie über Reinhold’s Nähe und Gegenwart verfügt, sollte doch Großmuth genug besitzen, ihn einmal auch für kurze Zeit dem Bruder abzutreten.“
Er sah sich nach Reinhold um, aber dieser wurde bereits wieder in Anspruch genommen.
„Ich füge mich ja auch,“ sagte Beatrice, noch immer mit bezaubernder Freundlichkeit, „oder vielmehr, ich füge mich noch jetzt, denn seit der Zeit Ihres Hierseins habe ich Rinaldo wenig genug gesehen. Es wird wohl kein anderes Auskunftsmittel übrig bleiben, als daß ich Sie bitte, ihn zu begleiten, wenn er bei mir erscheint.“
Hugo machte eine etwas gemessene Bewegung des Dankes. „Sie sind sehr gütig, Signora. Ich ergreife gewiß mit Freuden die Gelegenheit, die so hochgefeierte – Muse meines Bruders näher kennen zu lernen.“
Signora Biancona lächelte. „Hat er mich Ihnen so genannt? Freilich, der Name ist unserem Freundeskreise nicht fremd. Rinaldo gab ihn mir einst, damals, als ich seine ersten Schritte auf der Künstlerbahn leitete. Eine etwas romantische Bezeichnung, zumal für deutsche Anschauungen, nicht wahr, Signor? Sie kennen dergleichen schwerlich in Ihrem Norden.“
„Bisweilen doch,“ sagte der Capitain ruhig, „nur mit einem unbedeutenden Unterschiede. Bei uns pflegen die Musen Ideale zu sein, die in unerreichbarer Höhe schweben. Hier sind es – schöne Frauen. Ein ganz unleugbarer Vortheil für den Künstler.“
Die Worte klangen wie ein Compliment und hielten genau den scherzenden Ton fest, den Beatrice selbst angeschlagen; dennoch streifte sie mit einem raschen, forschenden Blicke das Antlitz des Sprechenden; vielleicht sah sie den aufblitzenden Spott darin; denn sie erwiderte mit einiger Schärfe:
„Ich meinestheils bekenne, gar keine Sympathie für den Norden zu besitzen. Nur gezwungen habe ich einige Zeit dort verlebt, und ich athmete erst wieder auf, als der Himmel Italiens sich über mir wölbte. Wir Südländer vermögen es nun einmal nicht, uns in die eisig pedantischen Regeln zu zwängen, die dort die Gesellschaft einengen, in die Fesseln, die man auch den Künstlern auferlegen möchte.“
Hugo lehnte sich mit vollendeter Gleichgültigkeit an die Marmorbalustrade. „Mein Gott, das ist doch von keiner Bedeutung. Man sprengt sie einfach und ist dann frei wie der Vogel in der Luft. Reinhold hat das ja hinreichend bewiesen, und jetzt hat er die Heimath und ihre pedantischen Regeln ein- für allemal abgeschworen, was doch wohl ausschließlich Ihr Verdienst ist, Signora.“
Beatrice gebrauchte heftig den Fächer, obgleich gerade in diesem Augenblicke der Abendwind erfrischend kühl herüberwehte.
„Wie meinen Sie das, Signor?“ fragte sie rasch.
„Ich? O, ich meine gar nichts, ausgenommen etwa, daß es doch ein erhebendes Gefühl sein muß, so das ganze Schicksal eines Menschen – oder auch einer Familie – in Händen zu halten, wenn man Jemanden seinen ‚Fesseln‘ entreißt. Man muß in einem solchen Falle durchaus etwas von einer irdischen Vorsehung in sich spüren. Nicht, Signora?“
Beatrice war leicht zusammengezuckt bei den Worten, ob vor Ueberraschung oder Zorn, das ließ sich schwer entscheiden. Ihre Augen begegneten den seinigen; aber diesmal maßen sie einander, wie zwei Gegner sich messen. Der Blick der Italienerin sprühte; doch der Capitain hielt ihn so fest und ruhig aus, daß sie wohl fühlte, es sei kein allzu leichtes Spiel diesen klaren braunen Augen gegenüber, die ihr so keck die Spitze zu bieten wagten.
„Ich glaube, Rinaldo hat allen Grund, dieser Vorsehung dankbar zu sein,“ entgegnete sie stolz. „Er wäre vielleicht untergegangen in Verhältnissen und Umgebungen, die seiner unwürdig waren, hätte sie seinen Genius nicht wach gerufen und ihm die Bahn zur Größe gewiesen.“
„Vielleicht,“ sagte Hugo kühl. „Man behauptet zwar, ein wahrer Genius gehe nie zu Grunde, und je schwerer er sich durchringen müsse, desto mehr stähle sich seine Kraft; indessen das ist jedenfalls auch eine von den nordisch-pedantischen Anschauungen. Der Erfolg hat für Ihre Ansicht entschieden, Signora, und der Erfolg ist ja ein Gott, dem sich Alles beugt.“
Er verneigte sich und trat zurück. Er hatte das Alles im leichtesten Conversationstone, scheinbar ganz absichtslos hingeworfen, aber Signora Biancona mußte doch wohl die Bitterkeit empfunden haben, die in den Worten des Capitains lag; denn sie preßte die Lippen zusammen wie in tiefster innerster Gereiztheit, und der Fächer gerieth in eine fast stürmische Bewegung.
Wohl über keine Stadt auf dem Erdboden sind so viele falsche Berichte von sensationssüchtigen Schriftstellern in die Welt hinaus gesandt worden und finden die fabelhaftesten Beschreibungen so leicht ein gläubiges Publicum, wie über San Francisco. Schon der Name des Goldlandes Californien webt einen Nimbus des Außerordentlichen, des Romantisch-Halbbarbarischen um Alles und Jedes, was auf diese Stadt Bezug nimmt. Daß sich in San Francisco die Leute in rothe Hemden à la Garibaldi kleiden, daß Jedermann hier wenigstens einen geladenen Revolver im Gürtel und ein fußlanges Dolchmesser in den Stiefelschäften trägt, welche Waffen er bei der geringsten Veranlassung in Anwendung bringt, daß es Gebrauch ist, Jemanden, der vor Einem auf dem Trottoir geht und zu dem man sprechen will, durch einen freundschaftlichen Schuß durch den Hut zum Stillstehen zu bewegen, daß es in dieser Stadt zahllose öffentliche Spielhöllen giebt, in denen sich eine bestialische Rohheit breit macht, daß auf den Straßen eigentlich Niemand seines Lebens sicher und die Lynchjustiz hier eingebürgert ist, daß das Gold in San Francisco sozusagen in den Gossen liegt – alle diese und noch abenteuerlichere Vorstellungen spuken noch heute ist den Köpfen von Tausenden in Europa. Der Inhalt von zahlreichen Briefen, welche mir seit meinem Hiersein von Unbekannten aus allen Theilen der Welt zugegangen sind und die von originellen, ich will nicht sagen, kindlichen Fragen förmlich wimmeln, würde einen trefflichen Commentar zu dem oben Gesagten liefern.
In neuester Zeit hat eine in Stuttgart erscheinende Zeitschrift („Ueber Land und Meer“, Nr. 22, 1874) eine Beschreibung von San Francisco veröffentlicht, welche von Ernst Kossak nach dem Tagebuche des verstorbenen Malers Hildebrandt ausgearbeitet wurde, und die wohl von Allem, was über San Francisco geschrieben worden, die willkürlichsten Schilderungen enthält. An diese Beschreibung anknüpfend, will ich ein paar Worte zur Ehrenrettung unserer viel geschmähten Stadt in diesen Blättern laut werden lassen.
Herr Hildebrandt besuchte während seiner Reise um die Welt (wie ich vermuthe, vor etwa fünfzehn Jahren) auch die [463]
Handelsbörse. | Montgomerystraße. | Kearnystraße. | Freimaurer-Tempel. | |
Lincoln-Schule. | San Francisco. | Bank von Californien. | ||
Löschmannschaftsgebäude. | Sparvereinsgebäude. | |||
Nuceleus-Hôtel. | Californiastraße. | Buschstraße. | Landungsplatz der Dampfer. |
[464] Stadt San Francisco. Ohne Angabe des Jahresdatums der Hildebrandt’schen Schilderung, ohne Bezugnahme auf die gegenwärtigen Zustände einer so rapid wie San Francisco sich entwickelnden Stadt wird nun in jenem Blatte dem deutschen Leser die genannte Beschreibung als ein Culturbild vorgeführt, welches den Anspruch auf Authenticität erheben darf – nichtsdestoweniger ist es voll von Ungenauigkeiten, Unrichtigkeiten und Uebertreibungen.
San Francisco ist nach jener glaubwürdigen Schilderung eine Stadt von einer halben Million Einwohner (nach dem Census von 1870 zählte San Francisco damals 149,473 Einwohner). Die Bezeichnung unserer Stadt mit Zisko (wie nach Hildebrandt San Francisco hier schlechtweg genannt wird), sowie die Straßennamen, z. B. die „Goldminen-“, die „Silberminen-“ etc. Straße, hören wir San Franciscaner mit Erstaunen jetzt zum ersten Male. Also diese Stadt Zisko wird von einer halben Million von Tagedieben, Bummlern, Gaunern bewohnt; sie ist die ultima Thule der europäischen Vagabondage; Bettler schwärmen in den Straßen, und Niemand ist dort seines Lebens sicher; die Bauart der Stadt ist ein Sammelsurium von architektonischen Ungeheuerlichkeiten; die Straßen sind entweder gar nicht gepflastert oder haben Knüppeldämme, wie sie in den Dörfern der preußischen Niederung üblich sind; malerische Schluchten (?) reichen an die Bai hinunter – in der That ein recht anmuthiger Platz!
In diesem Stil wird unser unglückliches Zisko anderthalb Columnen lang behandelt, so daß Jemand, der, wie Schreiber dieser Zeilen, beinahe zwölf Jahre lang ab und zu hier gewohnt hat, seine Adoptivheimath gar nicht wieder erkennt. Selbst in den wilden Zeiten von 1849 bis 1852 bot San Francisco nicht einmal annähernd ein solches Bild, wie Tausende von Deutschen, die seit dem ersten Aufbau der Stadt hier ansässig sind, bezeugen können. Sogar das hiesige Klima wird ganz falsch geschildert. Wenn Herr Hildebrandt z. B. den Abend in San Francisco (zu welcher Zeit die Luft hier meistens rauh, windig und neblig ist) preist, „von den sanften Athemzügen des entschlummernden stillen Oceans“ redet, und meint, „daß es einer der höchsten irdischen Genüsse sei, diese aromatische Seeluft einzuathmen“, so ist das für einen San Franciscaner einfach komisch. In welcher Gesellschaft sich überhaupt Herr Hildebrandt hier bewegt hat, das mögen die Götter wissen! Ich bin nicht im Stande gewesen, nur einen einzigen Deutschen zu finden, der diesen berühmten Weltumsegler hier kennen gelernt hätte. Das Bild in Folio („eine Straße in San Francisco“), welches jener charakteristischen Studie beigefügt ist, würde just so gut auf Timbuctu oder Buxtehude wie auf San Francisco passen. Die alterthümlichen Gebäude, die Schnapsfässer inmitten der Straße, und namentlich die nie dagewesenen Dampf-Straßenwaggons, die wie alte Theekessel aussehen, sind außerordentlich naturgetreu.
Das Bild und die ganze Schilderung sind Sensationsartikel erster Classe, und dieselben könnten, da sie hier am ersten April erschienen, am besten als ein Aprilscherz gelten. Wie es möglich gewesen ist, daß ein geachtetes großes deutsches Journal sich so dupiren lassen konnte, eine solche Schilderung als baare Wahrheit und noch dazu mit einer schmeichelhaften Notiz auf den „liebenswürdigen“ Verfasser wiederzugeben, und zwar, wie gesagt, ohne Jahresdatum, scheint in der That unbegreiflich. Wenn ich sage, daß jene Veröffentlichung von den hiesigen Deutschen, die einen so großen Procentsatz der Bevölkerung dieser Stadt bilden, mit bitterem Ingrimme gelesen worden ist, so habe ich mich sehr gelinde ausgedrückt. Eine solche entstellende Beschreibung unserer Adoptivheimath in dem oben genannten deutschen Blatte lesen zu müssen, erregte hier die allgemeinste Entrüstung, und ich handle gewiß im Sinne meiner hiesigen Landsleute, wenn ich dieser ihrer Meinung durch die Gartenlaube weitmöglichste Verbreitung gebe.
Ohne auf das Hildebrandt-Kossak’sche Schriftstück weiter einzugehen, will ich jetzt versuchen, die Stadt San Francisco mit einigen kurzen Federstrichen so zu schildern, wie dieselbe in Wirklichkeit aussieht. Der Leser möge sich dann selbst ein Urtheil darüber bilden, ob dieser Platz Jemandem, der Ansprüche auf ein gesittetes Leben macht, als Aufenthaltsort empfohlen werden darf oder nicht.
Die Stadt San Francisco, deren Einwohnerzahl zur Zeit (1874) auf bereits zweihunderttausend Seelen geschätzt wird, steht, so weit mir bekannt geworden ist, was materiellen Aufschwung anbelangt, nur hinter Chicago und Melbourne zurück. Ihre günstige Weltlage, an dem einzigen größeren sicheren Hafen an einer Tausende von Meilen langen Küste und auf der directen Verbindungslinie zwischen Ostasien, Nordamerika und Europa wird durch einen Blick auf die Karte sofort klar, und die zahlreichen und productenreichen Thäler Californiens finden hier ihren natürlichen Ausweg auf die Weltmärkte.
Der prächtige Hafen bildet ein großartiges, lebendiges Bild. Eine ganze Flotte von Dampfern vermittelt den Verkehr mit China, Japan, Australien, den Inseln der Südsee, Panama, Mexico, den californischen Küstenstädten, Oregon und British Columbia. An der Grenze des Occidents liegend, seine goldene Pforte den Völkern Ostasiens weit öffnend, bildet San Francisco, dessen Bevölkerung etwa zur Hälfte aus Fremdgeborenen, zur Hälfte aus Amerikanern besteht, mit seinem Völkergemisch einen höchst interessanten Beobachtungsort für den Ethnologen, wo die uralte stagnirende Civilisation des Reichs der Mitte mit dem frisch pulsirenden europäisch-amerikanischen Leben in enge Berührung tritt.
Die Stadt San Francisco liegt bekanntlich auf einer Halbinsel zwischen dem stillen Ocean und der großen San Francisco-Bai, welche letztere ihre Verbindung mit dem Meere durch das weltbekannte „goldene Thor“ (golden gate) findet. Die an den Hafen grenzenden Straßen bilden, mit Ausnahme des Chinesenviertels, den bei Weitem unansehnlichsten Stadttheil, so daß San Francisco, vom Wasser aus betrachtet, ein keineswegs malerisches Bild giebt.
Das Aussehen der inneren Stadt dagegen ist im Allgemeinen ein sauberes und modernes. Die Straßen sind geradlinig angelegt, und die hauptsächlichsten derselben haben breite Asphalttrottoirs, während die kleineren aus Holzbohlen angelegte Gehwege aufweisen. Das Pflaster dagegen läßt viel zu wünschen übrig. Das früher hier niedergelegte sogenannte „Nicholson-Holzpflaster“ hat sich als nicht praktisch bewährt, und man experimentirt gegenwärtig mit neuem Pflasterungsmaterial. Durch fast alle Straßen der Stadt laufen oft mehrgleisige Schienenwege, welche von eleganten durch Pferde gezogenen Waggons (nicht von Dampf-Waggons à la H.) befahren werden. Fuhrwerke aller Art und Pferde sind in San Francisco außerordentlich zahlreich und die Straßen bis spät in die Nacht von ihnen belebt.
Die Geschäftshäuser sind meistens aus Steinen solide aufgeführt, die Läden darin, namentlich die der sehr zahlreichen Juweliere, überaus prächtig; die Bankgebäude sind wahre Prachtbauwerke und wurden ohne Rücksicht auf den Kostenpunkt aufgeführt. Die Mauern, Säulen etc. an dem soeben an der Californiastraße in untadelhaftem Stil vollendeten drei Stockwerk hohen Gebäude der „London- und San Francisco-Bank“ bestehen ganz aus Eisen; im Innern desselben ist eine so seltene Eleganz entfaltet worden, daß sich die Räumlichkeiten eines deutschen Bank-Etablissements im Vergleich damit geradezu armselig ausnehmen würden. Die im Gebäude angebrachten Uhren sind von unserem talentvollen hiesigen deutschen Uhrmacher H. Wenzel construirt worden. Durch comprimirte Luft, die von einer Centralmaschine durch Gummischläuche nach einer beliebigen Anzahl Uhren hingeleitet wird, werden die Zeiger derselben mit einer staunenswerthen Präcision ohne Uhrwerk gleichmäßig in Bewegung gesetzt, – eine Einrichtung, welche dem Talente ihres Erfinders zur hohen Ehre gereicht.
Die Hôtels in San Francisco – das Occidentalhôtel, Lickhouse, Cosmopolitanhôtel, Grandhôtel etc. – sind den berühmten Hôtels in den östlichen Unionsstaaten vollkommen ebenbürtig. Das im Bau begriffene Palace-Hôtel wird einen Bodenraum von vierundneunzigtausendsechshundert Quadratfuß bedecken; es soll eine Höhe von sechs Stockwerken erhalten, wird im Hofraume eine Reihe von prächtigen Bazars und Arcaden haben und gegen zwei Millionen Dollars kosten. Dasselbe soll mit wahrhaft fürstlichem Luxus ausgestattet und das prächtigste Hôtel der Welt werden.
Gebäude, die hunderttausend bis eine halbe Million Dollars und mehr kosten, springen in allen Stadttheilen wie Pilze aus der Erde. Eine ganz neue Straße, die „Montgomery-Avenue“, wird gegenwärtig quer durch die Stadt gebaut, um eine bessere Verbindung zwischen den südlichen und nördlichen Stadttheilen [465] herzustellen. Die Kearny-, die California-, die Montgomery- und andere Straßen würden jeder Stadt der Welt zur Zierde gereichen. Allerdings stehen neben vielen Prachtbauten heute noch oft unansehnliche Holzhäuser, wie dies in allen amerikanischen Städten zu sehen ist (aber keine Strohhütten oder Schweineställe, wie Hildebrandt phantasirt hat), die aber allmählich entfernt und soliden Steinbauten Platz machen werden. In dem Geschäftstheile der Stadt dürfen gar keine Holzhäuser mehr aufgestellt werden. Die Privatwohnungen in den äußeren Stadttheilen sind dagegen meistens aus Holz aufgeführt, aber von außen so gemalt und cementirt, daß sie eleganten Steingebäuden täuschend ähnlich sehen. Das Innere der Wohnungen der reicheren San Franciscaner ist oft mit verschwenderischem Prunke eingerichtet. Die Stadt besitzt Wasser- und Gasleitungen wie jeder moderne Ort. Die öffentlichen Markthallen sind ein Muster von Reinlichkeit und erschließen in ihren weiten Räumen dem Besucher ein überraschendes Bild von dem Productenreichthum des gesegneten Californien.
Die hiesige Feuerwehr ist eine der besten in der Welt. Durch die ganze Stadt laufen telegraphische Feueralarm-Leitungen. Es ist eine wahre Freude, binnen wenigen Minuten nach einem vom Centralsignalthurme gegebenen Feuer-Alarm, welcher durch leicht verständliche Glockenschläge die Lage einer ausgebrochenen Feuersbrunst Jedermann in der Stadt sofort klar macht, die prächtigen Dampffeuerspritzen, mit den langen Leiterwagen und Schlauchkarren hinterdrein, nach der Richtung des Feuers durch die Straßen jagen zu sehen.
Einen unerfreulichen Gegensatz zu den eben geschilderten Stadttheilen bildet das hiesige Chinesenviertel. In allen Straßen sieht man die bezopften Asiaten in Menge auf- und abwandern, aber nur im engern Chinesenquartier vermag man sie in ihrer charakteristischen nationalen Gesammtheit zu erblicken. Dasselbe bildet mit seinen wunderlichen asiatischen Bestandtheilen, den Tempeln und Theatern, den Spiel- und Opiumhöhlen, den unbeschreiblichen Kellerwohnungen, wo die bezopften Himmlischen wie Schweine zusammengepfercht wohnen, den Läden voll von tatarischem Krimskram und der in den Straßen sich drängenden ausländischen Bevölkerung für den Fremden das Interessanteste in San Francisco. Aber wir San Franciscaner, welche diese unsaubere Chinesenwirthschaft tagtäglich vor Augen haben, interessiren uns wenig für den tatarischen Firlefanz und empfinden um so mehr die Ungerechtigkeit der Bundesregierung, welche einem moralisch ganz verkommenen Volke die unbeschränkte Freiheit giebt, sich wie die Hornissen bei uns einzunisten und wie eine Pestbeule unsere blühende Goldstadt gleichsam zu vergiften, einem Volke, das in allen seinen Sitten und Gebräuchen unseren Anschauungen zuwider lebt und handelt, das sich mit dem Wohl und Wehe dieses Landes gar nicht identificirt, einem Volke, das nur hierher kommt, um „Geld zu machen“, und dessen Lüderlichkeit und Unsauberkeit unsere Jugend verdirbt. *
Daß es außer den räuberähnlichen Wohnungen der Chinesen hier in San Francisco noch eine Menge von verrufenen Localen giebt, wird gewiß Jeder begreiflich finden. Aber welche große Seestadt hat dergleichen nicht in Hülle und Fülle aufzuweisen? Ein ordentlicher Mensch kommt mit dem wüsten Leben in solchen Spelunken nicht in Berührung. Im Allgemeinen sind die Bewohner dieser Stadt ordnungsliebende Menschen, welche ihren Geschäften mit großem Fleiße nachgehen. Schon in der entfernten Weltlage dieses Platzes ist die Ursache zu finden, daß, namentlich in früheren Jahren, meistens unternehmende Männer hierher strömten. Wer heute mit der Idee nach San Francisco kommt, dort eine einfältige Nomadenbevölkerung zu finden, unter der er leicht seinen Geist leuchten lassen kann, irrt sich gewaltig. Wie ich bereits in meinem in der Gartenlaube (Nr. 9, 1873) veröffentlichten „offenen Antwortschreiben“ gesagt habe, ist es nichts Seltenes, hier einen deutschen Handlungsdiener oder Halbgelehrten, der die San Franciscaner „über den Löffel barbiren“ wollte, als Schüsselwascher in einem Restaurant oder als Kellner und Stiefelputzer wieder zu finden, in welcher Stellung er Studien über Hildebrandt’sche Aufzeichnungen machen kann. Die Reichthümer San Francisco’s sind keine ererbten, sondern meistens im Schweiße des Angesichts und durch Thatkraft des Geistes sauer verdient. Daß Minenspeculationen und gewagte Unternehmungen unter einer so thatlustigen Bevölkerung, wie die hiesige, gang und gäbe sind, liegt in der Natur des Menschen und der Verhältnisse. Hat doch sogar das ruhige Deutschland seine „Gründer“ und andere Speculanten ähnlicher Farbe in Menge.
Das gesellschaftliche Leben kann in einer großen kosmopolitischen See- und Handelsstadt, wie San Francisco, natürlich nur ein außerordentlich mannigfaltiges sein. Selbstverständlich fehlt es hier nicht an Theatern und Concertsälen; daß aber die Aufführung von classischen Dramen und classischer Musik in San Francisco stets die vollsten Häuser macht, möchte manchem Auswärtigen neu sein. Die Deutschen haben hier ihre zum Theil prächtig eingerichteten Clublocale, die Amerikaner und andere Nationalitäten ebenso. Es giebt in dieser Stadt wissenschaftliche und gesellige Vereine aller Art, Bibliotheken, Logen, Gesang- und Turnvereine etc. in Menge. Im Frühling und Sommer ziehen die deutschen Gesellschaften und Militärcompagnien allsonntäglich mit klingendem Spiele und wehenden Bannern durch die Hauptstraßen nach den großen Dampffähren, welche die Verbindung zwischen San Francisco und den jenseits der Bai liegenden Landstädten Oakland, Alameda, Saucelito etc. vermitteln (betrug der Personenverkehr zwischen den beiden Ufern der Bai doch im vergangenen Jahre zwei Millionen Köpfe!), um dort im Freien Pickenicks abzuhalten oder sich sonst nach vaterländischer Sitte zu amüsiren, und Tausende von allen Nationalitäten besuchen den Woodward’s Garten, das berühmte Cliffhaus, die reizendsten Parks an der südlichen Pacificbahn und andere Vergnügungsorte.
Im Allgemeinen sind die San Franciscaner ein lebenslustiges Volk, aber selten kommt es hier bei öffentlichen Festlichkeiten zu Reibereien oder gar blutigen Schlägereien zwischen den verschiedenen Nationalitäten, Excessen, welche leider in New-York und anderen östlichen Städten der Union nichts Seltenes sind. Was die Sicherheit des Lebens und des Eigenthums anbetrifft, so kann sich wahrlich Niemand hier über gefahrdrohende Zustände beklagen. Die Schießaffairen, welche hier öfters vorkommen, finden fast ausschließlich unter schlechten Subjecten statt; ich wüßte auch nicht Einen von meinen sehr zahlreichen Bekannten zu nennen, dem je auf solche Weise ein Unheil widerfahren sei. Die Polizei unserer Stadt ist vorzüglich und macht den Spitzbuben „die Hölle heiß“. Es ist eine große Seltenheit, daß in San Francisco ein Verbrecher unbestraft entkommt. Oeffentliche Spielhöllen giebt es in Californien schon lange nicht mehr, dagegen deutsche Bierhäuser, wo man gemüthlich ein Glas schäumenden Gerstensaft trinken kann, in Hülle und Fülle.
Die Gastfreundschaft in San Francisco ist nicht minder wie die Freigebigkeit seiner Bewohner sprüchwörtlich geworden. Ich brauche in Bezug darauf nur an die großartigen Leistungen der hiesigen Deutschen während des letzten deutsch-französischen Krieges, welche Trost und Segen in Tausende von Wohnungen bedürftiger Landsleute gebracht haben, so wie an den Empfang der „Hertha“ zu erinnern. Was den gesellschaftlichen Umgang anbelangt, so kann sich hier Jeder leicht einen ihm zusagenden Kreis von Bekannten wählen; ein gebildeter Mann findet überall in dieser Stadt in Familien Zutritt und ist, auch uneingeladen, stets ein willkommener Gast. Nichts spricht mehr für die Annehmlichkeit des hiesigen Lebens als die große Anhänglichkeit der europäischen Bewohner San Francisco’s an diese ihre neue Heimath. Mir gefällt es in San Francisco mit seinem herrlichen, wenn auch etwas windigen Klima und unter seinen Bewohnern mit den offenen, warmen Herzen (trotz Hildebrandt!) ausgezeichnet, und ich bin wohlzufrieden damit, daß mich das Schicksal auf diese gastliche Scholle an der Schwelle des „goldenen Thores“, an die dem Vaterlande freilich so ferne Küste des Stillen Meeres geworfen hat.
- San Francisco, am 10. April 1874.
* Wer sich für die Chinesen besonders interessirt, den verweise ich auf einen von mir im „Globus“ (Band XXIV, 1873, Nr. 15, 16 u. 17 veröffentlichten Aufsatz „Die Chinesen in San Francisco“, worin ich unsere asiatischen Freunde eingehend behandelt habe.
Viele Menschen lieben es bekanntlich, ihren persönlichen Muth vorzüglich bei Gelegenheiten zu zeigen, die nicht besonders gefahrvoll sind, und dieser Muth wächst häufig in dem Grade, in welchem die Gefahr abnimmt. Ich bilde mir nicht ein, für meine Person eine Ausnahme von dieser „Regel“ zu machen, sondern gestehe gern und muthig ein, daß das Stückchen Courage, das mir anhaftet, sich am wohlsten „außer Schußweite“ fühlt. Es mag dieser Umstand der Grund sein, daß ein Jagdvergnügen als solches mich niemals sehr sympathisch berührte, während gar eine Jagd auf wilde Thiere mein Herz sicher nicht aus Passion und Ungeduld stärker klopfen macht. Wenn ich trotzdem während meines Besuches bei Herrn W., dem holländischen Controleur in der Regentschaft Koedoes (sprich Kudus) auf Java, wiederholt in der Lage war, die Büchse zu handhaben, so schreibe ich diese Thatsache theils der Langenweile zu, in welche nach der oft im Dienste abwesende Beamte zurückließ, theils der Aussicht auf „billige“ Beute. Stundenlang durchstreifte ich manches Mal die das Gehöft umgebenden Wälder, während mein inländischer Diener Odin als Büchsenlader, gewöhnlich auch noch einige andere Javaner als Beutesammler mich begleiteten. Hauptsächlich waren es wilde Pfauen, deren schönes Gefieder und unschönes Gekrächze mich zum Schusse reizten. Einst ließ ich mich auch verleiten, einen kleinen schwarzen Affen, mit welcher Art die dortige Gegend überreich bedacht ist, vom Baume zu schießen. Doch bereute ich diesen Schuß aufrichtig. Das überaus klägliche, menschenartige Geschrei des tödtlich verwundeten Thieres, das auf mich den Eindruck machte, als hätte ich ein halberwachsenes Kind getroffen, nicht weniger auch die inständigen Bitten meiner Begleiter, hielten mich ab, je wieder auf die Vorfahren kommender Menschengenerationen zu feuern. Die Malayen wie die Javaner sind der festen Ansicht, daß die Seelen der Menschen, die sich während des Lebens belohnungswerth betragen, nach dem Tode in Affenkörper überziehen, und je nachdem das menschliche Betragen gut, besser oder vorzüglich ist, wird der betreffenden Seele das Fell eines mehr oder weniger bevorzugten Affen angewiesen. – Ein Hauptjubel war es stets für meine muhamedanischen Freunde, wenn ich Gelegenheit fand, ein wildes Schwein, das unvorsichtig meiner Schießwaffe so nahe kam, daß ein Nichttreffen kaum möglich gewesen wäre, vom Leben zum Tode zu befördern. Nicht nur werden diese Thiere aus religiöser Ueberzeugung gehaßt, sondern auch deshalb, weil sie mit Recht als die Hauptverwüster der Reisfelder zu betrachten sind. Unter einem javanischen Wildschwein stelle man sich aber keinen Eber vor, wie solcher gelegentlich in Mittel-Europa – eine waidmännische Heldenthat! – erlegt wird, und dessen zubereiteter Kopf, mit einer Citrone geziert, dem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammenlaufen macht. Das javanische Wildschwein ist klein und nur ausnahmsweise muthig.
Es sei mir hier vergönnt, eine Art Treibjagd auf wilde Schweine zu schildern, welche der javanische Fürst (Wedono), welcher dem Bezirke des Controleurs W. mit vorstand, veranstaltete – ja, dem fremden Reisenden zu Ehren veranstaltete, wie man mir schmeichelte. Diese Ehre war herzlich billig, weil alljährlich ein derartiger Feldzug zum Schutze für die Reisfelder vorbereitet wird, gleichviel ob ein „fremder Reisender“ anwesend ist oder nicht. Der Wedono holte uns, das heißt meinen Wirth und dessen Gast, eines Morgens mit eigenen Reitpferden und mit einem Ehrengefolge berittener Javaner zu der Jagd ab. Schon am Abende vorher waren gegen tausend javanische Kulis meilenweit im Kreise postirt worden, welche mit Sonnenaufgang ihren Lärm begannen und sich mit diesem allmählich einer Vertiefung näherten, welche, durch einen hohen Palissadenzaun eingehoft, den Schweinen wohl das Hineinlaufen, nicht aber das Hinauslaufen gestattete. In der Mitte der Einzäunung war ein Brettergerüst, eine Art Plattform, errichtet, welches wir zwei Europäer, der Wedono und eine Anzahl Unterfürsten, an welchen das aristokratische Java so reich ist, mittelst einer Leiter erklommen. Von dort aus erlegten wir die wilden Schweine, welche, von dem Lärme der Treiber versorgt und eingeengt, in die Einzäunung getrieben waren und sich zu unseren Füßen vergebens nach einem Auswege abmühten. Und nun muß ich erröthend gestehen, daß ich mich an dem Abmetzeln der Thiere mitbetheiligte. Kein Schuß wurde gethan, und dennoch lagen nach Verlauf von zwei Stunden vierundachtzig Schweine zerstückt, verstümmelt, theils todt, theils sterbend in ihrem Blute. Die Arbeit wurde mit Bambusspeeren vollbracht, welche, zugespitzt, ein scharf durchdringendes Wurfgeschoß bildeten. Viele Hundert solcher Speere waren für uns auf die Plattform gelegt worden; in voller Sicherheit der eigenen Person richteten wir damit die Thiere auf das Unbarmherzigste zu. Besonders eifrig zeigten sich dabei die Javaner, die im Jagdeifer jauchzten und sprangen, während Herr W. und ich unsere Thätigkeit darauf beschränkten, den Schwerverwundeten das Sterben zu erleichtern. Die Thatsache, daß die Thiere wirklich einen großen Gemeinschaden für die Früchte der Felder bilden, war für mich der einzige versöhnende Gedanke bei dieser Schlächterei.
Den in der Umgegend wohnenden Chinesen war die Jagd nicht minder willkommen wie den Javanern selbst. Während diese aber das Schweinefleisch verachten, betrachten es jene als eine der größten Delicatessen und sandten auch uns Tags nach der Jagd wunderlich geformte Ferkelpasteten, deren Gewürz mir jedoch das Verspeisen verleidete.
Doch genug von dem Kleinwild.
Nach der Siesta eines nicht allzu schwülen Nachmittags war ich mit Odin nach einem benachbarten Dorfe (Kampong) geritten, in dessen Nähe sich, nach Aussage des Dorfhäuptlings, ein Schwarm jener Geschlechtsart von Fledermäusen aufhalten sollte, die ihrer Größe wegen den Namen „fliegende Hunde“ erhalten haben. Zu Tausenden hängen sie sich beim Anbruche des Tages mit ihren Füßen an die Baumzweige, das Laub rings vollkommen bedeckend und zerstörend, und erst gegen Abend verlassen sie diese wunderliche Stellung, um in Masse ihren Nahrungsstreifzug, meistens dem Meere zu, anzutreten, oder besser anzufliegen. Der kommende Morgen findet sie gewöhnlich an derselben Stelle und in derselben Position, die sie des Abends aufgegeben haben.
Im Dorfe angelangt, nahm ich, da der Häuptling leider abwesend war, einen Führer, der uns die mit der lebendigen Frucht behafteten Bäume zeigen sollte. Aber sei es, daß der Javaner, gegen seine Meinung, nicht richtig orientirt war, sei es, daß die fliegenden Hunde ihren Platz thatsächlich verändert hatten, kurz, es gelang uns nicht, das Gesuchte zu entdecken, obgleich wir tief in das Gebüsch drangen und dieses nach verschiedenen Seiten durchstrichen. Wir waren gegen zwei Stunden unterwegs gewesen, hatten, wenn auch nicht den Zweck erreicht, doch vieles für mich Interessante in der herrlich üppigen Tropenwaldung, die ich nicht mit dem Begriffe eines „Urwaldes“ verwechselt wissen möchte, gesehen, und schon gedachte ich den Rückweg nach dem Kampong anzutreten, als unser Führer mit dem Aufschrei: „Ein Tiger, ein Tiger!“ sich blitzschnell umwandte und davonlief – mein Diener Odin ihm nach, mich zurücklassend.
Sicherlich wäre auch ich im ersten Impuls des Schreckens mitgelaufen, hätte ich den Ausruf richtig begriffen. Meine mangelhafte Bekanntschaft mit der javanischen Sprache verhinderte dies. Wohl merkte ich, daß den Beiden etwas Besonderes aufgefallen sein mußte, hatte aber nicht den Glauben an eine directe Gefahr, denn ich konnte nicht annehmen, daß mich mein erprobter (allerdings nur beim Kofferpacken und nicht in Gefahren erprobter) Diener allein zurücklassen würde. In der Meinung, daß die Javaner irgend ein seltenes Insect für meine Botanisirtrommel verfolgten (wie ich Solches einige Male vorher angeordnet hatte) und in Bälde zurückkehren würden, lehnte ich mich wartend an einen Baum. Ich befand mich auf einem nur spärlich bewachsenen Platze, dessen Größe wohl gegen sechszig Schritte im Durchmesser betrug und der von einem dichten Gebüsche umgeben war, in welchem die beiden braunen Gestalten rasch verschwunden waren. Seitwärts von mir flogen krächzend, kleine Kreise ziehend, eine Anzahl schwarzer Vögel dicht über den Spitzen der Bäume; ihr Anblick erinnerte mich unwillkürlich an die aaswitternden Feldkrähen der Heimath.
Plötzlich schreckte mich ein halblautes metallisch klingendes [467] Brüllen, das sich wie ein Gähnen dehnte und in geringer Entfernung von mir erschallte, elastisch empor. Mit einem Schlage erklärte ich mir das Benehmen der Javaner und das Mißliche meiner Lage. Den Ersteren jetzt noch nachzulaufen, war doppelt unthunlich, und demnach zwang mich die Gefahr zu einem schnellen Entschlusse. Auf dem freien Platze durfte ich nicht bleiben, – mich im Gebüsche verstecken, hieße meinen Körper möglicher Weise in den Weg des Tigers legen, – den Kampf mit einer Bestie aufnehmen, von welcher behauptet wird, daß sie Menschensteaks mit demselben Wohlbehagen verzehre wie der Mensch saftige Beefsteaks, schien mir durchaus precär, – so kletterte ich denn, einer Inspiration folgend, möglichst eilig auf den Baum, unter dessen Zweigen ich gestanden hatte. Der Baum, blätterreich und mit breiten Aesten versehen, gewährte einen leidlich guten Sitz, zu welchem ich meine Doppelbüchse mit hinaufgezogen hatte, deren erster Lauf schon vorher entladen, während der andere noch schußfähig war. Munition hatte ich keine bei mir, denn diese war in Begleitung eines einläufigen Gewehres mit meinem „Oberbüchsenlader“ entflohen.
Ich mochte mit stark erregten Pulsen wenige Minuten auf dem Baume gesessen haben, Minuten, die aber genügten, ein Heer von Besorgnissen, Vermuthungen und Plänen durch meinen Kopf ziehen zu lassen, als ein Knistern von trockenen Reisern meinen Blick nach einer Seite des Platzes lenkte, aus welcher gleich darauf mit phlegmatischen Schritten, scheinbar faul oder ermüdet, ein mächtiger Tiger trat, dessen Größe und dessen gestreiftes Fell ihn als einen „Königstiger“ kennzeichneten. Nicht weit über seinem Kopfe flogen die oben erwähnten Vögel umher, ohne daß dadurch das stolze Thier irgendwie belästigt zu werden schien. Die Vögel, durch deren Gebahren der Javaner die Anwesenheit des Tigers zuerst bemerkt hatte, verfolgen, wie ich später hörte, diesen oft stundenlang, um Gelegenheit zu haben, sich an den Ueberresten der Mahlzeit zu laben, welche er verzehrt. Ich bekam die linke Seite der prachtvollen Gestalt voll zu Gesicht. Mein Muth schwoll bedeutend, als ich mich der Thatsache erinnerte, daß ein bengalischer Königstiger keine Bäume erklettert, sondern diese Manipulation den ihm untergeordneten Racen der gefleckten kleineren Tiger, Panther, Jaguars u. dgl., höchstens noch einem erschreckten Menschenkinde überläßt.
Dieses Gefühl der momentanen Sicherheit machte mich übermüthig, und ohne mir genauere Rechenschaft zu geben, was ich that, legte ich den Lauf meiner Büchse fest an den Baumstamm, zielte und drückte in dem Augenblicke ab, in welchem der Tiger die gegenüberliegende Seite des Platzes erreicht hatte und in das Gebüsch dringen wollte. Ein kurzes schmetterndes Brüllen, dessen furchtbare Schärfe meinen Athem stocken machte, ein mächtiger Satz des Thieres in das Buschwerk hinein, knackendes Zertreten trockener Aeste, das Aufkreischen der erschreckten davonfliegenden Vögel, die lärmende Flucht einiger Affen, die auf den benachbarten Bäumen ihr Wesen getrieben hatten – dies Alles war das Werk einiger Secunden, und dann folgte eine unheimliche Stille, in welcher ich deutlich mein Herz gegen die Brustwand klopfen hörte. Der Pulverdampf verzog sich langsam aufwärts durch die von keinem Winde bewegten Blätter des mich tragenden Djatibaumes. Von dem Tiger war keine Spur zu sehen. Doch war es mir nach einiger Zeit, als hörte ich ein schnell vorübergehendes dumpfes Stöhnen und ein scharrendes Geräusch aus der Gegend, in welcher das Thier meinen Augen entschwunden war. Ich wußte sicher, daß meine Kugel einen festen Gegenstand, ja den Tiger selbst erreicht hatte; dennoch zweifelte ich mit dem einem Jäger eigenen „Instincte“, daß die Herzgegend der Gestalt, auf welche ich aus einer ungefähren Entfernung von fünfzig Schritt gezielt hatte, getroffen worden war.
Meine Vorsicht überwog meinen Beuteeifer bei Weitem, und hielt mich von einem Aufgeben meiner Position um so dringender ab, als ich der Meinung war, aus der Ferne ähnliche Laute zu vernehmen, wie solche mich zur Turnübung des Kletterns veranlaßt hatten. Vielleicht war dies nur ein Nachklang der erstgehörten „Musik“, eine akustische Täuschung, die mich beschäftigte. Aber sicherlich hatte ich nicht bemerkt, wie der meiner Ansicht nach verwundete Tiger, das trockene Laubwerk durchbrechend, meinen Observationsposten geflohen war. Ich glaubte ihn noch in der Nähe – und wie so oft absonderliche Begebenheiten auch absonderliche Ansichten erzeugen, so bildete ich mir ein, er lauere im nahen Verstecke auf seinen Mann.
Wenige Wochen vorher war mir erzählt worden, wie ein Tiger tagelang unter einer Kokospalme, auf welche ein Malaye vor ihm geflüchtet war, wartend gelegen hatte. Ruhig, ohne sich zu regen, die Augen ununterbrochen auf sein vermeintliches Opfer richtend und mit grausamer Ueberlegung den Moment abpassend, in welchem die Erschöpfung und der Hunger den Menschen in seine Klauen bringen mußte, wurde der Belagerer von einem Haufen Inländer verjagt, welche das verzweifelte Hülfegeschrei des Belagerten endlich herbeigeführt hatte. Warum sollte ich nun weniger begehrenswerth sein, als jener Malaye? Oder weshalb sollte der eine Tiger weniger schlaue und rachsüchtige Gedanken hegen als ein anderer? Diese Fragen traten mit um so niederschlagenderer Wirkung auf mich zu, weil die bereits begonnene Abenddämmerung mit der in den Tropen eigenthümlichen Hast in nächtliche Dunkelheit überzugehen anfing. Je mehr dies der Fall war, desto deutlicher glaubte ich die tückisch blitzenden Augen der Bestie in dem Gebüsche zu erkennen, desto häufiger wähnte ich Geräusche, wie Kratzen und Schnaufen, zu vernehmen. Es drängte sich mir die Ansicht auf, daß es für meinen Körper reichlich so vortheilhaft sei, auf einem Baume, als in dem Magen eines Raubthieres zu übernachten, ganz abgesehen davon, daß der Tiger weder als ein Walfisch, noch ich als ein Jonas debütiren konnten.
Mit Sicherheit war vorauszusehen, daß mein über das Ausbleiben seines Gastes besorgter Wirth am frühen Morgen nach den etwaigen Ueberresten meiner Gebeine ausschauen und mich erlösen würde. Ich suchte mir den bequemsten Ast zum Nachtlager aus, schlang die seidene Schärpe, welche meine Inexpressibles zu umarmen pflegte, theils um meinen Körper, theils um den Baumstamm selbst, um ein durch etwaiges Einschlafen verursachtes Hinunterfallen zu verhüten, und fügte mich dann mit der besten Miene von der Welt in das Unvermeidliche. Man erlasse mir den Versuch, durch eingehende Beschreibung diese Nacht nochmals zu durchleben. Es genüge die Bemerkung, daß ich nicht schlief, daß ich unzählige Male meine Stellung zu wechseln und durch stetes Blätterkauen meinen trockenen Gaumen zu erfrischen suchte, daß ich oftmals erschreckt wurde durch unerklärliche Laute über mir und unter mir, daß mein Kampf mit Insecten, besonders mit Ameisen, keinen Waffenstillstand zuließ, und daß die Lebensvorsätze, welche in jenen langen Stunden in mir keimten, für die Zukunft im Allgemeinen, für die nächstkommenden Tage im Besonderen nichts zu wünschen übrig ließen. Weder die durch das letzte Erdbeben verursachten Trümmer von Djokdjokarta, noch der berühmte Harem des Sultans jenes Platzes, weder die köstlichen Mangostanfrüchte von Mitteljava, noch die Ruinen von Borobodor sollten im Stande sein, mich weiter nach dem Inneren der Insel zu locken, nahm ich mir vor. Eher an den Küstenplätzen die Gefahr des gelben Fiebers an sich vorüberziehen lassen, als in dem Binnenlande eine sichere Beute der Raubthiere werden!
Kaum begann das erste Morgendämmern den Himmel aufzuhellen, so hörte ich in der Entfernung Schüsse und Rufe, die, meinem Baume sich nähernd, bald von mir erfolgreich beantwortet wurden. Kurze Zeit darauf sah ich einen Schwarm Javaner, in ihrer Mitte Freund W., auf dem Platze versammelt, mich mit freudigem Zurufe begrüßend. Da sich bei dieser lauten Affaire der Tiger durchaus nicht bemerkbar machte, so ließ ich mich, nicht ohne Mühe, zur Erde nieder, um sofort einige Minuten lang meine steifen Glieder auf dem Boden auszustrecken.
Ich war nicht getäuscht worden in der Annahme, daß sich der Tiger während der Nacht in meiner Nähe aufgehalten hatte, denn man fand ihn wirklich – todt. Meine Kugel hatte zwar das Herz verfehlt, aber, durch einen mir wohlwollenden Zufall gelenkt und gleichsam zur Verhöhnung meines Schützentalents, den Kopf dicht hinter dem Ohre so glücklich durchbohrt, daß der Tod beinahe augenblicklich eingetreten sein mußte. Da ich bei allem Glücke den Hauptschaden in diesem für meine Knochen so denkwürdigen Abenteuer davongetragen hatte, so ließ naturgemäß der Spott nicht auf sich warten. Herr W. meinte, ich sollte nur Muhamed danken, daß die fliegenden Hunde mein Nachtquartier nicht auch zu dem ihrigen gemacht hätten, denn dann wäre ich den Vampyren rettungslos verfallen gewesen. Die [468] beiden javanischen Hasenfüße vertheidigten ihr gestriges Davonlaufen mit der ernsthaften Bemerkung, daß sie sicher geglaubt hätten, der Tiger würde mir nichts anhaben, weil ich eine holländische Beamtenmütze mit goldbordirtem Streifen (die des Herrn W.) auf dem Kopfe trug, welches gesetzliche Abzeichen ja von allen Bewohnern Javas respectirt würde.
Das prachtvolle Fell des Königstigers maß von der Kopfspitze bis zum Schwanze über neun Fuß und befindet sich zur Zeit in dem Hause meiner Eltern, während das Kopfskelet dem Museum der Academy of natural science in der Hauptstadt von Minnesota einverleibt worden ist. Die Regierungsprämie von fünfzig Gulden, die in Java Jedem zusteht, der einen Tiger tödtet, ließ ich den Bewohnern des Dorfes übermitteln, in dessen Bezirk das Thier erlegt worden war.
Jener Schuß vom Baume war der letzte, den ich bis zu dieser Stunde begangen habe.
Die große deutsche Entdeckung der Einheit aller Naturkräfte, des Gesetzes, daß keine Kraft[WS 1] jemals verloren geht, sondern sich nur, wenn sie zu verschwinden scheint, in eine andere verwandelt, hat in den Augen der Physiker die alten Sonnenanbeter wieder zu Ehren gebracht; denn nunmehr wissen wir, daß nicht nur alles organische Leben unserer Erde, sondern auch jede mechanische Bewegung der unbelebten Stoffe auf derselben von den Sonnenstrahlen geweckt werden muß. Wenn der Gluthball unseres Centralkörpers im Osten emporsteigt, erwacht das Naturleben, welches ohne seine Strahlen nicht gedacht werden kann, und jubelt ihm entgegen. An jedem Orte, den seine durchdringenden Lichtblicke treffen, steigt ein Strom erwärmter Luft in die Höhe, um sich als frische Brise, die unsere Schiffe und Windmühlen treibt, oder als wilder Orcan, der Städte und Landstrecken verwüstet, in die weniger erwärmten Regionen zu ergießen.
An den Oberflächen der Meere verdunsten täglich ungeheure Massen Wasser im Sonnenscheine, um mit der erwärmten Luft emporzusteigen und den ewigen Kreislauf von Neuem zu beginnen, in welchem es, wie der Dichter sagt, der menschlichen Seele gleicht. Nah oder fern vom Ufer fällt es als Nebel, Regen, Schnee oder Hagel zum Boden nieder, nur in letzterm Falle uns den ungeheuren mechanischen Effect des gehobenen Wassers in seiner vernichtenden und zertrümmernden Wirkung sichtbar machend. Außerdem sehen wir nur noch von derjenigen Feuchtigkeit, die sich an den Gebirgen, den eigentlichen Condensatoren der großen Dampfmaschine Erde, niederschlägt, mehr oder weniger unmittelbar die gewaltige Arbeit des von der Sonne gehobenen Wassers, theils in Gestalt thälerausschleifender Gletscher, denen kein Hinderniß widerstehen mag, theils in Gestalt reißender Bergströme, die gerade so wie jene centnerschwere Blöcke in’s Thal wälzen und ungeheure Massen des Berglandes jahraus, jahrein in die Niederung schlemmen.
Aber nicht weniger gewaltig tritt uns die mechanische Arbeit der Sonne entgegen in den Organen der lebenden Wesen, die sehnsüchtig nach ihr emporschauen und zum Theil so fest an ihrem Lichte hängen, daß sie sich, ihrem Scheinwege am Himmelsgewölbe folgend, immerfort herumwenden, um nur keinen ihrer Blicke zu verlieren.
Die Sonnenkraft, welche täglich gebraucht wird, um die Blumen und Blätter allerwärts zu öffnen und zu schließen, ist in ihrer Summirung gewiß sehr respectabel, aber verschwindend gegen die Kraftmasse, welche erfordert wird, um das Wasser von der Wurzel bis in die Kronen der Bäume, wo es centnerweise im warmen Sonnenstrahle verdunstet, hinaufzupumpen. Man hat berechnet, daß sieben Pferde den Tag über arbeiten müßten, um die in dieser Zeit demselben unentbehrliche nöthige Feuchtigkeit in den Wipfel eines mäßigen Eichbaumes zu schaffen. Man überschlage danach, welche Wasserträgerarbeit die Sonne täglich in einem großen Walde verrichtet! Aber die Hebung der Millionen Centner Wasser ist immer nur ein Theil ihrer Arbeit; das Wachsen der Blätter und des Stammes absorbirt ohne Zweifel einen viel größern Kraftaufwand. Abgesehen von den Blättern und Früchten, welche jeder Herbst verzehrt, können wir die mechanische Kraft, welche in der Holzbildung aufgespeichert wurde, ungefähr, freilich nicht ohne bedeutende Verluste, wiedererhalten, wenn wir das Stammholz zur Heizung einer Dampfmaschine verwenden. Ein kleiner Bruchtheil der Sonnenarbeit früherer Aeonen liegt in den ungeheuren Kohlenfeldern des Erdinnern verborgen. Dem Kohlenstoffe, den die Sonne in unabsehbaren Zeiträumen aus der Kohlensäure des Luftkreises abschied, verdanken wir heute die Entlastung unserer Hände durch die Dampfkraft, unsere Reiseschnelligkeit zu Land und Wasser. Es ist die Sonne und immer die Sonne, welche für uns arbeitet.
Aber auch in uns selber, in den Pferden, die unsere Wagen, und dem Ochsen, der unsern Pflug zieht, glüht und arbeitet nur das Sonnenfeuer. Alle Kraft, die wir entfalten, empfangen wir aus der Nahrung, welche die Sonne emporsprießen ließ, unmittelbar, wenn wir Vegetabilien, mittelbar, wenn wir Fleisch, Milch oder Eier genießen. Es ist wahr, Mensch und Thier können anscheinend des Anblicks der Sonne an den Polen halbe Jahre lang entrathen, ohne unterzugehen, aber sie können es doch nur, weil die Sonne im anderen Halbjahre Nahrung für die lange Nacht aufspeichert oder in anderen glücklicheren Regionen wachsen und von den Strömungen des Meeres herbeiführen läßt. Wie ganz anders lesen wir, wenn wir uns diesen Zusammenhang der Naturkräfte klar gemacht haben, die Inschrift jener Personification der Natur in dem Bilde der vielbrüstigen Diana zu Ephesus: „Tiefes Dunkel ist mein Dunkel; zur Sonne blick’ auf, die allein Leben giebt strahlend!“ Gewiß, wir können es den Urvölkern nicht verdenken, daß sie überall die Sonne als das Symbol der Gottheit verehrten, am wenigsten den Bewohnern warmer Striche, die als echte Sonnenbrüder diesem Gestirne alle Arbeit und Sorge für ihren Unterhalt überlassen, welche die Arbeit ihres Lebens gethan haben, wenn sie ein paar Fruchtbäume für die Enkel pflanzen.
Und doch, wie wenig fangen wir von der unendlichen Kraftausströmung der Sonnenstrahlen auf! Das Pünktchen im All, welches wir Erde nennen, erhascht davon im Fluge vielleicht den Bruchtheil eines Billionstel. Alles Andere strömt in den weiten Weltraum. Ja, von dem Wenigen sogar strahlt vielleicht die größere Hälfte Nachts, wenn die Sonne verschwunden ist, in den Weltraum zurück, zum Mindesten in den unbewölkten Nächten, die im Durchschnitt weit in der Majorität sind. Und von dem Reste der Sonnenarbeit, wie wenig wissen wir für uns zu verwerthen! Es ist kein Zweifel, wir könnten Alle auf Divanen liegen, ohne den Finger zu rühren, wenn wir die Sonnenkräfte auszunützen verständen. Ich will nicht sagen, daß ein arbeitsloser Zustand irgendwie wünschenswerth wäre, aber wahr ist es, daß wir die Sonnenkraft nur sehr entfernt ausnützen. Hier und da liegt am Bergstrome, welcher wie ein wildes Thier in’s Thal stürzt, eine Wassermühle oder ein Eisenhammer, und dann und wann trägt die Woge einige Holzflößen in’s Thal. Man hat berechnet, daß die Kraft des Niagarafalles allein mehr Arbeit im Jahre repräsentirt, als alle Maschinen der Welt zusammen. In den Niederungen, wo selbst der Fluß träge schleicht, fiel ehemals alle Arbeit dem Menschenarme und den Hausthieren zur Last. Es waren die Zeiten, wo man darauf sann, wie ein Perpetuum mobile zu construiren sei, welches unaufhörlich gehe und aus sich selber Kraft producire. Heute, wo wir genau wissen, daß von außen alle mechanische Kraft auf unsern Erdball kommen muß, daß selbst in dem Ticktack unserer Taschenuhr und in dem Klopfen unseres Herzens die Sonne nachwirkt, würden wir nicht mehr auf solche Träumereien verfallen.
Die Zahl der Maschinen, welche mehr oder weniger unmittelbar die Sonnenkraft unseren Bedürfnissen anbequemen, hat allmählich sehr zugenommen. Den Wassermühlen folgten die Windmühlen, welche, in dem wasserarmen Kleinasien erfunden, zuerst mit den Kreuzzügen in Europa bekannt wurden; die ältesten scheinen im Anfange des zwölften Jahrhunderts bei uns erbaut [469] worden zu sein – eine große Wohlthat für die Niederungen, die erst durch diese Erfindung wohnlich wurden, eine Erfindung, die nicht blos in Holland, sondern über ganz Norddeutschland Segen brachte. Ich erinnere an den alten Windmühlenberg bei Berlin mit seiner großen geflügelten Schaar. Es war zunächst nur die Arbeit des Zerkleinerns der Körnerfrüchte, zu der sich die Urvölker Reibesteine und Reibschalen bedienten, welche diese Maschinen dem Menschen abnahmen. Bald darauf übernahmen sie auch die Zerkleinerung und Bearbeitung anderer Substanzen, das Zersägen des Holzes, das Walken der Tuche, das Hämmern der Metalle und namentlich das Ausschöpfen des Wassers. Meermühlen, von Küstenströmungen getrieben, gesellten sich allmählich zu den Fluß- und Windmühlen.
Die Erfindung der Dampfmaschine verdunkelte den hohen Werth dieser mittelbaren Sonnenmaschinen, vielfach bis zu einem gänzlichen Aufgeben derselben. Die aufgespeicherten Brennmaterialien, in denen die Sonne der Vorzeit ihre Kraft condensirte, sind es, welche unsere heutige Industrie bewegen. Täglich vervollkommnet, nehmen uns diese Maschinen eine Arbeit nach der andern ab; schließlich giebt es keine Handarbeiter mehr, sondern nur noch Maschinenwärter. Wir wissen, daß der Kohlenbedarf der Erde, auch bei einer bedeutenden Steigerung unserer Industrie, die natürlich nicht ausbleiben wird, auf Jahrtausende gesichert ist. Sind die Lager der alten Welt erschöpft, so verheißt uns Asien, namentlich China, unermeßliche Vorräthe. Freiherr von Richthofen hat in neuerer Zeit auf seinen Reisen in China Kohlenlager von einer solchen Ausdehnung entdeckt, daß sie hinreichen würden, den Bedarf des ganzen Erdballs auf Jahrtausende zu decken. Aber auch der Schatz eines Millionärs erschöpft sich zuletzt, und es läßt sich erwarten, daß das Menschengeschlecht seinen Kohlenreichthum überleben werde. Es ist gewiß sehr müßig, sich schon jetzt mit der Frage zu befassen, was dann kommen werde, aber interessant ist diese Träumerei dennoch. Wie werden wir unsere Maschinen in Bewegung setzen, wenn wir gezwungen sind, die Menge des jährlich nachwachsenden Brennmaterials zur Heizung unserer Wohnungen für den Winter zu reserviren? Die Meisten werden dabei an einen Ersatz durch elektromagnetische Motoren u. dgl. denken, aber dieser Gedanke ist nicht stichhaltig. Denn auch in diesen Maschinen wirkt nur eine verwandelte aufgespeicherte Sonnenkraft (in dem Metalle schlafend, welches, durch Kohle reducirt, in den Batterien aufgelöst wird), und wenn wir keine verwandelte Sonnenkraft mehr zur Verfügung haben, so bleibt eben nichts Anderes übrig, als dieselbe direct zum Betriebe zu benutzen.
In der Regel hat man die Sonnenstrahlen nur zum Austrocknen gefärbter durchfeuchteter Stoffe, zur Salzgewinnung u. dgl. gebraucht und dabei natürlich Feuermaterial gespart; erst die Neuzeit hat sie zur Vollendung bildlicher Darstellungen angehalten, zum Zeichner gemacht. Man kann bekanntlich auch bei Magnesium-Licht photographiren, aber dann bedarf man vorher ein bedeutendes Quantum Kohle (d. h. verwandeltes Sonnenlicht), um das Magnesium darzustellen. Auch die Magnesium- oder elektrische Sonne der Theater ist also nur ein Abglanz der wirklichen Sonne und von ihren Strahlen entzündet. Schon in alten Zeiten hat man einige Male spielend die Sonnenstrahlen direct mechanische Wirkung ersetzen oder ausüben lassen. Das Feueranzünden erforderte bei den alten Völkern, und bei den uncivilisirten erfordert es wohl noch heute, einen bedeutenden Aufwand mechanischer Kräfte. Nur durch anhaltendes Quirlen trockenen Holzes oder durch beharrliches Schlagen des Steins mit Metall gelang es, die nöthige Wärme hervorzubringen, um den Zunder in Brand zu setzen. Der Erfinder des Brennspiegels oder -glases, welche bei den Römern regelmäßig zur Entzündung des Vestafeuers dienten, ließ die Sonne zum ersten Male eine bis dahin mechanische Arbeit verrichten. Noch einen Schritt weiter gingen die Physiker seit dem sechszehnten Jahrhundert etwa, in welchem zuerst kleine Springbrunnen construirt wurden, welche die Sonnenwärme trieb, sei es, indem sie die Luft in einem dunkelangestrichenen Metallbehälter ausdehnte, oder indem die Sonnenstrahlen durch Glaslinsen direct auf den Wasserbehälter concentrirt wurden. Der Pater Kircher will ein solches Maschinchen construirt haben, welches alle Stunden, einer Sonnenuhr gleich, einen kleinen Strahl emporschickte. Das wäre wohl die erste direct wirkende Sonnenmaschine gewesen.
In neuerer Zeit ist dieses Problem im Hinblick auf ernstere Zwecke wieder aufgenommen worden. Verschiedene Physiker haben sich der ungeheuren Massen Sonnenwärme erinnert, die in manchen Ländern mit ewig klarem Himmel ungenützt verloren gehen, denn der Boden, welcher dort am Tage so heiß wird, daß man ihn kaum mit nackten Füßen zu betreten wagt, strahlt während der Nacht alle diese Hitze wieder in den Weltraum hinaus und wird eisig kalt. Ein kaum denkbares Maß von Kraft geht hier völlig ungenützt für uns verloren. Und es wäre vielleicht gar so schwer nicht, diese Sonnenstrahlen zur Arbeit anzuhalten.
Der französische Physiker Mouchot hat bereits im Jahre 1869 eine kleine Dampfmaschine construirt, deren einziger Feuerherd die Sonne war. Der wesentliche Theil derselben bestand aus einem mit Wasser gefüllten Kupferkessel, welcher durch einen großen Brennspiegel eigenthümlicher Construction erwärmt wurde. Derselbe war außen geschwärzt und rings in einigem Abstande mit einem gläsernen Mantel umgeben. In diesem gläsernen Mantel liegt der geniale Gedanke der Construction. Während sich nämlich ein geschwärzter Kessel viel stärker in den Sonnenstrahlen erhitzt als ein heller oder metallglänzender, strahlt er eben deshalb diese Wärme sehr leicht wieder auf seine Umgebung aus. Nun hat aber Glas die Eigenschaft, nur die hellleuchtenden, nicht aber die dunklen Wärmestrahlen passiren zu lassen, jener Mantel hält also die glücklich eingefangene Wärme vollständig fest. In alten physikalischen Cabineten sieht man zuweilen noch einen Apparat, der aus einem kleinen Tiegel besteht, über welchen eine große Anzahl klarer Glasglocken, eine immer einige Linien weiter als die andere, gestülpt war. Diese Vorrichtung hinderte die Wärmeeinnahme aus den leuchtenden Strahlen so wenig (weil nämlich die inneren Glaswände Alles durchlassen, was die erste durchgelassen hat), die Ausgabe aber so vollkommen, daß dieser Apparat, einfach in die Sonne gestellt, ohne Mithülfe einer Linse oder eines Brennspiegels auf seinem kleinen Herde eine solche Ansammlung der Sonnenhitze hervorbrachte, daß dort die schwerschmelzbarsten Metalle schmolzen. Eine Vermehrung der Glashüllen nach dem Principe dieses sogenannten Feuer- oder Wärmesammlers könnte vielleicht auch bei einem größern Kessel den Brennspiegel entbehrlich machen, der sonst durch einen complicirten Mechanismus dem Sonnenlaufe angepaßt werden müßte. Mouchot berechnete seiner Zeit, daß es leicht sein würde, mit solchem Apparate mehrere Pferdekraft Arbeit zu leisten, doch habe ich seitdem nichts weiter davon gehört.
Dagegen stellte in dem Octoberhefte 1873 von Poggendorff’s[WS 2] Annalen der Physik ein anderer Naturforscher, Gustav Adolph Bergh in Drontheim, einen wesentlich andern Plan zur Einrichtung einer solchen Sonnenmaschine auf.[WS 3] Er verwirft die Anwendung des Wassers zur Dampferzeugung in derartigen Maschinen, weil der hohe Siedepunkt desselben immer einen bedeutenden Wärmeverlust zur Folge habe. Statt desselben müsse im Kessel der Sonnenmaschine eine bei geringer Temperatur-Erhöhung siedende Flüssigkeit, wie z. B. Methyläther, Methylchlorid, schweflige Säure etc. zur Dampfbildung verwendet werden. Die schweflige Säure würde, wenn der Bedarf da ist, in Schwefelkiesgegenden zu einem sehr geringen Preise in großen Mengen herstellbar sein und könnte in vernieteten Metallkesseln versandt werden. Um mit dieser Flüssigkeit, die bereits bei zehn Grad unter Null siedet, bei hellem Sonnenschein in zweckmäßig construirten Kesseln eine Dampfspannung von drei Atmosphären und darüber zu erlangen, bedarf es keiner Brennspiegel und ähnlicher Vorrichtungen, die selber einer Maschinerie bedürfen, um dem Gange der Sonne zu folgen. Natürlich würde die schweflige Säure nach ausgeübter Wirkung immer wieder aufgefangen, verdichtet und dem Sonnenkessel von neuem zugeführt werden. Herr Bergh glaubt, daß eine solche Maschine, die es erlaubt, die geringsten Temperaturschwankungen zu einem mechanischen Effecte auszunützen, auch in unsern Breiten mit Vortheil arbeiten würde, namentlich wenn man sie mit einer Heizvorrichtung ausstattete, um sie auch bei bewölktem Himmel in Thätigkeit erhalten zu können. Sie würde im Winter mit nicht geringerem Vortheile arbeiten, da alsdann die Verdichtung des Gases durch Eisvorrath erleichtert werden würde, womit reichlich die geringere Kraft der schräger auffallenden Sonnenstrahlen aufgewogen werden dürfte.
[470] Viele meiner Leser werden ohne Zweifel das Capitel von den Sonnenmaschinen zu den aussichtslosesten Träumereien zählen. Vor dem Jahre Tausend dachte Niemand in Europa an Windmühlen, dann haben sie Jahrhunderte hindurch großen Nutzen gestiftet und sind nun in den meisten Ländern am Aussterben. Jetzt leben wir im Jahrhunderte der Dampfmaschinen, und auch ihre Zeit wird kommen. Jedenfalls erscheint der Gedanke einer directen Benutzung der Sonnenstrahlen als bewegende Kraft vollkommen als rationell, sobald wir uns nur erinnern, daß wir alle unsere Maschinen mit Sonnenkraft speisen. Ich habe mir oft in Gedanken das nachbarliche Verhältniß zwischen Wind-, Wasser- und Sonnenmüller im Wechsel der Jahreswitterung ausgemalt. Man denke sich den Neid der nicht mahlenden naßkalten Brüder gegen den heitern Sonnenbruder bei vierwöchentlichem ungetrübtem Sonnenscheine und dreißig Grad Hitze!
Aber während unsere Ingenieure über die zweckmäßigste Construction einer Sonnenmaschine noch in Ungewißheit sind, ist eine Mondmaschine kürzlich von einer französischen Gesellschaft zu St. Malo, Zeitungsnachrichten zufolge, dem Betriebe übergeben worden. Es scheint also nicht ganz richtig, wenn ich oben sagte, alle Bewegung auf unserer Erde werde durch die Sonne angeregt, denn auch der Mond hat daran Antheil, als Erzeuger der Ebbe und Fluth. Allein ursprünglich stammt auch diese Kraft, ebenso wie die eigene Bewegung der Erde, aus der Sonne, soweit wir mit Masse und Bewegung ein Theil derselben sind. Die Ingenieure hatten sich nun bereits längst darüber geärgert, daß der ungeheure Krafteffect der Ebbe und Fluth höchstens dazu benutzt werde, die Schiffe in den Hafen hinein und aus demselben herauszuführen, und man hatte auch wohl an einigen Küstenpunkten Meermühlen angelegt, die mittelst einer Schleußenvorrichtung erst die herankommende Fluth ihr Wasserrad treiben lassen und dann während der Ebbezeit mit aufgestautem Fluthwasser weitermahlen, aber das ist, wie der Ingenieur F. Tommasi in Paris gezeigt hat, keine rationelle Benutzung des außerordentlichen Krafteffectes, der selbst da, wo er in seiner größten Leistungsfähigkeit auftritt und die Fluthwelle wie bei St. Malo achtzig Fuß Höhe erreicht, bisher ungenützt verloren ging. Tommasi hatte ein großes Modell seiner Ebbe- und Fluthmaschine in einer Seitenhalle des Maschinensaals der Wiener Weltausstellung zur Anschauung gebracht. Es handelt sich hierbei um große Windkessel, in denen die Luft durch die Fluth zusammengepreßt, durch die Ebbe verdünnt, und damit eine Kraft gewonnen wird, die man durch Röhren beliebig weit fortleiten kann. Auch das sind Zukunftsmaschinen, über die man nicht absprechend urtheilen möge. Es ist das Schicksal aller großen Entdeckungen, mit Kopfschütteln aufgenommen zu werden.
Wer Sennhütten in deutschen Alpen besucht hat und nach mühevollen Bergpartien am trauten Herde im Kreise naiver sanglustiger Sennerinnen glückliche Stunden verlebte, dürfte deshalb keinen Schluß daraus ziehen für das Gebirgsleben auf den Hochebenen der Herzegovina, jenes türkischen Grenzlandes zwischen Montenegro und Bosnien. Anders ist es dort als in den Sennhütten der Schweiz, des Allgäu und des oberbaierischen Gebirges.
Die kriegerische Stimmung zwischen dem südslavischen Volk und dem Pascha läßt ein ruhiges beglückendes Gemüthsleben eben nicht aufkeimen und die Sennhütten (südslavisch bajti genannt) werden nicht selten Zufluchtsstätten für verzweifelte Dorfbewohner, welche türkische Brandschatzer und Tyrannen hierher verscheuchen. Die Hütten sind stets in Gruppen auf solchen Thalmulden oder sonstigen Berglehnen gelegen, welche von den Niederungen aus äußerst schwer zugänglich sind und wo Wasser in der Nähe ist; einzeln sind sie fast nie anzutreffen.
Die Gährung im Volke und die häufigen blutigen Conflicte mit den Paschas und Paschaliks bedingen eine solche Anlage. Da der größte Theil der Einnahmen des Paschas in dem besteht, was er selbst eintreibt, so ist die Beutesucht erklärlich und diese wird trefflich durch das landläufige Sprüchwort: „Gott gab – Pascha nahm – der Wolf hat’s g’fressen“ charakterisirt. Wenn das Volk den schamlosen Erpressungen seiner Tyrannen nicht mehr willfahren kann, treiben zuweilen die Baschi Bozuks (türkische Gensdarmen) die jüngst ersonnene Steuer unter den erlogensten Vorspiegelungen von zu vollführenden Straßen- und Brückenbauten auch in den hochgelegenen Sennhütten auf die brutalste Weise ein. Dorthin flüchteten sich schon oft in schwerbedrohten Zeiten die Dorfbewohner, Alt und Jung, mit Hab und Gut. In vorzüglich gelegenen Hochthälern lagern nicht selten die Bewohner zweier oder dreier Dörfer mit ihren Heerden beisammen.
Die Zugänge zur Hochebene werden in solchen „blutigen Zeiten“ strategisch richtig besetzt und äußerst schlau bewacht. Ist der Aufstand ein allgemeiner, was nicht gar zu selten der Fall ist, und stürmen die wüthenden Steuereintreiber denn doch bergan, so läßt man sie unbeschadet bis zu einer Stelle kommen, wo sie dann mit Steinbatterien oft massenhaft niedergeschmettert werden. So bleichen, beispielsweise angeführt, in der Czrna-Pecschlucht die Knochen wohl von Hunderten von Türken.
In Fällen, wo diese Kriegführung unausführbar ist, werden die einzelnen Zugänge mit Waffen um so tapferer vertheidigt, da die verzweifelten Flüchtlinge wohl wissen, daß ihre Dorfhütten von den Türken schon aus Rache niedergebrannt sind, und ihrer im Falle der Bewältigung ein sofortiger martervoller Tod wartet. Es ist daher nur etwas Gewöhnliches, wenn man abseits von Sennwegen Menschengebeine erblickt; das ist gerade der richtige Vorgeschmack vom Volksleben in jenen Gegenden. Die weitere Annäherung wird einem durch die riesigen unabwehrlichen Hunde verleidet. Sie halten Wache gegen Wölfe und Fremde, welche ein weiteres Vordringen wohl theuer genug erkaufen müßten. Dem Hirten jedoch leisten sie vortreffliche Dienste und werden hierdurch unentbehrlich. Nebenbei sei nur erwähnt, daß die Thiere zur Race der Wolfshunde gehören und von schmutzig weißer Farbe sind. Sie sind außerordentlich gut abgerichtet, sehr tapfer und wachsam; sie lassen selbst den kreisenden Raubvogel nicht außer Acht und verlassen, wenn sie zur Wache postirt sind, ihren angewiesenen Ort unter keiner Bedingung; Niemand darf ihnen nahe kommen. Werden sie dazu aufgefordert, so verfolgen sie auch ohne Jäger und auch einzeln den Wolf stundenlang, und kehren sie dann mit Blutspuren zurück, so weiß der Hirt sicher, daß der Feind seiner Herde erlegt wurde.
Auf das Gebell des als Vorposten aufgestellten Hundes stellt sich bald der Hirt und zwar immer bewaffnet ein. Die bekannten Dorfgenossen rufen wohl auch die Hunde beim Namen und johlen dem Hirten entgegen, um gleich kund zu thun, daß Bekannte und Freunde kommen. Mich empfing ein fünfzehn- bis sechszehnjähriger Bursche und machte Miene, Gewehr anzulegen, wenn ich weiter gegangen wäre. Ich legte mein kleines Gepäck ab und setzte mich, um weiter mit ihm zu verhandeln, und um mich möglichst bald als Christ zu geriren, lüftete ich, im Schweiße gebadet, auf der Brust mein Hemde, um ein eisernes Kreuz, das ich im Radvanicer Kloster erhielt, durchblicken zu lassen. Ich mochte aber fragen und reden was ich wollte, ich erhielt keine Antwort. Die Geschichte fing an, langweilig zu werden. Nochmals machte ich einen diplomatischen Versuch, aber auch der schlug fehl. Schier verzweifelt darob nahm ich meine Violine, die mir oft schon mein Loos leichter und erträglicher gestaltete, und begann zu spielen, aber der Hund fing an, derart mitzuheulen, daß ich den Faden des Liedes verlor. Der Bursche, unschlüssig, was da zu thun sei, requirirte Hülfe; er schoß in die Luft – die Arie war zu Ende.
Aber schon standen zwei stramme braune Kerle bewaffnet da, welche selbstverständlich hierher geeilt sein mochten, weil der Ivo (so hieß der Bursche) nicht gleich retour kam und Bescheid brachte, wer sich den Hütten genähert habe. Nun begann mit mir ein Examen, in dessen Fragen sich eine höchst originelle Weltanschauung und Philosophie ausprägte. Ich erlaube mir, zum besseren Verständnisse Folgendes mitzutheilen.
[471] In den türkischen Provinzen kann man nur auf zweierlei Weise ziemlich sicher reisen, und zwar entweder mit Aufwand großer Opfer, weil man das militärische Sicherheitsgeleit theuer bezahlen muß, denn dies kann einige Ducaten täglich betragen, oder wenn man als vollkommen arm reist, durch nichts die Hab- und Raubsucht reizt. Ich hoffte damals, da mir Aussichten gestellt wurden, mit Sicherheit ein Reisestipendium zu erhalten, aber obgleich die geehrten Herren Professoren der kaiserlich königlichen Akademie bildender Künste Ruben, Engerth, Führich und Zimmermann sich meiner auf’s Wärmste annahmen, wofür ich den größten Dank
ausspreche, erhielt ich keines – warum, habe ich nie erfahren, auch nie danach gefragt. Da ich nun auch an dem Uebel laborire, armer Eltern Sohn zu sein, mußte ich, um meine Absicht, türkisch-illyrische Hochländer zu sehen, ausführen zu können, mich zu letzterer Art zu reisen bequemen, und so trat ich denn wohlgemuth mit nöthigster Wäsche, kleinem Skizzenbuche, Revolver, den ich für den äußersten Nothfall verborgen trug, und – Violine, welche mir in den liederreichen südslavischen Provinzen die beste Empfehlung und der sicherste Geleitsschein sein sollte, meine Reise an. In der That öffnete mir mein Spiel manche Thür, die mir sonst verschlossen geblieben wäre. Jetzt zu meinem Examen!
Nach der dort üblichen Anrede: „Gott grüße Euch, Ihr heldenmüthigen Falken!“ begannen diese mit mir das Examen.
„Du bist wohl ein Christ und kommst in guter Absicht?“
„Ja,“ sagte ich und schlug ein lateinisches Kreuz.
„Ein Gußlar unserer Kirche?“ (das heißt ein wandernder, epische Volkslieder spielender Fiedler römisch-katholischer Religion.*[1])
„Ja,“ sagte ich.
„Aber ein Fremdling?“
„Meine Heimath ist fast dreihundert Meilen von hier entfernt.“
„Da mußt Du wohl hinter Beograd (Belgrad) oder hinter dem Meere Deine Heimath haben?“
„So ist es,“ bejahte ich.
Mit sichtlichem Mitleide blickten mich Alle an, der ich von Person groß, sehr mager und bleich bin, und da meine Kleider [472] deutliche Merkmale langer Reisen trugen, zweifelten sie nicht an der Wahrheit meiner Aussagen.
Nach einer Pause hub der Alte – „Falkensohn“ – an zu fragen:
„Du spielst wohl schöne Lieder?“
„Einige.“
„Auch Heiligenlieder?“
„Viele,“ sagte ich.
Ich beeilte mich, zum zweiten Male mit meinem mittelmäßigen Spiele auf die rohen Gemüther einen Eindruck zu machen, welcher mir ihre Herzen öffnen sollte. Als ich deshalb mein volksthümliches Wams ablegen wollte, glitt zufällig mein Skizzenbuch aus der Tasche, welches der Eine rasch aufhob, aber, wie ich gleich erfuhr, nur deshalb aufhob, weil er es für ein Evangelienbuch hielt. – Nun, die vier Evangelisten hätte man freilich vergebens darin gesucht, und das Staunen der braunen Kerle, als sie nur kahle Felsen, Steine, alte Brücken, zerlumpte Hütten, Ziegenböcke und Schweine darin abconterfeit fanden, ist daher erklärlich. Als Hirten hatten sie doch für letztere so viel Verständniß, daß sie laut auflachten.
In der Hand meiner Kunstrichter litt auch wohl manches Blatt; bald besahen sie die Zeichnungen, bald blickten sie mich an, und ich merkte nach und nach, daß ich das Object ihres Bedauerns und Mitleids wurde. Sie raunten einander noch Einiges zu, und ich konnte mich auf die schlechteste Recension gefaßt machen. Endlich erhob der Senior des Dreirichtercollegiums mit Pathos seine rauhe Paprikastimme, und ich bekam Folgendes zu hören:
„Nun ist es uns klar und nicht mehr fremd, was Du bist. Wir sehen, Du irrst als Verfluchter in weiter Welt herum. Du bist ein schwerer Sünder. Der Papst hat Dich gestraft und Dir zur Buße und Genugthuung befohlen, das Mühsamste, Freudenloseste auf der Erde zu thun, unfruchtbare Felsen, stinkende Böcke und schmutzige Schweine haarklein zu ‚beschreiben‘ (zu malen). Hast Du schon viel abgebüßt und beschrieben? Du scheinst auch viel zu fasten und zu hungern. Das sollst Du nicht thun, damit Du wenigstens so lange lebest, bis Du die nöthige Sühne vollbracht hast.“
Ob dieser Zumuthung riß ich nicht wenig die Augen auf. Doch konnte ich mich wegen meines plötzlichen Avancements zum schweren Sünder nur freuen, denn blitzschnell wurde mir klar, daß ich bei erwecktem Mitleide auf gute Aufnahme rechnen könne, was sich auch glänzend bestätigte. Ja, ich steigerte ihre Aufmerksamkeit noch bedeutend, indem ich auf die schon abgelösten Zeichnungen, welche ich in den Hohlraum meiner Geige geschoben und gesammelt hatte, hinwies.
„Gott stärke Dich, daß Du Deine Gußla (Geige) bald voll bekommst, damit Du sie dann zum Papste tragen und ihm zeigen kannst! Dann kannst Du sie zerhauen, denn Du bist von Stund’ an erlöst.“
„Nein,“ schrie der Andere, „der Papst muß sie zerhauen, dann ist es erst aus – sonst nützt Dir Deine ganze Plackerei nichts,“ und sah mich mit einem wilden herausfordernden Blicke an, Gesagtes zu bejahen.
Ich nickte dazu und bedeutete den Hirten, daß der Papst mit dem Ergebniß meiner Buße, den Zeichnungen, wahrscheinlich auch den Hauptzweck anstrebe, den Herrschern und Machthabern in mahnender Weise das Schlechte in ihren Ländern zur baldigen Besserung vorzuzeigen. Dies hatte einen so günstigen Erfolg, daß, als wir bald hierauf zu den Hütten kamen, mir ein verhältnißmäßig gutes Mahl zu Theil wurde. Ich labte mich an einer Eierspeise, welche soeben zubereitet, auf siedendem Oele gekocht war, und trank gute Schafmolke. Da ich in den Hütten und umher keine Hühner sah und meine Kenntnisse in der Zoologie doch so weit reichen, daß ich weiß, daß Böcke und Dickhäuter keine Eier legen, erkühnte ich mich, um meine Neugierde zu befriedigen, die Frage zu stellen, von wem sie die Eier erhielten.
„Ich hatte ein Stelldichein,“ sprach der eine braune Geselle, „und mein Mädchen brachte sie mir.“
Ich dankte ihm besonders und bat ihn, seiner Geliebten meinen Dank – Gruß konnte ich nicht wagen – mitzutheilen. Die treue Schöne, welche zum Stelldichein den halben Weg zur Hütte kam, ahnte wohl schwerlich, daß ihre Liebesgabe die Hungersqualen einem schweren Sünder stillen würde. Vor und nach dem Mahle mußte ich spielen, viel spielen. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich unter Anderm auch den Kuhreigen aus Wilhelm Tell zu präludiren anfing und meinen Lauschern zum Besten gab. Wohl selten dürfte Rossini ein solches Lob erfahren haben, wie die Hirten in schlichten Worten unbewußt aussprachen. Sie fanden das Lied so schön, daß ich es dem Papste vorspielen solle – jedenfalls meinten sie zur feierlichen erhabenen Schlußscene meiner vollbrachten Sühne, ehe die Geige in den Händen Seiner Heiligkeit in Trümmer gehen sollte.
Was die Sennhütten selbst anbelangt, so ist ihre Anlage eine durchaus zufällige und deshalb ungleiche. Sie stehen auf Felsen, Steinen und Pfählen, derart gestützt, daß der Boden derselben ungefähr eine Klafter über dem Erdreiche erhaben ist und hierdurch zu unterst ein Hohlraum entsteht, welcher für die Dickhäuter bestimmt ist. Die erste Etage, in welche man nur über eine äußerst einfache Stiege und kaum ohne Balancirkunst gelangen kann, ist für die Hirten selbst und die Ziegen berechnet. Die Rinder und Schafe übernachten im Freien. Doch muß erwähnt werden, daß nicht selten die eisige Bora (Nordostwind) massenhafte Opfer in den Herden verlangt. Die Hirten und Ziegen haben in einer Thür, welche der hochgelegenen Schwelle wegen mehr einem Fenster gleicht, einen gemeinschaftlichen Eingang. Doch ist ein Theil des Innenraumes für den offenen Herd und die Käsebereitung abgeschlossen. Diese letztere ist eine äußerst primitive und wird vorwiegend mit Schaf- und Ziegenmilch betrieben. Der Käse, Topfen und Molke sind nebst Kukuruzbrod, welches aus frischem mittelst Handmühlen gewonnenem Mehle in heißer Asche gebacken wird, die vorwiegende Nahrung der Hirten. Ich habe nie schwerere Speisen genossen als diese Brode; wie Blei lagen sie mir im Leibe, und es gehört eben ein herzegoviner Magen dazu, sie zu verdauen. Schon die bloße Erinnerung an dieselben verursacht mir heute noch Magendrücken.
Der größte rückwärtige Innenraum der ersten Etage hat keinen Boden; es ist an den Hauptwänden der Hütten eine Art schmaler Laufgang angebracht, so daß man von einer Art Galerie auf die Schweineherde herabsieht. Diese Laufgänge haben selbstverständlich keine Barrière, sind sehr nachgiebig, beweglich, ja vielmehr einem Schwung- oder Springbrette zu vergleichen. Hier und da lagen Moosklumpen und Heustreu auf denselben, und ich betrachtete sie um so genauer und sie heimelten mich um so weniger an, als mir von meinen Gastgebern bedeutet wurde, daß dies unsere Schlafstätten seien. Im Geiste machte ich schon einige Turnübungen, um mich für das Liegen darauf einzuexerciren, und dachte mit Besorgniß an die Aufnahme seitens der borstigen Dickhäuter da unten, wenn ich Nachts auf sie herabfallen sollte. Rosen- und Ambradüfte wehten mir auch nicht entgegen. Hatte ich dies jetzt schon bedeutend gefühlt, so steigerte sich dieser penetrante Geruch in der Nacht zu einem unerträglichen und wahrhaft mörderischen Gestanke. Die Schlafstätte schien fürwahr nur für die allerschwersten Sünder geschaffen zu sein. Durch das Rückenreiben der Thiere an den Grundpfeilern und Wänden war die ganze Hütte stets in Schwingungen, und an Ruhe war um so weniger zu denken, da an die „Aeltesten des Volkes“ oft ein Mahn- oder Ordnungsruf von oben mittelst wuchtiger Kolbenstöße gerichtet wurde. Einige von ihnen schienen auch von bösen Träumen geplagt zu werden, und ich, der aus gerade nicht unbegründeten Sorgen nicht einschlafen konnte, befürchtete, daß vielleicht auch ein Stoß mir zwei oder drei Rippen kosten könnte. Meine Situation war eine gräßliche; meine Kopfschmerzen nahmen bedenklich zu; ich rief alle Mächte an, mich aus meiner fürchterlichen Lage zu befreien, aber hier konnte auch der Papst nicht helfen.
Ich raffte mich endlich auf und zog es trotz der Kühle vor, den Rest der Nacht im Freien am Feuer bei den wachehabenden zwei anderen Hirten zuzubringen. Infolge großer Müdigkeit lag ich auch bald in Morpheus’ Armen und schlief ohne Unterlaß, bis mich der Morgen wachrüttelte.
Tags darauf habe ich als schwerer Sünder pflichtschuldig mein Bußwerk fortgesetzt, alles Unnütze, Schiefe, Gebrochene, Innere und Aeußere der Hütte genau „beschrieben“ (gezeichnet) und auch einige meiner früheren Schlafgenossen aus dem Parterre einer künstlerischen Betrachtung gewürdigt. Ich hatte hierdurch die größte Aufmerksamkeit, vor Allem aber aufrichtiges Mitleid erweckt. [473] Interessant war mir zu erfahren, daß das Gestell mit Quersprossen und flachem Korbgeflechte am obersten Ende eine Vorrichtung für den Vogelfang ist, welcher in folgender Weise ausgeführt wird. Die nahe Quelle bei der Hütte wird mit leichtem dichtem Laub und Reisig zugedeckt. In das Korbgeflecht werden glänzende Metallstücke, Spiegelglas und Topfscherben gelegt; das Ganze wird mit Leimspindeln umgeben und mittelst einer langen Stange von der Hütte aus gedreht. Im grellen Sonnenlichte glitzert und glänzt nun die Scherbenmasse, und die von der Meeresseite daherfliegenden todtmüden und durstigen Zugvögel wähnen Süßwasser zu erblicken und stürzen darauf, um diese Täuschung mit ihrem Leben zu bezahlen. Die Hirten versicherten mir, am häufigsten Wachteln etc. oft massenhaft gefangen zu haben. Indem kleinere Vögel im Korbe gelassen werden, lockt man sehr leicht auch Raubvögel, namentlich Falken, heran, welche dann herabgeschossen werden.
An den inneren Wänden der Hütte sah ich ungemein viele kleine aus Getreidehalmen und Aehren zierlich geflochtene Kränzchen, welche dem Sanct Ivan als besonderem Schutzpatron gegen Gewitterfeuer geweiht werden. Schon nach der großen Anzahl dieser Kränzchen kann man das Alter der Hütten als sehr hoch schätzen, zumal angenommen werden kann, daß naschhafte Ziegen diese Weihkränze nicht immer sonderlich respectiren dürften. Daß die Hütten mehrere Jahrhunderte alt sein müssen, bezeugt auch der ein bis zwei Klafter hohe Mist, welcher um sie in förmlichen Hügeln angehäuft ist. Ganz originell sind ferner die Borstenstricke, welche fast verwundend anzufühlen, aber ungemein fest und dauerhaft sind. Mittelst dieser Stricke sind einzelne Thiere, um die sich die Herde sammelt, an Pflöcken angebunden. Auf hohen gerüstähnlichen, besser gesagt galgenähnlichen Balken werden abgezogene Thierhäute getrocknet und dann verarbeitet; denn die meisten Hirten verstehen es, mitunter sehr zierliche Bund- oder Sandalenschuhe für Männer und Mädchen, wie auch anderes Riemenzeug zu arbeiten. Vorzüglich schön fand ich hölzerne Butter- und Schmalzbütten von Hirten geschnitzt, ja einer derselben zeigte mir einen höchst musterhaft stilisirten, dabei mit Zink ausgelegten Peitschenstiel, welcher vom kunstgewerblichen Standpunkte aus auch den strengsten Anforderungen entsprechen würde. Ich gab mir alle Mühe, denselben zu gewinnen, was mir aber nicht gelang. Häufig wird hier auch die Panpfeife von Schilfrohr äußerst zierlich verfertigt; ihre Töne sind in Terzen und Quarten angelegt.
Die Leute bezeichnen die Zeit nach den Heiligen, die der Gregorianische Kalender für die Tage bestimmt, und wer die Heiligen-Feste und Namen nicht gut memorirt hat, wird ihre Zeitrechnung nicht verstehen. Als ich fragte, wann sie die Hütte bezogen und wann sie dieselbe zu verlassen gedenken, erhielt ich die Antwort: „Am Tag des heiligen Ivo kamen wir; am Tag des heiligen Lavro gehen wir,“ und da ich vom heiligen Ivo und heiligen Lavro keine eminenten Kenntnisse habe, wußte ich soviel wie zuvor. Ferner sind auch ihre hölzernen Schlösser ganz besonders originell, welche so vorzüglich und dabei so einfach construirt sind, daß sie gewiß in Culturstaaten eines Privilegiums sicher wären.
Ich muß noch hervorheben, daß beim Bau einer Hütte, ja einer ganzen Gruppe solcher Sennhütten nicht ein einziger eiserner Nagel in Bauanwendung kommt; sie sind ganz von Holz; zum Binden dienen Bast, Weidenruthen und vor Allem Borstenstricke. Ueber den Schmutz, welcher die Hütten innen und außen umkleidet, ließe sich ein eigenes Capitel schreiben. Aber hier sei „Schweigen der Rest“.
Der Sennerdienst wird des gefahrvollen Lebens wegen ausschließlich von den Männern versehen, und nur die Liebessehnsucht bewegt zuweilen auch Mädchen, ihre Geliebten oben heimzusuchen oder, was noch öfter der Fall ist, diesen ein Stelldichein in halber Entfernung zur Hütte zuzusagen. Einer meiner braunen Genossen, welcher wahrscheinlich einen Liebesbesuch bei seiner Holden unten beabsichtigte, gab mir bis in’s Dorf Mali-Dernjac das Geleite, wo ich beim Popen (griechischen Pfarrer) eine leidliche Aufnahme fand, und zwar deshalb, weil ich mich auch den Umständen gemäß auf Meßnerdienste d. h, auf’s Ministriren verstand; nicht viel später wurde ich in anderen größeren Orten für einen wandernden Rasirer und Parapluie-Reparateur gehalten.
Sollten die Herrn Leser, im Falle sie meine Schilderung gelangweilt hat, gütigst Nachsicht üben wollen, so würde ich mich dieser möglicherweise am ehesten erfreuen können, wenn sie mich auch mehr als schweren Sünder, Musikant, Ministrant, Rasirer oder Parapluiemacher, denn als Maler oder gar als Literat beurtheilen wollten.
Ein Welt-Dichterfest. Daß nicht nur Welt-Industrie-Ausstellungen, sondern auch Welt-Dichterfeste möglich sind, haben wir Deutsche zuerst erfahren an unserer großen Schillerfeier. Dank dem Wandertriebe, welcher den germanischen Stamm über die ganze Erde verbreitet hat! Er trug auch die Festfahnen jenes Dichtertages um die ganze Erde, und wo andere Völker den Tag nicht selbst mitfeierten, waren sie doch Zeugen der öffentlichen Verehrung, zu welcher jene Fahnen auf jedem Boden, den Deutsche bewohnen, aufgepflanzt wurden. Auch Petrarca’s Name ist keinem Gebildeten irgend einer Culturnation unbekannt, und wenn auch die Italiener nicht so massenhaft in der Ferne sich neue Heimathen gegründet haben, wie die Deutschen, so wird doch der achtzehnte Juli überall, wo man Dichter ehrt, wenigstens zu einer stillen Feier des Andenkens an den größten Lyriker seiner Nation einladen. Es ist eine seltsame Erscheinung, daß Petrarca’s Ruhm nicht auf dem Grunde fest steht, den er selbst für den festesten der Anerkennung seines Wirkens hielt, sondern einzig auf dem seiner hoffnungslosen Liebe und ihrer Verherrlichung. So eng ist der Name Laura mit seinem Namen verbunden, daß sie immer vereint vor unserem Geiste stehen. Und doch war Petrarca’s Wirken und Schaffen als Mann und Patriot, als Gelehrter und Diplomat von höchster Bedeutung, und selbst als politischer Dichter steht er in seiner Zeit unvergleichlich da. Glaubt man nicht eines von Rückert’s „Geharnischten Sonetten“ zu hören wenn der italienische Dichter seinen Zorn über „Avignon“ ausspricht, das damals die Päpste in ihrem sogenannten „Exil“ in einen Pfuhl aller Laster und Verbrechen verwandelt hatten?
„Des Himmels Blitz fall’ auf dein Haupt voll Trug!
Du, sonst vom Quell genährt und Eichelfrucht,
Die jetzt von Andrer Armuth Reichthum sucht,
Durch so viel Missethaten reich genug;
Verräthernest, zu brüten jeden Fluch,
Mit dessen Gift die Welt von heut’ verflucht,
Voll Saufen, Fressen, voll von schnöder Zucht
Und jeder Wollust höchstem Schandversuch.
Durch deine Hallen rast der Hexenreigen.
Von Alt und Jung; Beelzebub tanzt vornen
Mit Blasebalg, mit Spiegeln und mit Flammen.
Jetzt willst du nur in üpp’ger Pracht dich zeigen,
Sonst nackt und barfuß gingst du unter Dornen;
Zum Himmel stinkst du – mag dich Gott verdammen!“
Trotz des Verfalls der Kirche und ihres Regiments war das vierzehnte Jahrhundert eines der glorreichsten Italiens. Wir können es, freilich mit der Gefahr des Hinkens aller Vergleiche, wenigstens in Vielem mit dem Ende des achtzehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Deutschlands zusammenstellen, und zwar im Guten wie im Schlimmen. In letzterem ist so überhaupt die Aehnlichkeit des Schicksals beider Nationen wahrhaft großartig gewesen bis in unsere Tage, die beiden erst das Jahrhunderte vergeblich ersehnte Heil politischer Einheit brachten. Die Italiener von damals besaßen ebenfalls ihr Preußen und Oesterreich in ihren beiden wichtigsten Republiken Venedig und Genua, die im gegenseitigen Kampfe zur Freude ihrer gemeinsamen Feinde sich verbluteten; der Spalt zwischen Guelfen und Ghibellinen glich ganz dem, welcher die deutschen Völker durch den Glaubenskrieg trennte, und die Eifersucht kleinstaatlicher Selbstherrlichkeit hat bei ihnen nicht andere Früchte getragen, als bei uns. Aber in all ihrer politischen Zerfahrenheit und Ohnmacht bewahrten sie sich die Würde einer Nation im Geiste durch ihre großen Dichter, Gelehrten und Künstler – ganz wie die Deutschen zur Zeit der tiefsten politischen Erniedrigung ihres Vaterlandes. Und wie bei uns Lessing, Goethe, Schiller die Ehre Deutschlands waren, so reichten dort Dante, Petrarca, Boccaccio sich die Hand und glänzten als drei unvergängliche Sterne italienischer Nationalehre.
Freuen wir uns, daß wir in Petrarca nicht blos den Laura-Sänger, sondern auch den größten Gelehrten und Humanisten seiner Zeit und einen der vorurtheilsfreiesten Männer, der edelsten Menschen zu feiern haben, denn auch auf ihn ist der sinnige Ausspruch anwendbar, mit welchem Ernst Trompheller den Horaz ehrt: „Auch als Mensch steht er auf einer achtunggebietenden Höhe. Dichter und Mensch sind ja überhaupt nicht voneinander zu trennen. Es hat wohl keinen großen Dichter gegeben, der nicht auch ein großer und edler Mensch gewesen wäre, wenn ihm auch manche Schwächen, Leidenschaften und selbst Verirrungen nachgewiesen sein mögen, und manchem reichen Talent fehlt eben nur so viel an wahrer Dichtergröße, als es ihm an sittlicher Würde und Adel der Seele gebricht.“
Da Petrarca, den ein viel bewegtes Leben aus seiner kleinen Geburtsstadt
[474] Arezzo in viele Städte Italiens und Frankreichs und selbst nach Holland, Deutschland und in die Schweiz geführt, im hohen Alter endlich in einem stillen Winkel die erste und die letzte Ruhe fand, so begeben auch wir uns zum Schluß wohl am besten ebenfalls dahin. Wir entnehmen die Schilderung dieser Oertlichkeiten der Mittheilung eines Herrn Hugo Knoblauch, welcher erst jetzt jene Stätten besucht hat, die den Mittelpunkt dieser Dichterfeier bilden. Er schreibt der Redaction unseres Blattes:
„Ein schönes Plätzchen, fern vom Treiben der Welt, in Mitte der Euganeischen Berge hatte Petrarca sich für die letzten vier Jahre zu seinem Dichten und Schaffen erwählt.
Das Dorf Arquà liegt in dem anmuthigsten Theile des Thales ‚Sensibeo‘, am Fuße eines einige hundert Fuß hohen Berges und führt nach diesem den Namen ‚Arquà del monte‘. Petrarca’s Haus steht inmitten eines Gartens, welcher von einer Mauer umschlossen ist, vereinzelt hoch oben am Berge; ein steiler, mit Wagen nicht befahrbarer Weg führt nach dem reizend gelegenen Häuschen, von welchem man das ganze fruchtbare Thal, eingerahmt von olivenbewachsenen Hügeln, überblicken kann.
Ueber der Thür, welche durch die Mauer in den Garten und zum Hause führt, ist eine Marmortafel angebracht mit den Worten:
‚Se Ti agita | ‚Wenn Dich bewegt |
Sacro amore di patria, | Heilige Vaterlandsliebe, |
T’inchina a questa mura, | Neige Dich vor dieser Mauer, |
Ove spirò la grand anima, | Wo athmete eine große Seele, |
Il cantor dei Scipioni | Der Sänger der Scipionen |
E di Laura.‘ | Und der Laura.‘ |
Eine Freitreppe führt zu der kleinen Werkstatt des Dichters, welche aus einer geräumigen Vorflur, einem Arbeits- und einem Schlafzimmer besteht. Von dem Vestibül, an dessen Wänden sich leider unzählige Kieselack’s verewigt und dadurch die alten Frescomalereien ruinirt haben, gelangt man rechts nach dem Arbeitszimmer Petrarca’s, einem mehr als bescheidenen Raum von circa acht Fuß Breite und vierzehn bis fünfzehn Fuß Länge, und links nach dessen Schlafzimmer. Ueber der Thür, welche nach dem Arbeitszimmer führt, ist ein Glaskasten, welcher Petrarca’s Lieblingskatze ausgestopft enthält, angebracht; im Zimmer hängt gegenüber der Thür das von Petrarca selbst gemalte Bild seiner geliebten Laura. Im Schlafzimmer wird noch des Dichters hölzerner Arbeitssessel, auf welchem er während der Arbeit am 18. Juli 1374 sanft entschlafen ist, aufbewahrt. Inmitten des Vestibüls steht ein großer runder Tisch, auf welchem das Fremdenbuch für jeden Besucher ausliegt; gegenüber der Eingangsthür zum Vestibül führt eine große doppelflügelige Glasthür nach dem Balkon, von welchem aus man jene bereits erwähnte wundervolle Rundsicht in das anmuthige Thal hat.
Hier in diesen bescheidenen Räumen hat Italiens Dichterfürst die letzten Jahre seines sang- und thatenreichen Lebens in stiller Zurückgezogenheit verlebt. Geboren am 20. Juli 1304 zu Arezzo im Toscanischen, hat Petrarca das hohe Alter von siebzig Jahren erreicht, sein Leichnam, um dessen Besitz mehrere italienische Provinzen heftigen Streit führten, ruht unten im Dorfe Arquà vor der Kirche in einem Sarkophag, getragen von Marmorsäulen. Noch heute wird an dem Sarkophag ein nachträglich geschlossenes Loch gezeigt, welches Jünglinge aus der benachbarten Provinz Vicenza in der Nacht mit Gewalt durchbrochen hatten, um durch dasselbe den Sarkophag öffnen und wenigstens einen Arm Petrarca’s in ihre Vaterstadt Vicenza bringen zu können. Auf dem Grabmal ist Petrarca’s Büste und eine reimspielende lateinische Inschrift angebracht.“ –
Wir muthen unseren Lesern wohl nicht zu viel zu, wenn wir sie bitten, das Biographische über Petrarca im ersten besten Conversationslexikon nachzulesen. Wer aber sich näher mit dem Gefeierten bekannt machen will, dem empfehlen wir das „Zur Erinnerung an die fünfte Säcularfeier Petrarca’s am 18. Juli 1874“ erschienene Buch von Ludwig Geiger (Leipzig, Duncker und Humblot), das zugleich öffentliches Zeugniß dafür ablegt, daß wir Deutsche, wie wir so gern „in die Fremde“ gehen, um von den Fremden zu lernen, und wie wir die geistigen Schätze aller Völker uns zum Eigenthum gemacht haben, auch stets bereit sind, dankbar da mit zu feiern und mit Ehren zu lohnen, wo wir von fremdem Geiste mit genossen haben.
Sprachliche Kleinigkeiten. Es ist interessant zu beobachten, wie gewisse Sprachfehler namentlich durch den täglichen Gebrauch in den öffentlichen Blättern sich festsetzen und schließlich zur Regel werden. So findet man in den zahllosen Concertanzeigen aller Orte wohl durchgängig die Schreibweise „Musikchor“, „Trompeterchor“. Dieselbe kann jedoch nicht als richtig anerkannt werden. Das aus dem Griechischen stammende Wort „Chor“ bedeutete ursprünglich einen mit Gesang verbundenen Reigentanz, und ist dann auf jede Sängerschaar übertragen worden. Es heißt also richtig: Sängerchor, Chorgesang, Chorist. Durch eine naheliegende Verwechslung hat man dieses Wort „Chor“ auch auf eine „Musikbande“ angewendet. Allein offenbar haben wir es in diesem Falle mit dem französischen Worte „corps“ (von dem lateinischen corpus) = „Körperschaft, Gesellschaft“ zu thun, demselben Worte, welches uns in den Zusammensetzungen „Armeecorps“, „Turnercorps“, „Schützencorps“ u. s. w. völlig geläufig ist. Selbst beim Ballet, wo nach der ursprünglichen Bedeutung das Wort „Chor“ eher am Platze wäre, schreiben wir „Balletcorps“, weil es im Französischen, welchem alle diese deutschen Ausdrücke entlehnt sind, heißt: corps de ballet. Und ebenso gewiß sagt man französisch: corps de musique, und nicht etwa choeur de musique. Folglich ist auch im Deutschen zu schreiben: Musikcorps, und nicht: Musikchor.
An Musik und Theater anknüpfend, wollen wir ferner der sehr verbreiteten falschen Aussprache des Wortes „Orchester“ erwähnen. Dieses aus dem Griechischen stammende Wort, in lateinischer Form = orchestra, bezeichnet ursprünglich den zwischen der Bühne und dem Zuschauerraume befindlichen Tanzplatz, auf welchem in der griechischen Tragödie und Komödie der Chor seinen Reigentanz aufführte. Es ist dann auf den Sitzraum der Musiker in dem neuern Theater, weiterhin auf das Musikcorps selbst übertragen worden. Die französischen Form ist orchestre und wird ausgesprochen: orchestr’, wie überhaupt „ch“ in den meisten aus dem Griechischen entlehnten französischen Wörtern wie „k“ lautet. Die meisten Deutschen aber, welche ihr Französisch gelernt zu haben glauben und daher wissen, daß im Französischen „ch“ gewöhnlich wie unser „sch“ gesprochen wird, übertragen diese Aussprache fälschlicher Weise auch auf das Wort „Orchester“ und sprechen ganz unrichtig: „Orschester“. Man halte sich entweder an die griechisch-lateinische Aussprache und spreche demnach das Wort aus, wie es geschrieben wird. „Orchester“, oder man spreche nach französischer Weise: „Orkester“.
Noch unerträglicher ist die ebenfalls aus mangelhafter Kenntniß der französischen Aussprache hervorgegangene Mißhandlung eines schönen Eigennamens, wie sie namentlich in Sachsen üblich ist. Der Vorname „Eugen“ ist ebenfalls griechischen Ursprungs und bedeutet. „edelgeboren“. Die lateinische Form lautet: Eugenius, die hiervon abgeleitete französische: Eugène. Die Aussprache dieser letzteren ist ungefähr = „Oeschän“, wobei das „sch“ möglichst weich zu sprechen und der Ton auf die letzte Silbe zu legen ist. Hiermit vergleiche man die sächsische Aussprache dieses Namens: „Eischeen“, welche obendrein den Ton auf die erste Silbe legt, und denke sich beispielsweise das bekannte Soldatenlied in dieser Weise recitirt oder gesungen: „Prinz Eischeenius, der edle Ritter!“ Warum hält man sich nicht an die ursprüngliche griechisch-lateinische Form Eugenius, abgekürzt Eugen, und spricht sie gerade so aus, wie sie geschrieben wird? Für jedes sprachlich gebildete Ohr ist es eine wahre Pein, wenn der ursprüngliche Wohlklang griechischer oder lateinischer Wörter durch eine vermeintlich oder halb französische Aussprache in obiger Weise verdorben wird.
Die Fortpflanzung des Aales. In Nr. 7 dieses Jahrgangs brachte die Gartenlaube einen Aufsatz unter obiger Ueberschrift von dem Herrn Dr. K. Eberhardt in Rostock. Da ich gehört habe, daß dieser Aufsatz in weitesten Kreisen interessirt hat, so erlaube ich mir, über ein ein schlagendes Factum Mittheilung zu machen, bemerkend, daß ich von demselben erst jetzt, und zwar in Folge jenes Aufsatzes, Kenntniß erlangt habe.
Herr Vetter hierselbst, ein langjähriger, eifriger Naturfreund und ruhiger Beobachter, bemerkte vor etwa vier Jahren, als er einen gefangenen Aal der Reuse entnahm und, damit er nicht enschlüpfe, fest mit der Hand umfaßte, an dessen Afteröffnung eine gelblich gefärbte, wie es ihm schien, aus Schleimhaut bestehende Blase von dem Umfange einer halb ausgewachsenen großen Kirsche. Da er bei häufigem Fange von Aalen niemals Derartiges bemerkt hatte, so holte er ein mit Wasser gefülltes Glas und ließ dann die Hand fest über den Aal abwärts gleiten, worauf sich die Blase freiwillig von diesem trennte und zersprungen mit ihrem Inhalte in das Glas fiel. Der Inhalt bestand aus einer beträchtlichen Anzahl junger Aale, welche etwa die Dicke und Länge von feinen englischen Nähnadeln hatten und, abgesehen von ihren Krümmungen und Bewegungen, überhaupt solchen ähnlich sahen.
Herr Vetter trug bald seinen Fund zu dem hiesigen Conrector, Herrn Clasen, welcher sich seit lange lebhaft für Naturkunde interessirt und namentlich über die Entwickelung des Embryo im Hühnerei und über die Naturgeschichte der Seidenraupe streng wissenschaftliche Beobachtungen gemacht hat. Mit Zuhülfenahme einer Loupe erkannte Herr Clasen die Thierchen unzweifelhaft für Aale, und beide Herren bemerkten noch, daß selbige im Laufe der nächsten drei, vier Stunden ihre anfänglich gelbliche Färbung – Nankingfarbe, sagt Herr Vetter – verloren und eine dunklere graue annahmen, mit einem schwarzen Strich längs des Rückens. Betreffs der Reste des Bläschens – Eihaut oder Dottersack? – weiß Herr Clasen nichts zu erinnern; Herr Vetter weiß dagegen, daß selbige mit in’s Glas gekommen, eine nähere Untersuchung hat aber auch er nicht angestellt. Etwa vier Stunden nach dem Fange schüttete Herr Vetter die Thierchen in den neben seinem Garten fließenden Bach. Hier gingen dieselben ganz in der Weise anderer kleiner Fische, welche man nach kurzer Gefangenschaft wieder in’s Wasser setzt, bald munter nach verschiedenen Richtungen auseinander.
Schon derzeit ist die Sache hier in weiteren Kreisen besprochen, jetzt aber durch den Aufsatz des Herrn Dr. Eberhardt frisch in’s Gedächtniß gerufen. Ich bemerke noch, daß die betreffenden beiden Herren sich mit Vorstehendem vollständig einverstanden erklärt haben, auch meinen, daß sie solchem Nichts hinzuzufügen wüßten.
Schwaan in Mecklenburg.
Berichtigung. In einem Theil der Auflage unserer Nr. 27 ist in dem Artikel „Kaninchenzucht in Deutschland“ von Prof. Dr. Friedrich Anton Zürn auf Seite 432 in der dreizehnten Zeile von oben statt „einhundertsechszig- bis zweimalhunderttausend“ zu lesen: „hundertundneunzig bis zweihundert Millionen“ Franken.
Zur Notiznahme. Vielfachen Anfragen gegenüber die Mittheilung, daß diejenigen Gartenlauben-Nummern des vorigen Quartals, welche den Anfang der Novelle „Gesprengte Fesseln“ von E. Werner enthalten (Nr. 23, 24, 25 und 26), gegen Zahlung von 7½ Sgr. durch jede Buchhandlung oder Postexpedition nachgeliefert werden können.
- ↑ * Die Bevölkerung ist serbisch, meist griechisch-katholisch; nur der fünfte Theil der Gesammteinwohner ist römisch-katholischer Religion. Diese Hirten waren römisch-katholische Christen, „Lateiner“.