Die Gartenlaube (1874)/Heft 24
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No. 24. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
„Das ist zu arg. Diese Manie fängt wirklich an, alle Grenzen zu übersteigen. Ich werde dem Reinhold das musikalische Handwerk noch ganz und gar legen müssen, wenn er fortfährt, es in so unsinniger Weise zu betreiben.“
Mit diesen Worten eröffnete der Kaufmann Almbach eine Familiendebatte, die im Wohnzimmer in Gegenwart seiner Frau und Tochter stattfand und der zum Glück der eigentliche Gegenstand derselben nicht beiwohnte. Herr Almbach, ein Mann von fünfzig Jahren etwa, dessen ruhiges, gemessenes und etwas pedantisches Wesen sonst dem ganzen Comptoirpersonale als Muster vorleuchtete, schien durch die oben erwähnte „Manie“ völlig aus der Fassung gebracht zu sein, denn er fuhr in vollster Aufregung fort:
„Da kommt der Buchhalter heute Morgen gegen vier Uhr von dem Jubiläum zurück, das ich schon gleich nach Mitternacht verlassen hatte. Von der Brücke aus sieht er das Gartenhaus erleuchtet und hört den Reinhold über die Tasten hinrasen, daß ihm Hören und Sehen vergeht. Natürlich konnte er mich zum Feste nicht begleiten; er behauptete krank zu sein, aber in dem eiskalten Gartenzimmer bis an den hellen lichten Morgen seinen Flügel zu maltraitiren, daran hinderte ihn der ‚unerträgliche Kopfschmerz‘ nicht. Ich werde es wohl nächstens wieder von meinen Collegen zu hören bekommen, daß mein Herr Schwiegersohn wie in der Unbrauchbarkeit, so auch in der Rücksichtslosigkeit das Möglichste leistet. Es ist kaum zu glauben. Der jüngste Commis weiß besser Bescheid in den Büchern und hat mehr Interesse für das Geschäft, als der Compagnon und dereinstige Chef des Hauses Almbach und Compagnie. Mein Leben lang habe ich geschafft und gearbeitet, um meine Firma zu einer festgegründeten, geachteten zu machen – und nun die Aussicht, sie einst in solchen Händen lassen zu müssen!“
„Ich habe es Dir stets gesagt, Du solltest ihm den Umgang mit dem Musikdirector Wilkens verbieten,“ fiel Frau Almbach ein. „Der allein ist an Allem schuld. Mit diesem alten menschenfeindlichen Musiknarren konnte Niemand auskommen; Jedermann floh und haßte ihn, aber für Reinhold war das nur ein Grund mehr, die intimste Freundschaft mit ihm zu schließen. Tag für Tag war er drüben, und dort allein ist der Grund zu all dem musikalischen Unsinn gelegt worden, den der Herr Lehrer bei seinem Tode auf ihn vererbt zu haben scheint. Es ist kaum mehr zu ertragen, seit wir das Vermächtniß des Alten, den Flügel, im Hause haben. Ella, was sagst Du denn eigentlich zu diesem Benehmen Deines Mannes?“
Die junge Frau, an welche die letzten Worte gerichtet waren, hatte bisher noch nicht eine Silbe gesprochen. Sie saß am Fenster, den Kopf tief auf ihre Näherei herabgebeugt, und blickte erst bei dieser direct an sie gerichteten Frage empor.
„Ich, liebe Mutter?“
„Ja, Du mein Kind, denn Dich geht die Sache doch wohl zumeist an. Oder fühlst Du es wirklich gar nicht, in welcher unverantwortlichen Weise Reinhold Dich und das Kind vernachlässigt?“
„Er liebt die Musik so sehr,“ sagte Ella leise.
„Willst Du ihn etwa noch entschuldigen?“ eiferte die Mutter. „Das ist ja eben das Unglück, daß er sie mehr liebt als Frau und Kind, daß er nach Euch Beiden nichts fragt, wenn er nur an seinem Flügel sitzen und phantasiren kann. Hast Du denn gar keinen Begriff davon, was eine Frau von ihrem Manne fordern darf und fordern muß, und daß sie vor Allem die Pflicht hat, ihn zur Vernunft zu bringen? Aber freilich, von Dir ist niemals auch nur das Geringste zu erwarten.“
Die junge Frau sah nun allerdings nicht aus, als ob von ihr viel zu erwarten wäre. Sie hatte überhaupt wenig Anziehendes in ihrer Erscheinung, und das Einzige, was an dieser vielleicht hübsch zu nennen war, die zarte, noch mädchenhaft schlanke Gestalt, verbarg sich völlig unter einem höchst unkleidsamen Hausanzuge, der in seiner grenzenlosen Einfachheit eher auf eine dienende Person, als auf die Tochter des Hauses schließen ließ und ganz dazu gemacht war, jeden etwaigen Vorzug möglichst zu verstecken. Von dem blonden Haare war nur ein einziger, schmaler Streifen sichtbar, der glatt gescheitelt über der Stirn lag; das Uebrige verschwand gänzlich unter einer Haube, die wohl besser für die Jahre ihrer Mutter gepaßt hätte und einen eigenthümlichen Gegensatz zu dem Gesichte der kaum zwanzigjährigen Frau bildete. Dieses blasse Gesicht mit den niedergeschlagenen Augen war nicht geeignet, irgend ein Interesse zu erwecken; es hatte gar keinen Ausdruck; es lag etwas Starres, Leeres darin, etwas, das beinahe an Stumpfheit streifte, und in diesem Augenblicke, wo sie die Näherei sinken ließ und ihre Mutter anblickte, zeigte es eine so hülflose Aengstlichkeit und Rathlosigkeit, daß Almbach sich veranlaßt fand, seiner Tochter zu Hülfe zu kommen.
„Laß Ella in Ruhe!“ sagte er mit jenem halb ärgerlichen, halb mitleidigen Tone, mit dem man die Einmischung eines Kindes zurückweist. „Du weißt ja, daß mit ihr nichts anzufangen ist, und was sollte sie auch wohl hier ausrichten!“ [380] Er zuckte die Achseln und fuhr dann bitter fort: „Das ist der Lohn für die Aufopferung, mit der ich mich der verwaisten Knaben meines Bruders angenommen habe! Hugo schlägt aller Dankbarkeit, aller Vernunft und Erziehung in’s Gesicht und geht heimlich auf und davon, und Reinhold, der hier in meinem Hause unter meinen Augen aufgewachsen ist, macht mir die schwersten Sorgen mit seinem unseligen Hange zu allen möglichen Phantastereien. Aber bei ihm wenigstens habe ich den Zügel in Händen behalten und werde ihn jetzt so straff anziehen, daß ihm die Lust vergehen soll, sich noch ferner dagegen zu sträuben.“
„Ja, Hugo’s Undankbarkeit war wirklich himmelschreiend,“ stimmte Frau Almbach ein. „Bei Nacht und Nebel aus unserem Hause zu entfliehen, zur See zu gehen, um ‚sein Glück allein in der Welt zu versuchen‘, wie es in dem kecken Abschiedsbriefe hieß, den er zurückließ! Nun, er scheint es trotzalledem draußen gefunden zu haben. Schon vor zwei Jahren kam der erste Brief des ‚Herrn Capitain‘ an Reinhold an, und dieser deutete erst kürzlich ganz offen auf die bevorstehende Rückkehr hin. Ich fürchte, er weiß bereits ganz Bestimmtes darüber.“
„Ueber meine Schwelle darf Hugo nicht kommen,“ erklärte der Kaufmann mit einer feierlichen Handbewegung. „Ich weiß nichts von seinem Briefwechsel mit Reinhold, will nichts davon wissen. Mögen sie hinter meinem Rücken correspondiren; aber wenn der Ungerathene die Frechheit haben sollte, mir vor Augen zu kommen, so wird er den Zorn eines beleidigten Oheims und Vormundes kennen lernen.“
Während die Eltern sich anschickten, dies augenscheinlich sehr oft behandelte Thema mit der gewohnten Ausführlichkeit und Empörung zu erörtern, hatte Ella unbemerkt das Zimmer verlassen und stieg jetzt die Treppe hinunter, die nach dem zu ebener Erde gelegenen Comptoir führte. Die junge Frau wußte, daß jetzt, zur Mittagszeit, das Personal abwesend war, und das gab ihr wohl den Muth, dort einzutreten.
Es war ein großer düsterer Raum, dem die kahlen Wände und die vergitterten Fenster etwas Gefängnißartiges verliehen. Man hatte sich nicht die Mühe genommen, dem Geschäftszimmer irgend einen Comfort oder auch nur ein freundlicheres Ansehen zu geben. Wozu auch! Was zur Arbeit gehörte, war vorhanden; das Uebrige war Luxus, und einen Luxus pflegte sich das Haus Almbach und Compagnie trotz seines notorisch nicht unbedeutenden Vermögens nie zu gestatten.
Es befand sich augenblicklich Niemand im Comptoir außer dem jungen Manne, der an einem der Pulte saß und das große Hauptbuch vor sich aufgeschlagen hatte. Er sah bleich und überwacht aus, und die Augen, die sich mit den Zahlen beschäftigen sollten, hafteten unverwandt auf dem schmalen Sonnenstreif, der schräg in das Zimmer fiel. Es lag in dem Blicke etwas von der Sehnsucht und Bitterkeit des Gefangenen, dem der Sonnenstrahl, der in seine Zelle dringt, Kunde giebt von dem Leben und der Freiheit draußen. Er wandte kaum den Kopf beim Oeffnen der Thür und fragte gleichgültig:
„Was giebt es? Was willst Du, Ella?“
Jede andere Frau wäre bei der nun folgenden Frage wohl zu ihrem Manne getreten und hätte den Arm um seine Schulter gelegt. Ella blieb dicht an der Schwelle stehen. Es klang doch gar zu eisig, dieses „Was willst Du?“ Sie kam ihm offenbar ungelegen.
„Ich wollte fragen, wie es mit Deinem Kopfschmerz steht,“ begann sie schüchtern.
„Mein Kopfschmerz?“ Reinhold besann sich plötzlich. „Ja so. Ich denke, er ist vorüber.“
Die junge Frau schloß die Thür und kam einige Schritte näher.
„Die Eltern sind wieder recht ungehalten, daß Du gestern nicht beim Feste warst und statt dessen die ganze Nacht hindurch gespielt hast,“ berichtete sie zögernd.
Reinhold runzelte die Stirn. „Wer hat ihnen denn das wieder einmal gesagt? Du vielleicht?“
„Ich?“ Es klang wie ein halber Vorwurf in der Stimme. „Der Buchhalter hat heute Morgen bei der Rückkehr das Gartenhaus noch erleuchtet gesehen und Dein Spiel gehört.“
Ein Ausdruck verächtlichen Spottes zuckte um die Lippen des jungen Mannes. „Ach so; daran hatte ich allerdings nicht gedacht. Ich glaubte nicht, daß die Herren nach ihrem Jubiläum noch Zeit und Lust zu Beobachtungen übrig hätten. Freilich, zum Spioniren sind sie immer nüchtern genug.“
„Der Vater meint –“ begann Ella wieder.
„Was meint er?“ fuhr Reinhold gereizt auf. „Ist es ihm vielleicht noch nicht genug, daß ich vom Morgen bis zum Abend hier an’s Comptoir gefesselt bin? Mißgönnt er mir sogar die Erholung, die ich Nachts in der Musik suche? Ich dächte, ich und mein Flügel wären weit genug verbannt worden; das Gartenzimmer liegt ja so fern und einsam, daß ich nicht in Gefahr komme, den Schlaf eines der Gerechten hier im Hause zu stören. Man kann zum Glück keinen Laut vernehmen.“
„Doch!“ sagte die junge Frau leise. „Ich höre jeden Ton, wenn es ringsum so still ist und ich ganz allein wach liege.“
Reinhold wandte sich um und sah seine Frau an. Sie stand mit niedergeschlagenen Augen und völlig ausdruckslosem Gesichte vor ihm. Sein Blick glitt langsam an ihrer Gestalt nieder, als stelle er unbewußt irgend eine Vergleichung an, und die Bitterkeit in seinen Zügen trat noch deutlicher hervor.
„Das thut mir leid,“ entgegnete er kalt; „aber ich kann es nicht ändern, daß Deine Fenster nach dem Garten hinausgehen. Schließe künftig die Läden! Dann werden Dich meine musikalischen ‚Extravaganzen‘ hoffentlich nicht mehr im Schlafe stören.“
Er schlug die Seiten des Buches um und schien sich wieder in die Zahlen zu vertiefen. Ella wartete wohl noch eine Minute lang; als sie aber sah, daß von ihrer Gegenwart nicht die geringste Notiz genommen wurde, ging sie so still und lautlos, wie sie gekommen war.
Kaum war sie fort, so schleuderte Reinhold mit einer leidenschaftlichen Bewegung das Hauptbuch zur Seite. Der Blick, der auf den so verächtlich behandelten Gegenstand fiel und dann durch das ganze Comptoir schweifte, zeugte von bitterstem Hasse; dann legte er schwer athmend den Kopf auf beide Arme und schloß die Augen, als wolle er nichts mehr von der ganzen Umgebung sehen und hören.
„Grüß Gott, Reinhold!“ sagte auf einmal eine fremde Stimme dicht neben ihm.
Der Gerufene fuhr empor und blickte verwirrt und fragend den Fremden in Seemannstracht an, der unbemerkt eingetreten war und jetzt vor ihm stand. Auf einmal aber schien ihn eine Erinnerung zu durchblitzen; mit einem Aufschrei der Freude warf er sich an die Brust des Ankömmlings.
„Ist’s möglich, Hugo! Du schon hier?“
Zwei kräftige Arme umschlossen ihn fest und ein paar warme Lippen drückten sich wieder und immer wieder auf die seinigen.
„Kennst Du mich wirklich noch? Ich hätte Dich unter Hunderten herausgefunden. Freilich etwas anders siehst Du aus, als der kleine Reinhold, den ich hier zurückließ. Nun, mit mir mag es wohl auch nicht viel besser sein.“
Die ersten Worte klangen noch in tiefer Bewegung, die letzten hatten schon wieder einen etwas übermüthigen Ton. Reinhold’s Arm lag noch zärtlich um den Hals des Bruders.
„Und Du kommst so plötzlich, so ganz unangemeldet? Ich erwartete Dich erst in Wochen.“
„Wir haben eine ungewöhnlich schnelle Fahrt gehabt,“ sagte der junge Capitain heiter. „Und als ich erst einmal im Hafen war, litt es mich auch nicht eine Minute länger an Bord; ich mußte zu Dir. Gott sei Dank, daß ich Dich allein fand! Ich fürchtete schon, ich müsse das ganze Fegefeuer des heimathlichen Zornes passiren und mich mit der gesammten Verwandtschaft herumschlagen, um zu Dir zu gelangen.“
Reinhold’s Gesicht, das noch in der ganzen Freude des Wiedersehens strahlte, verdüsterte sich bei dieser Erinnerung und sein Arm sank langsam nieder.
„Es hat Dich doch noch Niemand gesehen?“ fragte er. „Du weißt, wie der Onkel gegen Dich gesinnt ist, seit –“
„Seit ich mich seiner hochweisen Bestimmung entzog, die mich durchaus an den Comptoirtisch schrauben wollte, und auf und davon ging?“ unterbrach ihn Hugo. „Ja, das weiß ich, und ich hätte den Lärm mit ansehen mögen, der im Hause losbrach, als sie entdeckten, ich sei durchgegangen. Aber die Geschichte ist ja beinahe zehn Jahre her. Der Taugenichts ist nicht [381] gestorben und verdorben, wie es die verwandtschaftliche Liebe ohne Zweifel hundertmal prophezeit und noch öfter gewünscht hat, er kehrt zurück als höchst respectabler Capitain eines höchst vortrefflichen Schiffes, mit allen nur möglichen Empfehlungen an Eure ersten Handelshäuser. Sollten die maritimen und mercantilischen Vorzüge nicht endlich das Herz des zürnenden Hauses Almbach und Compagnie erweichen?“
Reinhold unterdrückte einen Seufzer. „Spotte nicht, Hugo! Du kennst den Onkel nicht, kennst nicht das Leben in seinem Hause.“
„Nein, ich ging noch zu rechter Zeit durch,“ bekräftigte der Capitain. „Und das ist überhaupt das Gescheidteste – so solltest Du es auch machen.“
„Was fällt Dir ein? Meine Frau, das Kind –“
„Ja so!“ sagte Hugo etwas verlegen. „Ich vergesse immer, daß Du verheirathet bist. Armer Junge, Dich haben sie bei Zeiten festgekettet. Solch ein Traualtar ist der sicherste Riegel, den man allen etwaigen Freiheitsgelüsten vorschiebt. Nun, fahre nur nicht gleich auf! Ich glaube ja gerne, daß man Dich zu dem Jawort nicht geradezu gezwungen hat. Wie Du aber dazu gekommen bist, das wird wohl der Onkel zu verantworten haben, und die melancholische Stellung, in der ich Dich traf, spricht auch nicht gerade sehr für die Glückseligkeit eines jungen Ehemannes. Laß Dir doch einmal in’s Auge blicken, damit ich sehe, wie es drinnen ausschaut!“
Er ergriff ihn ohne Umstände beim Arme und zog ihn nach dem Fenster hin. Erst hier im hellen Tageslichte sah man, wie unendlich ungleich die beiden Brüder waren, trotz einer unleugbaren Aehnlichkeit in ihren Zügen. Der Capitain, der Aeltere von Beiden, war von kräftiger und doch eleganter Gestalt, das hübsche, offene Antlitz gebräunt von Luft und Sonne; sein Haar kräuselte sich leicht, und die braunen Augen sprühten Lebenslust und Lebensmuth. Seine Haltung war leicht und sicher, wie die eines Mannes, der gewohnt ist, sich in den verschiedensten Umgebungen und Verhältnissen zu bewegen, und das ganze Wesen hatte einen Zug kecker, übermüthiger Laune, die bei jeder Gelegenheit hervorbrach, aber zugleich eine so frische, offene Liebenswürdigkeit, daß es schwer war, ihm zu widerstehen.
Der um einige Jahre jüngere Reinhold machte einen durchaus verschiedenen Eindruck. Er war schlanker, bleicher als der Bruder; Haar und Augen waren dunkler, und die letzteren blickten ernst, ja düster. Aber es lag etwas auf dieser Stirn und in diesen Augen, das um so mehr anzog, als sich nicht leicht enträthseln ließ, was sich eigentlich dahinter barg. Hugo war vielleicht der Hübschere von Beiden, und doch entschied eine Vergleichung unbedingt zu Gunsten des jüngeren Bruders, der im vollsten Maße jenen seltenen und gefährlichen Reiz des „Interessantseins“ besaß, dem oft genug die vollendete Schönheit weichen muß.
Der junge Mann machte einen hastigen Versuch, sich der angedrohten Beobachtung zu entziehen. „Hier darfst Du nicht bleiben,“ sagte er bestimmt. „Der Onkel kann jeden Moment eintreten, und dann giebt es eine furchtbare Scene. Ich bringe Dich vorläufig nach dem Gartenhause, das ich für mich allein habe einrichten lassen. Du wirst schwerlich der Familie vor die Augen kommen dürfen, aber Deine Ankunft muß sie doch – erfahren. Ich werde sie ihr mittheilen –“
„Und den ganzen Sturm allein aushalten?“ unterbrach ihn der Capitain. „Bitte, das ist meine Sache! Ich gehe jetzt stehenden Fußes hinauf zu dem Herrn Onkel und der Frau Tante und stelle mich ihnen als gehorsamer Neffe vor.“
„Aber Hugo! Bist Du denn ganz von Sinnen? Sie ahnen ja noch gar nichts von Deinem Hiersein.“
„Eben deshalb! Mit Ueberrumpelung nimmt man die stärksten Festungen, und ich habe mich lange darauf gefreut, einmal wie eine Bombe mitten unter die grollende Verwandtschaft zu fahren und zu sehen, was für ein Gesicht sie macht. Aber noch eins, Reinhold, Du giebst mir das Versprechen, ruhig hier unten zu bleiben, bis ich zurückkomme. Du sollst nicht in die peinliche Lage gerathen, Zeuge davon zu sein, wie die ganze Schale des Familienzornes auf mein sündiges Haupt geleert wird. Du könntest in brüderlicher Aufopferung etwas davon auffangen wollen, und das stört mir den ganzen Feldzugsplan. – Jonas, komm einmal herein!“
Er öffnete die Thür und ließ eine Mann ein, der bisher draußen im Hausflur geharrt hatte. „Das ist mein Bruder. Sieh ihn Dir ordentlich an! Du hast Dich bei ihm zu melden und Dein Compliment zu machen. Noch einmal, Reinhold, Du versprichst mir, während der nächsten halben Stunde das Familienzimmer nicht zu betreten. Ich werde schon allein da oben Ordnung schaffen, und müßte ich die ganze Baracke mit Sturm nehmen.“
Er war zur Thür hinaus, ehe der jüngere Bruder auch nur eine Einwendung machen konnte. Noch halb betäubt von dem schnellen Wechsel der letzten zehn Minuten, blickte er auf die breite vierschrötige Gestalt des neuen Ankömmlings, der jetzt einen eleganten Reisekoffer auf die Dielen niedersetzte und sich dicht daneben aufpflanzte.
„Matrose Wilhelm Jonas von der ,Ellida‘, jetzt zur Dienstleistung bei dem Herrn Capitain Almbach!“ rapportirte er vorschriftmäßig, und versuchte dabei eine Bewegung, die wahrscheinlich eine Verbeugung ausdrücken sollte, mit dem anbefohlenen Complimente aber nicht die geringste Aehnlichkeit hatte.
„Es ist gut,“ sagte Reinhold zerstreut. „Lassen Sie das Gepäck einstweilen hier! Ich muß erst hören, wie lange mein Bruder zu bleiben gedenkt.“
„Wir bleiben einige Tage hier bei dem Herrn Onkel,“ versicherte Jonas in großer Gemüthsruhe.
„So? Ist das schon fest bestimmt?“
„Ganz fest.“
„Ich begreife Hugo nicht,“ murmelte Reinhold. „Er scheint keine Ahnung von dem zu haben, was ihm hier bevorsteht, und doch müssen meine Briefe ihn darauf vorbereitet haben. Unmöglich kann ich ihn den ganzen Sturm allein aushalten lassen.“
Er machte eine Bewegung nach der Thür hin, aber diese war vollständig blockirt durch die breite Gestalt des Matrosen, die auch auf den unwillig fragenden Blick des jungen Mannes sich nicht vom Platze rührte.
„Der Herr Capitain hat gesagt, er würde schon allein da oben Ordnung schaffen,“ erklärte er lakonisch, „also schafft er sie auch. Der setzt Alles durch.“
„Wirklich?“ fragte Reinhold, etwas betroffen von der unerschütterlichen Zuversicht dieser Worte. „Sie scheinen meinen Bruder sehr genau zu kennen.“
„Ganz genau.“
Unschlüssig, ob er dem Wunsche Hugo’s Folge leisten solle oder nicht, trat Reinhold an das nach dem Hofe hinausgehende Fenster und gewahrte dort drei oder vier Gesichter, dem Dienstpersonal angehörig, die mit dem Ausdruck grenzenloser Wißbegierde einen Einblick in das Comptoir zu gewinnen strebten. Der junge Mann ließ einen Ausruf unterdrückten Aergers hören und wandte sich wieder zu dem Matrosen.
„Die Ankunft meines Bruders scheint bereits im Hause bekannt zu sein,“ sagte er hastig. „Fremde sind doch sonst nicht eine solche Seltenheit im Comptoir, und die Neugierde gilt offenbar Ihnen.“
„Hat nichts zu sagen,“ brummte Jonas. „Wenn auch das ganze Nest rebellisch wird und uns angafft. Dergleichen ist uns gar nichts Neues mehr. Die Wilden auf den Südseeinseln machen es gerade ebenso, wenn unsere ,Ellida‘ anlegt.“
Es mag dahingestellt bleiben, ob der eben gezogene Vergleich den Hausbewohnern gerade besonders schmeichelhaft erschienen wäre. Zum Glück vernahm ihn Niemand als Reinhold, der es jetzt doch für nothwendig hielt, den Gegenstand dieser Neugierde zu entfernen. Er hieß ihn in das Nebenzimmer treten und dort warten; er selbst blieb zurück und horchte unruhig, ob sich nicht etwa streitende Stimmen vernehmen ließen, aber freilich, das Familienzimmer lag im oberen Stockwerk, und auf der anderen Seite des Hauses. Der junge Mann kämpfte mit sich selber, ob er dem halb und halb gegebenen Versprechen treu bleiben und Hugo gewähren lassen oder ob er nicht wenigstens versuchen solle, ihm den unvermeidlichen Rückzug zu decken, denn daß ein solcher bevorstand, glaubte er ganz genau zu wissen. Er war zu oft Zeuge des Verdammungsurtheils gewesen, das in der Familie über seinen Bruder gefällt wurde, um nicht eine Scene zu fürchten, der selbst dieser nicht Stand halten konnte, aber er kannte seine eigene Stellung dem Onkel gegenüber zu genau, um sich nicht zu sagen, daß sein Einschreiten die Sache nur verschlimmern würde.
[382] Mehr als eine halbe Stunde war in dieser peinigenden Besorgniß vergangen, da endlich ließen sich Schritte vernehmen und der Capitain trat ein.
„Da bin ich. Die Sache ist abgemacht.“
„Was ist abgemacht?“ fragte Reinhold hastig.
„Nun, die Begnadigung natürlich. Ich habe als vielgeliebter Neffe soeben abwechselnd in den Armen des Onkels und der Tante gelegen. Komm mit hinauf, Reinhold! Du fehlst noch im Versöhnungstableau, aber auf eine unendliche Rührung mußt Du Dich gefaßt machen; sie weinen allesammt.“
Der Bruder sah ihn ungewiß an. „Ich weiß nicht, Hugo, soll das Scherz sein oder –“
Der junge Capitain lachte übermüthig, „Du scheinst meinem diplomatischen Talente sehr wenig zu trauen. Glaube übrigens nicht, daß mir die Sache diesmal sehr leicht geworden ist! Auf einen Sturm hatte ich mich allerdings gefaßt gemacht. Hier aber tobte entschieden ein Orcan – pah, wir Seeleute sind an Dergleichen gewöhnt – und als ich erst zu Worte kam, was freilich lange dauerte, da war der Sieg auch schon entschieden. Ich setzte die Rückkehr des verlorenen Sohnes meisterhaft in Scene; ich rief Himmel und Erde zum Zeugen meiner Besserung an; ich riskirte einen Fußfall – das schlug durch, bei der Tante wenigstens. Ich versicherte mich nun zuvörderst des wankenden weiblichen Flügels, um dann mit ihm vereint das Centrum zu stürmen, und der Sieg war glänzend. Begnadigung in aller Form – allgemeine Rührung und Umarmung – Versöhnungsgruppe – mein Himmel, so sieh doch nicht so ungläubig aus! Ich versichere Dir, daß ich im vollen Ernste spreche.“
Reinhold schüttelte den Kopf, aber er athmete doch unwillkürlich auf. „Das begreife, wer da kann! Ich hätte es für unmöglich gehalten! Hast Du“ – die Frage klang eigenthümlich unsicher – „Hast Du meine Frau gesehen?“
„Ja wohl,“ sagte Hugo gedehnt. „Das heißt, viel habe ich eigentlich nicht von ihr gesehen, und noch weniger gehört, denn sie verhielt sich ganz passiv bei der Scene und weinte nicht einmal wie die Uebrigen. Noch immer die kleine Cousine Eleonore, die stets so still und scheu in ihrem Winkelchen saß, aus dem sie selbst unsere wildesten Knabenneckereien nicht hervorscheuchten – und das ist Deine Frau geworden! Aber jetzt muß ich vor allen Dingen den Stammhalter des Hauses Almbach bewundern. Wo habt Ihr ihn?“
Reinhold sah auf und ein helles Aufleuchten verdrängte für einen Augenblick alle Düsterheit in seinem Antlitze. „Meinen Knaben? Ich will ihn Dir zeigen. Komm, wir wollen zu ihm.“
„Gott sei Dank, doch endlich einmal ein Zug von Glück in Deinem Gesichte!“ sagte der Capitain mit einem Ernste, den man seinem Uebermuthe kaum zugetraut hätte, und mit sinkender Stimme setzte er hinzu: „Ich habe ihn bis jetzt vergebens darin gesucht.“
Das Haus Almbach und Compagnie gehörte zu denen, deren Name an der Börse wie in der Handelswelt überhaupt einen guten Klang hat, ohne gleichwohl irgendwie von hervorragender Bedeutung zu sein. Die Beziehungen seines Chefs zu dem Consul Erlau waren nicht blos geschäftlicher Natur; sie datirten noch aus früheren Zeiten, wo Beide, gleich jung und mittellos, bei einem und demselben Handlungshause in die Lehre traten, der Eine, um sich zum reichen Kaufherrn aufzuschwingen, dessen Schiffe auf allen Meeren schwammen und dessen Verbindungen in alle Welttheile hinüberreichten, der Andere, um ein bescheidenes Geschäft zu gründen, dessen Umfang sich nie über gewisse Grenzen hinaus erstreckte. Almbach scheute jede gewagte Speculation, jede größere Unternehmung, und war auch keineswegs der Mann, dergleichen zu überblicken und zu leiten; er zog einen mäßigen, aber sicheren Gewinn vor, der ihm auch im vollsten Maße zu Theil ward. Seine gesellschaftliche Stellung war von der Erlau’s freilich so verschieden wie das alterthümliche, düstere Haus in der Canalstraße mit seinem hohen Giebel und vergitterten Comptoirfenstern von dem fürstlich eingerichteten Palais am Hafenbassin. Die Freundschaft zwischen den ehemaligen Jugendgefährten hatte sich allmählich mehr und mehr gelockert, aber es war wohl hauptsächlich Almbach, der die Schuld daran trug. Er konnte sich nicht darein finden, daß der Consul, nachdem er zum Millionär geworden, auch auf einem Fuße lebte, der dieser Stellung entsprach. Vielleicht verzieh er es ihm auch nicht, daß Jener den ersten Platz einnahm, wo er selbst erst in dritter oder vierter Reihe stand, und so sehr er in geschäftlicher Hinsicht die Vortheile zu benutzen wußte, die eine nähere Bekanntschaft mit der großen Erlau’schen Firma ihm eröffnete, so sehr hielt er seinen streng bürgerlichen und etwas altfränkischen Haushalt außer aller Berührung mit dem des Consuls. Die Einladungen desselben hatten aufgehört, als er sah, daß sie nicht gern angenommen wurden; jetzt beschränkte sich die beiderseitige Begegnung schon seit Jahren auf ein gelegentliches Zusammentreffen an der Börse oder am dritten Orte, und kürzlich hatte sich Almbach sogar, als eine Geschäftssache persönliche Rücksprache verlangte, durch seinen Schwiegersohn vertreten lassen. Es war ihm durchaus nicht lieb, daß dem jungen Manne bei dieser Gelegenheit die Einladung zur Oper und zu der darauffolgenden Soirée zu Theil wurde, und so wenig sich diese Artigkeit ablehnen ließ, so wenig verhehlte der Kaufmann seiner Familie gegenüber seinen Unmuth über die Einführung Reinhold’s in das „Nabobleben“, eine Bezeichnung, mit der er gewöhnlich den Haushalt seines alten Freundes beehrte.
Trotz alledem war Almbach ein wohlhabender, ja, wie von vielen Seiten behauptet wurde, sogar ein sehr vermögender Mann geworden und in dieser Eigenschaft der Mittelpunkt und die Stütze einer zahlreichen, nicht gerade sehr mit Glücksgütern gesegneten Verwandtschaft. So fiel ihm denn auch die Sorge für die Erziehung seiner beiden verwaisten Neffen anheim, die ihr Vater, ein Schiffscapitain, gänzlich mittellos zurückgelassen hatte.
Almbach besaß nur ein einziges Kind, dessen Existenz er freilich nie eine besondere Wichtigkeit beigelegt hatte, da es ein Mädchen war. Der Consul und dessen Gattin waren die Pathen der Kleinen gewesen, und es konnte immerhin als ein Act der Selbstüberwindung gelten, daß Almbach seiner Tochter den Namen der Frau Erlau beilegte, denn er haßte das vornehm und romantisch klingende „Eleonore“ ganz außerordentlich und beeilte sich sehr bald, es in das weit einfachere „Ella“ umzugestalten. Diese Bezeichnung war wohl auch die passendere, denn Ella Almbach galt überall für ein nicht bloß einfaches, sondern sogar für ein äußerst beschränktes Wesen, dessen Horizont sich nie über die kleinen Vorkommnisse der Häuslichkeit und der Wirthschaft hinaus erstreckte. Das Kind war in früheren Zeiten sehr kränklich gewesen, und das mochte auch auf die Entwickelung seiner geistigen Fähigkeiten lähmend gewirkt haben. Sie waren in der That sehr untergeordneter Natur, und die äußerst einseitige, streng wirthschaftliche Erziehung im Elternhause, die jeden andern Ideen- und Gedankenkreis ausschloß, schien auch nicht geeignet, ihnen eine höhere Richtung zu geben. So war das Mädchen denn still und scheu herangewachsen, stets übersehen, überall bei Seite geschoben und ohne die geringste Geltung selbst bei den nächsten Familiengliedern. Man hatte sich gewöhnt, sie als ganz unselbstständig und halb unzurechnungsfähig zu betrachten, und auch ihre spätere Heirath änderte darin durchaus nichts.
Keines der jungen Leute erhob einen Einwand gegen den längst gehegten und ihnen längst bekannten Plan einer Verbindung. Ein siebenzehnjähriges Mädchen und ein zweiundzwanzigjähriger Mann haben wohl überhaupt noch nicht viel Selbstbestimmung, am wenigsten, wenn sie in so abhängigen Verhältnissen aufgewachsen sind. Hier kam noch die Gewohnheit eines steten Zusammenlebens hinzu, das doch immerhin eine Art von Neigung erzeugt hatte, obgleich diese bei Reinhold eigentlich nur mitleidige Duldung und bei Ella geheime Furcht vor dem ihr geistig so sehr überlegenen Vetter war. Sie reichten sich also gehorsam die Hand zur Verlobung, der in Jahresfrist die Trauung folgte. Ueber Beiden waltete nach wie vor das Scepter Almbach’s, der seinem nunmehrigen Schwiegersohne, der dem Namen nach jetzt sogar Compagnon war, so wenig irgend eine Selbstständigkeit im Geschäfte gestattete, wie seine Gattin der jungen Frau im Haushalte.
In seinem „Gaudeamus“, diesem unerschöpflichen Schatze von Geist, Humor und Laune, giebt Josef Victor Scheffel, der noch immer viel zu wenig gekannte, dafür aber von verhältnißmäßig Wenigen auch um so mehr geschätzte, gelehrte und gemüthvolle Dichter des „Ekkehard“, eine Schilderung des Megatherium und damit den Kern der ungünstigen Nachreden wieder, welche bis zum heutigen Tage die Naturgeschichte der Faulthiere trüben. Es ist noch nicht lange her, daß jene Nachreden und gewisse Uebertreibungen, welcher man sich bei Schilderungen besagter Thiere zu schulden kommen ließ, selbst von Naturforschern geglaubt wurden, und somit erscheint es, wenn auch nicht verzeihlich, so doch erklärlich, daß geistlose Schriftsteller noch gegenwärtig das im Ernste wiederkäuen, was der geistvolle Dichter zu anmuthigem Scherze gestaltete.
„Das hurtige Hündchen,“ sagt der Spanier Gonsalvo Fernando Oviedo, dem wir die ersten Nachrichten über die Faulthiere verdanken, „ist das trägste Thier der Erde. So schwerfällig und langsam bewegt es sich, daß es einen ganzen Tag braucht, um nur fünfzig Schritte zurückzulegen. Die ersten Christen, welche es gesehen, erinnerten sich, daß man in Spanien die Neger ‚weiße Hänse‘ nennt, und gaben ihm daher spottweise den Namen ‚hurtiges Hündchen‘. Es ist eines der sonderbarsten aller Thiere. Den Hals bewegt es, als ob es staune. Sein einziger Wunsch und sein Vergnügen ist, hoch an Bäumen zu hängen oder sonst an etwas, wo es klettern kann, und daher sieht man es oft an Bäumen, an denen es langsam hinaufklettert, immer mit den Klauen sich festhaltend. Seine Stimme ist von der aller anderen Thiere sehr verschieden; es singt auch immer nur bei Nacht. Hat es einmal gesungen, so wartet es eine Zeit lang und wiederholt dann dasselbe; aber nur bei Nacht läßt es sich vernehmen, und deshalb sowie seiner kleinen Augen wegen halte ich es für ein Nachtthier. Findet es einen Baum, so klettert es sogleich auf die höchsten Aeste des Wipfels und bleibt daselbst zehn, zwölf, ja zwanzig Tage, ohne daß man weiß, was es frißt. Bisweilen fangen es die Christen und tragen es nach Hause; dann läuft es mit seiner natürlichen Langsamkeit und läßt sich weder durch Drohungen noch Stöße zu größerer Schnelligkeit bewegen, als es ohne äußere Anreizung an den Tag zu legen pflegt. Ich habe es zu Hause gehabt, und nach meiner Erfahrung muß es von der Luft leben; dieser Meinung sind auch noch viele Andere, denn Niemand hat es irgend etwas fressen sehen. Meist wendet es den Kopf und das Maul nach der Gegend, woher der Wind weht, woraus folgt, daß ihm die Luft sehr angenehm sein muß. Es beißt nicht und kann es auch nicht, wegen seines sehr kleinen Maules; es ist auch nicht giftig, übrigens aber das dümmste und unnützeste Geschöpf, welches ich bis zur Stunde gesehen habe.“
Ich mußte diese erste Beschreibung des Aï oder dreizehigen Faulthieres – denn nur dieses oder einer seiner nächsten Verwandten kann gemeint sein – hier anführen, weil sie von einer Reihe späterer Berichterstatter entweder einfach wiederholt oder mit Zusätzen bereichert wird, welche noch weit weniger Beobachtungsgabe und Verständniß bekunden, als beides Oviedo besaß.
Unsere treffliche, von Mützel dem Leben abgelauschte, treu wiedergegeben Abbildung des Ai (Bradypus tridactylus), wohl die beste und richtigste Zeichnung, welche bis jetzt verallgemeinert wurde, überhebt mich einer eingehenden Beschreibung der Aeußerlichkeit dieser, von dem Unau oder „zweizehigen Faulthiere“ nicht unerheblich abweichenden Art. Doch glaube ich auf die eigenthümliche Richtung, den „Strich“ der sehr richtig mit winterdürrem, das heißt, abgestorbenem Heu verglichenen Haare aufmerksam machen zu müssen. Während bekanntlich bei den Säugethieren insgemein der Strich von der oberen nach der unteren Seite, vom Rücken nach dem Bauche sich richtet, ist bei den Faulthieren, entsprechend ihrer hängenden Lebensweise, das gerade Gegentheil der Fall; die Haare scheiteln sich auf der Brust und fallen nach dem Rücken zu, aber ebenfalls hinab, nicht hinauf. Der Aï mit seinen nächsten Verwandten macht insofern eine Ausnahme von der Regel, als sein reiches Haupthaar von oben nach unten hängt; dies aber erklärt sich aus seiner geradezu beispiellosen Kopfhaltung, welche ermöglicht wird durch eine ungewöhnliche Anzahl von Halswirbeln. Gerade hierdurch, innerlich, das heißt im Gerippe, als ungleich mehr als äußerlich, weichen die Faulthiere von allen übrigen Säugethieren ab. Der Mensch wie der Walfisch, die Fledermaus wie das Beutelthier, der Maulwurf wie die Girafe, der Löwe wie der Elephant haben übereinstimmend sieben Halswirbel, und wenn einmal weniger vorzukommen scheinen, wie bei einzelnen Delfine, ist eine Verschmelzung, nicht aber ein Fehlen als Ursache anzunehmen. Bei den Faulthieren scheint die Regellosigkeit zur Regel geworden zu sein. Der Unau, das sogenannte zweizehige Faulthier (Choelopus didactylus), hat allerdings ebenfalls sieben Halswirbel, eine ihm verwandte, gegenwärtig im Kölner Thiergarten lebende Art (Choelopus Hoffmanni) aber besitzt deren nur sechs, während bei dem Aï deren neun, bei dem diesen verwandten Kapuzenfaulthier (Bradypus cucullatus) deren zehn oder, da die Artbestimmung der zergliederten Stücke nicht zweifellos ist, bei jenen zehn und bei diesen neun gefunden werden. Man hat deuteln und die überzähligen Halswirbel als Brustwirbel erklären wollen, um die außerordentliche Abweichung in Einklang mit der Regel zu bringen; gedachte Deutelei erweist sich jedoch demjenigen, welcher ein lebendes Faulthier der Sippe Bradypus beobachtet, als gänzlich unfruchtbar. Denn letzteres macht von neun oder zehn Halswirbeln einen dieser Anzahl durchaus entsprechenden umfassenden und den Beschauer anfänglich geradezu verblüffenden Gebrauch; es ist, wie unsere Abbildung deutlich erkennen läßt, im Stande, seinen Kopf soweit zu drehen, daß das Gesicht geradezu die entgegengesetzte Stellung wie bei anderen Thieren einnehmen kann und meist einzunehmen pflegt.
Die Faulthiere sind auf Süd- und Mittelamerika beschränkt. Sie bewohnen hier die ausgedehnten, wenig bevölkerten Waldungen der Tiefebenen und Stromthäler, welche, durch Feuchtigkeit und die aufregenden Strahlen der Sonne zum üppigsten Stande gebracht, in einer uns Nordländer zur Bewunderung hinreißenden Weise ihre drei- und mehrfach übereinander geschichteten und gedrängten, mannigfaltig verschiedenen Laubmassen entwickeln. An diese Waldungen sind sie gebunden; sie stehen und fallen mit ihnen. Wo die Axt zur Geltung kommt, wo im frisch gerodeten Walde die Kaffeepflanzung entsteht, das Haus des Ansiedlers aufgebaut wird, verschwinden sie, wie sie in vielen Gegenden bereits verschwunden sind. Doch giebt es immerhin noch ausgedehnte, von dem Alles vernichtenden Weißen kaum berührte Strecken, auf denen sie nicht selten auftreten. Häufig im eigentlichen Sinne des Wortes bemerkt man sie nirgends; denn sie vermehren sich schwach und scheinen durchaus nicht gesellig zu sein. Fast wehrlos, weder zu erfolgreicher Vertheidigung noch zu rettender Flucht befähigt, fallen sie, wenn sie in dem Laubgewoge einmal entdeckt wurden, dem ewig hungrigen Indianer wie dem mordsüchtigen Weißen leicht zur Beute, und auch sonst haben sie von Feinden zu leiden. Vor größeren Raubsäugethieren, die kletternden Katzen vielleicht ausgenommen, sichert sie ihr Leben in der Höhe; das scharfe Auge der Raubvögel aber vermag ihr rindenfarbiges Haarkleid doch von der Umgebung zu unterscheiden, und so fest sie sich auch an den Zweig, welcher sie trägt, anzuklammern oder so kräftig sie die langen Sichelkrallen, ihre einzige, nicht ungefährliche Vertheidigungswaffe, zu gebrauchen versuchen, die erdolchende Klaue des größeren Raubvogels ist schärfer als die ihrige, die Kraft des Adlers ihrer Ohnmacht bei weitem überlegen: die Harpyie, der gewaltigste und raubtüchtigste Adler der Erde, soll sie stückweise von den Aesten reißen.
Es läßt sich nicht verkennen, daß die Faulthiere insgesammt zu den am wenigsten entwickelten Säugethieren zählen; so tief, wie man anzunehmen gewohnt ist, stehen sie jedoch nicht. Die meisten Beobachter, welche sie während ihres Freilebens kennen lernten, haben sich, selbst wenn sie durch Vorurtheile nicht befangen waren, in schwer begreiflicher Weise täuschen lassen; sie haben nicht erkannt, daß Oviedo’s Vermuthung die einfache Wahrheit ist, daß nämlich die Faulthiere nur bei Nacht, nicht [385] aber bei Tage thätig sind. Hierin finde ich die Erklärung aller Fabeln und Unwahrheiten, aller Uebertreibungen und Ausschweifungen, welche die Naturgeschichte der Faulthiere enthält.
Ein bei Tage überraschtes, noch schlaftrunkenes oder doch aus dem gewohnten Geleise gebrachtes Faulthier macht allerdings keinen ansprechenden Eindruck auf den Beschauer. „Träg’ glotzt es in die Welt hinein,“ sagt Scheffel vom Megatherium richtiger, als Schomburgk vom Aï, indem er von „wehmüthigen und bittenden Blicken“ spricht. Eigenthümlich glotzend, wie die aller Nachtthiere, sind auch mir diese Blicke erschienen, und merkwürdig unsicher, wie geistesabwesend, obendrein, nicht aber bittend und wehmüthig. Ohne zu flüchten, läßt es den Menschen an sich herankommen und nur in Ausnahmefällen schickt es sich, wenn man es ergreift und von seinem Aste loszureißen sucht, zur Vertheidigung an.
An eine Abwehr durch Beißen, wie das zweizehige Faulthier ohne Weiteres thut, denkt der Aï nicht; sein Maul ist auch viel zu klein, als daß er ein größeres Glied packen könnte. Hat man die Sichelkrallen, welche das Faulthier sehr fest um den Ast schlägt, glücklich gelöst, und setzt man es auf den flachen Boden, so bewegt es sich hier in wahrhaft erbarmenerweckender Weise. Vergebens müht es sich ab, vorwärts zu kommen, vergebens tastet und greift es mit beiden Vorderfüßen in allen Richtungen umher, in der Absicht, einen ihm passend erscheinenden Anhaltspunkt zu suchen. Gelingt es ihm, solchen zu finden, so hakt es die Sichelkrallen des einen Fußes an ihm fest, streckt schnell den anderen Vorderfuß ebenfalls darnach aus und zieht nunmehr mühsam den Leib nach. Mit ersichtlicher Anstrengung, unter schweren Athemzügen, unsicher in jeder Bewegung, tastend und versuchend, das eben Erstrebte oder Erreichte sofort wieder aufgebend, bald hierhin, bald dorthin sich wendend, kriecht es im Laufe von Stunden thatsächlich nur wenige Schritte weit, und erscheint dann wirklich als ein Stiefkind der Natur, scheint allerdings seinen Namen zu verdienen. Hat es endlich einen Ast erreicht, und ist es im Stande, hier in üblicher Lage sich aufzuhängen, so blickt es noch einige Male in die Runde und nimmt dann so bald wie möglich seine (auf unserer Abbildung unten rechts dargestellte) Schlafstellung an. In sich zusammengeknäuelt, den Kopf auf die Brust gebeugt und zwischen den vier dicht aneinander gepreßten Beinen verborgen, einem an seinen Tragriemen aufgehangenen Ranzen vergleichbar, hängt es an seinem Aste und verharrt fortan regungslos bis zum Einbruche der Dämmerung. Daß man unter all solchen Umständen von den geistigen Eigenschaften des Aï wenig wahrnimmt, muß begreiflich erscheinen, und somit erklären sich auch die absprechenden Urtheile der Reisenden in dieser Beziehung.
In den Augen einzelner Naturforscher gelten die Faulthiere als stumpfsinnige, geistlose, dummgleichgültige Geschöpfe. Man sagt ihnen nach, daß sie weder Leidenschaften noch andere geistige Regungen bekunden, weder Liebe noch Haß, weder Freundschaft noch Feindschaft zeigen, weder Furcht noch Muth bethätigen, veränderten Umständen willen- und verständnißlos sich fügen und höchstens Naturtrieb untergeordneter Art erkennen lassen sollen. Unterstützt wird diese Annahme durch die Trägheit ihrer Lebensäußerungen und Lebensthätigkeiten, wie durch eine Lebenszähigkeit, von welcher man geradezu unglaubliche Dinge berichtet. Hunger und Durst, Luftmangel und anderweitige Entbehrungen, Verwundungen und Gifte ertragen die Faulthiere mit einer uns räthselhaft dünkenden Fühllosigkeit und scheinbar mit Gleichsmuth. Schomburgk hielt einen Aï, um ihn zu tödten, zwanzig Minuten lang unter Wasser, ohne seinen Zweck zu erreichen; er vergiftete andere Stücke mit dem furchtbare Urari, welches, in das Blut des größten Raubthieres gebracht, dieses binnen wenigen Secunden lähmt und unter Krämpfen verenden macht, und erfuhr, daß das vergiftete Faulthier erst nach Verlauf von einer Viertelstunde seinen letzten Athemzug aushauchte. „Wurde ein solches Thier,“ so berichtet derselbe, „das Ziel meiner Flinte, so veränderte es weder seine Stellung, noch stieß es einen Schmerzenslaut aus. Bei der einen Gelegenheit schoß ich viermal nach einem, welches kaum dreißig Fuß über mir an einem Aste klebte, ohne daß es herabgefallen wäre oder eine schmerzhafte Bewegung gezeigt hätte.“
Derartige Wahrnehmungen verleiten um so leichter zu falschen Schlußfolgerungen, je weniger sie durch Beobachtungen des wirklich wachen und thätigen Thieres berichtigt werden können. Die Schweigsamkeit der Faulthiere, ihre Anspuchslosigkeit betreffs der Nahrung, ihre geringe Theilnahme an dem Wohl und Wehe Anderer ihres Gleichen, das eigene an der Mutterbrust hängende Junge nicht ausgenommen, tragen ebenfalls das Ihrige zu der ungünstigen Beurtheilung der geistigen Kräfte bei, und so wird es erklärlich, daß man auch gefangenen Aïs oder Unaus von vornherein mit Vorurtheilen gegenübertrat und es kaum der Mühe werth hielt, sich längere Zeit eingehend mit ihnen zu beschäftigen. Und doch kann man nur hierdurch über sie und ihr Wesen ein einigermaßen richtiges Urtheil gewinnen.
Seitdem unsere Dampfschiffe unmittelbar mit den südamerikanischen Häfen verkehren, gelangen gefangene Faulthiere ziemlich regelmäßig zu uns. Sie widerlegen schon hierdurch die ebenfalls angestellte Behauptung, daß man sie nicht an ein Ersatzfutter gewöhnen und somit längere Zeit im Käfige halten könne. So wie einen eben seiner Freiheit beraubter Wiederkäuer oder Nager darf man sie freilich nicht behandeln, will man nicht Gefahr laufen, sie Hungers sterben zu sehen. Gewohnt, ihre Nahrung, Baumblätter und Früchte in hängender Stellung, über sich, wegzunehmen, gehen viele, ich glaube sogar die meisten Faulthiere, elendiglich zu Grunde, einfach deshalb, weil man ihnen Futterstoffe und Trinkwasser in Gefäßen auf den Boden der Versandkiste setzt, in der Erwartung, daß sie sich der Nahrungsstoffe bedienen werden, während sie, auch abgesehen von ihrer Unbekanntschaft mit den gewöhnlich gereichten Futterstoffen selbst, gar nicht daran denken, nach unten zu sehen und unter ihnen liegende Nahrung aufzunehmen. Giebt man sich dagegen die Mühe, sie wie kleine unmündige Kinder zu atzen, indem man ihnen die Nahrung vor das Maul hält, so fressen sie, sobald sie hungrig sind, gewöhnen sich allmählich an Ersatzstoffe mancherlei Art, Obst und andere Früchte, gekochten Reis, Eier, Milchbrod z. B., und lernen es auch in nicht allzu langer Zeit, von oben herab selbst zuzugreifen. Entsprechend ihren geringen Fähigkeiten macht ihre Zähmung nur langsame Fortschritte, aber doch solche, welche vorgefaßte Meinungen hinsichtlich ihrer Stumpfgeistigkeit auf das Bestimmteste widerlegen. Allmählich gewöhnen sie sich an Käfig und Wärter, machen sich im ersteren heimisch und schließen sich dem Letzteren mit ersichtlicher Zuneigung an, achten auf den Ruf, lassen sich ohne Abwehr oder Widerstreben ergreifen, von ihrem Sitze, beziehentlich von ihrer Hängestange loslösen, in den Schooß nehmen, atzen etc., gehen der Wärme nach, entäußern sich ihrer Gewohnheiten, indem sie sich beispielsweise in erwärmtes Heu oder Stroh verkriechen, und bekunden auch sonst noch entschieden Verständniß für die veränderten Umstände, unter denen sie zu leben gezwungen sind.
Der beobachtungseifrige Naturforscher, in dessen Besitz und Pflege ein gefangenes Faulthier gelangt, kann sich tage- und wochenlang mit ihm beschäftigen, bevor er seine wesentlichsten Eigenthümlichkeiten kennen gelernt hat. An einer Querstange der Versandkiste hängt der schlafende Aï in der oben beschriebenen Stellung, ohne von seinem Kopfe das Geringste sehen zu lassen, das stummelhafte Schwänzchen gerade ausgestreckt, das in verkehrter Richtung gestrichene Haar etwas gesträubt. Gelindes Schütteln mit der herausgehobenen Stange stört seinen Schlummer nicht; denn jeder Windhauch versetzt das freilebende Thier in ein ähnliches Schaukeln. Endlich aber, vielleicht in Folge der ihm zum Bewußtsein gelangenden Stimmlaute seiner bewundernden Beschauer, erwacht es doch, und hervor streckt sich ein auf langem, schmächtigem Halse sitzender, mäßig großer Kopf „mit rundem Eulenangesicht“ und unendlich gutmüthigem Ausdrucke des recht hübsch gezeichneten Antlitzes. Noch liegt die Mittellinie des Scheitels in derselben Richtung wie das Rückgrat, also nach unten; plötzlich aber führt der Aï eine Drehung aus, wie kein zweites Säugethier, auch nicht der Unau und seine Verwandten, es vermag: er dreht den Kopf um volle hundertachtzig Grade, von rechts oder links beginnend, sodaß die Scheitellinie mit dem Brustbeine in eine Richtung zu liegen kommt. Dies geschieht mit derselben Leichtigkeit, mit welcher man eine Hand umwendet, und wirkt so überraschend, daß man sich an den auffallenden Anblick gewöhnen muß, bevor man ihn verstehen lernt. Ungeübte Beobachter gelangen ist der Regel erst, wenn sie darauf aufmerksam gemacht worden sind, zum Bewußtsein des [386] Absonderlichen dieser Stellung. Alle übrigen Bewegungen des Thieres geschehen mit außerordentlicher Langsamkeit und Bedächtigkeit, auch ungleich schwerfälliger als die des zweizehigen Faulthieres, welches unzweifelhaft viel höher begabt ist, als der Aï, und durch eine gewisse Behendigkeit in den Füßen das zu ersetzen weiß, was dieser durch die Gelenkigkeit des Halses vor ihm voraus hat.
Beim Klettern setzt der Aï langsam einen Fuß vor den anderen, die langen Sichelkrallen einfach wie Haken benutzend, und ehe er einen anderen Ast gepackt hat, läßt er den ersten sicherlich nicht los. So ungeschickte Werkzeuge die hakigen Krallen zu sein scheinen, so trefflich erfüllen sie ihren Zweck. Die Fertigkeit aller Faulthiere, an einen Ast oder auch an eine glatte Stange sich anzuklammern, setzt in Erstaunen. Man kann solche Stange drehen und wenden, wage- oder senkrecht, schief nach oben oder nach unten halten, ohne daß das Thier seinen Halt verliert. Selbst wenn es sich nur mit zwei Füßen, gleichviel ob mit den beiden vorderen oder hinteren, deren einer Seite oder mit einem Vorder- und dem andersseitigen Hinterfuße angehakt hat, hängt es fest und sicher, ohne jemals Ermüdung bemerken zu lassen, möge seine Stellung sein wie sie wolle. Die Gliedmaßen zeigen bei dem Wechsel der verschiedenen Stellungen eine Gelenkigkeit, welche man am liebsten Gelenklosigkeit nennen möchte, so vollständig weiß das Thier sie um ihre Achse zu drehen. Ob die Krallen nach dieser oder nach jener Seite hin gewendet werden, ist dem Faulthiere gleichgültig; seine Beine gleichen in Ansehen und Bewegung Stricken mehr als gegliederten Geh- beziehentlich Hängewerkzeugen.
In der Regel verschläft das Faulthier den ganzen Tag, es sei denn, daß trübes Wetter es an der Tageszeit irre werden läßt. Es erwacht in den späteren Nachmittagsstunden und beginnt nun zunächst, das Haarkleid zu ordnen. Zu diesem Ende hängt es sich mit den beiden Beinen einer Seite auf und benutzt die Klauen der freigewordenen Füße als Kämme. Ist die eine Seite geputzt, so wechselt es die es tragenden und strählenden Füße einfach um. Die Ordnung der Haare geschieht mit ebensoviel Sorgfalt als Bedachtsamkeit, und in dem so wenig beweglichen Gesichte zeigt sich dabei der unverkennbare Ausdruck jener Behaglichkeit, welche alle Thiere beim Kratzen ihrer Haut oder Krauen ihres Felles erkennen lassen. Nachdem das Geschäft des Putzens beendet, denkt das Faulthier an seine Nahrung. Ist es gewöhnt worden, aus einem Napfe zu fressen, so läßt es mit den Vorderfüßen die Hängestange los, beugt sich kopfabwärts nach unten, stützt sich vielleicht auch leicht mit den Vorderfüßen auf und frißt; wird es von seinem Pfleger geatzt, so läuft es, unruhig denselben erwartend, im Käfige hin und her, geht oder klettert dem endlich erscheinenden Manne eilfertig entgegen, versucht sich an ihn anzuhängen und nimmt, ergriffen und in den Schooß des sitzenden Pflegers gelegt, sofort die diesem bequemste Stellung ein, indem es sich auf den Rücken legt, alle vier Glieder von sich streckt und mit den Krallen an den Kleidern seines Freundes sich festhält. Der Unau öffnet sein großes Maul weit und frißt, eifrig kauend, mehrere Bissen rasch nacheinander; der Aï ißt sehr zierlich und nur kleine dünne Scheibchen. Eine Art wie die andere bekundet Vorliebe für den einen oder den andern Nahrungsstoff und nicht allein einen keineswegs unentwickelten Geschmack, sondern selbst eine gewisse Leckerhaftigkeit. Nach geschehener Sättigung pflegt das Thier eine nochmalige Ordnung seines Haarkleides vorzunehmen, hierauf in seiner Weise spazieren zu gehen, sodann eine Weile verdauend zu ruhen, hierauf sich wieder zu bewegen etc. So verbringt es die Nacht.
Um andere lebende Wesen bekümmert sich das Faulthier erst dann, wenn dieselben ihm in unerwünschte Nähe kommen. Daß es weder Haß noch Liebe an den Tag legen soll, ist falsch. Wenig gesellig, läßt es sich zwar anscheinend mit Gleichmuth gefallen, wenn man ein zweites Stück seiner Art zu ihm bringt, keineswegs aber, wenn man ihm die Gesellschaft anderer Thiere aufzwingt. Als ich versuchsweise einen Aï zu einem längere Zeit von mir gepflegten, in seinem Käfige bereits eingewohnten Unau unterbringen wollte, gerieth letzterer in eine Aufregung, welche mich in Erstaunen setzte, eilte rasch auf den Ankömmling zu, versetzte ihm zunächst, weit ausholend, einige Schläge mit den Klauen des einen Vorderfußes, näherte sich sodann mehr und gebrauchte die Zähne, so gut deren Mangelhaftigkeit gestattete. Der Wärter, welcher beide Thiere trennen mußte, bekam ebenfalls den Zorn des erbosten Geschöpfes zu fühlen. Daß das Thier auch der Liebe nicht unzugänglich ist, erfuhr mein Berufsgenosse Funk, Leiter des Kölner Thiergartens, welcher das außerordentliche Glück hatte, ein trächtiges Faulthier und von ihm ein Junges zu erhalten. Letzteres wurde von seiner Mutter sehr sorgfältig gepflegt und erst, nachdem es halb erwachsen war, von ihr abgestreift und zur Selbstständigkeit gezwungen.
Ich habe mit vorliegender Skizze die Naturgeschichte der Faulthiere selbstverständlich nur in groben Umrissen zeichnen können, glaube aber doch bewiesen zu haben, daß sie die Geringschätzung, unter welcher sie bisher zu leiden gehabt haben, nicht verdienen. Was uns an ihnen unverständlich erscheinen will, wird uns klar, wenn wir sie im Zusammenhange mit ihrem Wohngebiete betrachten. In ihm erfüllen auch sie, wennschon vielleicht nicht einen besondern Zweck, so doch wohl einen bestimmten Wirkungskreis, und dieser ist größer, als wir bisher angenommen haben.
Im vorigen Aufsatze wurde von der absichtlichen Verkörperung der Gemälde gesprochen; im Folgenden wird von einer mehr unfreiwilligen Belebung derselben die Rede sein, welche in Romanen eine große Rolle spielt, und auf gläubige oder abergläubige Gemüther stets eine gewaltige Wirkung ausgeübt hat. Wir meinen zunächst die bekannte Eigenthümlichkeit vieler Portraits, immer „Aug’ in Auge“ mit dem Beschauer zu bleiben, scheinbar also den Augapfel zu bewegen. Dichter und Erzähler aller Art haben die Scenen weit ausgemalt, in denen ein Gemälde die Rolle einer handelnden Person übernimmt. Sie schildern die Seligkeit des Liebenden, wenn die Augen eines Portraits des geliebten Gegenstandes auf ihm ruhen, woran sich freilich auch, wie in der liebenswürdigen „Zimmerreise“ Xavier de Maistre’s, ein Ausbruch der Eifersucht schließen kann, wenn er bemerkt, daß das Portrait mit allen im Zimmer anwesenden Personen auf gleiche Weise liebäugelt. Sie schildern die qualvollen Scenen, welche das ungerathene Kind vor dem Portrait seiner im Grame verstorbenen Mutter, der Mörder vor dem Bilde seines Opfers zu bestehen hat, wie solche Bilder endlich beseitigt oder mit Vorhängen bedeckt werden müssen, da die Geängstigten sich an keiner Stelle des Zimmers sicher fühlen, ja selbst die peinliche Empfindung haben, im Rücken angeschaut zu werden, wenn sie sich umgewendet haben. In den Ritterromanen führen uns ähnliche Schilderungen meistens in die ehrwürdigen Ahnen-Galerien. Den Feigling peinigen dort die zornigen Blicke seiner braven und tapferen Vorfahren; der Erbe des Hauses sieht die Blicke des ganzen Geschlechtes auf sich vereinigt; der Zögernde wird ermuthigt und der Frevelnde erschreckt. In Stunden der Erregung bleibt es nicht bei der bloßen Augenbewegung. Die Ahnen neigen sich zustimmend gegen den würdigen Träger ihres Namens oder blicken drohend und durchbohrend auf den entarteten Nachkommen; sie scheinen aus den Rahmen zu springen, wenn er sich schnell von ihnen abwendet.
Diese zuweilen bis zu einem gespenstigen Eindrucke gesteigerten Gesichtstäuschungen sind in der flächenhaften Fixirung des Bildes begründet. Die Umstände, welche uns über die Richtung der Blicke einer Person belehren, betreffen einestheils die Stellung des Augapfels in der Augenlidspalte, die wir an der Lage der Pupille erkennen, und dann die Richtung des Gesichtes selbst. Nur die Verbindung beider Bedingungen gewährt einen sichern Schluß, wie der berühmte englische Physiker Wollaston in einer lehrreichen Abhandlung über diesen Gegenstand nachgewiesen hat. Er zeigt darin nämlich, daß dasselbe Augenpaar in einer Zeichnung ganz verschiedene Richtungen anzunehmen scheint, sowie auch [387] durchaus unähnliche Gemüthsbewegungen ausdrücken kann, je nachdem man ihm eine untere Gesichtspartie mit veränderter Nasenrichtung und verschiedenem Mundwinkel-Ausdruck anfügt. Wenn bei einem Portrait Augapfel und Gesicht nach ungleichen Richtungen gewendet sind, so ist es oft schwer, mit Bestimmtheit zu erkennen, wohinaus der Blick schweift. Dies ist die Gesichtslage, welche die besseren Portraitmaler und Photographen mit Vorliebe festhalten, um das störende Ueberallhinblicken des Portraits zu vermeiden.
Wenn uns Jemand anschaut, so wendet er nicht nur sein volles Gesicht gegen uns, sondern die Pupille befindet sich auch genau in der Mitte des Auges, so daß auf beiden Seiten der Iris gleich große Ausschnitte des weißen Augapfels sichtbar sind. Verharrt diese Person nun in Blick und Stellung unverändert, während wir vor ihr auf- und niedergehen, so treten wir auf beiden Seiten alsbald aus der Richtung ihres Blickes, während wir uns die Profilansicht verschaffen; der fixirte Blick trifft eben nur einen Punkt oder einen beschränkten Umkreis. Ganz anders bei einem Portrait. Ist dieses einmal en face gemalt, und sind seine Augen auf einen gerade davorstehenden Beobachter gerichtet, so wird Letzterer unverwandt den gleichen Anblick erhalten müssen,
er möge nun das Gemälde seitwärts von rechts oder links, von oben oder unten betrachten. Ja sogar, wenn er sein Auge ganz nahe an die Gemäldewand legt, werden die Augen in dieser sehr schrägen Richtung auf ihn zugewendet bleiben, sobald nur die Umrisse des Bildes recht scharf und die Bildfläche vollkommen eben, zum Beispiel eine Holzplatte ist. Denn wenn durch eine solche Veränderung des Standpunktes auch einzelne Linien verkürzt erscheinen, so geschieht dies doch mit ziemlicher Gleichmäßigkeit und die Pupille behauptet unverändert die Mitte der Augenlidspalte, wie dies der Fall sein muß, wenn der Blick auf uns gerichtet bleiben soll. Da nun eine Person, die uns dergestalt mit ihrem Blicke folgen wollte, sich unserer Bewegung entsprechend herumdrehen oder wenigstens die Augäpfel bewegen müßte, so werden wir, namentlich bei einer hastigen Wendung, die Täuschung erhalten, als führe das Bild wirklich die erforderliche Bewegung aus.
Der Leser wolle sich hiervon an dem Bilde des römischen Hirtenknaben oder Pifferari überzeugen, welcher, mit einigen Veränderungen aus einer größeren Composition von Heinrich Lehmann herauscopirt, deutlich die Augen zu rollen scheint, wenn man das Blatt hin- und herbewegt. Besitzt das Gesicht zugleich einen drohenden Ausdruck oder das Auge eine stechende Schärfe, so kann sich der Eindruck einer solchen Malerei leicht in’s Unheimliche steigern. Ein von Raphael gemaltes Portrait des Cesare Borgia, welches sich im Palaste Borghese in Rom befindet, soll sich durch eine derartige, fast dämonische Wirkung auszeichnen. Alte Madonnen- und Heiligenbilder sind sehr häufig absichtlich so gemalt worden, daß ihr Blick vom Altare auf die Augen aller in der Kirche versammelten Gläubigen gleichmäßig trifft. Der schöne, von Correggio auf Seide gemalte Christuskopf der Berliner Galerie, welcher bei vielen kirchlichen Ceremonien unseres Kaiserhauses als Hausaltar dient, verdankt einen Theil seiner bedeutenden Wirkung der nämlichen Eigenschaft des tiefschwermüthigen Blickes. Nicht selten geben derartige Bilder zu Wundererscheinungen Anlaß, indem die Gläubigen behaupten, eine Augenbewegung ober ein Wimperzucken wahrzunehmen. Noch im Jahre 1850 fand ein Madonnenbild in dem Städtchen Subiaco des ehemaligen Kirchenstaats wegen dieses häufig an ihm beobachteten „Wunders“ vielen Zulauf. Die älteren Portraitmaler haben sich desselben Mittels mit Vorliebe bedient, um den Zügen ihrer Schöpfungen eine von der Darstellung unabhängige Lebendigkeit mitzutheilen.
Wenn einzelne Theile einer solchen Figur in starker Verkürzung dargestellt sind, so kann die scheinbare Bewegung einen gewaltsamen Charakter annehmen. Ein lehrreiches Beispiel hierzu
giebt die Darstellung eines Leichnams auf dem Secirtische, welchen ein belgischer Maler in solcher Verkürzung gemalt hat, daß man das Gesicht mit den starrgeöffneten Augen zwischen den Fußspitzen erblickt. Geht man vor diesem Bilde schnell auf und nieder, so scheint sich der Körper auf dem Tische um seinen Kopf zu drehen; macht man dagegen mit darauf gerichteten Augen einen kleinen Sprung, so scheint der Leichnam sich ebenso plötzlich herumzuwerfen. Diese Wirkung läßt sich am leichtesten erläutern durch die Abbildung eines Schützen, der so dargestellt ist, als ziele er genau nach dem Auge des Beschauers. Alsdann sieht man natürlich von dem ganzen Gewehre fast nichts weiter als die Mündung des Laufes, durch die man würde hindurchsehen können, wenn das Rohr hinten unverschlossen wäre (vergleiche die Abbildung). Ginge die Richtung des Laufes auch nur ein ganz klein wenig neben dem Auge vorbei, so müßte sofort etwas von der Seitenfläche des Gewehres sichtbar werden. Wir können uns deshalb, insbesondre wenn wir das eine Auge schließen, zu einem solchen Gemälde stellen, wie wir wollen, der Schuß wird stets, sogar wenn man das Blatt verkehrt nimmt, unsern Kopf bedrohen, denn wir sehen ja von allen diesen Standpunkten in die Mündung des Rohres hinein. Man hat dieses Kunststück früher mit großer Vorliebe angebracht. So sah man Freund Hein mit einem überallhin treffenden Bogen auf den Klosterwänden dargestellt und den Spruch darunter. Semper ubique suos mors inopina videt! (Immer und überall ersieht der unvermuthete Tod seine Opfer.) Ein Bild dieser Art befindet sich unter anderen in dem Wallraf-Richartz’schen Museum zu Köln, einen Schweizer Scharfschützen darstellend, der mit seinem [388] Stutzen den Beschauer in jeder Ecke des Saales zu treffen weiß. Wenn auf solchen Bildern ein Theil von der obern Fläche des Laufes sichtbar wird, so scheint der Schuß nicht den Kopf, sondern das Herz des Beschauers zu bedrohen.
Auf dem nämlichen Principe beruht eine Reihe ähnlicher Spielereien, unter denen sich der Affe an der Vorhallendecke des japanischen Gartenhauses in Sanssouci eines weit verbreiteten Rufes erfreut. Die nunmehr ziemlich verblichene Malerei stellt einen Affen dar, welcher durch einen Reifen gerade auf den Beschauer losspringt. Ersteigt man die Stufen zur Vorhalle, so scheint er dem Ankommenden entgegen, also nach dem Garten zu springen; tritt derselbe jedoch aus dem Innern des Gartenhauses, so springt er ihm ebenfalls entgegen, diesmal also zur Halle herein. Die Täuschung liegt natürlich wieder darin, daß das Thier vollkommen en face dargestellt ist.
Man konnte nach dem Gesagten schließen, daß diese Täuschungen ausschließlich bei Gemälden eintreten; allein für eine geringere Veränderung des Standpunktes sind sie ebensowohl bei einem plastischen Bildwerke möglich. Wenn nämlich das Antlitz kein allzu starkes Relief besitzt und die in der Mitte des Auges stehende Pupille sehr hervorleuchtend, etwa aus einem Edelsteine gebildet ist, so kann auch hier die obengedachte Erscheinung mit aller Lebendigkeit auftreten. Selbstverständlich vermag ein solches Bildwerk nicht, sich nach dem Beschauer umzuwenden; es folgt ihm nur mit den Augen. Der alte Schriftsteller Lucian erzählt mit großer Verwunderung von einer Statue der syrischen Göttin zu Hierapolis, welche dem Andächtigen in ihrem Tempel an jedem Orte nachgeblickt habe, und ähnliche Beispiele berichten Plinius und Strabo. Eine Anzahl Sagen des christlichen Mittelalters bringen Mittheilungen von Christus- und Marienbildern, deren Blick Ungläubige bekehrt, Gläubige aber durch Zuwinken ermuntert und zu großen Thaten gestärkt habe.
Es ist hierbei zu bemerken. daß sehr viel auf den „guten Willen“ oder Wunsch des Andächtigen oder Abergläubigen, Dergleichen zu sehen, ankommt. Daß ist keine bloße Redensart, sondern die Macht des Willens auf das Gesichtsbild läßt sich beweisen. An Silhouetten kann man die gestaltende und belebende Macht der Phantasie erproben; man kann sie nämlich ganz nach Belieben umkehren, sei es, daß sie ihre Gestalten im Profil oder in der Angesichtsstellung zeigen. Am auffallendsten tritt dies hervor bei der Betrachtung von Statuen, von denen man, sei es der Dämmerung oder der weiten Entfernung wegen, nichts als die Silhouette erblickt, besonders wenn sie sich scharf von einem grauen Himmel abhebt. Man kann ihnen dann mit sicherer Aussicht auf ihren Gehorsam ein „Kehrt Euch!“ zurufen. Recht schön kann man dies, wie Dr. Mohr bemerkt hat, an der Siegesgöttin auf dem Brandenburger Thore in Berlin beobachten. Sobald man „Unter den Linden“ weit genug von dem Kunstwerke entfernt ist, um nur die Silhouette desselben zu sehen, so kann man nach Gefallen das Viergespann zur Stadt hinaus oder herein sprengen lassen. Bei der Silhouette einer mahlenden Windmühle, der wir in schräger Richtung gegenüberstehen, so daß sich die Drehungsebene der Flügel als schmales Oval auf dem dunklen Abendhimmel darstellt, bringen wir es sogar dahin, den Lauf der Flügel plötzlich zu ändern, sie jetzt scheinbar links herum, dann wieder rechts herum laufen zu lassen, je nachdem wir uns denken, das Mühlenhaus stehe in Bezug auf unsern Beobachtungsort vor oder hinter den Flügeln.
Es ist das Unvollendete der Silhouette, welches die Phantasie zu solchen Gestaltungen herausfordert, und man darf daher den Werth derselben in pädagogischer Beziehung nicht unterschätzen. Wem aber das höchst frappirende Windmühlenexperiment bei nüchterner Beobachtung gelungen ist, was in der Dämmerung stets zu erreichen ist, der wird nicht mehr daran zweifeln, daß dem aufgeregten oder abgespannten Schwärmer ganze Gemälde lebendig werden können, um zu thun, was er ihnen, freilich unbewußt, zumuthet. Das aber streift in das Gebiet der Hallucinationen, auf welches ich hier nicht näher einzugehen beabsichtige.
„Gottlob! Da bin ich endlich einmal wieder in meinem alten lieben Cincinnati, das ich seit so langen und vielbewegten Jahren nicht mehr gesehen habe, angelangt. Wie geht’s Euch denn noch Allen?“ Mit diesen Worten und einem kräftigen Händedruck empfing ein Herr von kleiner Statur und gesetzten Jahren, mit einem rothen Flanellhemde, doch sonst keiner auffallenden Kleidung angethan, eine Gesellschaft von vier oder fünf Herren, welche sich in dem Parloc der „Tante“ Pfeiffer am 21. August 1867 versammelt hatte. „Aber wie schön ist sie geworden, die ‚Königin des Westens‘; zu einer blühenden Jungfrau ist sie emporgewachsen, die vor fünfundzwanzig Jahren noch ein kleines Mädchen war. Ich habe fürwahr, seit ich gestern hier angekommen bin, bereits meine helle Freude an ihr gehabt,“ fuhr der Herr mit dem rothen Hemde lebhaft fort, „und hätte ich nicht in dem lieben guten Deutschland eine Familie, die mich wie ein Anker an die alte Heimath kettete: ich könnte noch in meinen alten Tagen in Versuchung gerathen, meinen Hafen nach Eurer blühenden Stadt am Ohio zu verlegen.“
Der Herr, welcher diese Worte zu der kleinen Gesellschaft, unter der sich auch Schreiber dieses befand, sprach, war der vielbekannte Schriftsteller und Reisende Friedrich Gerstäcker. Jahre waren dahingeeilt, seit er die stürmischen Tage seiner Jugend, denen man gewöhnlich den Titel „die Flegeljahre“ beilegt, in der „Pork-Stadt“ zugebracht hatte. Dahingeschieden ist seither Mancher, der zur Zeit die allabendliche Gesellschaft mit dem jungen Abenteurer in der Schenk- und Gastwirthschaft des Jacob Schweizerhof am Fly-Market (Fliegenmarkt, wie der sechste Straßenmarkt damals genannt wurde) theilte. Vogel ist todt; Vater Mühl ist todt; Renz ist todt; Rehfuß ist todt; Walker, Rödter, Felsenbeck, Dr. Paul, Liedel, Linsenmayer, Apotheker Backhaus und der Wirth Schweizerhof, sie Alle weilen nicht mehr unter den Lebenden. Auch der Gegenstand unseres Aufsatzes hat das Zeitliche mit dem Ewigen vertauscht.
Friedrich Gerstäcker schiffte sich im Frühjahre 1837 zu Bremen nach Amerika ein, wo er von New-York aus alsbald in das Innere des Landes zog. „Mit der Büchse über der Schulter,“ sagt Klauprecht in seiner „Deutschen Chronik in der Geschichte des Ohio-Thales“, „hatte er den ganzen Weg von New-York nach Cincinnati – wo er im Herbste 1837 ankam – in einem Jagd- und Streifzuge durch das Land zurückgelegt.“ Er trug einen sonderbaren phantastischen Anzug, ein blaugestreiftes Zwilchwams, das ein Gürtel umwand, worin ein Jagdmesser und ein Tomahawk steckten, breite Beinkleider von gleichem Zeuge und einen wettererfahrenen umgestülpten Strohhut.
Ohne jegliche Bekanntschaft, wandte er sich an Herrn Schweizerhof, welcher zur Zeit, wie bereits vorbemerkt, am sechsten Straßenmarkt eine Schenk- und Gastwirthschaft hielt, wo er vorläufig gute Aufnahme fand. Hier war auch damals der Sammelplatz der Notabilitäten des Deutschthums Cincinnatis. Rödter, Rümelin, Walker, Molitor, Dr. Rölker, Dr. Oberdorf, Apotheker Rehfuß, Dr. Schneider, Dr. Schmidt, Klauprecht, die beiden Franks, bis auf die letzteren Vier lauter Anhänger der demokratischen Organisation, waren hier Stammgäste und discutirten allabendlich über politische, religiöse, sociale und andere Themata, an welchen Discussionen der junge geistreiche Gerstäcker lebhaften Antheil nahm. Begabt mit scharfer Beobachtungsgabe und satirischer Schlagfertigkeit, war er bald ein Liebling der ganzen Gesellschaft.
[389] Seine Idee, Landwirthschaft zu betreiben, ging dabei in die Brüche. Anfangs machte er Jagdpartien in die damals noch wildreichen Wälder Ohios und Indianas und verkaufte die erbeuteten Racoon-, Bisam-, Hirsch- und anderen Felle und Pelze an Gerber Keßler und Kürschner Tubach. Allein das konnte nicht lange währen, denn seine Ausgaben waren dabei größer als die Einnahmen, und bald ging die ganze Baarschaft auf die Neige. Begabt mit einer speculativen Phantasie, etablirte er jetzt eine Chocoladefabrik, welche er unter der Backhaus’schen Apotheke, Ecke der siebenten und Mainstraße, im Keller betrieb. Hier stand er oft halb nackt und röstete die Cacaobohnen, mahlte dieselben und bereitete sie zu Chocoladetafeln. Allein auch das rentirte sich nicht. Er war mittlerweile sehr ökonomisch geworden und führte mit seinem Freunde Max Wocher, den er auch in der Gesellschaft bei Schweizerhof kennen gelernt hatte und der an der Walnut-Straße, zwischen vierter und fünfter Straße, sein Geschäft, „Chirurgische Instrumentenmacherei“, betrieb, eine Junggesellenwirthschaft. Sein Mittagessen holte er sich in Eiteljörg’s Bäckerei an der fünften Straße (das Gebäude ist unlängst abgerissen worden, weil auf dem Straßengeviert das neue Zollamtsgebäude errichtet werden soll); dasselbe bestand in einem Paar Semmeln und etwas „Western-Reserve“-Käse.
Phantast, wie Gerstäcker war, ließ er sich durch die Schilderungen Sealsfield’s von den reichen Pflanzungen am Red River verleiten, eine Fahrt nach dem Mississippi- und den Red River-Gebieten zu unternehmen, welche er im Herbste 1838 in Gesellschaft von Peter Ruhl ausführte. Ausgerüstet waren die Beiden mit allen Jagdapparaten, trefflichen Büchsen, Jagdmessern, Pulver und Blei, sowie mit guter Kleidung. Ruhl kehrte jedoch bereits nach etlichen Monaten zurück und berichtete, daß Gerstäcker den Red River hinauf nach Arkansas gegangen sei.
Nun hörte man nichts mehr von ihm, bis er plötzlich eines Morgens, im Herbste 1839, in höchst verwahrlostem Zustande als Feuermann auf einem New-Orleans-Dampfer wieder in Cincinnati ankam. „Um Gotteswillen!“ rief Wocher, zu dessen Werkstatt er sich direct vom Boote gewandt hatte, aus; „um’s Himmels willen, wie siehst Du aus!“ Sein ganzer Anzug bestand aus einer zerrissenen leinenen Hose, einem Flanellhemde, welches ehemals roth gewesen war, und einem Paar abgetragenen zerrissenen Schlappschuhen. Er war ohne Hut, der Kopf allein bedeckt von dem prächtigen Haarwuchse, der ihn damals in voller Ueppigkeit zierte. Dabei war er durch Fieberkrankheiten körperlich heruntergekommen; seine Füße waren wund; er stellte nur noch ein Jammerbild des ehemals so kräftigen, blühenden jungen Mannes dar.
Sein Freund Wocher eilte alsdann nach der 5. Straße in den Kleiderladen eines Israeliten Namens Hilps und kaufte einen neuen „Kentucky Jeans“ Anzug, Hemd, Unterkleider, Strümpfe und Schuhe, die Gerstäcker unter der Treppe in Wocher’s Werkstätte anzog. Während ihm Apotheker Vogel seine wunden Füße heilte, hielt er sich abwechselnd in Wocher’s Werkstatt, in der daran grenzenden Scheerenschleiferbude Klauberg’s und in der Backhaus’schen Apotheke auf.
Vogel und Vater Mühl schimpften ihn weidlich aus über sein unstetes Leben und bewogen ihn, sich während des Winters auf das Studium der englischen Sprache zu verlegen, um sich für eine Lehrerstelle an der damals hier gerade in Bewegung gebrachten deutsch-englischen Freischule vorzubereiten. Er machte nun auch im Jahre 1840, zusammen mit Heman und Pöppelmann, sein Examen in dem Locale des Schulboards an der 4. Straße, zwischen Main- und Walnut-Straße, vor den Examinatoren Dr. Aydelotte, Mr. Green, Schwiegervater von Dr. Rölker, und einem dritten Herrn, dessen Name mir entfallen ist. Nun stand ihm wohl eine Schullehrerstelle offen, allein sein nachmaliges Motto „Rast’ ich, so rost’ ich“ saß ihm schon damals so tief in den Knochen, daß er statt dessen im Sommer 1840 in Gesellschaft von Tubach, den er dazu überredete und der auch ein kleines Vermögen besaß, eine zweite Reise nach dem unteren Mississippi unternahm. Vorher hatte er noch gehört, daß er in Pittsburg eine Büchse bekommen könne, wenn er dieselbe kommen lassen wollte, was ihn bewog, sich als Feuerschürer auf einem Dampfboot zu verdingen und die Fahrt nach Pittsburg hin und zurück zu machen, blos um den Schießprügel zu holen.
Im Spätherbste kamen die Beiden denn auch richtig zurück und brachten eine Ladung Rohre mit – sie waren in den Louisiana Canebreaks (Rohrsümpfen) gewesen – welche sie auf Drays, vom Dampfer, nach Wocher’s Behausung brachten, und dort Keller und Hofraum mit dieser sonderbaren Waare gänzlich anfüllten. Während nun Tubach wieder in sein Hut- und Kappengeschäft ging, schnitt Gerstäcker Angelrohre und Pfeifenstengel, mit welchen er dann, ein Bündel Angelrohre auf der Schulter und einen Korb voll Pfeifenrohre am Arm, von Kramladen zu Kramladen hausirte. Aber auch das Geschäft lohnte sich nicht recht, und Tubach hat wohl schwerlich je sein eingelegtes Capital wieder zurückerhalten.
Während all dieser Zeit besuchte Gerstäcker, wenn er in Cincinnati war, die alte Gesellschaft bei Schweizerhof, welche im Sommer auch wohl in Fein’s „Plaisir-Garten“, in der Walnut-, oberhalb Liberty-Straße, oder nach Drach’s „Bellevue“ hinauf, zusammenkam, wo natürlich geistreiche Unterhaltung gepflogen wurde. Auch kam er um diese Zeit sehr oft in den Kleiderladen des Herrn Steinberg in der Main-Straße, oberhalb des Canals, wo er sich einen neuen Jagdanzug machen ließ und, so en passant, dessen Tochter, der jetzigen Frau Grönland, den Hof machte.
Im Frühjahre 1841 aber duldete es ihn nicht länger in Cincinnati, und von seinem Freunde Wocher dessen sechs Fuß lange Entenflinte sich erbittend, zog er abermals nach Louisiana, von wo er im Herbste desselben Jahres eine große Sammlung Klapperschlangen, Scorpionen und sonstiger Reptilien, die er in Spiritusflaschen aufbewahrte, auch Racoons, Stachelschweine, Eulen und andere Thiere, theils lebendig, theils die Bälge derselben, mitbrachte, „eine kleine Privatmenagerie“, wie Klauprecht sagt, „mit deren Duft ein deutscher Opticus, Namens Gerhardt, seine Werkstätte wie das Haus des Advocaten Fox in der 5. Straße, in welchem sie sich befand, erfüllt hatte.“ Die Reptilien verehrte er zum Theil seinen Freunden Dr. Rölker, Apotheker Vogel, Apotheker Backhaus und Anderen, zum Theil verkaufte er sie an die verschiedenen Apotheken.
Im Winter darauf arbeitete er in der Silberschmiede des Herrn Kinsey an der fünften Straße, wo er den großen Hammer bei der Umgestaltung der Silberplatten und Barren schwang. Abends nahm er auch wohl einen Korb voll silberner Löffel zum Schleifen und Poliren mit nach Hause, womit er sich dann eine kleine Summe Geldes verdiente, das er aber im nächsten Jahre alsbald wieder einer neuen Speculation opferte. Er machte nämlich eine vierte Reise nach Louisiana, von welcher er nicht mehr nach Cincinnati zurückkehrte, bis zu dem Tage, wo wir zuerst anhuben. Was er in Louisiana in diesem Jahre Alles trieb, ist mir unbekannt, außer daß er in Point-Coupee, einem Städtchen am Mississippi, etwa dreißig englische Meilen oberhalb Baton-Rouge, als Steward in einem Hôtel fungirte. Im Jahre 1843 zog ihn die Sehnsucht zu den Seinen nach Deutschland zurück.
Bis dahin hatte Gerstäcker außer einigen kleinen Aufsätzen für die deutsch-amerikanische Tagespresse, größtentheils polemischen Inhalts, noch keine literarischen Arbeiten geliefert Ich erinnere mich nur eines Aufsatzes, den er in der New-Yorker Staatszeitung über einen Dr. Langen, den Gerstäcker übrigens Dr. Langer nannte, veröffentlichte, worin er diesen der Quacksalberei beschuldigte und ihm vorwarf, einem Patienten ein Klystier in den Mund gegeben zu haben. Jedoch führte Gerstäcker während jener Zeit beständig ein Memorandumbuch mit sich, worin er jede Merkwürdigkeit, die ihm aufstieß, sorgfältig notirte. Hiervon machte er nun in Deutschland Gebrauch, und fanden seine Mittheilungen aus Amerika in Zeitschriften stets eine gute Aufnahme. Das gab ihm nun die erste Anregung, auf Grund seiner transatlantischen Erlebnisse und Anschauungen sich der literarischen Thätigkeit zuzuwenden. Nach Gerstäcker’s eigener Mittheilung war es Herr Traugott Bromme in Hamburg,[2] welcher ihn animirte, diese Erlebnisse in Novellenform zusammenzutragen und zu veröffentlichen; bei dem Verleger Arnold in Dresden erschien denn im Jahre 1844 bereits sein erstes Werk: „Streif- und Jagdzüge durch die Vereinigten Staaten Nord-Amerikas“ in zwei Bänden, denen nacheinander „Die Regulatoren in Arkansas“, „Die Flußpiraten des Mississippi“ und andere Werke folgten.
Unterstützt vom deutschen Reichsministerium, unternahm er im März 1849 eine Reise nach Süd-Amerika, welches er durchstreifte und von wo er sich nach Californien begab, dann die [390] Sandwichinseln besuchte, wo er sich auf einem Walfischfahrer nach den Gesellschaftsinseln einschiffte, dann von hier aus nach Sidney fuhr, Australien durchstreifte und endlich 1852 über Java nach Deutschland zurückkehrte.
Im Jahre 1860 unternahm er ein dritte größere Reise nach Süd-Amerika, von wo er 1861 über Brasilien zurückkehrte. Im Jahre 1862 begleitete er den Herzog Ernst von Gotha nach Aegypten und Abessinien. Auch verlegte er nun seine dauernde Wohnung nach Gotha und gedachte sich der größeren Reisen zu begeben. Aber sein „Rast’ ich, so rost’ ich“ ließ ihm keine Ruhe, und so schiffte er sich im Frühjahr 1867 auf’s Neue zu einer größeren Reise nach der westlichen Hemisphäre ein, wo er zur Zeit in New-York mit gastlichen Ehren empfangen wurde. Von New-York aus ging er mit den New-Yorker Gesangvereinen nach Philadelphia zum Sängerfeste des „Nordöstlichen Sängerbundes“, welches um diese Zeit in der Quäkerstadt abgehalten wurde. Hierauf kam er nach Cincinnati, woselbst er am 20. August (wie zu Anfang dieses Aufsatzes bemerkt) ankam und wo er sich etwa vier Wochen lang, mit kleinen Unterbrechungen, aufhielt. Der „Männerchor“ brachte ihm unter Direction des Professor Barus am Abend nach seiner Ankunft eine Serenade, und sein alter Freund, Apotheker Carl Backhaus, widmete ihm folgenden Willkommsgruß:
Friedrich Gerstäcker.
Der du rastlosen Fußes der Erde Weiten durchzogen,
Alter Freund! sei gegrüßt in uns’rer „Queen of the West“.
Wie du vor Jahren sie sah’st, war klein sie, schwach und ohnmächtig,
G’rade so wie auch du, unbekannt, wenig genannt;
Jetzt doch ist Königin sie und du bist König geworden,
Sie durch Reichthum und Pracht, du durch Geist und Verstand;
Und wie ein Jeder jetzt kennt das Krondiadem am Ohio,
Ebenso wird in der Welt jetzt auch dein Name genannt.
Darum wachset nur fort, ihr Beide, im edelen Wettstreit
Bis an’s entfernteste Ziel, bis in unendliche Zeit!
Und so wie auch sie die Heimath ist aller Nationen,
Bleibt auch die weiteste Welt dir nur das heimische Land.
Andere Willkommgrüße empfing er in der gesammten Cincinnatier Presse, und die Wiederkehr Gerstäcker’s bildete überall das Tagesgespräch. Am Tage hielt er sich zurückgezogen und arbeitete auf seinem Zimmer. Abends jedoch ging’s im trauten Freundeskreise zu Wein und Bier; Schreiber dieses hat damals manches gesellige Stündchen mit Anderen in Gesellschaft des geistreichen Reisenden zugebracht.
Am Samstag, den 31. August, wohnte er dem „Price-Fight“ zwischen Mich. McCoole und Aaron Jones, welcher auf der Busenbach’schen Farm, in der Nachbarschaft der Stadt Hamilton, in Butler County stattfand, bei, und am darauffolgenden Abend hielt er, zum Besten des hiesigen Hospitals der armen Schwestern und des Deutschen Protestantischen Waisenhauses auf Mt. Auburn, eine Vorlesung in der Mozart-Halle – es war eigentlich nur ein Vortrag (in abgeänderter Form) seines Schriftchens „Zur Naturgeschichte des Menschen“, eine höchst flüchtige ethnographische Betrachtung, welche in seinem „Hell und Dunkel“ enthalten ist. – Das Thema war nicht vorher angekündigt worden.
Am 3. September schloß er sich den Cincinnatier Sängern zu einer Betheiligung an dem fünfzehnten Sängerfeste, welches vom 3. bis 6. September in Indianapolis stattfand, an, und kehrte auch mit diesen wieder nach Cincinnati zurück. Von hier aus reiste er dann gegen Ende September mit der Pacific-Eisenbahn nach Californien und Utah, sowie nach Neu-Mexico und Mexico selber. Von dort aus wandte er sich nach den Südstaaten, um sich die Folgen des amerikanischen Bürgerkrieges mit eigenen Augen anzuschauen; er hat nicht wenig dazu beigetragen, die irrigen Mittheilungen, welche einseitige Anschauung und Fanatismus während der Hitze des Bürgerkrieges verbreitet hatten, zu corrigiren.
Nach Deutschland zurückgekehrt, hatte er die Absicht, sich nicht sobald wieder auf Reisen zu begeben. „Gott sei Dank,“ sagte er zu Herbert König, „daß ich wieder da bin! Ich sattle so leicht nicht wieder.“ Und doch hatte er – wie Herr Keil in der Gartenlaube berichtete – die Absicht, nochmals eine große Reise anzutreten. Er trat sie in Wirklichkeit an, die größte aller seiner Reisen, von der er nie mehr zurückkehrt, die Reise in die Ewigkeit. Er starb am 31. Mai 1872 in Braunschweig, wohin er etliche Jahre vor seinem Tode aus Gotha übergesiedelt war.
Die Wanderlust Gerstäcker’s entsprang wohl dem nothwendigen Bedürfnisse, da er Weniges aus sich selber schöpfte, sich für seine schriftstellerische Thätigkeit das nöthige Material zu sammeln. Dabei aber war er über die Maßen fleißig. Tagtäglich arbeitete er sechs bis acht Stunden ohne Unterlaß, und nur wenn er sich durch wochen-, ja monatelange Ueberanstrengung fast gänzlich abgespannt hatte, griff er zur Büchse oder zum Wanderstabe.
Auf ehrwürdigem Boden.
„Es stand in alten Zeiten ein Schloß so hoch und hehr,
Weit glänzt es über die Lande, bis an das blaue Meer.“
Unwillkürlich fielen diese, wenngleich einem andern, unbekannten und fabelhaften Schlosse geltenden Worte uns ein, als wir in der alten Kaiserstadt Aachen die Stelle betraten, auf der sich einst die Pfalz Karl’s des Großen erhob. Bis an das ferne Meer glänzten auch ihre stolzen Zinnen über ein Reich, welches von den Dünen der Nordsee bis zu den Gestaden des Mittelmeeres, vom Eiderstrande bis jenseits der Pyrenäen sich ausdehnte.
Aachen, das alte Ach oder Ahha (Wasser), der Mittelpunkt des mächtigen Frankenreiches, ist zugleich auch die Heimath des Geschlechts seiner Herrscher. Schon Karl’s des Großen Vorfahren, die ehemaligen merowingischen Hausmeier, hatten zwischen der Maas und dem sogenannten Kohlenwalde ausgedehnte Besitzungen, in deren wildreichen Forsten sie des edlen Waidwerks pflegten, und Pipin von Heristal besaß urkundlich bereits im Jahre 753 in Aachen eine Pfalz. Wenn deshalb die Sage Karl den Großen die heilkräftigen, warmen Aachener Quellen auf der Jagd entdecken läßt, so ist das nicht so ganz streng zu nehmen, zumal diese Quellen als aquae Grani Wasser des Granus, eines alten celtischen Heilgottes, wie aus zahlreichen in ihrer Nähe aufgefundenen römischen Gräbern, Straßenanlagen, Wasserleitungen, Bädern und Münzen hervorgeht, bereits von den Römern besucht und benutzt wurden.
Es scheint allerdings, als ob Aachen zu jener Zeit ein ziemlich unbedeutender und im Allgemeinen wenig bekannter Ort gewesen sei, da man seinen Namen nirgendwo in den damaligen Itinerarien und Karten verzeichnet findet, was allerdings auch wohl darin seinen Grund haben mag, daß es abseits der gewöhnlichen Heerstraßen lag, welche damals die römischen Niederlassungen des Rheins, der Maas und Mosel miteinander verbanden. Erst mit dem Jahre 778, als Karl der Große hier einen Palast erbauen ließ und Aachen zu seiner vornehmsten Residenz erkor, begann die Stadt allgemeiner bekannt zu werden, welche wenige Jahre später schon den Namen eines zweiten Rom sich erwarb. Die von Karl dem Großen hier errichteten Bauten sind wohl als eine Erweiterung der bereits erwähnten Pfalz Pipin’s zu betrachten, indem Angilbert, Karl’s Schwiegersohn, von Reliquien spricht, welche Karl und dessen Vorfahren in dem ehrwürdigen Palaste gesammelt hätten. Leider sind von jenem stolzen Baue, zu dem Säulen und Marmorquadern aus Italien herbeigeschafft wurden, nur einzelne Mauerreste erhalten geblieben, welche indessen hinreichen, um mit Hülfe schriftlicher Ueberlieferungen aus damaliger Zeit ein ziemlich genaues Bild der einstigen Kaiserpfalz zu gewähren.
Der vornehmste Theil des Palastes, welcher die Wohnungen des Kaisers und seiner Familie enthielt, erhob sich auf dem heutigen Marktplatze. Zu ihm dürfte auch wohl der Flügel gehört haben, auf dessen Trümmern später das jetzige Rathhaus erbaut wurde. Eine zweite Abtheilung des Palastes erstreckte sich von hier über den südlichen Abhang des Markthügels bis zur Pfalzcapelle, dem jetzigen Liebfrauenmünster, und enthielt die Wohnungen der Hofbeamten, die Quartiere der Leibwache, Kloster-, Schul- und Wirthschaftsgebäude, welche ebenso, wie die obere Burg, einen weiten Hof umschlossen. Einen dieser Höfe zierte die Reiterstatue [391] des Ostgothenkönigs Theodorich, welche Karl im Jahre 801 von Ravenna nach Aachen gebracht hatte.
Längs der Westseite des Palastes zog sich die von Köln nach Mastricht führende Heerstraße hin, welche durch ein Thor mit dem unteren Burghofe in Verbindung stand. Längs desselben führten überdeckte, nach den Seiten offene Gänge hin, welche diesen Theil des Palastes und die Capelle mit den Wohnungen des Kaisers verbanden. Der ganze Palast war, wie aus dem Capitular de disciplinis palatii aquisgranensis hervorgeht, durch eine denselben umgebende Mauer von dem dabei liegenden Flecken getrennt, hatte aber keine eigentlichen Befestigungen, die überhaupt zu jener Zeit an den Schlössern der Fürsten nicht gebräuchlich waren. Von den diese Mauer flankirenden Thürmen, deren bei verschiedenen Chronisten Erwähnung geschieht, ist, wie man annimmt, noch ein Stück Mauerwerk von etwa zwanzig Fuß Höhe in dem östlichen der beiden Rathhausthürme, dem sogenannten Granusthurme enthalten.
Die Großartigkeit und Pracht des Kaiser-Palastes wissen die Chronisten jener Zeit nicht genug zu rühmen. So schildert Angilbert unter Anderen auch die Schönheit der ehernen Kuppeln, welche von der Bergeshöhe weit in das Thal hinabglänzten, und der Dichter des Titurel, welcher zu einer Zeit schrieb, in welcher jener Bau bereits manchen Sturm ausgehalten, weiß die Herrlichkeit der Burg Montsalvatsch nicht besser zu preisen, als dadurch, daß er ihr die Paläste von Rom und Aachen nachstellte.
Für die große räumliche Ausdehnung des Palastes sprechen eben so wohl verschiedene Nachrichten aus jener Zeit, wie die noch vorhandenen Reste seines Mauerwerkes. Es wurden aber auch gerade in dieser Hinsicht nicht geringe Anforderungen an die Hofburg eines so mächtigen und angesehenen Herrschers gestellt, in welcher nicht nur die kaiserliche Familie, sondern auch die häufig anwesenden fremden Fürsten und Gesandtschaften mit ihren Gefolgen Platz finden mußten. Daß man hierbei zu jener Zeit in der Gastfreundschaft ziemlich freigebig war, geht unter Anderem daraus hervor, daß z. B. König Egbert von England dreizehn Jahre als Gast am Hofe Karl’s des Großen weilte.
Nach Allem, was wir über das Leben und Treiben an dem kaiserlichen Hoflager erfahren, scheint dieses ein in jeder Beziehung reges und an den mannigfachsten Abwechselungen reiches gewesen zu sein. Dabei erblicken wir in dem Kaiser selbst überall nicht nur den Mittelpunkt, sondern auch die Triebfeder desselben. Zahlreiche Nachrichten beweisen, daß nichts von Bedeutung in seinem weiten Reiche geschah, woran er nicht persönlich lebhaften Antheil genommen hätte. Neben den sonstigen Regierungsgeschäften wandte er den verschiedenartigsten Dingen seine Aufmerksamkeit zu, und während er Fürsten und Gesandtschaften an seinem Hofe empfing und bewirthete, fand gleichzeitig der geringste seiner Unterthanen bei ihm Rath und Hülfe. In einer nach der längs des Palastes dahinführenden Heerstraße sich öffnenden Halle sitzend, unterzog sich der Kaiser geduldig der Mühe, die Recht suchenden Parteien anzuhören, und obgleich, wie Walafried erzählt, die Zahl der von allen Enden des weiten Reiches herbeigekommenen Bittsteller oft so groß war, daß der ganze Weg von ihrem Geschrei widerhallte, hören wir von Eginhard, daß der Kaiser häufig den Rechtsuchenden in den innern kaiserlichen Gemächern Gehör gab, was dieser Biograph als einen Beweis für große Leutseligkeit seines Gebieters anführt.
Nicht minder als das Recht ließ Kaiser Karl sich bekanntlich [392] das wirthschaftliche Wohlergehen seines Volkes angelegen sein. Seine Wirthschafts- und Gewerbeordnungen enthalten unter Anderem genaue Angaben über das Verfahren beim Weben, Walken, Rauhen, Scheeren und Färben des Tuches, welche Industrien noch bis auf den heutigen Tag in Aachen blühen. Ebenso bekannt ist die Aufmerksamkeit, welche der Kaiser den Wissenschaften, insbesondere dem Schulunterrichte, widmete.
Unter den interessanten Ereignissen, welche uns die Hofchronik berichtet, steht die Ankunft einer Gesandtschaft des Chalifen Harun al Raschid mit oben an. Die seltsamen Gäste aus dem fernen Morgenlande, welche dem Kaiser nach damaliger Sitte bekanntlich reiche Geschenke überbrachten, darunter einen Elephanten und eine höchst kunstvoll construirte astronomische Uhr, waren über die am kaiserlichen Hofe herrschende Pracht ebenso sehr erstaunt, wie sie selbst durch ihre fremdartige Erscheinung das höchste Aufsehen erregten. Außer dem prächtigen Palaste im Allgemeinen sollen es namentlich die kostbaren, aus massivem Gold und Silber bestehenden Tische gewesen sein, welche die höchste Bewunderung selbst dieser an die glänzende Hofhaltung der Chalifen gewöhnten Orientalen hervorriefen.
So hatte sich die Residenz des mächtigsten Fürsten des Abendlandes in wenigen Jahrzehnten von einem unbekannten kleinen Flecken zum höchsten Ansehen und Glanze emporgeschwungen und ihren Ruhm über die ganze damals bekannte Welt verbreitet; kaum minder schnell als ihr Aufsteigen war indessen auch ihr Hinabsinken von dieser Höhe. Nachdem der Schöpfer aller dieser Herrlichkeit nach einer siebenundvierzigjährigen ruhmvollen Regierung im Jahre 814 sein Haupt zur Ruhe gelegt, ging auch der von ihm erbaute Palast rasch seinem Untergange entgegen. Schon im Jahre 881 wurden Stadt und Schloß von den Normannen verwüstet, was sich sieben Jahre später wiederholte. Eine dritte Einnahme des Palastes erfolgte im Jahre 978 durch den fränkischen König Lothar. Auch hierbei wurde die Burg von den Troßknechten ausgeplündert und dann, wie der Chronist Thietmar berichtet, der als Zeichen der kaiserlichen Macht mit ausgebreiteten Flügeln auf dem östlichen Theile des Palastes stehende, nach Westen schauende goldene Adler, um den Wechsel der Herrschaft anzukünden, nach Südosten gewandt.
Nachdem der Palast zum vierten Male während der Kämpfe zwischen den Welfen und Hohenstaufen im Jahre 1198 von Otto dem Vierten von Braunschweig eingenommen war, wurde er in den Jahren 1224 und 1236 durch Feuersbrünste verheert und nach dieser Zeit begannen auch die von jenen verschont gebliebenen Theile in dem Maße, als die Blüthe und der Reichthum der dabei liegenden Stadt sich hob, immer mehr zu veröden. Die stolze Kaiserpfalz wurde zerstückelt, wie das Reich, welches einst von hier aus regiert worden war; einzelne Theile kamen als kaiserliches Lehen in den Besitz adeliger Geschlechter, Mauern und Thürme zerfielen oder wurden durch andere Bauten ersetzt, und so verschwand der Palast allmählich unter dem Wogenschlage der Zeit.
Von dem ganzen Baue ist außer den bereits erwähnten Mauerresten des Granusthurmes, und einigen Ueberbleibseln ehemaliger Gewölbe und Bogengänge nur die Palastcapelle, die Krönungsstätte von siebenunddreißig deutschen Kaisern (von Ludwig dem Frommen bis zu Ferdinand dem Ersten, 1531), erhalten geblieben. Die eigentliche casa regia ist völlig verschwunden; auf einem Theile ihrer Trümmer erhebt sich das im Jahre 1353 von dem damaligen Bürgermeister Gerhard Chorus erbaute Rathhaus; alles Uebrige hat dem Marktplatze weichen müssen, und nur das hier aufgestellte, den Marktbrunnen zierende Erzbild des großen Karl erinnert noch an jene Zeit.
Werfen wir zum Schlusse noch einen Blick auf das durch die nebenstehende Abbildung dargestellte Rathhaus.
Dieser von zwei mächtigen Thürmen flankirte, ursprünglich gothische Bau ist nach einem großen Brande, welcher die Stadt im Jahre 1656 verheerte und auch das Rathhaus mit ergriff, in dem Stile jener Zeit restaurirt und in Folge dessen in seinen äußeren Verzierungen von dem Zopfe jenes Zeitalters überwuchert, welches den edeln gothischen Formen überall seine Perrücke aufsetzte. Alte Abbildungen aus dem sechszehnten Jahrhunderte zeigen uns in den Nischen der dem Markte zugekehrten Nordfront die Bildsäulen der hier gekrönten Kaiser, welche ebenfalls verschwunden sind. Bei der bereits begonnenen Restauration ist man indessen sowohl darauf bedacht, jene späteren Anhängsel wieder zu entfernen, wie auch die verloren gegangenen Standbilder durch neue zu ersetzen.
Betreten wir das Innere, so steigen wir aus dem unteren Stock, welches die Bureaux und den Sitzungssaal der Stadtverwaltung enthält, durch ein ebenfalls der neueren Zeit angehörendes gothisches Treppenhaus zu dem im oberen Stock befindlichen und die ganze Breite des Rathhauses einnehmenden Kaisersaale hinauf, in welchem seiner Zeit die Krönungsfeierlichkeiten stattfanden.
Nachdem seit der Krönung Ferdinand’s des Ersten die Krönungsstätte nach Frankfurt verlegt und so der Saal für seinen ursprünglichen Zweck entbehrlich geworden war, hatte man, als nach jenem Brande überall an dem alten Bau geflickt wurde, auch diesen Saal durchbaut und den südlichen Theil desselben zu Arbeitszimmern hergerichtet, während die andere Hälfte einstweilen als Saal gelassen, aber ebenfalls im Perrückenstil zurechtgestutzt wurde. In dieser Gestalt diente er unter anderen feierlichen Gelegenheiten dem Congreß von 1748 als Sitzungssaal, und später im Jahre 1818 gab Friedrich Wilhelm der Dritte hier den zum Friedenscongreß in Aachen versammelten Monarchen ein Banket.
Der inzwischen in seiner früheren Gestalt wieder hergestellte, hundertundzweiundsechszig Fuß lange und sechszig Fuß breite Saal, dessen gewölbte Decke von vier mächtigen Pfeilern getragen wird, ist an der dem Marktplatz gegenüberliegenden Wand mit den berühmten Fresken von Alfred Rethel und J. Kahr, Scenen aus dem Leben Karl’s des Großen darstellend, geziert und gewährt mit seinem durch fünfzehn hohe Fenster beleuchteten Bilderschmuck, seinen stilvoll in Tempera-Malerei decorirten Pfeilern, Sockeln und Gewölben einen wirklich großartigen Eindruck.
So ist man überall eifrig bestrebt, dieses Denkmal einstiger Größe und Herrlichkeit von den ihm anklebenben Schlacken einer in jeder Beziehung traurigen Zeit zu befreien und die ehemalige Krönungsstätte unserer Kaiser auch ihrer äußeren Gestalt nach würdig zu machen des in neuem Glanze auferstandenen Reiches deutscher Nation.
Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten.*[3]
Die Nummer 19 der Gartenlaube enthält einen Artikel „Theaterdiener und Theaterfriseur“, welcher die Fortsetzung einer Reihe von Erinnerungen aus dem Bühnenleben bildet. Sie tragen den Titel „Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten“. Wie viel oder wenig des Authentischen die früher erschienenen Abtheilungen enthalten, vermag ich nicht zu entscheiden; aber der Artikel in Nr. 19 bringt eine Anzahl von Schilderungen einzelner Persönlichkeiten, gewisse Anekdoten und Mittheilungen, welche die königliche Bühne zu Berlin, resp. deren Angehörige betreffen, und es scheint mir geboten, diesen Aufzeichnungen entgegenzutreten, welche größtentheils vollständig unrichtig sind.
Man kann mir einwenden, daß die in dem Artikel enthaltenen Schilderungen Personen betreffen, deren Lebensstellungen nicht von so hervorragender Bedeutung gewesen sind, daß es sich der Mühe einer Berichtigung lohne. Abgesehen davon, daß nicht alle in dem Aufsatze der Nr. 19 besprochenen Personen zu den Unbedeutenden gehören, bin ich der Ansicht, man dürfe die Verbreitung unrichtiger oder entstellter Mittheilungen nicht stillschweigend geschehen lassen, wenn es sich um Personen- und Zeitschilderungen handelt, welche in einem Blatte von dem Range der „Gartenlaube“ Aufnahme gefunden haben, man dürfe dies um so weniger geschehen lassen, wenn man sich in der Lage befindet, jene
[393] Unrichtigkeiten widerlegen zu können. Die Gartenlaube wird ohne Zweifel in späteren Zeiten eine Quelle sein, aus der Schriftsteller Material für umfangreiche Arbeiten, Schilderungen und Belege schöpfen. Weshalb soll diese Quelle getrübt werden? Und gerade für die Zeitgeschichte, insbesondere für die des Theaters, sind Details von höchstem Werthe; sie bilden die Steine, aus welchen der ganze Bau sich zusammensetzt.
Ich will gern annehmen, daß der Verfasser des betreffenden Artikels nicht absichtlich jene vielfachen Unrichtigkeiten seinem Aufsatze einverleibte; sie sind ihm augenscheinlich von Leuten mitgetheilt worden, die er für glaubhaft hielt, die, wie man zu sagen pflegt, Glocken läuten hörten, ohne zu wissen, wo sie hingen – und er nahm jene Mittheilungen auf Treu’ und Glauben hin; dann aber sei es erlaubt, ihm den Vorwurf zu machen, daß er sich selbst als handelnde Person einführte und den Leser dadurch zu der sehr verzeihlichen Annahme verleitete, daß alle von ihm gebrachten Aufzeichnungen den Anspruch auf vollständige Richtigkeit und Glaubwürdigkeit erheben dürften.
Der Verfasser will als Knabe zur Zeit des berühmten Ludwig Devrient die genaue Bekanntschaft des alten würdigen Zäger gemacht, sich seiner besondern Protection erfreut haben. Er hat, seinen Aufzeichnungen nach, den Alten noch eine ganze Zeit lang durch das Leben begleitet, muß also, wenn seine Aussagen richtig sind, sehr wohl Gelegenheit gehabt haben, den Charakter, die Art und Weise, das ganze Gebahren des alten Herrn kennen zu lernen. Dieses Charakterstudium ist aber jedenfalls ein sehr oberflächliches gewesen, denn der alte Zäger hat niemals ein solches Wesen zur Schau getragen, sich niemals in solchen Ausdrücken gefallen, wie der Herr Verfasser in Nr. 19 den Lesern der Gartenlaube glauben machen will. Wahr und richtig ist, daß Zäger in Folge seiner Rechtlichkeit das Vertrauen seiner Vorgesetzten in hohem Grade genoß, daß er ein sehr braver, gutmüthiger und freundlicher Mann war, dem Jeder ohne Ausnahme wohlwollte; schon mit diesen vom Verfasser angeführten Eigenschaften möchte die betonte „Wichtigthuerei“ sich ebenso wenig vereinbaren lassen, als das fast brutale Betragen gegen die Zöglinge des Ballets im Vorzimmer des Intendanten. Zäger war vielmehr ein sehr bescheidener, äußerst höflicher Mann, über dessen Lippen Ausdrücke wie „Bande“, „Bagage“, „Couleur“, „Sorte“ etc. niemals kamen. Ich bemerke hier sogleich, daß ich, seit dreißig Jahren der königlichen Bühne angehörend, fast täglich mit dem Alten – während einer Reihe von siebenzehn Jahren – zusammengekommen bin und stets dieselbe artige, freundliche und bescheidene Weise an ihm wahrgenommen habe, welche ihn uns Allen lieb und werth machte. Zäger hat niemals vergessen, daß seine Stellung eine subalterne war; das werden außer mir dem Herrn Verfasser noch viele meiner Collegen und die Beamten der Generalintendantur bezeugen können.
Dies zur allgemeinen Berichtigung. Gehen wir nun auf Details über, so findet sich gleich im ersten Satze ein gewaltiger Fehler in der Zeitrechnung. Verfasser hat zur Zeit Devrient’s den Alten kennen gelernt. Nehmen wir das Aeußerste an, so wäre diese Zeit etwa das Jahr 1830 bis 1831 gewesen, weil Devrient, der 1832 starb, noch als Darsteller des Franz Moor angeführt wird. Damals soll Zäger schon ein hochbetagter Mann gewesen sein. Zäger starb im Jahre 1861 im Alter von neunundsiebenzig Jahren; nehmen wir an, der Verfasser lernte ihn Anno 1831 kennen, so hätte er die Bekanntschaft eines neunundvierzig Jahre alten Mannes gemacht, den er sehr irrthümlich hochbetagt nennt.
Die folgende dem Alten in den Mund gelegte Aeußerung: „Ich und der Intendant werden uns die Sache überlegen“, ist entschieden nie von ihm gemacht worden. Er war dazu viel zu bescheiden; daß die Diener des königlichen Theaters den Ausdruck: „Morgen spielen wir dies oder das“, oder „wir probiren morgen“, gebrauchen, ist bekannt, und die Bezeichnung „wir“ wird von einzelnen Subalternen auch bei anderen Ressorts, als es das königliche Theater ist, angewendet.
Für total unwahr erkläre ich die Geschichte der Ueberbringung der Rolle der Lady Macbeth an Frau Crelinger. Es hätte Einer dem alten Zäger zumuthen sollen, solch einen Auftrag durch einen Fremden ausführen zu lassen! Bis in die letzten Tage seines Lebens, schon krank und leidend, bestand er immer darauf, jeden Auftrag selbst zu vollziehen. Am allerwenigsten würde aber der – wie bemerkt – durch seine strenge Rechtschaffenheit, seine Pünktlichkeit den Vorgesetzten werthe Diener einen so wichtigen Auftrag durch einen „Jungen“ zur Erledigung gebracht haben. Der Herr Verfasser muß seltsame Anschauungen von dem Getriebe der Verwaltung des königlichen Theaters haben. Einer Crelinger, der ersten, der gefeiertsten Künstlerin des Hoftheaters, bringt ein Junge die Rolle der Lady Macbeth mit der Bitte, dem braven Theaterdiener Zäger zu Gefallen keine Störung zu machen. Was Frau Crelinger wohl geantwortet hätte? Und Zäger beauftragt den „Jungen“ mit einer Mission von so großer Wichtigkeit, weil er nicht „fort kann, denn es geht ohne ihn nicht“. – Der Verfasser documentirt hier seine vollständige Unkenntniß des Verwaltungsbetriebes des Hoftheaters, denn schon zu Zeiten Sr. Excellenz des Herrn Grafen Redern waren vier Theaterdiener (Schulz, Zäger, Linke, Hoffmann) angestellt, von denen stets einer für besondere Fälle auf dem Posten sein mußte, wie dies heute noch der Brauch; Zäger hätte also wahrlich nicht nöthig gehabt, einen „Jungen“ zur ersten Darstellerin der Bühne mit einer Rolle wie die der Lady Macbeth zu senden. Außerdem möchte ich fragen: „Wie kommt die Rolle in Zäger’s Hand?“ Frau Crelinger war ja Besitzerin der Rolle, und es ist niemals Brauch, eine Rolle von solcher Bedeutung der Verwaltung einzusenden, wenn eine Störung, Krankheit oder sonstige Hindernisse dem Darsteller die Ausübung seines Dienstes unmöglich machen – für Lady Macbeths giebt es keinen sofortigen Ersatz.
Der Verfasser will als Knabe sich dem Statistendienste in Oper und Schauspiel gewidmet, er will als Affe in der Zauberflöte gewirkt haben – möglich, daß er zu solchem Dienst verwendet wurde, dann hat er aber die „Zwei Groschen“ nicht durch den „Statistengeneral“ Herrn von Michelis ausgezahlt erhalten, denn zur Zeit Devrient’s war mit jener Würde der alte Wack betraut. Michaelis – nicht Herr von Michelis – erhielt die Stelle viel später, etwa Mitte der vierziger Jahre. Der lange Michaelis, unser guter College, spielte nicht nur eine Rolle, den Samiel, sondern war vielmehr ein sehr stark beschäftigter Schauspieler, ein Darsteller kleiner, oft nicht unwichtiger Rollen in der Oper wie im Schauspiel, z. B. als Bob in „Die weiße Dame“, Frießhardt in „Tell“ und Andere mehr. Seine Söhne haben niemals die Bretter betreten, sondern eine viel zu gute Erziehung genossen, als daß sie sich als „Statisten“ auf der Bühne „umhergetrieben“ hätten.
Die Notiz über eine kleine Probenscene erkläre ich für ebenso unwahr, wie die Geschichte der Lady-Macbeth-Rolle. Der treffliche Stawinsky, ein wahrhaft feiner, hochgebildeter Mann, würde niemals seine Mißbilligung der Darstellung einer Crelinger dem Theaterdiener Zäger mitgetheilt haben. Stawinsky war – und mit vollem Rechte – ein hoher Verehrer der großen Darstellerin, und der alte Zäger würde es seinem ganzen bescheidenen Wesen nach nie gewagt haben, Aeußerungen, wie sie der Herr Verfasser mittheilt, über die Crelinger laut werden zu lassen. Mit einem spanischen Rohre dirigirte Stawinsky nicht. Er zog, wenn die Probe begann, seine Brille hoch und hielt seine Dose in der Hand; in den Opernproben stampfte er zuweilen mit seinem Stocke auf, wenn er reden wollte, um sich bei dem Geräusche und dem Schalle der Instrumente Gehör zu verschaffen.
Zäger hat nie „Breitspurigkeit“ im Vorzimmer des Intendanten gezeigt. Ebenso wenig war er „aufdringlich“ mit seiner Unterhaltung. Er war vielmehr sehr einsilbig, und nur mit genauen Bekannten ließ er sich in Gespräche ein, wobei er durchaus nicht schnell und geschwätzig war, es auch nicht sein konnte, weil er stotterte. Die Mittheilungen von Kritiken und Bemerkungen Zäger’s über Devrient gehören wohl ebenfalls in die Kategorie der oben angefochtenen; ebenso wenig nannte er sich einen „ollen Kunstkenner“, und seine Tochter, ein sehr liebenswürdiges Mädchen, welche Pagen und kleine Soubretten darstellte – sie lebt heute noch im besten Wohlsein – würde Zäger nie mit einer Crelinger zu vergleichen gewagt haben.
Das Benehmen Zäger’s gegen die Tänzerinnen im Vorzimmer des Intendanten gehört, der Schilderung des Herrn Verfassers nach, in die Kategorie des Brutalen. Die Schmeicheleien der jungen Mädchen scheinen eine Art von humoristischer Beilage bilden zu sollen, welche der simulirten Grobheit Zäger’s die Schärfe nehmen soll; ich habe mich über diese schon oben ausgesprochen, bemerke aber doch dem Herrn Verfasser noch nachträglich, daß ein solcher Ton in den Vorzimmern des Intendanten des Berliner Hoftheaters von den Theaterdienern nicht angeschlagen wurde und bis heute auch nicht angeschlagen wird. Mit „Sorte“, „Bande“ etc. redet kaum der Director einer reisenden Truppe heutzutage seine Mitglieder an. Bei der Hofbühne zu Berlin sind dergleichen Bezeichnungen nicht gebräuchlich – Zäger wäre der Letzte gewesen, sie anzuwenden. Die Zuneigung für den Alten Seitens der Balletdamen scheint mir bei den Haaren herbeigezogen, denn Zäger konnte niemals in so genauer Beziehung zu den Mitgliedern des Ballets stehen, weil seine Functionen ihn selten mit denselben in Berührung brachten. Die Theaterdiener der königlichen Bühne sind für Dienste bei Oper und Schauspiel bestimmt; Dienste beim Ballet verrichtet der Avertisseur, welcher mit den Dienern der Opern und des Schauspiels gar keine Gemeinschaft hat.
Total unrichtig sind die über Zäger’s frühere Lebensstellung gebrachten Notizen. Er war nicht Factotum bei Rust, sondern bei Hufeland. Hier haben wir die läutenden Glocken, die man hört, ohne sie zu sehen.
Im Dienste Hufeland’s kam Zäger mit Schiller in Berührung, der nach Berlin gekommen war, um neben anderen Angelegenheiten auch die Untersuchung seines Körpers durch Hufeland zu betreiben. Schiller wohnte bei Hufeland. Hier rasirte Zäger ihn täglich, und da der große Dichter an heftigem Husten litt, mußte Zäger des Nachts bei ihm wachen und zur Linderung der Hustenanfälle isländischen Moosthee bereit halten. Zäger hat mir oft genug sein Zusammensein mit Schiller erzählt, der beispielsweise an Hufeland’s Tafel die Geschichte seiner Flucht aus Stuttgart zum Besten gab. Zäger schilderte ihn allerdings als sehr liebenswürdig.
Nun hat man aber dem Herrn Verfasser in Nr. 19 wieder allerlei confuse Dinge mitgetheilt; Zäger lernte Herder, Wieland und Goethe kennen, aber sie waren nicht bei Rust (!!), auch nicht bei dem wirklichen Brodherrn Zäger’s, dem berühmten Hufeland, zum Besuche. Hufeland war dagegen in Weimar, wohin Zäger ihn begleitete. Hier sah er die Größen der Dichtkunst; er erzählte mir oftmals, wie Herder ihn in seinem Garten umhergeführt habe. Sein Urtheil über Goethe, der meines Wissens überhaupt nicht in Berlin war, stimmte allerdings mit dem in dem genannten Aufsatze angeführten überein, dagegen habe ich nie von ihm Schiller’s Gesicht in solcher Weise schildern hören, wie es der Herr Verfasser in Nr. 19 berichtet. Er pflegte zu sagen: „An seiner schönen, langen Nase habe ich ihn oft beim Rasiren gehalten.“ Daher mag auch wohl in dem Aufsatze die Notiz Platz gefunden haben: der Alte habe die ganze Dichtergesellschaft bei der Nase gehabt. Bemerkt sei noch, daß Zäger mir erzählte, wie Hufeland ohne jede Rückhaltung in Weimar dem großen Dichter die Zeit seines Absterbens fast bis auf Tag und Stunde vorausgesagt habe.
Die Notizen über den alten Warnicke sind so gehalten, wie sie Jeder bringen würde, der in den Straßen Berlins flanirte und den merkwürdigen alten Herrn in seinem sonderbaren Aufzuge sah, doch habe ich Warnicke oft mit bedecktem Haupte gesehen. Eine intime Freundschaft zwischen ihm und Zäger bestand durchaus nicht.
Bis hierher kann man die von dem Verfasser in Nr. 19 gebrachten Notizen noch als pure Irrthümer bezeichnen.
Anders aber verhält es sich mit der den Schlußsatz bildenden Erzählung. In derselben wird eines bedeutenden Mannes in einer Weise
[394] gedacht, welche ganz dazu angethan erscheint, dem Andenken desselben zu schaden. Der Verfasser zieht die Person des Regisseurs Weiß in den Kreis seiner Betrachtung.
Weiß war eine der ausgezeichnetsten Persönlichkeiten, welche überhaupt die Geschichte des deutschen Theaters aufzuweisen hat. Nicht allein glänzte er als Darsteller in dem ihm zugewiesenen Rollenfache, seine hohe geistige Begabung, sein glänzendes Talent für den geistigen Theil der Regie, die Macht des Wortes, welche ihm namentlich in der Unterhaltung über künstlerische Gegenstände zu Gebote stand, seine großartige Anschauungsweise – dies Alles machte ihn schon zu einem Gegenstande hoher Verehrung für alle diejenigen, welche das Glück hatten ihm naher treten zu können. Vermehrt aber wurde diese Hochachtung noch besonders durch das Beispiel des regsten Eifers für die Sache der Schauspielkunst, welcher Weiß thatsächlich sein ganzes Leben gewidmet hat, durch die fast übertriebene Pflichttreue, welche er – oft im Kampfe gegen die Leiden seines zarten Körpers – an den Tag legte.
Mit dem Glockenschlage erschien er zur bestimmten Zeit auf den Proben. Gleichviel ob ausübender Darsteller oder nur mit der Regie betraut, fand er sich jeden Abend zur rechten Zeit im Theater ein. Er nahm, wenn er nicht als Darsteller beschäftigt war, sofort seinen Sitz im Versammlungszimmer ein. Ehe die Vorstellung begann, revidirte er genau die Bühne, die Requisiten etc. und kehrte dann wieder zu seinem Platze in das Versammlungszimmer zurück. Hier saß er in der Ecke des noch heute vorhandenen Sophas; hier konnte man in freien Momenten sich an seiner hochinteressanten Unterhaltung, an den Spenden seines seltenen Geistes erfreuen; hier war es, wo man sich oftmals Rath und treffliche Hinweise erholen durfte, mit denen der ausgezeichnete Mann niemals kargte. Er war von der liebenswürdigsten, vollendetsten Form im gesellschaftlichen Umgange und schätzte jedes Talent; wodurch aber auch der Begabteste seine Gunst verscherzen konnte, das war eine Verletzung der Dienstpflicht, eine Unpünktlichkeit. Er verzieh dergleichen nur schwer – er vergaß es nie.
Einen solchen Mann läßt der Verfasser in Nr. 19 mit Warnicke und Zäger, dem Friseur und dem Theaterdiener, schach- und kartenspielend auftreten, während draußen die Vorstellung stattfindet, in welcher Weiß beschäftigt ist, der denn auch natürlich den richtigen Moment des Auftretens versäumt und dafür ein Mal vom Publicum durch Pfeifen und Zischen, das andere Mal von der Intendanz durch ein Mandat, welches die Spielpartie in der Garderobe verbietet – gestraft wird.
Ich enthalte mich der näheren Bezeichnungen, welche diesen Mittheilungen gebühren, aber dem Herrn Verfasser kann ich die Versicherung geben, daß sie eine wahrhafte Entrüstung bei allen den Mitgliedern des Hoftheaters wach gerufen haben, welche jemals in irgend einer Beziehung zu Weiß standen. Ihm nahte man sich nur mit jener Ehrerbietung, die uns unwillkürlich erfaßt, wenn wir ausgezeichneten Menschen gegenübertreten; sie macht bei aller Liebenswürdigkeit jede Cordialität unmöglich. Die hervorragendsten Persönlichkeiten hatten vor Weiß gewaltigen Respect. Er hatte es vermocht, Ludwig Devrient, als diesen die unselige Leidenschaft des Trunkes erfaßt hatte, eine Zeitlang von der Champagnerflasche fern zu halten. Als leider Devrient im Kampfe gegen seine Gelüste erlag, wagte er es nicht, Weiß sofort gegenüber zu treten, und als dieser ihm, ohne ein Wort zu sprechen, den Blick fest auf das gewaltige Antlitz des großen Menschendarstellers geheftet, nahte, senkte Devrient beschämt seine Feueraugen zur Erde und stotterte, mit der von der Gicht gekrümmten Hand jene bekannte, schnellende Bewegung machend: „Ach – was Du Dir wieder denkst!“ Weiß war ein aristokratischer Schauspieler. Er würde niemals mit Leuten wie Warnicke und Zäger vertraulich geworden sein, so sehr er sie auch als brave Männer schätzte. Er war in den ersten Kreisen gesucht, und jene Beiden zählten sich, bescheiden und sich ihrer Stellung bewußt, zu den Untergebenen des Regisseurs, dem sie, wie Alle, ihre Hochachtung zollten.
Warnicke schlich nicht in das Theater, um hier und da an den Frisuren der Damen etwas zu ordnen; als er pensionirt worden war, besuchte er wohl hin und wieder die Stätte seines ehemaligen Wirkens, aber er that keine Dienste daselbst. Diese Pensionirung soll nun nach Nr. 19 schon zu jener Zeit und zwar damals „schon lange“ stattgehabt haben, als Hendrichs zum ersten Male die Hofbühne betrat. Dieses Auftreten geschah am 28. Juni 1838. Warnicke ist pensionirt worden am 1. November 1846, also etwa acht Jahre später, als der Artikel in Nr. 19 angiebt.
Weiß spielte überhaupt weder Schach noch Karten. Er kannte beide Spiele nur dem Namen und dem Ansehen nach. Die noch lebende Gattin und die beiden Söhne, die Herren Maler Ferdinand und Professor Hermann Weiß, Vorsteher des königlichen Kupferstich-Cabinets und Verfasser des berühmten Werkes über Costümkunde, können dies bezeugen.
Hendrichs ist nicht bei seinem ersten Erscheinen an der Berliner Hofbühne als Don Carlos, sondern als Don Cesar (Braut von Messina) aufgetreten, hat überhaupt während jenes Gastspiels nur den Clavigo, den Isidor, den Prinzen in Emilia Galotti und den Sittig in „Bürgerlich und romantisch“, nicht aber den Infanten Don Carlos dargestellt. Weiß konnte daher auch nicht als Domingo bei dem Gastspiele eines Künstlers fungiren, der den Carlos nicht darstellte. Wenn aber Hendrichs auch den Sohn des zweiten Philipp zur Darstellung gebracht hätte, so würde Weiß den Domingo nicht gespielt haben, da jene Rolle sich schon seit 1837 gar nicht mehr in seinen Händen, sondern im Besitze von Emil Franz, gegenwärtig am kaiserlich königlichen Hofburgtheater zu Wien, befand.
Eines Vorfalles, der irgend welche Aehnlichkeit mit dem in Nr. 19 angeführten haben konnte, weiß sich Niemand bei uns zu erinnern, er müßte aber zu ermitteln sein, und zwar amtlich, denn der Verfasser jenes Aufsatzes theilt mit, daß durch ein Mandat der Intendanz dem Trifolium das Vergnügen des Spiels zu Wasser gemacht worden sei. Ein solches Mandat ist in den Acten des königlichen Hoftheaters, welche mit größter Gewissenhaftigkeit durch Herrn Geheimerath Heuser geführt werden, nicht zu finden. Heuser ist zu jener Zeit schon längst in Function gewesen, und bezeugt, daß solcher Vorgang nie zur Kenntniß der Intendanz gekommen oder irgend eine darauf bezügliche Anordnung erlassen worden sei. Es konnte also auch dem alten Warnicke deshalb nicht der Zutritt zur Bühne verboten werden. Er besuchte sie noch öfter nach seiner Pensionirung, Niemand weigerte ihm dies. Und damit der Artikel in Nr. 19 auch bis zum letzten Satze mit Unrichtigkeiten angefüllt bleibe, wird noch erzählt, daß Zäger kurze Zeit nach seinem Freunde (!) Warnicke gestorben sei. Warnicke starb 1851 den 1. October, Zäger am 29. März 1861 (!!) – Es dürfte mit diesem Allen wohl dargethan sein, was von der Richtigkeit jener Schilderungen in Nr. 19 zu halten sei. Sie zu widerlegen erschien als Pflicht. Die Verhältnisse des Theaters sind ohnehin schon, ebenso wie die Leistungen der Darsteller, mit dem traurigen Vorzuge begabt, eine willkommene Beute für Jeden zu sein, der sich ihrer bemächtigen will. Dagegen giebt es eben kein Mittel als das der Widerlegung, das leider nicht immer zur Hand ist, das aber, wo es irgend thunlich scheint, angewendet werden muß. Verhehlen kann ich mein Erstaunen darüber nicht, daß der Herr Verfasser, der selbst darstellender Künstler war (oder es noch ist?), mit so wenig Vorsicht und ohne alle Prüfung gewisse ihm zugegangene Mittheilungen benutzt, in denen unrichtige und entstellte Thatsachen über Personen beigebracht werden, von deren hoher Bedeutung für die Bühne er als Darsteller und Schilderer vergangener Zeiten ohne Zweifel Kenntniß haben mußte. Genaue Prüfung des zugegangenen Materials war hier um so mehr geboten, als die Redaction der Gartenlaube in solchen Fällen der Zuverlässigkeit ihrer Mitarbeiter vertrauen muß.
Paul Bürde, der talentvolle Zeichner der Gartenlaube, ist todt. Er erlag einem Brustleiden am Nachmittage des 23. vorigen Monats in Berlin, nachdem er noch in der letzten Stunde seines Lebens den Rest seiner Kräfte einer Holzzeichnung gewidmet, welche wir in einer der nächsten Nummern unseren Lesern mitzutheilen gedenken. Bürde’s Talent wurde neben einer anerkennenswerthen Erfindungs- und Compositionsgabe durch die glückliche Anlage charakterisirt, die Mannigfaltigkeit der Stoffe, welche Leben und Zeit ihm boten, frisch und unmittelbar zu ergreifen und schnell und keck, gewissermaßen noch mit dem Duft ursprünglicher Inspiration malerisch zu verkörpern. Als Portraiteur, namentlich Berliner Persönlichkeiten, hat er sowohl mit der Kreide wie mit dem Pinsel Vortreffliches geleistet. Ungemein fein fühlend in der Wahl seiner Gegenstände, wußte er auch bei Leistungen auf anderen Gebieten der Malerei durch Vorzüge der Composition und der Technik, sowie durch Eigenartigkeit der Charakteristik eine oft sehr ansprechende Wirkung zu erzielen. Aus seinen Zeichnungen und Bildern spricht die zarte Sinnigkeit und Reinheit seines Gemüthes den Beschauer äußerst wohlthuend an. Seine Beiträge für die Gartenlaube – wir erinnern nur an seine Pendants „Der Landwehrmann und die Picarde“ und „Der Landwehrmann und die Kurmärkerin“ (Nr. 1, 1873), an seine beiden Jugend-Portraits Bismarck’s (Nr. 25, 1873) und an seine Zeichnung „Bischof Ketteler segnet die Leiche des Fürsten Lichnowsky ein“ (Nr. 40, 1873) – sind fast ausnahmslos mit so allgemeinem Beifall aufgenommen worden, daß wir uns der Hoffnung hingeben dürfen, der Name Paul Bürde werde im Gedächtnisse der Freunde der Gartenlaube fortleben als derjenige eines der liebenswürdigsten unter den Künstlern unseres Blattes.
Zur Notiznahme. Zu dem in Nr. 9 erschienenen Bilde „Am Beichtstuhl“ von H. von Angeli ist nachträglich zu bemerken: „Nach einer Photographie aus dem Verlage der photographischen Gesellschaft in Berlin.
Abonnent von R. in S. Auf Ihre Frage: „Ob sich Leichenverbrennungen auch im criminalistischen Interesse empfehlen würden?“ ist zu erwidern, daß durch Ausgraben der Leiche keineswegs jede „Vergiftung noch längere Zeit nach dem Tode nachzuweisen“ ist, wie Sie voraussetzen, sondern daß dies nur bei wenigen Giften der Fall ist. Die Ausgrabungen von Leichen haben auch nur in sehr geringer Zahl ein für den Richter verwendbares Beweismaterial geliefert. Im schlimmsten Falle ist es aber, wie Statthalter Dr. Schauberg in Zürich sehr treffend bemerkt hat, „besser, es bleibe bei Tausend Vergiftungsfällen ein Mal der Missethäter ungestraft, als daß durch die jetzt übliche Bestattungsweise Tausende vergiftet werden.“ Uebrigens läßt sich auch dem Durchschlüpfen des einzelnen Verbrechers erfolgreich vorbeugen, wenn man eine von geschworenen Aerzten ausgeübte Todtenschau einrichtet, welche zugleich den für die Gesundheitspflege des Volkes hoch anzuschlagenden Nebenvortheil einer zuverlässigen „Sterblichkeits-Statistik“ ergeben würde. Eine solche Leichenschau besteht bereits in einzelnen Städten (zum Beispiel in Leipzig) und hat sich bewährt. Sie beugt zugleich dem „Lebendigbegrabenwerden“ vor, von dessen angeblich zahlreichen Fällen übrigens im laufenden Jahrhundert kein einziger sich nachweisen ließ. Nichtsdestoweniger fühlen sich die Laien durch die bloße Möglichkeit eines solchen Falles in sehr begreiflicher Weise beängstigt. Bei gutem Willen läßt sich in jeder Gemeinde ärztliche Todtenschau ausführen. Wem auch sie nicht genügen sollte, der müßte einen allgemeinen „Sections-Zwang“ beim Reichstage beantragen, ein Zwang, welcher mindestens ebenso berechtigt wäre, wie der „Impf-Zwang“.
K. L. in B. Wird in den nächsten zehn Tagen, nach der Rückkehr des Herrn Ernst Keil, erledigt werden.
- ↑ Es ist auffallend, daß sich noch immer keine Feder für ein authentisches und in sich abgeschlossenes Bild von Gerstäcker’s Leben gefunden hat. Vielleicht liegt dies zum Theil daran, daß das nöthige Material dazu bis jetzt noch nicht in dem erforderlichen Grade allgemein zugängig war. Im Widerspruch mit unserem Principe, nur Original-Artikel zum Druck zu bringen, entschließen wir uns daher heute, unseren Lesern den obigen an neuen Daten über Gerstäcker reichen Aufsatz aus der in Cincinnati erscheinenden deutschen Zeitung „Pionnier“ welche in Europa wenig gelesen wird, mitzutheilen. D. Red.
- ↑ Namentlich auch R. Heller und A. Diezmann. D. Red.
- ↑ * Indem wir wegen der mannigfachen Unrichtigkeiten, welche der Artikel „Theaterdiener und Theaterfriseur“ in Nr. 19 unseres Blattes enthält, noch einmal eines Längeren auf denselben zurückkommen, folgen wir darin nur dem Gefühle der Gerechtigkeit. Wir sehen uns zu einer Berichtigung des Aufsatzes namentlich deßhalb veranlaßt, weil es gilt, zwei in demselben falsch geschilderte Persönlichkeiten in dem Andenken der Gegenwart und Nachwelt wieder in das richtige Licht zu setzen.D. Red.