Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1873)/Heft 21

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[333]

No. 21.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Glück auf!
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Da auf einmal tiefe athemlose Stille! Der Lärm brach so jäh ab, als habe ein Machtwort von oben ihm Schweigen geboten; die wildbewegten Gruppen hielten inne; die Menge wogte zurück, als habe sie plötzlich einen Widerstand gefunden, und alle Augen, alle Gesichter wandten sich nach einer Richtung – die Eingangsthür war geöffnet worden, und der junge Chef auf die Terrasse getreten.

Die Stille dauerte nur wenige Secunden; dann wich die augenblickliche Ueberraschung einem erneuten Wuthausbruch, furchtbarer als der erste, und jetzt hatte er ein besseres Ziel vor Augen. All’ dieses tobende Geschrei, all’ diese wuthverzerrten Gesichter und erhobenen Arme, die vorhin das Haus und dessen Insassen bedrohten, wendeten sich jetzt gegen einen Einzigen; aber dieser Eine war der Chef, der Herr der Werke, und was der Vater mit seinem industriellen Genie, mit seiner zähen Ausdauer und tyrannischen Willkür in Jahrzehnten nicht erringen konnte, das hatte der Sohn in wenigen Wochen erzwungen: die unbedingte Autorität seiner Persönlichkeit; sie wirkte selbst hier noch, wo alle Bande der Ordnung gelöst waren. Er ließ den Sturm ruhig austoben; die schlanke Gestalt hoch aufgerichtet, das große Auge fest und klar auf die Menge gewendet, aus der jeder Einzelne ihm an Kraft überlegen war, und vor der ihn nichts schützte, als nur diese Autorität, stand er ihr allein und waffenlos gegenüber; aber er stand da, als müsse sich die brandende Woge der Empörung an ihm brechen.

Und sie brach sich wirklich. Das Toben verstummte allmählich; es ward zum Rufen, dann zum Murren; endlich legte sich auch dieses, und nun erhob sich Berkow’s Stimme, anfangs noch unverständlich in der ihn umfluthenden Bewegung, noch öfter unterbrochen durch den Tumult, der stoßweise immer wieder von Neuem anschwoll; aber ebenso oft sank er auch machtlos wieder zusammen, und endlich schwieg er ganz und man hörte nur die Stimme des jungen Chefs noch, die klar, laut und deutlich herübertönte und auch den am fernsten Stehenden vernehmbar blieb.

„Gott sei Dank!“ murmelte Schäffer, indem er sich die Stirn mit dem Taschentuche trocknete, „jetzt hat er sie im Zügel. Das knirscht noch und bäumt sich, aber es gehorcht! Sehen Sie nur, gnädige Frau, wie die Bewegung sich legt, wie Alles zurückweicht. Sie geben wahrhaftig die Terrasse frei – und da fallen auch die Steine zu Boden. Wenn der Himmel uns jetzt nur den Hartmann fernhält, so ist die Gefahr beseitigt.“

Er wußte nicht, mit welcher Todesangst Eugenie den Wunsch im Innern wiederholte. Bisher hatte sie immer noch in der Menge vergebens die eine gefürchtete Gestalt gesucht, und so lange die nicht sichtbar war, hielt sich ihr Muth noch aufrecht, so lange glaubte sie Arthur noch sicher; aber jetzt war es vorbei mit der Sicherheit und mit der Hoffnung. Ob das plötzliche Aufhören des Tobens, das er selbst mit vollster Absicht entfesselt, den Vermißten hergerufen, ob eine Ahnung dessen, was geschah, ihn im entscheidenden Augenblick herbeizog – wie aus der Erde emporgestiegen, stand Ulrich Hartmann plötzlich hinten am Parkgitter, und ein einziger Blick zeigte ihm, wie die Sache stand.

„Feiglinge, die Ihr seid!“ donnerte er seinen Cameraden zu, während er sich, von Lorenz und dem Steiger Wilms gefolgt, einen Weg durch die dicht geschlossenen Massen bahnte. „Ahnte ich’s doch beinahe, daß Ihr Euch hier wieder in seinen Netzen fangen laßt, während wir erkunden, wohin sie die Gefangenen gebracht haben. Wir haben es jetzt heraus! Dort im rechten Erker sind sie im Erdgeschoß, dicht hinter dem großen Saale; dorthin muß sich der Angriff richten. Schlagt die Spiegelfenster ein! so brauchen wir nicht erst die Thür zu stürmen.“

Noch gehorchte Niemand der Aufforderung, aber wirkungslos blieb sie nicht. Es giebt nichts Wankelmüthigeres, Willenloseres als eine aufgeregte Menge, die gewohnt ist, sich von der Entschlossenheit eines Mannes leiten zu lassen. In all’ dem Toben und Lärmen vorhin war doch eine gewisse Planlosigkeit und Unentschiedenheit gewesen, die es nicht zum directen Angriffe kommen ließ. Das Auge, der Arm des Führers hatte gefehlt; jetzt war er da, und in dem Augenblicke, wo seine Hand die Zügel wieder ergriff, gab er ihnen auch eine bestimmte Richtung. Man wußte jetzt, wo die Gefangenen sich befanden; man kannte den Weg zu ihnen – das weckte die kaum überwundene Gefahr auf’s Neue.

Ulrich kümmerte sich zwar im Augenblick nicht viel darum, ob seinem Befehle Folge geleistet wurde. Er hatte sich Bahn gebrochen bis zur Terrasse und stand jetzt dicht vor dem jungen Chef, mit dem ganzen Trotz und Stolz seiner unbändigen Natur, mit seiner riesenhaften Gestalt fast um Kopfeslänge hinausragend über alle die Anderen. Es war der geborene Führer der Massen, dessen wilde Energie, dessen despotischer Wille sie in blindem Gehorsam mit sich fortriß und der trotz Allem, was geschehen war und vielleicht noch geschah, doch für den Augenblick unumschränkt über sie gebot. Der ganze Sieg, den Arthur errungen hatte, war in Frage gestellt, wenn nicht vernichtet, durch das bloße Erscheinen dieses Mannes, dessen Persönlichkeit mindestens ebenso mächtig wirkte, wie die seinige.

[334] „Wo sind unsere Cameraden?“ fragte Hartmann drohend, indem er noch dichter heran trat. „Wir wollen sie heraus haben, auf der Stelle! Wir leiden keine Gewaltthat gegen die Unserigen!“

„Und ich leide keine Zerstörung meiner Maschinen!“ unterbrach ihn Arthur mit kalter Ruhe. „Ich habe die Leute festnehmen lassen, obgleich sie nur das Werkzeug in fremder Hand waren. Wer befahl den Angriff auf die Maschinen?“

In Ulrich’s Augen blitzte es auf, furchtbar aber triumphirend; er hatte diese Festigkeit vorhergesehen und seinen Plan darauf gebaut. Er freilich brauchte keinen Vorwand mehr zum Angriffe, wo er seinen Haß um jeden Preis kühlen wollte, aber sein Anhang, der bereits wankte und fahnenflüchtig zu werden drohte, brauchte einen solchen; da galt es, die Schwankenden von Neuem aufzustacheln, und der Gegner war kühn und stolz genug, ihm den Anlaß dazu zu liefern.

„Ich brauche Ihnen nicht Rede zu stehen!“ rief er höhnisch, „und ich lasse mich überhaupt nicht mit dieser Gebietermiene verhören. Noch einmal: geben Sie die Gefangenen heraus! Die Knappschaft verlangt es, oder –“ sein Blick vollendete die Drohung.

„Die Gefangenen bleiben in Haft!“ erklärte Arthur unerschütterlich, „und Sie, Hartmann, haben überhaupt nicht mehr das Recht, im Namen der gesammten Knappschaft zu sprechen: mehr als die Hälfte hat sich bereits von Ihnen gewandt. Ich habe mit Ihnen nichts mehr zu reden!“

„Aber ich mit Ihnen!“ schrie Ulrich außer sich. „Zu unseren Cameraden!“ wandte er sich an die empörte Menge, „schlagt nieder, was sich Euch in den Weg stellt! Vorwärts!“

Er wollte sich als der Erste auf Berkow stürzen und damit das Zeichen zum Angriffe geben, aber noch ehe er Das vermochte, noch ehe es entschieden war, ob die Menge ihm Gehorsam leisten oder ihm denselben versagen würde, ertönte ein fremdartiger Laut, der den ganzen Umkreis erzittern machte und den wilden Führer entsetzt inne halten ließ, während er die Uebrigen in athemlosem Lauschen bannte. Es war wie ein ferner dumpfer Schlag, der aus den Tiefen der Erde zu kommen schien, und dem ein secundenlanges unterirdisches Rollen folgte; dann wurde es todtenstill, und Hunderte von schreckensbleichen Gesichtern wandten sich zu den Werken hinüber.

„Gott im Himmel! Das kam von den Schachten her; da ist etwas passirt!“ rief Lorenz auffahrend.

„Das war eine Explosion!“ tönte die Stimme des Oberingenieurs, der sich während der letzten kritischen Minuten bereits unten im Vestibül an die Spitze der jüngeren Beamten und der ganzen verfügbaren Dienerschaft gestellt hatte, um dem Chef zu Hülfe zu eilen. „In den Schachten ist ein Unglück geschehen, Herr Berkow! Wir müssen hinüber!“

Einen Augenblick lang schien der Schrecken noch Alles ringsum zu lähmen. Niemand rührte sich; die Mahnung war auch zu furchtbar. Gerade in dem Momente, wo die eine Partei sich verderbenbringend auf die andere werfen wollte, erreichte ein anderes Verderben ihre Brüder in der Tiefe da unten und rief sie gebieterisch vom Angriffe fort zur Rettung. Arthur war der Erste, der sich emporraffte.

„Nach den Schachten!“ rief er den Beamten zu, die jetzt aus dem Hause hervorstürzend ihn umringten, und gab selbst das Beispiel, indem er Allen voran nach den Werken hinüber eilte.

„Nach den Schachten!“ donnerte jetzt auch Ulrich den Bergleuten zu, aber der Befehl war nicht mehr nothwendig; schon stürzte die ganze Masse in wilder Hast nach der gleichen Richtung hin, an ihrer Spitze der Führer; er und Berkow waren die Ersten, die fast gleichzeitig die Werke erreichten.

Dort gab sich äußerlich noch nichts kund von der Wirkung des zerstörenden Elementes, nur die dichte Rauchsäule, die aus den Schachten empor quoll, verkündete, was geschehen war, aber sie sagte genug. In weniger als zehn Minuten war der ganze Umkreis gefüllt mit Menschen, deren anfänglich stummes Entsetzen jetzt den lauten Ausbrüchen der Angst, des Schreckens, der Verzweiflung wich. Es ist etwas Erschütterndes und doch zugleich etwas Erhebendes um solch ein großes Unglück, das nicht von Menschenhand kommt, denn es rettet fast immer die Ehre der Menschennatur und reinigt sie von all’ den schlimmen Leidenschaften, welche sie sonst entstellen und verdunkeln. Der Umschlag in der allgemeinen Stimmung vollzog sich hier so plötzlich, so blitzähnlich, daß es nicht mehr dieselbe Menge zu sein schien, die noch vor wenigen Minuten das Haus umtobt und mit Wuth und Zerstörung, vielleicht mit Mord gedroht hatte, weil ihrem wilden Verlangen nicht nachgegeben wurde. Streit, Feindschaft, mondenlang genährter Haß, das Alles ging jetzt unter in dem einen Gedanken der Rettung; zu dieser Rettung drängten sich Bergleute und Beamte, Freund und Feind heran, und gerade die wildesten der Empörer waren die Ersten voran. Vor einer Stunde noch hatten sie ihre Cameraden bedroht, angegriffen, und hätten sie niedergeschlagen, wäre es nicht gerade der Vater ihres Führers gewesen, der die Schicht leitete, und jetzt, wo eben diese Cameraden in Todesgefahr schwebten, jetzt hätte ein Jeder sein Leben eingesetzt, um ihnen Hülfe zu bringen – die furchtbare Mahnung hatte gefruchtet.

„Zurück!“ trat Arthur gebietend den wild und planlos Anstürmenden entgegen. „Ihr könnt jetzt noch nicht helfen. Ihr hindert nur die Anfahrt der Beamten. Es muß erst festgestellt werden, wo und wie wir eindringen können. Laßt die Ingenieure vor!“

„Laßt die Ingenieure vor!“ wiederholten die Vordersten; der Ruf pflanzte sich fort durch die Reihen und in der dichtgekeilten Menge öffnete sich sofort eine Gasse für den Oberingenieur, der mit seinen Untergebenen bereits zur Stelle war; sie kamen von der entgegengesetzten Richtung her.

„Da drüben ist das Eindringen eine Unmöglichkeit,“ sagte der Beamte zu Arthur, indem er nach dem unteren Schachte hinüber zeigte, der mit dem oberen in Verbindung stand und aus dessen Oeffnung Rauch und Qualm in mächtigen Säulen empor stiegen. „Wir haben nicht einmal den Versuch wagen können, denn in dem Höllenbrodem da drinnen vermag nichts Menschliches zu athmen. Hartmann wagte es, aber nach sechs Schritten schon mußte er halb erstickt wieder zurück und konnte gerade noch den Lorenz mit herausreißen, der ihm gefolgt, aber schon am Eingange niedergestürzt war. Unsere einzige Hoffnung bleibt der obere Förderschacht, vielleicht haben sie sich dorthin gerettet. Setzt die Maschine in Gang! Wir müssen dort hinunter.“

Der Maschinenmeister, an den die letzten Worte gerichtet waren, und der bleich und verstört daneben stand, machte keine Anstalt, zu gehorchen.

„Die Maschine versagt den Dienst!“ berichtete er angstvoll, „schon seit fast einer Stunde. Ich habe es hinüber melden wollen; denn die Herren waren ja alle drüben im Hause – aber mein Bote konnte durch den Tumult nicht hindurch, und ich dachte, im schlimmsten Falle bliebe den Schichtleuten ja noch der Ausgang durch den unteren Schacht. Wir mühen uns schon lange vergebens ab mit der Maschine, sie ist nicht vom Flecke zu bringen.“

„Himmel und Erde! das fehlte uns nur noch,“ rief der Oberingenieur, in das Schachtgebäude stürzend.

„Aber der Fahrschacht!“ wandte sich Arthur hastig an den Director, „können wir nicht dort hinunter?“

Der Gefragte schüttelte den Kopf. „Der Fahrschacht ist unzugänglich seit heute Morgen. Sie wissen es ja, Herr Berkow, Hartmann hat all die oberen Leitern zertrümmern lassen, weil er um jeden Preis die Anfahrt hindern wollte. Es gelang ihm nicht; die Leute gingen im Förderschacht hinunter, und das ist augenblicklich unser einziger Zugang zu der Tiefe.“

Jetzt erschien auch Ulrich mit Wilms und mehreren seiner gewöhnlichen Begleiter. „Dort unten geht’s nicht,“ rief er seinen Cameraden zu, während er sich Bahn durch ihre Reihen machte. „Wir opfern nutzlos das Leben, und wir brauchen es nothwendiger zur Hülfe. Vielleicht ist’s hier oben möglich. Warum arbeitet die Maschine nicht? Wir müssen mit der Förderschale hinunter.“

Er wollte stürmisch zum Schachtgebäude vordringen und stand plötzlich vor dem jungen Chef, der ihm finster entgegentrat.

„Die Maschine versagt den Dienst,“ sagte er laut und scharf, „schon seit einer Stunde, und vor zehn Minuten erst ist das Unglück geschehen. Das steht in keiner Beziehung miteinander, aber gerade vor einer Stunde war es, wo wir Ihre drei Abgeschickten ergriffen. Was ist da vorgegangen, Hartmann?“

Ulrich taumelte zurück, als habe er einen Schlag empfangen. „Ich hab’ es widerrufen,“ stieß er hervor, „im Augenblick, als mein Vater drunten war und die Uebrigen folgten. Ich kam [335] selbst, es zu hindern – da hatten sie es schon gethan. Das habe ich nicht gewollt; bei Gott, das nicht!“

Arthur wandte sich von ihm und zu einem der eben heraustretenden Ingenieure. „Nun, wie steht es?“ fragte er hastig.

Der Beamte zuckte die Achseln. „Die Maschine weigert sich, zu gehorchen. Noch haben wir nicht herausfinden können, woran es liegt, an der Explosion sicher nicht; sie kam fast eine Stunde später und die Schachtgebäude sind ganz unberührt davon. Die Beschädigung kam von Menschenhand; wir müssen heute Morgen trotz der sofortigen Untersuchung irgend etwas übersehen haben. Glückt es nicht, das Werk wieder in Gang zu bringen, so ist der sofortige Zugang in die Tiefe uns verschlossen, und die da unten sind rettungslos verloren, der Schichtmeister Hartmann mit!“

Er hatte bei den letzten Worten die Stimme erhoben und das Auge auf Ulrich gerichtet, der, Leichenblässe im Gesicht, stumm und regungslos dastand; jetzt aber zuckte er zusammen und machte eine heftige Bewegung vorwärts. Arthur vertrat ihm den Weg.

„Wohin?“

„Ich muß hinauf,“ keuchte der junge Steiger, „ich muß helfen. Lassen Sie mich los, Herr Berkow! Ich muß, sage ich Ihnen.“

„Sie können nicht helfen,“ unterbrach ihn Arthur bitter. „Mit den bloßen Armen ist hier nichts gethan. Zerstören konntet Ihr und uns die Gefahr verzehnfachen. Das Wiederherstellen überlaßt den Beamten! Sie allein können uns die Rettung ermöglichen und sie dürfen in ihrer Arbeit weder gestört noch gehindert werden. Lassen Sie den Raum absperren, Herr Director, und Sie, Herr Wilberg, schaffen Sie sofort die drei Gefangenen zur Stelle! Die Leute müssen doch wissen, wo sie Hand angelegt haben. Vielleicht können sie den Ingenieuren einen Fingerzeig geben. Eilen Sie!“

Wilberg gehorchte, und auch der Director machte Anstalt, die befohlene Maßregel auszuführen. Er fand keinen Widerstand dabei. Die Menge wußte, was jetzt von der Thätigkeit der Beamten abhing; sie gehorchte willig. Sie fühlten Alle etwas von der Wahrheit jener Worte, die Arthur einst der trotzigen Herausforderung ihres Führers entgegengeschleudert: „Versucht’s, wenn Euch das so sehr gehaßte Element fehlt, das Eueren Armen die Richtung, Eueren Maschinen die Triebkraft, Euerer Arbeit den Geist giebt!“ Hier waren Hunderte von Armen, Hunderte von Kräften zum Helfen bereit, und Keiner konnte den Arm heben, Keiner die Kraft einsetzen; die ganze Macht, die ganze Möglichkeit der Rettung lag in den Händen der Wenigen, die auch hier wieder den Geist herleihen mußten, um vielleicht noch Hülfe zu bringen, wo die Menge mitsammt ihrem Anführer nichts konnte als sich höchstens blind in einen gewissen Tod stürzen. Diese so gehaßten, so oft geschmähten Beamten! An ihnen hingen jetzt alle Blicke, um sie drängte sich Alles, wenn einer von ihnen sichtbar wurde; man hätte sie und ihre Arbeit jetzt geschützt um jeden Preis, wenn sie des Schutzes bedurft hätten.

Minute auf Minute verrann in ängstlichem, qualvollem Harren. Wilberg war längst mit den drei Gefangenen zurück, die man drüben im Hause in einem der Räume des Erdgeschosses eingeschlossen hatte. Die Leute wußten, was geschehen war; sie kamen in athemloser Hast, wie all die übrigen, um wie diese rathlos und verzweifelt dazustehen. Man bedurfte ihrer nicht mehr; denn der Grund der Stockung in der Maschine war bereits gefunden. Die Beschädigung erwies sich als unbedeutend und die sofortige Herstellung als möglich. Die Ingenieure unter Leitung ihres Vorgesetzten boten alle Kräfte dazu auf, während man draußen den Rettungsplan organisirte und Vorkehrungen zur Ausführung traf, während man immer wieder von Neuem und immer wieder vergebens versuchte, sich von der anderen Seite her einen Zugang in die Schachte zu schaffen. Die Gefahr hatte wie mit einem Schlage die gelösten Bande der Disciplin wieder fest geknüpft. Alles gehorchte und gehorchte besser und schneller, als je vor dem Ausbruche des Streites.

Aber mehr als alle Uebrigen leistete der Chef selbst. Ueberall war sein Auge, seine Stimme; überall wußte er einzugreifen, anzufeuern. Arthur besaß wenig oder nichts von den Kenntnissen und Erfahrungen, die gerade hier am Platze gewesen wären; man hatte den jungen Erben der Werke in der vollsten Unwissenheit dessen erzogen, was ihm am meisten zu wissen nöthig war; aber Eins besaß er, was sich nun freilich nicht erziehen und nicht erlernen läßt, das Genie des Befehlens, und das that hier gerade noth, wo der einzige Energische der Beamten, der Oberingenieur, drinnen bei den Maschinen festgehalten wurde und der Director und die Uebrigen, halb betäubt von dem schnellen Wechsel der Verhältnisse und von der Katastrophe selber, ungeachtet ihrer Kenntnisse, Erfahrungen und Fähigkeiten doch alle Geistesgegenwart verloren hatten. Arthur war es, der sie ihnen zurückgab, der mit schnellem Ueberblick Jeden auf den richtigen Platz stellte und ihn dort anspornte, das Aeußerste zu leisten, dessen er überhaupt fähig war, der mit seiner Energie Alles fortriß und entflammte. Der so lange von seiner Umgebung und von ihm selbst am meisten verkannte Charakter des jungen Mannes hatte sich nie so glänzend bewährt wie in diesen Stunden der Gefahr.

Da endlich ertönte das schwer ächzende Geräusch, mit dem die Maschine zur Arbeit einsetzte; dann folgte ihr Schnauben und Stöhnen, anfangs noch stoßweise und unterbrochen, dann in regelmäßigen Zwischenräumen; das Werk hob und senkte sich mit dem alten Gehorsam. Der Oberingenieur trat zu Berkow; aber sein Gesicht war nicht heller geworden.

„Die Maschine gehorcht wieder,“ sagte er ernst; „aber ich fürchte, es ist zu spät oder zu früh zur Anfahrt. Der Dampf quillt jetzt auch hier empor; die Wetter müssen weiter vorgedrungen sein. Wir werden warten müssen.“

Arthur machte eine heftige Bewegung. „Warten? Wir haben schon eine volle Stunde gewartet, und an jeder Minute kann das Leben der Verunglückten hängen. Halten Sie es für möglich, den Förderschacht überhaupt zu passiren?“

„Möglich ist’s vielleicht; es scheint nur Dampf zu sein, der da aufsteigt; aber es riskirt Jeder sein Leben, der jetzt schon hinunter will. Ich würde es nicht wagen.“

„Aber ich!“ tönte Ulrich’s Stimme mit finsterer Entschlossenheit. Er war in dem Moment, wo die Maschine zu arbeiten begann, gewaltsam vorwärts gedrungen und stand jetzt bereits an der Förderschale.

„Ich fahre an!“ wiederholte er, „aber Einer nützt nichts da unten. Ich muß Hülfe haben. Wer geht mit?“

Niemand antwortete; Jeder schien zurückzubeben vor der Fahrt in den dampfenden Schlund hinab. Sie hatten es Alle gesehen, wie die Muthigen, die auf den anderen Zugängen einzudringen versuchten, zurücktaumelten oder niederstürzten, Lorenz lag noch besinnungslos da von einem Wagniß, das sein stärkerer Gefährte ohne Schaden überstanden hatte; aber diesem Gefährten jetzt auf einem Wege zu folgen, wo Umkehr und Rückzug fast unmöglich waren, die Kühnheit besaß Keiner.

„Niemand?“ fragte Ulrich nach einer Pause. „Gut denn, so gehe ich allein! Gebt das Zeichen!“

Er sprang in das Gefäß; aber plötzlich legte sich eine schmale weiße Hand auf den geschwärzten Rand desselben, und eine klare Stimme sagte fest: „Warten Sie, Hartmann! Ich begleite Sie.“

Ein Schrei des Entsetzens von den Lippen der sämmtlichen anwesenden Beamten beantwortete den Entschluß; von allen Seiten gab sich eine stürmische Opposition kund.

„Um Gotteswillen, Herr Berkow! Sie opfern nutzlos Ihr Leben. Sie können nichts helfen.“ So tönte es durcheinander in allen Tonarten des Schreckens und der Angst.

Arthur richtete sich empor; das volle mächtige Selbstbewußtsein des Herrn und Gebieters leuchtete aus seinen Zügen.

„Es geschieht nicht der Hülfe, es geschieht des Beispiels wegen. Wenn ich anfahre, folgt Alles. Sichern Sie uns hier oben nach Kräften die Rettung, Herr Oberingenieur; der Director mag draußen für die Ordnung sorgen. Ich kann für den Augenblick nichts weiter als den Leuten Muth geben, und das denke ich zu thun.“

„Aber nicht allein und nicht mit Hartmann,“ rief der Oberingenieur, ihn fast zurückreißend. „Wahren Sie sich, Herr Berkow! Es ist dasselbe Werk und dieselbe Begleitung, die Ihrem Vater tödtlich wurde – auch Ihnen könnte da unten mehr drohen, als nur die empörten Wetter.“

Es war das erste Mal, daß die Beschuldigung offen und laut vor all den Zeugen hingeschleudert wurde, und wenn sich auch Keiner von Diesen ihr anzuschließen wagte, ihre Gesichter verriethen, daß sie dieselbe im vollsten Maße theilten. Ulrich stand noch an seinem Platze, ohne Laut, ohne Bewegung; er widersprach nicht und vertheidigte sich nicht; nur das Auge hatte er [336] starr und unverwandt auf den jungen Chef gerichtet, als erwarte er aus dessen Munde allein Lossprechung oder Verdammung.

Arthur’s Blick begegnete dem seinigen – nur eine Secunde lang, dann wand er sich los von den kräftigen Armen, die ihn zurückhalten wollten.

„Da unten in der Tiefe sind mehr als Hundert verloren, wenn wir nicht Hülfe bringen, und da, denke ich, wird sich wohl keine Hand anders heben, als zur Rettung. Geben Sie das Zeichen! Ihren Arm, Hartmann! Sie müssen mir helfen!“

Mit einer zuckenden Bewegung streckte Ulrich den Arm aus, um die gebotene Hülfe zu leisten. In der nächsten Minute stand Arthur bereits an seiner Seite.

„Sobald wir glücklich unten sind, senden Sie uns nach, was folgen will und kann. Glück auf!“

„Glück auf!“ wiederholte Ulrich dumpf, aber mit der gleichen Festigkeit. Er klang schaurig, fast geisterhaft, dieser Gruß, den die beiden Männer der Tiefe entgegenriefen, welche sie jetzt aufnahm. Die Maschine setzte ein, und die Förderschale sank langsam. Die Obenstehenden sahen nur noch, wie der junge Chef, schwindelnd von der ungewohnten Fahrt, betäubt von dem zum Glück nur schwach aufsteigenden Dampfe, seitwärts schwankte und wie Hartmann mit einer raschen Bewegung den Arm um ihn legte und ihn kraftvoll aufrecht hielt – dann verschwanden Beide in dem dampfenden Schlunde.

Arthur hatte Recht; sein Vorgehen entschied Alles, wo das Ulrich’s wirkungslos blieb. Man war es gewohnt, daß der Steiger Hartmann um viel geringerer Veranlassung willen sein Leben tollkühn in die Schanze schlug und es stets unverletzt davontrug, so daß sich bei seinen Cameraden bereits eine Art von Aberglauben gebildet hatte, es könne ihm keine Gefahr etwas anhaben. Er war es, der den Fahrschacht unzugänglich gemacht, der durch sein Attentat auf die Maschinen die Hülfe um mehr als eine Stunde verzögert hatte, und sein Vater war drunten mit den Uebrigen, vielleicht durch ihn verloren – da war es selbstverständlich, daß er sich ohne Zögern in ein Wagniß stürzte, das wohl Keiner theilen wollte. Aber als der Chef das Beispiel dazu gab, der verwöhnte, vornehme Mann, der seine Schachte nie betreten hatte, als sie verhältnißmäßig sicher waren, und der jetzt eindrang, wo sie Jedem Verderben drohten, als der voranging, da folgte Alles. Die Nächsten waren die drei Bergleute, die heut Morgen Hand an die Maschinen gelegt hatten und die jetzt unter Leitung eines der Ingenieure anfuhren. Dann kamen neue und immer neue Helfer; es bedurfte keines Aufrufs, keiner Aufforderung. Der Oberingenieur mußte bald genug die Andrängenden abwehren, weil nur ein Theil der Leute zu den Rettungsarbeiten zugelassen werden konnte.

Stunde auf Stunde verging; die Sonne hatte längst die Mittagshöhe erreicht, längst sie wieder verlassen – und noch immer rang da unten im Schoße der Erde Menschengeist und Menschenwille mit den empörten Elementen, um ihnen ihre Opfer zu entreißen. Es war ein Kampf, furchtbarer als je einer im Lichte des Tages ausgefochten wurde: jeder Fuß breit mußte erst erobert, jeder Schritt erst der Todesgefahr abgerungen werden, um das Vordringen zu ermöglichen, aber man drang dennoch vor, und es schien, als sollten die unerhörten Anstrengungen auch unerhört belohnt werden. Man hatte bereits Fühlung mit den Verunglückten; man hoffte sie zu retten; denn noch lebten sie, oder doch wenigstens ein Theil von ihnen. Ein glücklicher Zufall, das Auffinden zweier in der Hast des Forteilens verlorener oder weggeworfener Blenden, hatte auf die richtige Spur geleitet. Die Explosion schien den oberen Schacht nur theilweise berührt und die Bergleute schienen sich noch zeitig genug in einen der sicheren Seitenstollen geflüchtet zu haben, wo die Wetter sie nicht erreichten, wo aber ein theilweiser Einsturz der vorderen Strecke sie verschüttet und von den Ausgängen abgeschnitten hatte. Es galt jetzt, sich bis zu ihnen hindurchzuarbeiten, auf einem Wege, der den Rettern wenigstens die Möglichkeit des Athmens ließ, und zur Ausführung des schnell und umsichtig entworfenen Rettungsplanes wurden jetzt alle Kräfte aufgeboten.

„Und wenn die ganze Erde drauf läge, wir müssen zu ihnen!“ hatte Ulrich ausgerufen, als man die erste Spur fand, und das war das Losungswort geworden, das sich Jeder wiederholte. Da war auch nicht Einer, der zurückwich, nicht Einer, der sich der gefährlichen Pflicht entzog, wohin man ihn auch stellte, und doch hielt bei Vielen die Kraft nicht gleichen Schritt mit dem Eifer, doch mußte Mancher, erschöpft und halbbetäubt, zurückgesandt und durch neue Helfer ersetzt werden, wollte man die Zahl der Opfer nicht noch vermehren. Nur Zwei waren es, die nichts rührte und nichts ermüdete, Ulrich Hartmann mit seinem eisernen Körper und Arthur Berkow mit seinem eisernen Willen, der dem verwöhnten zartgebauten Manne heute Nerven wie von Stahl lieh, und ihn ausdauern ließ in Umgebungen und Gefahren, denen sich so viele Stärkere nicht gewachsen zeigten. Die Beiden hielten aus; Seite an Seite drangen sie vor, immer voran, immer die Ersten. Wo Ulrich’s Riesenkraft das fast Unglaubliche leistete und Hindernisse bewältigte, die für Menschenhände unüberwindlich schienen, da genügte es bei dem „Herrn“ schon, daß er an der Spitze stand, daß er überhaupt da war. Er konnte in der That nicht viel mehr thun, als den Arbeitern Muth geben zu ihrem Werke, aber er gab genug damit, mehr als seine Arme hätten leisten können. Schon dreimal hatte die Hand seines kundigeren Gefährten ihn zurückgerissen, wenn er, unbekannt mit den Gefahren der Schachte, sich zu unvorsichtig aussetzte; schon oft hatten ihn die Ingenieure gebeten, umzukehren, jetzt wo Leute genug zur Hülfe und Beamte genug zur Leitung da waren; Arthur verweigerte es jedes Mal mit vollster Entschiedenheit. Er fühlte, was von seinem Bleiben unter diesen Menschen abhing, die von Aufruhr und Empörung zur Rettung fortgeeilt waren. Sie sahen Alle auf ihren Chef, der, seit er überhaupt zur Selbstständigkeit erwacht war, nur immer gegen sie gestanden hatte, und der heute zum ersten Mal mit ihnen stand in Noth und Tod, der gleich dem Geringsten von ihnen sein Leben aussetzte, gleich ihnen ein junges Weib da oben in Todesangst zurückließ. In diesen Stunden gemeinsamer Arbeit und Gefahr, da wurde es endlich erzwungen, was man dem Sohne und Erben eines Berkow so lange und so hartnäckig verweigert, das Vertrauen. Da unten in der Tiefe der Felsenschachte wurde der alte Haß und die alte Zwietracht begraben, da endigte der Streit. Arthur wußte, daß es sich hier für ihn um mehr handelte, als nur um ein Wagniß, das jeder Andere an seiner Stelle leisten konnte, wußte, daß er sich mit diesem Ausharren die Zukunft seiner Werke und seine eigene Zukunft erkämpfte, und um diesen Preis ließ er Eugenien oben in ihrer Angst allein und blieb.

So ging es fort mit unermüdeter Thatkraft und unermüdeter Ausdauer; man drang vor, langsam, Schritt für Schritt, aber man drang vor, und endlich beugten sich die tückischen Gewalten der Tiefe dem Menschenwillen, der sich Bahn gebrochen zu seinen Brüdern dort unten. Als die Sonne sich droben zum Untergange neigte, da war der Weg gefunden, da wurden die Geretteten emporgehoben zum Lichte des Tages, zwar verletzt, halb erstickt, betäubt von Schrecken und Todesangst, aber doch lebend, und ihnen folgten, gleichfalls zum Tode erschöpft, die Retter. Die beiden Ersten bei dem kühnen Unternehmen, der Chef und Hartmann, sie waren die Letzten beim Rückzuge, sie wollten nicht eher weichen, bis sich Alles in Sicherheit befand.

„Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, daß der Herr und Hartmann noch immer da unten zögern,“ sagte der Oberingenieur unruhig zu den ihn umgebenden Beamten. „Sie waren doch bereits am Ausgange, als die Letzten zu Tage fuhren, und Hartmann kennt doch wahrlich die Gefahren der Schachte hinreichend, um auch nur einen Augenblick länger zu verweilen, als die Nothwendigkeit gebietet. Noch immer wartet die Förderschale dort unten; sie geben kein Zeichen, beantworten keins unserer Signale – was soll das heißen?“

„Wenn nur nicht im letzten Moment noch irgend ein Unglück geschehen ist!“ meinte Wilberg ängstlich. „Es klang mir vorhin so seltsam im Schachte, gerade als die Letzten hier oben ankamen. Die Entfernung war zu groß und das Geräusch der Maschine zu laut, um es mich deutlich unterscheiden zu lassen, aber das ganze Erdreich ist erschüttert – wenn da nur nicht irgend ein Nachsturz erfolgt ist!“

„Um Gotteswillen, da könnten Sie Recht haben!“ rief der Oberingenieur. „Gebt noch einmal mit vollster Kraft die Signale! Bleiben die unbeantwortet, so müssen wir wieder hinunter und nachsehen, was da passirt ist.“


(Fortsetzung folgt.)


[337]
Einer von den Alten Weimars.

Johann Christian Lobe.
Nach der Natur gezeichnet von Adolf Neumann.

Es giebt ein schönes Buch: „Aus dem Leben eines Musikers“, dessen erstes Capitel eine gar rührende Geschichte erzählt.

Ein elfjähriger Knabe, der brave Sohn armer Eltern, der durch fürstliche Huld Unterricht im Flöteblasen und Geigenspielen erhalten, sollte zum ersten Male im Hoftheater in einem Zwischenact mit seiner Flöte vor Hof und Publicum auftreten. Da war Beides groß, der Freudeschrecken vor der Ehre und die Angst vor dem Wagniß. Sein Lehrer, der ihn lieb hatte, redete ihm Muth zu und war doch selbst nicht ohne Bangen vor dem Erfolg, und fast mit Recht. Am Morgen vor dem wichtigen Abend war Probe im Theater. Da stand der arme Junge zwischen den dunkeln Coulissen, so zitternd vor Frost, denn es war tief im Winter, und vor Herzklopfen, als ob er auf die Bühne zu seiner Hinrichtung geführt werden solle. Endlich stellt der alte grämliche Orchesterdiener sein Pult knapp vor den Souffleurkasten und brennt die zwei Lichter desselben an. Nun muß er heraus. Das ganze Theater liegt zwar in Finsterniß, aber das Orchester ist hell und von jedem Pulte her richten sich die Augen auf ihn. Sein Lehrer tritt an das Dirigentenpult und ruft ihm zu: „Mach’ Dich fertig und gieb A an!“ – Dieser eine Ton, zum Stimmen des Orchesters, dieses A – ach Gott! das meckerte wie eine alte Frau, die in der Kirche singt. Da konnte ein höhnischer zweiter Violinspieler sich nicht enthalten, auszurufen: „Der hat schöne Angst!“ Und das war des Knaben Rettung. Das weckte den in ihm schlafenden Mann auf, sein tüchtiger Wille vollbrachte seine erste That. Konnte [338] er auch der zitternden Lippen nicht ganz Herr werden, so zwang er doch die Finger zum pünktlichsten Gehorsam. Und als der letzte Ton verhallt war, grüßten ihn freundliche Augen von allen Pulten und sein Lehrer sprach hochaufathmend ihm seine Zufriedenheit aus.

Da flog ein Glücklicher heim, doppelt glücklich, weil er ein paar Freibillets für seine Eltern mit heimbrachte: die sollten nun neben seinem Auftritt auch ein schönes Theaterstück sehen, ein Fest, das ihnen sonst nicht zugänglich war.

Der Nachmittag verging rasch. Um sechs Uhr begann die Vorstellung. Eine halbe Stunde vorher traten die Eltern, den Sohn in der Mitte, den schweren Weg an. Drei arme Menschenherzen pochten ungestüm in peinlichster Angst. Keines sprach ein Wort. Im Theater trennten sie sich. Die Eltern gingen auf die Galerie, der Knabe auf die Bühne, wieder hinter die Coulissen vom Morgen. Jetzt war Alles beleuchtet und voll Leben von dienendem und costümirtem Personal. Auch auf ihn rannte Einer zu: „Du bist ja noch nicht geschminkt, mein kleiner Virtuos. Komm, ich werde Dir die Rosen der Gesundheit auf Deine Wangen malen, die Dein Flötenblasen bereits verscheucht zu haben scheint.“ Und so strich er ihm ein gehörig dickes Roth auf die Backen und verließ ihn dann mit den Worten: „So, nun kannst Du Dich nicht blos hören, sondern auch sehen lassen.“ Unbeachtet stand nun der arme Junge in seiner abermals furchtbar aufsteigenden Angst von aller Welt verlassen da. Und wieder kam das Glück zu ihm, aber eine Engelsgestalt.

In dem Stück des Abends war eine Kinderrolle, die ein ebenfalls elfjähriges Mädchen spielte. Ihr Abgang nach einer Scene, die ihr rauschenden Applaus einbrachte, führte sie in die Coulisse des angstvollen Jungen. Sie stellte sich ihm gegenüber und heftete die Blicke neugierig auf ihn und sein Instrument. So betrachteten Beide einander und sprachen kein Wort. Im Herzen des Knaben sprach’s aber um so lauter: „Sieh, das ist nur ein Mädchen und spielt ihre Rolle so schön und furchtlos, und Du, ein Mann (!), stehst da und bebst?“ Der Muth erwachte, die Scham weckte ihn auf. Als nun aber der unerbittliche Vorhang fiel, der Orchesterdiener wieder sein Pult hinstellte und vor dem verhängnißvollen Augenblick nun kein Entrinnen mehr möglich war, da wollte selbst des alten Genast (nun haben wir doch verrathen, daß wir in Weimar sind), des Regisseurs Zuspruch nicht verfangen. „Kleiner, nur Muth!“ sagte er, „Du sollst ja in der Probe recht schön geblasen haben. Ich gebe jetzt das Zeichen zum Aufziehen des Vorhangs. Dann gehe nur beherzt hinaus, mache Deine zwei Verbeugungen, die erste vor der Hofloge, die andere vor dem Publicum, und dann fange in Gottes Namen an.“ Ach, das Zeichen erklang, der Vorhang rollte hinauf – und alle Schrecken der Welt fielen auf den armen Jungen. Da flüsterte die Kleine mit bewegter Stimme ihm zu: „Ich wünsche Glück“ – und der arme Knabe war gerettet! Die drei Wörtchen wirkten elektrisch auf ihn, wie das Geschenk eines Wunders belebte plötzlich ihn der Muth: sie hörte ihm theilnehmend zu, sein Auge sah nur sie und er blies nur für sie.

Es ging gut. Stürmischer Beifall rauschte ihm nach jedem Satz in die Ohren. Und als nun der letzte Ton verhallt, der letzte linkische „Diener“ für den letzten Applaus gemacht war, eilte das glücklichste Menschenkind dieses Augenblickes in die Coulisse zurück. Wohl umringten ihn Schauspieler und Schauspielerinnen, die ja Alle selbst die Angst des ersten Auftretens bestanden hatten, und überhäuften ihn mit Liebkosungen und Glückwünschen – aber sein Herz zog ihn vor Allem zu seiner kleinen Collegin. Sie stand noch auf ihrem Platze, und wenn sie auch kein Wort sagte, so sah sie ihn doch mit ein Paar blauen Augen an, aus denen die helle Freude strahlte. Wie das die Brust des Knaben hob! Er fühlte, sie achtete ihn, und das beglückte ihn erst vollständig.

Erst jetzt konnte er mit ruhigerer Theilnahme dem weiteren Verlaufe des Stückes zusehen, denn er behauptete natürlich seinen Platz in der Coulisse, die zweimal eine so schreckliche Marterstätte für ihn gewesen war. Die Kleine auch. Als aber der Vorhang wieder aufrollte, sagte sie, wie zu sich selbst, leise: „Ich muß nun in die andere Coulisse,“ worauf sie langsam fortging. Und im Knaben sprach’s: „Du mußt auch in die andere Coulisse.“ So stand er ihr wieder stumm gegenüber, und sie schien das ganz in der Ordnung zu finden. Plötzlich neigte sich ihr liebliches Lockenköpfchen, und auf ihr Stichwort zu lauschen, und als es kam, hüpfte sie hinaus auf die Bühne und spielte so herrlich, daß sie abermals rauschenden Beifall erntete; und nun war es an dem Knaben, ihr sein Entzücken mit funkelnden Augen entgegen zu leuchten. Im letzten Act mußte sie wieder in die andere Coulisse, der kleine Virtuos natürlich auch. Und nun fiel der Vorhang zum letzten Mal; Alles ging; auch die zwei Glücklichen nickten sich den Abschied zu. Sein Engel verschwand, denn sein Engel war sie gewesen, nur einmal, aber in tiefster Noth.

Vor der Thür erwarteten die Eltern den Sohn. Die Mutter küßte ihn mit einer Freudenthräne im Auge; der Vater drückte ihm die Hand und sagte: „Es ist gut gegangen. Du hattest wohl große Angst?“ – „Ach ja, lieber Vater!“ sprach der Knabe, aber die Mutter behauptete: „Meine Angst war doch noch größer!“ Wer glaubt dies nicht dem Mutterherzen?

Nun ging’s heim. Es war böses Stöberwetter, aber die Drei fühlten wenig davon; die Freude stürmte wärmend durch ihre Adern. Und splendid feierten sie den festlichen Abend, denn es wurde nicht nur warme Suppe gekocht, sondern es gab sogar noch Butter und Käse zum oft genug trockenen Brode.

Das ist die Geschichte. – Was ist aus diesem armen Knaben geworden? Ein Mann, hochgeehrt als berühmter Meister auf seinem Instrument, als fruchtbarer und geschätzter Componist und als einer der ausgezeichnetsten Schriftsteller für sein Fach, ein noch heute geistes- und herzensfrischer Greis, der auf ein Leben voll erhebender Erinnerungen zurückblickt und am nächsten 30. Mai seinen sechsundsiebzigsten Geburtstag feiert: der Professor Johann Christian Lobe in Leipzig.

Welche Gunst des Schicksals muß gewaltet haben, um ein Kind der Armuth auf so hohe Stufe der Bildung und des Wissens zu erheben? Ja, eine Gunst des Schicksal war’s, nämlich die, daß in dem schwächlichen Körper desselben ein so starker Wille herrschte, der es dem Knaben ermöglichte, durch sich selbst Das zu werden, was aus ihm geworden ist. Außer für die Fertigkeit auf seinen Instrumenten hat Lobe keinen andern Lehrer gehabt, als eben sich selbst. Dieses in unserer an Bildungsanstalten und Lehrern weit reicheren Zeit, als die damalige war, auch um so seltenere Beispiel von rastlos thätiger Willenskraft verdient es wohl, daß wir noch Einiges von ihren Wegen und ihrem Walten erzählen.

Lobe’s Vater war Illumineur für das Bertuch’sche Bilderbuch; aber er spielte auch mehrere Instrumente, namentlich Clarinette, Violine und Flöte, und gab sehr frühzeitig dem Sohne den ersten Unterricht. Das musikalische Talent desselben zeigte sich bald als ein ungewöhnliches. In einer kleinen Stadt wird so etwas leicht weiter verplaudert, und so erfuhr es auch die junge Erbprinzessin, die russische Großfürstin Maria Paulowna, die selbst eine treffliche Clavierspielerin war. Sie bestellte den Musikdirektor Riemann zu dessen Lehrer, und unter diesem geschah 1808 sein erstes Auftreten in seinem elften Jahre. Als bald nachher der ehemalige Cantor an der Leipziger Thomasschule A. E. Müller, als Hofcapellmeister nach Weimar kam, übergab man ihn diesem und als dessen Schüler trat er 1811 im Leipziger Gewandhaus auf. Rochlitz schrieb damals in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung: „Er spielte nicht wie ein Knabe, sondern wie ein Mann.“ So ist es nicht zu verwundern, daß derselbe noch als Knabe, das heißt unmittelbar nach seiner Confirmation, in der Weimarischen Hofcapelle angestellt wurde.

Hundert Andere hätten an Lobe’s Platz hiermit ihr Ziel erreicht gehabt, denn das ist ja in der Regel die Anstellung. Lobe fühlte sich dagegen wie der Vogel im Käfig. Sein Sinn stand hinaus in’s große Leben, seine wiederholten Gesuche um Entlassung waren jedoch vergeblich, und so hüpfte er denn auf seinen Paar Stäbchen im engen weimarischen Häuschen herum, aus purer Dankbarkeit für die in der Kindheit genossenen fürstlichen Wohlthaten, und bewährte diese deutsche Treue volle fünfunddreißig Jahre. Aber wie er diese lange Zeit für sich und die musikalische Welt ausgenutzt hat, das ist’s eben, was wir näher betrachten wollen.

Es versteht sich von selbst, daß ein Knabe, welcher alle seine schulfreie Zeit mit musikalischen Uebungen verbringen mußte, selbst das bescheidene Maß von Kenntnissen und Fähigkeiten nicht [339] erwarb, welches damals die Volksschule zu bieten hatte. Und nun regt sich plötzlich in ihm der Drang, eigene Gedanken schriftlich niederzulegen, und nicht blos Componirtes meisterhaft auszuführen, sondern selbst zu componiren. Virtuosenruf, sonst wiederum eines der höchsten Ziele von hundert Anderen, erwarb er sich genügend auf Kunstreisen, die ihn nach Wien, Berlin und vielen anderen musikalischen Großstädten führten. Aber Lobe’s Streben war eben ein höheres, und er mußte bei seiner immerhin beschränkten Einnahme und Zeit seine eigenen Wege dahin einschlagen. Bücher wurden des Rastlosen Lehrer. Die weimarsche Hofbibliothek hatte keinen eifrigern Benutzer als ihn. Er studirte neuere Sprachen, Geschichte, Philosophie etc., anfangs bunt durcheinander, bald aber immer planmäßiger, wozu ihm, wie er selbst erzählt, der Umgang mit Gymnasiasten aus den höheren Classen und mit Studenten besonders fördernd war. Die damals gangbarsten Lehrbücher für musikalische Composition schaffte er sich selbst an. Bald versuchte der Käfigvogel die ersten Flüge im Freien; und wenn es ihm auch mit der Ausnahme der erstes Recension ebenso schlecht erging wie mit der Aufführung der ersten Composition, wie er mit beneidenswerthem Humor in dem Buche geschildert hat, das wir gleich abermals nennen müssen, so konnten ihn die schlimmsten Erfahrungen doch nur auf Augenblicke entmuthigen; die Spannkraft in der jungen Brust war zu gesund, um sich zusammendrücken zu lassen. So hatte er denn schon viel und Vielerlei studirt und gelesen, geschrieben und componirt, als er im Jahre 1818, einundzwanzig Jahre alt, den Entschluß faßte, an das erste große Werk zu gehen, an die Composition einer Oper.

Ich greife nun wieder zu dem „schönen Buche“, welchem ich die Geschichte von dem ersten Auftreten des elfjährigen Virtuosen nacherzählt habe. Es ist Lobe’s eigenes Werk,[1] und ich muß auch jetzt ihm nur nacherzählen, weil die Mittheilung des Originals nicht für die Raumverhältnisse dieses Artikels paßt.

Meine erste Oper“ ist die Ueberschrift des betreffenden Capitels. Auch für die Oper hatte Lobe es an Vorarbeiten nicht fehlen lassen; lagen doch beide Opernalmanache von Kotzebue vollständig von ihm componirt in vielen Partitur-Convoluten unter seinen Notenhaufen. Dennoch stand er jetzt vor einem Haupthinderniß seines Unternehmens: woher einen Text nehmen? Er selbst wagte sich mit einem solchen Antrage noch an keinen namhaften Dichter; ein befreundeter Student hatte ihm zwar sein poetisches Talent dazu zur Verfügung gestellt, war aber nur bis zum Titel des Stückes gekommen: „Wittekind“. Es blieb Lobe nichts übrig als der kühne Entschluß, sich den Text selbst zu machen.

Welche Arbeit für seine, wenn auch noch so strebsame, für solch ein Unterfangen doch völlig ungeschulte Kraft! Er verstand nichts von den dramatischen Bedingnissen, nichts von der Prosodie etc., hatte noch nie einen Vers gemacht, – das Alles, Alles mußte erst gelernt werden, ehe er nur an die Arbeit selbst gehen konnte. Er schloß sich vom Augenblicke dieses Entschlusses an von Allem ab und vor Allem ein, was nicht zu seiner Dienstpflicht gehörte; von früh bis Nacht kamen die Bücher und die Schreibfeder nicht aus seiner Hand; selbst zu Tisch nahm er ein Buch mit und genoß abwechselnd einen Bissen Speise und einen Bissen Geschichte, Dramaturgie, Prosodie. So studirte er Tag und Nacht; Tragkörbe voll Excerpte aus den haufenweise zusammengeschleppten Büchern ließ er später in die Papiermühle wandern, und dafür neues unbeschriebenes Papier zu erhalten, das schließlich wieder denselben Weg ging.

Nach fast einem Jahre solcher Vorübungen hielt er sich endlich für genügend ausgerüstet für die Arbeit selbst. Er entwarf den Plan und schritt zur Ausführung. Freilich ging da erst die größte liebe Noth los, der Kampf mit den Reimen und Versfüßen brachte ihn oft schier zur Verzweiflung – aber die Beharrlichkeit verließ ihn nicht, und nach abermals einem schweren vollen Jahre lag sein Text in einer schmucken Reinschrift fix und fertig vor ihm.

Nur einen einzigen Feiertag gönnte er sich dafür und verbrachte ihn, mit glühendem Kopfe und Herzen, größtentheils in Wald und Flur, und als er sich Abends selig ermattet zu Bett legte, sagte er: „Morgen geht’s an die Composition.“

Und wirklich und wahrhaftig ging am Morgen das Componiren los, und es dauerte ununterbrochen wieder ein Jahr, denn die Oper hatte drei Acte. Endlich schrieb er die letzte Note hin und dahinter „Fine!“ – Beinahe drei Jahre waren vergangen, seit er nach den ersten Hülfsbüchern auf die Bibliothek geeilt war.

„Die Oper,“ so erzählt Lobe, „wurde angenommen. Die Proben begannen, und eines Tages erschien als Ankündigung der nächsten Vorstellung im Theater: ‚Sonnabend, zum ersten Male: Wittekind, große Oper in drei Acten, Text und Musik vom Hofmusikus Lobe.‘ – ,Ach, das Leben ist doch schön!’ Das fühlte ich recht lebhaft, als ich die Ankündigung in unserem damaligen Wochenblatte immer und immer wieder las und nun auch den von mir gemachten Text, hübsch gedruckt, vor mir sah!

„Und doch schlich ich am Tage der Ausführung in großer Angst und Sorge in das Haus und drückte mich in eine dunkle Ecke auf der Galerie. Endlich ging’s los!

„Die Sänger wurden applaudirt, auf die Musik, das fühlte ich, kam wenig davon, und der Text – hatte wenig Interesse. – Freunde und Bekannte machten mir zwar Elogen, ich aber war auf’s Tiefste niedergeschlagen und herzlich froh, als das Werk nach der zweiten Aufführung zurückgelegt wurde. Ich glaubte überzeugt sein zu müssen, auch nicht das geringste Talent zu besitzen – und versank einige Zeit in Schwermuth und völlige Unthätigkeit. Welche Hoffnungen, welche ausdauernde Anstrengungen, und – welcher Erfolg!

„Es handelte sich,“ so schließt Lobe, „hier ganz und gar nicht darum, welchen Werth das Werk an sich hatte. Ich sprach nicht von den Thaten meines Talents, sondern von dem Produkte meines Willens und Fleißes, von dem Resultat der Beharrlichkeit. Ohne alle Vorkenntniß, Vorbildung, ohne Lehrer, ohne Hülfe eine so langathmige Arbeit in drei langen Perioden – Vorstudien – Text – Musik –, durchzusetzen, das ist Etwas, wie der finden wird, der’s versuchen will – und Jeder kann’s, wenn er will.“ –

Trotz alledem folgte jener ersten bald eine zweite Oper: „Die Flibustier“ mit Text von Ed. Gehe (Ouvertüre und Clavierauszug der ganzen Oper bei Breitkopf und Härtel). Sie fand Beifall, noch bedeutenderen aber die dritte: „Die Fürstin von Granada“, die Lobe in Leipzig unter Ringelhardt selbst drei Male dirigirte. (Partitur und Clavierauszug bei Schott in Mainz.) Zu dieser Oper hatte er, mit Ausnahme der Reimverse, die ein dichtender Freund ihm besorgte, den Text wieder selbst gedichtet. In Weimar wurden ferner ausgeführt: „Der rothe Domino“, Text von der Frau von Langen in Dresden, und „König und Pächter“, Text von Freiherrn von Biedenfeld. Außer diesen fünf Opern haben wir von ihm noch viele Ouvertüren, Concerte für Flöte, Clavierquartette und andere Kammermusikstücke.

„Im Jahre 1846,“ schreibt uns Lobe in einer selbst-biographischen Skizze, „wurde ich durch Vermittelung des guten edeln Franz Liszt pensionirt.“ Der Großherzog ernannte den verdienten Mann zum Professor der Musik, und Lobe siedelte nun nach Leipzig über und übernahm die Redaction der Breitkopf-Härtel’schen Allgemeinen musikalischen Zeitung, die er bis zum Schluß des fünfzigsten Bandes, 1848, führte.

Von dieser Zeit an war er ein ganz freier Mann und konnte nun an die Ausführung lange gehegter und vorbereiteter Pläne zu seinen theoretischen Büchern gehen. Wenden wir uns gleich zum wichtigsten derselben, dem Hauptwerke seines Lebens, seinem vierbändigen „Lehrbuch der musikalischen Composition“ (Leipzig, Breitkopf und Härtel). Der erste Band, enthaltend die Harmonie- und Formenlehre, erlebte bereits die dritte, die zweite, die Lehre von der Instrumentation, die zweite Auflage. Wie im ersten Bande die Harmonielehre auf ganz einfache und bestimmte wenige Grundprincipien zurückgeführt ist, so stellt der zweite als Grundprincip der Instrumentation den Contrast auf, weil alle Farbengebung auf glücklicher Contrastirung beruhe. Ganz besonderes Gewicht ist auf den dritten Band zu legen, welcher die „Lehre von der Fuge, dem Canon und dem doppelten Contrapunkt, mit besonderer Rücksicht auf Selbstunterricht“ enthält und die Ehrenbezeichnung eines reformatorischen Werkes verdient. Wie kein Anderer hat er es verstanden, die ganze Lehre einfach und klar, wie man Alles von ihm gewohnt ist, neu aufzubauen, während die Theoretiker [340] seit Jahrhunderten bis in unsere Tage eine nicht unbeträchtliche Zahl theils unnützer, theils zu beschränkter, theils geradezu falscher Regeln einander nachgeschrieben, dadurch aber den Ruf der Mühseligkeit und Schwierigkeit dieses Studiums auf das Abschreckendste vermehrt hatten. Auch der vierte Band, die Oper, enthält viel Neues, Eigenthümliches, namentlich psychologische Analysen von Arien etc. Diesen letzten Band vollendete Lobe bereits als Siebziger, gewiß auch ein seltenes Glück, daß Leib und Seele bis zu diesem Ziel (sein nächstes ist über’s Jahr seine goldene Hochzeit) ihm so treu zusammengehalten.

Neben diesem Hauptwerke haben wir von ihm einen „Katechismus der Musik“ (bei J. J. Weber, dreizehnte Auflage), einen „Katechismus der Compositionslehre“ (ebendaselbst), „Vereinfachte Harmonielehre“ (Leipzig, bei Siegel), auch Dilettanten zugänglich; ferner „Musikalische Briefe eines Wohlbekannten“, zweite Auflage, „Fliegende Blätter für Musik vom Wohlbekannten“, zwei starke Bände. Außerdem zahlreiche Aufsätze in Fachzeitungen und anderen periodischen Blättern, namentlich der „Gartenlaube“, „Illustrirten Zeitung“, „Europa“, in den „Signalen“ etc. Von letzteren erschien eine Sammlung als „Consonanzen und Dissonanzen“ (Leipzig, bei Baumgärtner), ein Buch, das, wie sein „Aus dem Leben eines Musikers“, uns auch den Menschen und Mann Lobe kennen lehrt, eine Bekanntschaft, deren sich Jeder freuen wird, der das Glück hat, sie gemacht zu haben.
Fr.

Ein Rest altdeutscher Volksbühne.

Vor dem Rathhause zu Jena hielt eines Tages – es war Anfangs der Vierziger Jahre – ein langgestreckter, von allen Seiten hermetisch verschlossener Wagen. Auf der Außenseite desselben konnte man in großer Fracturschrift lesen: Theater von Eberle aus Wien. Demnach war es ein fahrender Thespiskarren. Die Thür desselben wurde von innen geöffnet, aber nicht um, wie sonst, ein ganzes Heer buntgekleideter Bühnenhelden und Heldinnen an’s Licht zu fördern, nein, ein alter, wohlbeleibter Herr nebst dito Gemahlin, hübscher Tochter und jugendlichem Sohne, das war des Pudels Kern. Eiligst ließ der Alte die Kisten abladen und nach dem Rathhause schaffen. Denn dort sollten die „Vorstellungen“ laut der Anschlagzettel vor sich gehen.

Schon am nächsten Tage verkündete der städtische Ausklingler, ein langer graubärtiger, bei dergleichen feierlichen Gelegenheiten mit einer großen Hornbrille bewaffneter Polizeidiener, den Beginn der Vorstellungen „mit obrigkeitlicher Bewilligung einem hohen Adel“, den es übrigens in Jena gar nicht gab, „und dem andern gewöhnlichen Publicum“.

Als erstes Stück wurde gegeben: Hamlet, Prinz von Dänemark, oder die Komödie in der Komödie. Ein Prinz als Hauptperson und dann eine Komödie, in der wieder Komödie gespielt wurde, das war für uns Kinder und viele Andere, welche die Bekanntschaft des „großen Briten“ überhaupt noch nicht gemacht hatten, etwas Vielversprechendes. Mit tiefer Aufmerksamkeit und täglich mehr als einmal studirten wir das Personal des Stückes, welches aus folgenden Personen bestand: Der König von Dänemark; die Königin; Hamlet, deren Sohn; Oldenholm, Kämmerer; Lehertes, Ophelia, dessen Kinder; Gustav, ein Student; Bernstiel, ein Officier; Hamlet’s Vater als Geist; Casperle, Hofnarr; Edle, Hofdamen, Knappen; Personen des zweiten Theaters: Gonzaga, ein Herzog; Betisda, seine Gemahlin; Lucian, sein Neffe.

Wir zerbrachen uns die jugendlichen Köpfe darüber, wer die Personen alle darstellen werde, da das Personal des Künstlers, wie es dem Wagen entstiegen war, nur aus drei Köpfen bestand. Durch die angeknüpfte Bekanntschaft mit dem Knaben des fremden Theatermeisters genoß ich die besondere Bevorzugung, bereits den Vorbereitungen zum Aufbaue des Theaters beiwohnen zu dürfen – nur Das, was hinter dem Vorhange vorging, wurde mir und dem Blicke jedes Dritten ängstlich verborgen; dieser innere Mechanismus war das tiefe Geheimniß des Meisters. Endlich kam der ersehnte Abend der ersten Aufführung. Die „Stadtpfeifer“ spielten ein rührendes Stück; der Vorhang ging auf und – Hamlet und sein Freund Gustav, der Student von Wittenberg, lauerten auf den Geist von Hamlet’s Vater. Ein kalter Luftzug strömt rechts aus der Coulisse und – der Geist ist da. Dann die Abschiedsscene zwischen Oldenholm-Polonius und dessen Sohne Lehertes (Laertes). In den weiteren Acten des Schauspiels ereignete sich Alles wie im Shakespeare’schen Stücke: der Tod des Polonius, der Selbstmord der Ophelia – Alles ganz wie beim großen Briten. Dann kam der Zweikampf des Laertes und Hamlet. Hier aber starben die beiden Duellanten nicht, sondern nach Beseitigung des lasterhaften Königspaares erzählt Hamlet dem Gegner deren Schandthaten, erhält von Laertes Verzeihung für den unverschuldeten Mord seines Vaters Polonius und den verschuldeten Heimgang seiner Schwester Ophelia und wird – nach einer rührenden Versöhnungsscene – als König von Dänemark ausgerufen. Das Publicum ging, durch diesen Ausgang völlig befriedigt und versöhnt, nach Hause. Es brauchte nicht erst die Nacht hindurch schlaflos zu grübeln, wo die tragische Schuld des sterbenden Helden versteckt lag. Dieser Hamlet war auch kein solcher „phlegmatisch-fetter“ Träumer und Kopfhänger, der über der Reflexion nicht zur That kommt, wie sein Shakespeare’scher Vetter. Er ging weit sicherer auf’s Ziel los und überließ die „schlechten Witze“ seinem Hofnarren Casperle. Diesem war es auch vorbehalten, die berühmte Streitfrage über Hamlet’s wirklichen oder nur verstellten Wahnsinn, welche das Hirn manches deutschen Gelehrten schon in bedenkliche Verfassung gebracht hat, kurz und sicher zu beantworten. Als Casperle nämlich den Untergang der Ophelia drastisch berichtet, aber die letzte Spannung noch zurückhält, fragt ungeduldig die Königin:

„Ist sie denn todt?“

„Todt? – Nein, todt ist sie nicht –“

„Nun, was denn?“

„Sie ist ersäuft.“

„Caspar,“ meint hierauf die Königin, „Caspar, Ihr seid närrisch.“

Da spricht dieser das gewichtige Wort: „Und Euer Sohn auch!

In dieser Weise war das Stück für die Gefühlslage des Volkes zurecht gelegt. In derselben Weise waren auch die anderen Stücke unserer Rathhausbühne bearbeitet: überall eine derb in die Augen springende, rasch sich abwickelnde Handlung, ein Wechsel von Humor und Ernst, wie ihn zuletzt auch das wirkliche Leben bietet. Kurz, es war der Rest des alten deutschen Volkstheaters, der sich hier erhalten und in die ehrwürdigen Räume des städtischen Capitols gerettet hatte. Freilich waren es nicht mehr Menschen, die es darstellten, es waren nur halblebensgroße – Puppen. Wir Kinder indeß glaubten nicht an diese nüchterne Auflösung dieses Räthsels, für uns behielten die Figuren Fleisch und Bein. Aber bald wurde ihre wirklich culturgeschichtliche Bedeutung auch unter den Gelehrten gewürdigt. Namentlich war es Simrock, der große Forscher auf dem Gebiete altdeutscher Literatur, der auf das literarische und kulturhistorische Interesse dieser Puppentheater aufmerksam machte, ihnen nachforschte und ein wichtiges Repertoirestück derselben, das alte Drama von Doctor Faust, dem Nekromantisten, zusammenstellte und herausgab, ein Stück, das nach Simrock’s Ansicht „von dem Werke des großen Meisters Goethe nicht in den Schatten gestellt wird, sondern ebenso kühn und geistreich erfunden und durchgeführt ist“.

Die Stücke dieser Puppenbühne sind nicht gedruckt, oft kaum im Manuscript vorhanden, sondern werden unter den Theatern mündlich fortgepflanzt, wie alle echte Volkspoesie. Es beruht darauf das Zunftgeheimniß und wird möglichst streng gewahrt, so daß es schwer hält, den Inhalt der Stücke sich anzueignen. Außer dem genannten Wiener Eberle existirten und existiren noch manche andere Theaterdirectoren dieses Schlags. So war nach Simrock in Oberdeutschland die Schütz- und Dreher’sche Gesellschaft in den zwanziger Jahren zu Hause, während die Simrock’sche Faustquelle hauptsächlich ein Manuscript des Puppenspielers Geißelbrecht bildet. Auch in neuerer Zeit tauchen die Puppentheater vielfach wieder auf. Sie vermeiden meist die größeren Städte mit ihren „lebendigen“ Theatern. Auch sonst ist ihr [341] Publicum zumeist nicht der sogenannte gebildete Theil des Volks. Während einerseits gerade in der Jetztzeit die Bildung begierig alle Züge nationalen Lebens zu erhaschen und festzuhalten sucht, geht sie an diesem werthvollen Reste des altdeutschen Volksdramas meist theilnahmlos vorüber. Es hat stets mit zu den Aufgaben der Gartenlaube gehört, den Gängen der Culturentwicklung unseres Volkes nachzugehen. So darf auch dieser verborgene Hort den Lesern der Gartenlaube nicht länger fremd bleiben.

Das Repertoire unserer Bühne besteht außer den erwähnten „Faust“ und „Hamlet“ gewöhnlich noch aus folgenden Stücken: „Genoveva, Pfalzgräfin bei Rhein“; „Judith und Holofernes“; „Kunz von Kaufungen oder der sächsische Prinzenraub“; „Das Müllerröschen oder die Schlacht bei Auerstädt“; „Die Rückkunft aus Palästina oder der zweihundertjährige wandelnde Geist“; „Der Eremit von Formentera oder die Schlangeninsel“; „Don Juan“; „Der studirte Nachtwächter“ und dergleichen. Alle diese verschiedenen Stücke stehen in so weit in einem innern Zusammenhange, als in ihnen allen eine Figur stets wieder auftritt, dies ist der bereits erwähnte Casperle, die lustige Person. Trotz des äußern Rollenwechsels ist dabei sein Charakter genau festgehalten und in allen Stücken derselbe. Mit den humoristischen Figuren Shakespeare’s, namentlich mit „Falstaff“, hat er Manches gemein. Er hat immer Hunger und noch größeren Durst; er ist ebenso aufschneiderisch und hat doch in der Stunde der Gefahr ebensowenig Courage, wie Jener. Dennoch stiftet er gern Händel und zettelt Prügeleien an. Dabei ist er aber nicht so fett und gichtgeplagt, wie „Falstaff“, sondern schmeidig und beweglich, klug und durchtrieben, weiß er aus den bedenklichsten Situationen sich glücklich herauszuretten. Während sein Herr in den meisten Fällen der Tragik seines Geschicks unterliegt, kommt er mit heiler Haut davon. Natürlich. Er darf ja nicht sterben; sonst könnte er ja im nächsten Stücke nicht wieder mit auftreten. Auch der Teufel kann ihm nichts anhaben. Als er, um der Luftfahrt gen Parma theilhaftig zu werden, dem ihm zugegebenen Teufel sich verschreiben soll, philosophirt der Schlaukopf dieses Ansinnen mit den Worten hinweg: „Was soll ich Euch verschreiben? Den Leib brauch’ ich selber, denn ohne den kann ich nicht mitfahren. Und was die Seele betrifft, eine Seele hat Casperle nicht. Ihr dummen Teufel, daß Ihr das nicht gemerkt habt. Als ich zur Welt gekommen bin, war keine Seele mehr vorräthig.“ In effektvoller Weise weiß der Poet dieser Stücke mittelst dieser lustigen Person die oft thörichten Thaten seines Herrn zu parodiren. So stellt er sich mit seinem stark materialistischen Drange nach guten Mahlzeiten und hohen Trinkgeldern gleich im ersten Acte des Faustdramas in einen scharfen Gegensatz zu dem die verborgenen Tiefen der Natur erforschenden Faust und dem gelehrten „Grillenfänger“ Wagner, der da meint, man müsse Mitleid haben mit dem einfältigen ungelehrten Menschen; wenn er studirt hätte, wäre er wohl so lustig nicht. Im zweiten Act parodirt er dann die Geistercitation in ebenso drastischer Weise wie im dritten Act die Wunderthaten seines Meisters, während er im letzten Act die Scenen der steigenden Verzweiflung des der Hölle verfallenen Faust durch die realistischen Scenen seines häuslichen Lebens mildernd unterbricht.

In der „Rückkunft aus Palästina“ tritt zu der edlen tiefen Treue der Gräfin Kunigunde, welche ihrem mit dem Kreuzheer nach dem Orient gezogenen Geliebten sieben Jahre treu geblieben ist, der leichte Sinn von Casperle’s Frau in Gegensatz, welche nach dem angeblichen Tode ihres Gatten rasch einen Andern geheirathet hat: ein Umstand, der ihr von ihrem heimkehrenden Gatten eine gute Tracht Prügel zum Willkommen einträgt. Casperle ist, wie aus mehreren Stücken hervorgeht, verheirathet; seine Ehe ist aber keine glückliche, sondern eine stete Abwechselung von Schelten und Schlägen: Bei all seinem Hang zum Leichtsinn ist er aber kein Bösewicht. Für das Böse hat er eine zu harmlose Natur. Und wenn er auch nur des leidigen Geldes willen scheinbar mit dem Bösen sich verbindet, wie in der „Genoveva“, wo er dem Golo für fünfzig Gulden den Pfalzgrafen zu morden verspricht, so führt er doch die böse That nicht aus, er verräth sie vielmehr dem Grafen.

Eine große Rolle spielen in unsern Stücken die Erscheinungen der Geister, diese „verkörperten Gewissensbisse“. So erscheint dem Kunz von Kaufungen der Geist seines todten Vaters und warnt ihn vor der Ausführung des Prinzenraubes. Eigenthümlich und die große dramatisch-plastische Anschaulichkeit dieser Volksstücke beweisend ist auch die Erscheinung, daß die innern Seelenkämpfe der Helden, welche die moderne Kunstdichtung in langen Monologen zum Ausdruck zu bringen pflegt, aus der Seele des Individuums gleichsam losgelöst und in einzelnen Stimmen „von rechts und links“ verkörpert werden. So fordert die Stimme zur Linken den grübelnden Faust auf, sich der Magie zu ergeben, während die Stimme zur Rechten, die sich als sein Schutzgeist ausgiebt, ihn aufleht, sich nicht verblenden zu lassen und bei dem Glauben zu bleiben. Als in dem angebrochenen Wettstreite dann die Stimme zur Linken den Sieg davon zu tragen beginnt, schwillt dieselbe zu einem förmlichen Chor an.

Daß die Stücke für moderne Nervenschwäche kein Verständniß haben, ist wohl selbstverständlich. Die Enthauptung des Prinzenräubers Kunz von Kaufungen geht deshalb ebenso auf offener Bühne vor sich, wie die Abschlagung des Kopfes von Holofernes durch Judith.

Die Gewalt der dramatischen Macht, das Packende der Handlung tritt noch vielfach in einer Weise hervor, daß unsere heutigen Buchdramatiker davon lernen könnten. So, um nur ein Beispiel zu erwähnen, in der Rachethat des von der Pfalzgräfin Genoveva mit seinen Liebesanträgen energisch zurückgewiesenen Golo. Dieselbe besteht darin, daß Golo den Lieblingsdiener der Gräfin, den Koch Trogo, ersticht, den Leichnam in das Gemach der schlafenden Gräfin schleppt und sodann mit lautem Geschrei das ganze Hofgesinde herbeiruft, um in Gegenwart desselben zu verkünden, daß er den Koch aus Pflichteifer getödtet habe, weil er ihn im Gemache seiner Herrin ertappte. Diese einzige Handlung gewährt nicht blos eine bedeutende dramatische Ausbeute, sondern es baut sich auch auf ihr das ganze weitere Stück leicht und wahrscheinlich auf. Der Charakter des Golo steht mit einem Male in seiner ganzen Furchtbarkeit, in seiner Mischung von Heuchelei, Schlauheit, Grausamkeit und Rachsucht vor uns, während ebenso die Täuschung der Umgebung der Gräfin über deren wahren Charakter, aus welcher die Fortentwicklung der ganzen Handlung beruht, damit wahrscheinlich wird. Das weitere Fortschreiten Golo’s auf seiner dunkeln Bahn, namentlich sein Plan, auch den Pfalzgrafen selbst aus dem Wege zu räumen, um sich vor den drohenden Folgen seiner Reue zu sichern – ein Zug, der ebenso wenig wie die geschilderte That der alten Volkssage entnommen, sondern frei erfunden ist – ergiebt eine Steigerung, wie wir sie sonst nur bei den Bösewichten Shakespeare’s gewohnt sind.

Schließlich sei es uns vergönnt, noch auf das Stück „Faust“ näher einzugehen, schon um erkennen zu lassen, wie es Goethe nicht verschmäht hat, auf diesem kleinen Stücke sein erhabnes Meisterwerk aufzubauen – freilich in einer Weise, daß auf einem Sandkorn sich ein Dom gewölbt hat.

Wir finden Faust in seinem Studirzimmer, vor einem Folianten sitzend, und also vor sich hinsprechend:

So weit hab’ ich’s nun mit Gelehrsamkeit gebracht,
Daß ich allerorten werd’ ausgelacht.
Alle Bücher durchstöbert von vorn bis hinten
Und kann doch den Stein der Weisen nicht finden.
Jurisprudenz, Medicin, Alles umsonst,
Kein Heil, als in der nekromantischen Kunst.
Was half mir das Studium der Theologie?
Meine durchwachten Nächte, wer bezahlt mir die?
Keinen heilen Rock hab’ ich mehr am Leibe
Und weiß vor Schulden nicht wo ich bleibe.
Ich muß mich mit der Hölle verbünden,
Die verborgenen Tiefen der Natur zu ergründen etc.

Dann kommt der bereits erwähnte Seelenkampf Faust’s, dargestellt durch den Streit seines guten und bösen Genius. In einer weitern Scene mit dem Famulus Wagner erhält Faust den Besitz des von ihm gesuchten werthvollen Buches über den Schlüssel der Magie. Im zweiten Acte citirt Faust mit Hülfe dieses Buches die Geister. Sieben derselben entläßt er wieder, da das Maß der Geschwindigkeit ihrer Dienste ihm nicht genügt, obwohl sich dieselbe von derjenigen der Schnecke im Sande, des Baches vom Felsen, des Vogels in der Luft, der Kugel im Laufe bis zu der des Windes und des Pesthauchs steigert.

Endlich erscheint als achter Geist Mephistopheles, der so geschwind ist wie der Gedanke des Menschen. Diese Schnelligkeit [342] genügt dem Faust, denn was kann er „mehr verlangen, als daß seine Gedanken erfüllt werden, sobald er sie denkt. Weiter bringt es ja Gott selbst nicht.“ Eritis sicuti Deus! Nach einer vergeblichen Warnung seines Schutzgeistes verschreibt sich dann Faust dem Teufel. Die eigenthümlichen Bedingungen des Pacts lauten: „Ich, Faust, schwöre Gott und den christlichen Glauben ab. Nach vierundzwanzig Jahren will ich Dein sein mit Leib und Seele. Ich gelobe, mich in all der Zeit nicht zu waschen noch zu kämmen, auch Haar und Nägel nicht zu verschneiden. Ich will den Ehestand meiden.“ Beide, Faust und Mephisto, kommen hierauf durch die Luft in das Hoflager des Herzogs von Parma, wo die Hochzeitsfeierlichkeiten des neuvermählten Fürstenpaares bereits seit acht Tagen anhielten. Der schon berühmte Doctor und Geisterbanner kommt sehr gelegen, um dem erschöpften Born des Festes durch Vorführung seiner Zauberkünste neue Nahrung zuzuführen. Faust citirt vor den Gästen verschiedene, namentlich alttestamentliche Gestalten in der Form von lebenden Bildern.

Wir stehen also am zweiten Theile des Goethe’schen Faust. Faust’s schöne Gestalt, dessen verbuhlte Blicke und die Anspielungen der lüsternen Bilder wirken verwirrend auf das Herz der Herzogin. Ihr Gemahl wird eifersüchtig, die Geistlichkeit bedenklich, das Volk unruhig, so daß sich Faust auf Rath seines Mephisto der gefährlichen Situation durch die Flucht entzieht.

Von ganz bedeutender Wirkung und großer Auffassung ist der letzte Act. Faust empfindet den Ueberdruß des im Ueberfluß gehabten Genusses. Der schäumende Becher hat bittere Hefe. Aus Gold ward Heckerling. Es kommt der Gedanke an das Glück seiner Kindheit, da er noch beten und glauben konnte; es kommt – die Reue. Er fragt Mephisto, der pactmäßig verpflichtet ist, ihm die Wahrheit zu sagen, ob er noch zu Gott kommen könne. Der Teufel bebt ob dieser Frage und zieht heulend von dannen. Faust betet, erlöst und gerettet, zum Bild der Mutter Gottes. Da kommt Mephistopheles zurück mit Helena. Ihrer verführerischen Schönheit kann der betende Faust nicht widerstehen. Um den Preis ihres Besitzes schwört er noch einmal Gott ab. Als er aber dieses Besitzes sich erfreuen will, zerfließt die Gestalt in Dunst und Hauch, und – der Teufel betrügt ihn noch ohnedies um die letzten zwölf Jahre, denn er hat die Nächte mit als einzelne Tage gezählt. So läuft schon um Mitternacht seine Zeit ab. Vergebens wirft sich Faust nochmals vor das Marienbild. Es nimmt die Züge der Helena an. Er kann nicht mehr beten. „Gott verschworen, ewig verloren!“ dröhnt es von oben herab. Mit wahrhaft teuflischer Lust weidet sich Mephistopheles an den Qualen des Verzweifelten, indem er ihm die Schauer der Hölle vormalt, wo die Pein der Verdammten so groß sei, daß die armen Seelen eine Leiter von Scheermessern zum Himmel hinaufsteigen würden, wenn sie noch Hoffnung hätten. Und nun klingen von oben herab in einzelnen Stundenpausen, welche die Uhr anzeigt, die richtenden Worte: „Fauste! Fauste! Accusatus es! – judicatus es – in aeternum damnatus es!“ (Du bist angeklagt – gerichtet – ewig verdammt!) Mit den gedankenreichen Worten: „Ich bin vernichtet, vernichtet! O, wenn ich vernichtet wäre!“ sinkt Faust zerschmettert zu Boden. Casperle aber, der seine Seele dem Teufel vorenthalten hat und wohlbestallter Nachtwächter geworden ist, tanzt zur Beruhigung der aufgeregten Gemüther mit seiner Frau den Kehraus. –

Der Eindruck dieser Stücke auf das kleine wie das große Publicum war zu der Eingangs geschilderten Zeit eine nachhaltige. Schon nach zwei Jahren kehrte Eberle nach Jena zurück. An einer nachmaligen, vielfach ersehnten Wiederkehr hinderte ihn sein, wie es hieß, durch einen Sturz vom obern Theater erfolgter Tod. Die nächste Wirkung dieses Theaters für uns Kinder war die, daß wir uns selbst kleine Puppentheater einrichteten, freilich nur in kleinem Maßstabe aus ausgeschnittenen Pappfiguren der bekannten Neuruppiner Bilderbogen, um auf diesen Theatern die gesehenen Stücke nachzuspielen. Das liebste Stück war uns immer die Geschichte des sächsischen Prinzenraubes. Das lag unserer kindlichen Anschauung am nächsten. Darin durften namentlich die wunderbaren Worte niemals fehlen, die der Kurfürst dem mit Rache und Vergeltung drohenden Ritter Kunz spöttisch entgegnet: „Kunz, verbrenne mir die Fische im Teiche nicht!“ Sie hatten sich unserm Gedächtniß unauslöschlich eingeprägt. Nur der genossene Zauber einer lebendigen Bühne vermochte später den Eindruck etwas zu verlöschen. Als aber noch viel später der Moment kam, wo es dem Manne vergönnt war, die Gestalten der eigenen Phantasie auf der lebendigen Bühne verkörpert vor sich zu sehen, da ging der Zug der Gedanken unwillkürlich bis dahin wieder zurück, wo die Seele des Knaben die ersten Eindrücke des bretternen Zaubers empfangen hatte: – auf der Puppenbühne des Rathhauses zu Jena.
Fr. Helbig.




Bestelle Deinen letzten Willen!


Noch immer begegnen wir bei einer großen Anzahl von Menschen einem fast unbesiegbaren Widerwillen, ihr Haus in Zeiten zu bestellen und ein Testament zu errichten. Deshalb ist es gewiß nicht müßig, dieses Vorurtheil einmal näher zu beleuchten und die drei Fragen zu erörtern: wann und wie soll man sein Testament machen, und wer ist moralisch dazu verpflichtet?

Wann soll man sein Testament machen? Antwort: so bald als möglich!

Es ist keine Frage, daß Derjenige, welcher die Ueberzeugung gewonnen, daß er moralisch verpflichtet ist, ein Testament zu errichten, gewissenlos handelt, wenn er dies von Tag zu Tag, von Woche zu Woche und von Jahr zu Jahr aufschiebt. Die Strafe dafür kann eine entsetzliche sein. Denn der Mensch kann auch von Krankheiten plötzlich befallen werden, welche den Geist umnachten oder den Menschen der Sprache berauben und dadurch die Testamentserrichtung unmöglich machen.

Welche Qualen werden einen solchen Unglücklichen, so oft das Bewußtsein ihm wiederkehrt und bis es ganz geschwunden ist, foltern, wenn er dem Tode sich nähert und sich immer mehr davon überzeugt, daß er das Versäumte nicht mehr nachzuholen, daß er vielleicht das einem geliebten Verstorbenen gegebene Versprechen nicht mehr erfüllen kann und sein Vermögen Personen zufallen sieht, die seinem Herzen fremd sind, während nun Diejenigen, welche ihm lieb und werth waren, leer ausgehen!

Allein auch selbst von diesen äußersten Fällen abgesehen, ist es thöricht, mit dem Testamente so lange zu warten, bis man sich krank oder gar dem Tode nahe fühlt.

Mit jeder Krankheit des Körpers ist eine gewisse Erregung des Geistes verbunden, und je schwerer die Krankheit, desto mehr wird der Geist zur Mitleidenschaft gezogen. Selten ist ein Mensch so lebensmüde, daß er nicht, wenn er krank wird, selbst in hohem Alter, den Wunsch und die Hoffnung haben sollte, wieder gesund zu werden. Deshalb wird ihm schließlich der Entschluß, ein Testament zu errichten, in kranken Tagen noch schwerer werden als in gesunden.

Hierzu kommt aber, daß bei den meisten Krankheiten die geistige Thätigkeit minder frei ist, und deshalb wird ein Kranker, der sein Testament errichtet, viel leichter etwas übersehen und vergessen als ein gesunder, und, was keineswegs zur unterschätzen ist, die mit einer Testamentserrichtung immerhin verbundene Anstrengung und Aufregung wird nicht selten den Zustand des Kranken verschlimmern.

Ebensowenig darf man den Einfluß unterschätzen, welcher häufig von der Umgebung auf den Kranken ausgeübt wird. Der Verfasser, welchen sein Beruf als Jurist viel an Krankenbetten führt, hat häufig genug, namentlich bei der ländlichen Bevölkerung wahrnehmen müssen, wie schonungs- und rücksichtslos die Anwesenden sich bemühten, den Schwächezustand des Kranken in ihrem Interesse und zur Benachtheiligung Anderer auszubeuten. Ja, einmal ist es demselben sogar vorgekommen, daß Verwandte eiligst nach einer Gerichtsdeputation zur Aufnahme eines Testaments schickten, während der Kranke gar nicht den Wunsch hatte, eine letztwillige Verfügung zu treffen.

In manchen Staaten besteht die zweckmäßige Einrichtung, daß bei der Aufnahme des letzten Willens außer der Gerichtsdeputation [343] Niemand von den Erben anwesend sein darf. Wer übrigens sich darauf verläßt, daß es schließlich in der letzten Krankheit immer noch Zeit sein werde, ein Testament zu errichten, der möge bedenken, daß es nicht von ihm allein, sondern auch von anderen unberechenbaren Zufälligkeiten abhängt, ob es möglich ist, den Entschluß auszuführen; denn es ist nicht immer sofort ein Notar zu erlangen, und bei den Gerichten, obgleich diese in dringlichen Fällen solcher Art alles Andere aus der Hand zu legen pflegen, kommt es nicht selten vor, daß alle richterlichen Beamten bereits durch andere, vielleicht auswärtige Dienstverrichtungen in Anspruch genommen sind.

Zweitens: wie soll man sein Testament machen?

Bei einem Testamente handelt es sich darum, den Willen einer Person zu beurkunden, welche zu der Zeit, wo der Wille in Kraft tritt und ausgeführt werden soll, nicht mehr unter den Lebenden weilt und deshalb selbst nicht mehr im Stande ist, über ihre Willensmeinung entstehende Zweifel zu lösen.

Daraus folgt nun, daß bei der Abfassung eines solchen Testamentes, bei Erforschung der wahren Willensmeinung und bei der Wahl des Ausdruckes mit ganz besonderer Vorsicht und Gewissenhaftigkeit zu Werke gegangen werden muß.

Glücklicher Weise haben wir die Zeiten des juristischen Schnörkelstiles hinter uns. Liest man Schriften aus jenen zum Theil nicht allzu weit zurück liegenden Zeiten, so kann man sich nicht genug wundern, welche Mühe man sich früher gegeben hat, unnöthiger Weise viele Worte zu machen, Worte von gleicher oder ähnlicher Bedeutung der deutschen, lateinischen und nicht selten auch der griechischen Sprache, die beiden letzteren germanisirt, nebeneinanderzustellen. Diese Art zu schreiben war aber nicht blos komisch, sondern sie hatte auch eine sehr bedenkliche Seite, indem sie zu vielen Streitereien und Rechtsverdrehungen Veranlassung gab.

Das Zweckmäßigste ist, wie bei allen wichtigen Schriftstücken, so namentlich bei Testamenten, so einfach wie möglich zu schreiben, den für das Verhältniß passendsten Ausdruck zu wählen, sich sodann aber auch dessen allein zu bedienen. Dieser Rath wird auch von Juristen nicht genug beherzigt, und es kommt der Fall nicht selten vor, daß ein Nichtjurist eine Urkunde zweckentsprechender abfaßt, als mancher Jurist, wenn er sich nur der einfachen Worte, welche das Verhältniß unzweifelhaft ausdrücken, bedient. Wenn man zum Beispiel schreibt: „N. N. in N. soll mein Erbe sein“, oder „N. N. in N. und X. X. in X. sollen meinen Nachlaß in der und der Weise unter sich theilen“, ferner: „mein Erbe soll dem O. O. in O. diese oder jene Summe in der und der Zeit nach meinem Tode herauszahlen, oder diesen oder jenen Gegenstand geben“, so weiß Jeder, was damit gemeint ist, und auch der geschickteste Rabulist wird nicht im Stande sein, über den Sinn dieser Worte Streit zu erregen.

Nun giebt es endlich noch eine äußere Testamentsform, in welcher es sich darum handelt, zu beurkunden, daß eine gewisse Bestimmung der letzte Wille einer Person gewesen ist. Man kann hier füglich die selten vorkommenden Fälle des Soldaten- und Pesttestamentes übergehen. Das mündliche Testament, bei welchem der letzte Wille vor einer gesetzlich bestimmten Anzahl von Zeugen, welche gewisse Eigenschaften haben müssen, erklärt wird, kommt jetzt in allen den Ländern, wo die Kunst zu schreiben das Eigenthum Aller ist, nur sehr selten vor. In Ländern mit geordneten Rechtszuständen kommt am häufigsten das gerichtliche oder notarielle Testament vor, indem der Staat durch seine Behörden, Gerichte oder Notare die Erklärung des Testators, daß das und das sein letzter Wille sei, beurkunden läßt und die darüber aufgenommene Urkunde so lange in Verwahrung nimmt, bis entweder der Testator dieselbe zurückzieht, oder sein Tod erfolgt ist, und nunmehr der Zeitpunkt eintritt, den letzten Willen in Vollzug zu setzen. Der Testator kann bei dieser Form des letzten Willens wählen, ob er das von ihm verfaßte und eigenhändig geschriebene oder doch unterschriebene Testament versiegelt dem Gericht oder dem Notar übergeben will, welchen Falls diese sich darauf beschränken, zu beurkunden, daß der Testator die Erklärung abgegeben hat, es befinde sich in dem Paquete sein letzter Wille, oder er kann auch vor dem Notar oder dem Gericht seinen letzten Willen erklären, und es wird dann von diesem in Form eines Protocolls oder einer Urkunde bezeugt, daß der Testator in der und der Weise letztwillig Verfügung getroffen habe.

Durch die wohl in allen Gesetzgebungen enthaltenen Bestimmungen über die Testamentsnachträge ist die Möglichkeit geboten, einem einmal errichteten und gerichtlich niedergelegten Testamente Ergänzungen beizufügen, ohne deshalb zu der Form der Errichtung eines neuen Testamentes gezwungen zu sein. Man braucht namentlich blos in sein Testament die Bestimmung aufzunehmen, daß ein nach dem Tode des Testators in dessen Verwahrung sich vorfindendes und als Testamentsnachtrag bezeichnetes Schriftstück dem Testamente gleich geachtet werden solle. Zu mehrerer Sicherheit kann man auch einen Ort angeben, wo der Testamentsnachtrag, das Codicill, aufbewahrt werden soll, kann auch eine besondere Form, wie versiegelt und vergleichen, vorschreiben.

Unsere dritte Frage: Wer ist moralisch verpflichtet, ein Testament zu machen? – erfordert eine ausführlichere Darlegung.

Im Allgemeinen kann man als Grundsatz aufstellen, daß in denjenigen Fällen eine letztwillige Verfügung zu treffen, ein Testament zu errichten nöthig ist, wo die Bestimmungen des Gesetzes nicht mit dem Privatwillen des Erblassers in Einklang stehen, sei es nun, daß sie demselben mehr oder weniger geradezu entgegenstehen, oder daß das Gesetz Verhältnisse nicht berücksichtigt, welche der Erblasser berücksichtigt wissen will. Denn obwohl im Allgemeinen jeder Mensch über das, was er sein Eigenthum nennt, sowohl unter Lebenden als auch für den Fall des Todes frei verfügen kann, so sind doch in manchen Gesetzgebungen dem Privatwillen bei Verfügungen auf den Todesfall bestimmte Schranken gesetzt.

Die Interessengemeinschaft der Familie, zwischen Ehegatten, Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln ist nämlich eine so innige und vielgestaltige, daß sie bei dem Testamente nicht unbeachtet bleiben darf, falls etwa der Privatwille geneigt sein sollte, Einzelne der nächsten Angehörigen von der Erbschaft ganz auszuschließen. Deshalb ist wohl in allen Gesetzgebungen die Bestimmung enthalten, daß, sofern nicht gewisse gesetzlich genau bestimmte Fälle vorliegen, den Ehegatten, Kindern und Eltern, soweit diese zu Erben berufen werden, ein gewisser in einem Bruchtheil ausgedrückter und je nach den Verhältnissen steigender oder fallender Theil des Nachlasses selbst durch letztwillige Verfügung nicht entzogen werden darf, welcher Theil dann der ihnen gebührende „Pflichttheil“ genannt wird. Da aber die gesetzlichen Bestimmungen in dieser Hinsicht in den verschiedenen Ländern so außerordentlich verschieden sind, so kann es sich nach der Tendenz dieses Aufsatzes auch nicht darum handeln, systematisch diejenigen Fälle aufzuführen, in welchen ein Testament zu errichten als nöthig oder zweckmäßig erscheint, sondern nur einige und zwar die am häufigsten vorkommenden Fälle dieser Art durchzugehen.

Hat Jemand nur ein Kind und dieses soll seine ganze Habe erhalten, oder hat er mehrere Kinder, und an diese soll nach ganz gleichen Theilen die Verlassenschaft fallen, so bedarf es keines Testamentes, denn hier bestimmt das Gesetz das Nämliche, was der Privatwille im Testamente bestimmt haben würde. Ist es dagegen der Wunsch des Erblassers, daß gewisse Theile seines Vermögens anderen Personen, denen er vielleicht für langjährige treugeleistete Dienste sich verpflichtet fühlt, zukommen sollen, oder sollen gewisse Theile seines Vermögens bereits bestehenden gemeinnützigen Anstalten zu Gute kommen, oder auch dazu dienen, solche erst in’s Leben zu rufen, so wird es zweckmäßig, ja unter Umständen sogar durchaus nothwendig sein, diese letztwillige Verfügung in einem Testamente zum Ausdruck zu bringen. Sind nämlich die Kinder alle bereits mündig und der Erblasser kann sich auf ihre Gewissenhaftigkeit in dem Grade verlassen, daß er weiß, sie werden den gegen sie ausgesprochenen Wunsch auch ohne bindende Form respectiren und zur Ausführung bringen, so würde ein Testament nicht nöthig sein. Im entgegengesetzten Falle aber, und namentlich wenn eines oder mehrere der Kinder noch unmündig sind, wird die Errichtung eines Testamentes um so gewisser nothwendig, als außerdem die Ausführung des letzten Willens in Frage gestellt werden würde.

Hat Jemand ferner seinen Angehörigen oder Einzelnen derselben schon bei seinen Lebzeiten zu diesem oder zu jenem Zwecke Theile seines Vermögens zukommen lassen, oder ist er genöthigt [344] gewesen, für eines seiner Kinder einen besonderen Aufwand zu machen, so daß eine gleiche Vertheilung des bei dem Tode vorhandenen Vermögens zu einer Bevorzugung des einen und Benachtheiligung des Anderen führen würde, so muß er in Form einer letztwilligen Verfügung die für eine solche Ausgleichung ihm billig erscheinenden Normen festsetzen.

Besondere Beachtung verdient das Verhältniß der Ehegatten, namentlich wenn dieselben mit Kindern bei der Erbschaft betheiligt sind. Wer erinnert sich nicht der Geschichte von der in dem Thore einer kleinen deutschen Stadt aufgehängten eisernen Keule mit der Inschrift:

„Wer theilt mit seinen Kindern Brod,
Und leid’t am Ende selber Noth,
Den schlagt mit dieser Keule todt!“

Kein Wort ist wahrer, als das, daß eine Mutter eher sieben Kinder ernährt, als sieben Kinder eine Mutter erhalten. In Berücksichtigung dieser Thatsache ist es in den entsprechenden Fällen eine Verpflichtung des Ehemannes, das Loos seiner überlebenden Ehefrau thunlichst sicher zu stellen. In vielen Gesetzgebungen ist das Erbtheil der Wittwe, wenn sie mit Kindern zusammentrifft, nur ein geringes Bruchtheil des ehemännlichen Nachlasses, und so ist die Wittwe, namentlich wenn sie nicht eigenes Vermögen besaß und dasselbe in den Ländern, wo die eheliche Gütertrennung gilt, mit dem Zeitpunkt der Trennung der Ehe zurückerhält, häufig auf eine kümmerliche Existenz angewiesen und muß zuweilen mit Mangel kämpfen. Für solche Fälle ist es gewiß Pflicht des Ehemannes, seine Ehefrau thunlichst sorgenfrei zu stellen, indem er ihr einen größeren Theil seines Nachlasses testamentarisch hinterläßt, und nach dieser Richtung ist derselbe, sofern nur das Pflichttheil der Kinder nicht verletzt wird, keiner Beschränkung unterworfen.

Für diejenigen Fälle, wo die Wiederverheirathung der Wittwe nicht außerhalb des Bereiches der Möglichkeit liegt, kann, um den Kindern das väterliche Vermögen zu sichern, testamentarisch eine Bestimmung dahin getroffen werden, daß für diese Falle der Wittwe nur ihr Erbtheil, alles Uebrige dagegen den Kindern zufällt.

Ein nicht selten vorkommender Fall ist es ferner, daß, wo es sich um den Besitz von Grundstücken handelt, der Wunsch des Erblassers dahin geht, es möge dieses oder jenes Grundstück, oder auch vielleicht der gesammte Grundbesitz, um eine gewisse, dem wahren Werthe gegenüber gewöhnlich niedrig bemessene Summe in eine bestimmte Hand übergehen. Auch in diesen Fallen wird, sofern nicht, was von den Umständen abhängt, diese Absicht vielleicht einfacher und zweckmäßiger durch einen Vertrag unter Lebenden erreicht werden kann, durch ein Testament der letzte Wille sich realisiren lassen.

Hat Jemand nur entfernte Angehörige, so wird es immer zweckmäßig sein, durch ein Testament über die Erbfolge Bestimmung zu treffen. Nicht nur, daß dadurch die langwierigen und kostspieligen gerichtlichen Erörterungen zur Ermittelung der Erben vermieden werden, es kommt in solchen Fällen sehr häufig vor, daß das Vermögen des Verstorbenen an Personen fällt, die nur ihm außer aller Verbindung standen, ja ihm wohl persönlich und dem Namen nach völlig unbekannt waren, und daß dagegen Personen, welche dem Verstorbenen nahe standen, vollständig leer ausgehen, weil sie entweder gar nicht, oder in entfernterem Grade mit ihm verwandt waren.

Besonders häufig findet in dieser Beziehung ein Irrthum bezüglich der Verschwägerten statt. Die Schwagerschaft ist dasjenige Verhältniß, in welchem die Verwandten des einen Ehegatten mit dem andern Ehegatten stehen. Dies ist wenigstens der juristische Begriff, der aber im gewöhnlichen Leben nicht festgehalten, sondern sehr weit ausgedehnt wird. Ebenso wird auch häufig nicht berücksichtigt, oder ist auch nicht hinlänglich bekannt, daß juristisch dieses Verhältniß mit seinen rechtlichen Folgerungen nicht länger dauert, als die Ehe zwischen den beiden Ehegatten selbst. So kommt der Fall nicht selten vor, daß kinderlose Ehegatten dem Ueberlebenden ihr ganzes Vermögen hinterlassen, dabei jedoch zur Bedingung machen, oder als Wunsch zu erkennen geben, daß das von ihnen herrührende Vermögen oder doch gewisse Theile desselben nach dem Tode des überlebenden Ehegatten auf Verwandte des zuerst verstorbenen Ehegatten gehen sollen. Eine solche Bestimmung wird, wenn sie nicht in gesetzlicher Form beurkundet ist, gar nicht beachtet, denn wenn der überlebende Ehegatte dann stirbt, werden nur seine Verwandten zur Erbschaft berufen, und die Verwandten seines Ehegatten, welche zu ihm nur in dem Verhältnisse einer durch den Tod juristisch unwirksamen Schwagerschaft gestanden haben, gehen vollständig leer aus.

Dies sind die wichtigsten und am häufigsten vorkommenden Fälle, wo es nothwendig oder doch zweckmäßig ist, daß ein Testament errichtet wird.

Bei der Landbevölkerung begegnet man häufig und zumeist bei derjenigen, welche früher unter Patrimonialgerichtsverwaltung gestanden, dem Vorurtheile, daß man durch die Errichtung eines Testamentes es verhindern könne, daß sich das Vormundschaftsgericht in die Sache einmische und die Feststellung der Masse und Regulirung des Nachlasses in die Hand nehme.

In manchen Staaten besteht nämlich für die Gerichte die Verpflichtung, sich der Bevormundeten dergestalt anzunehmen, daß deren Vermögen gerichtlich festgestellt und verwaltet wird, und es muß solchenfalls auch die Regulirung eines Nachlasses, aus welchem dem Bevormundeten Vermögen zufällt, unter Concurrenz des Vormundschaftsgerichtes erfolgen.

Wo nun aber in einem Lande eine solche gesetzliche Bestimmung existirt, da kann sie auch durch einen Act des Privatwillens, als welchen das Testament sich darstellt, nicht aufgehoben werden. Das Testament kann deshalb wohl die Art und Weise der Vertheilung des Nachlasses regeln, das Eintreten des Gerichts bei der Feststellung des Nachlasses, bei der Vertheilung desselben und bei Verwaltung des Vermögens der Bevormundeten wird dadurch nicht ausgeschlossen.

So haben wir das Wann, Wie und Wer der Testamentsmachung wohl zur Genüge erörtert und können nur wünschen, daß damit dem Vorurtheil, der Scheu und der Saumseligkeit, den drei Hauptwidersachern der letzten Pflichterfüllung, in recht vielen Menschen ein Ende gemacht sei.

Und nun zum Schluß noch eine wahre Begebenheit, welche die Bestürzung eines plötzlich Erkrankten und seiner Umgebung kennzeichnet. Tief in der Nacht wurde bei dem Gerichte eine Deputation zur Aufnahme des Testamentes bestellt. Als dieselbe im Hause des Kranken erschien, traf sie mit dem Arzte und mit dem Geistlichen zusammen, denn derselbe Bote war von dem Kranken zu allen drei Facultäten geschickt worden. Im Hause des Kranken nun stritten die drei Facultäten um den Vortritt. Der Geistliche wollte vor Allem die Seele des Kranken in Sicherheit bringen, während der Arzt es für wichtiger hielt, die Seele im Körper zu erhalten, und der Jurist machte darauf aufmerksam, welch unersetzliche Nachtheile die Angehörigen treffen könnten, wenn der Kranke nicht mehr sein Haus bestellen könne. Schließlich mußte der Kranke selbst die Reihenfolge, in der die Facultäten Zutritt erhielten, bestimmen. Es diene aber zur Beruhigung, daß der Patient, trotz der ärztlichen Hülfe, trotz des geistlichen Beistandes und trotz der Errichtung des Testamentes wieder gesund wurde und noch heute seines Daseins sich erfreut.
–n.




Herr Müller in Tunis.


Es war im August des vorigen Jahres. Wir hatten vor Goletta, der tunesischen Hafenstadt, Anker geworfen, und ich benutzte den ersten freien Tag, um der Residenz des Beys einen Besuch abzustatten. In der Begleitung dreier Freunde, worunter unser Bordarzt, fuhr ich um vier Uhr Morgens auf einem Ruderboote nach Goletta. Man kann von dort aus sowohl zu Lande als zu Wasser nach der Hauptstadt gelangen; als Seeleute zogen wir die etwas längere, jedenfalls aber staubfreie Wasserstraße vor und begaben uns daher an Bord des kleinen Dampfers, welcher täglich, mit Ausnahme des heiligen Freitags, seine Tour nach Tunis zurücklegt.

Die Fahrt über den kaum drei Fuß tiefen Meeresarm,

[345] 

Die ersten Sommervögel im Gebirge.
Originalzeichnung von L. Bechstein.

[346] Bahira genannt, an welchem die Hauptstadt liegt, bot wenig Interessantes, weshalb wir unsere Aufmerksamkeit unseren Reisebegleitern zuwandten. Mauren in ihrer malerischen Tracht, lebhafte Sicilianer, ernste Spanier und Griechen belebten in buntem Gewühl das Verdeck, und an unser Ohr schlugen arabische und italienische Laute, sowie die der Lingua franca, eines aus den beiden genannten Sprachen hervorgegangenen Idioms.

Wir hatten in der Nähe des Steuers Platz genommen und tauschten Bemerkungen über unsere Umgebung aus, als ein europäisch gekleideter Herr auf uns zutrat, uns in unserer Muttersprache begrüßte und sich als ein in Tunis ansässiger Deutscher zu erkennen gab. Hocherfreut über die unerwartete Begegnung, stellten wir uns vor und erfuhren von unserem Landsmanne, daß er Friedländer heiße und im Dienste einer englischen Missionsgesellschaft die Jugend der israelitischen Gemeinde unterrichte. Sehr zuvorkommend erbot sich Herr Friedländer, uns auf einem Gange durch die Stadt zu begleiten, und ich halte es für meine Pflicht, zu bekennen, daß ich bei ähnlichen Gelegenheiten nie einen liebenswürdigeren Cicerone getroffen habe.

Wir landeten in Tunis und begannen unsere Wanderung. Die Straßen erwiesen sich, wie dies in den meisten Städten des Orients der Fall ist, als ungepflegt und unsauber. Die Gebäude, deren Fenster, wenn nach der Straßenseite gelegen, mit Eisengittern versehen sind, zeigten theilweise geschmackvolle, wohlerhaltene architektonische Verzierungen, theilweise trugen sie das Gepräge orientalischer Fahrlässigkeit. Namentlich war dies der Fall in dem nordöstlichen Theile der inneren Stadt, dem Ghetto, in welches die Unduldsamkeit der früheren tunesischen Herrscher die Juden bannte. Uebrigens waren ehemals auch die Franken und Spanier auf besondere Stadtviertel beschränkt, und obwohl es jetzt jedem Bewohner von Tunis frei steht, in einem beliebigen Theile der Stadt seinen Wohnsitz aufzuschlagen, so wird im Ganzen genommen von diesem Rechte doch wenig Gebrauch gemacht.

Mehr als die Gebäude der Stadt fesselte uns das bunte Gewühl in den Straßen, und Freund Friedländer hatte kaum Athem genug, um alle unsere Fragen zu beantworten. Hier wandelt bedächtigen Schrittes ein Vollblut-Maure, den weißen oder bunten Burnus malerisch über die Achsel geworfen. Dort trabt ein Lastenträger in dunkler Jacke und kurzem, blaugestreiften Beinkeid, ein Dschebagli, den die Aussicht auf Verdienst aus seinen Bergen in die Stadt gelockt hat. Der braune sehnige Mann in schmutzigem Burnus, welcher, die lange Flinte auf dem Rücken tragend, sein Roß durch das Gewühl lenkt, ist ein Beduine. Hier unterhalten sich ein paar gelbe Sicilianer unter heftigen Gesticulationen; dort der ernste Mann in dem dunklen Turban ist ein maurischer Jude, und die in buntem Zuavencostüm steckenden Burschen, die in Gruppen herum hocken, sind unstreitig Soldaten, wenngleich das Strickzeug in ihren Händen auf einen friedlichen Beruf schließen läßt.

Auch Frauen, doch in geringer Anzahl, waren auf der Straße zu finden. Maurische Mädchen, in den Haik gehüllt, eine Art Mantel, welcher, über den Kopf geworfen, bis auf die Kniekehlen herabfällt und die mit weißen Tricots bekleideten Beine unbedeckt läßt, trippeln durch die Menge; ihr Gesicht ist schwarz verhüllt, und nur für die Augen ist eine kleine Lücke gelassen. Vornehmen maurischen Damen genügt nicht einmal der schwarze Schleier, sie bedecken ihr Gesicht noch mit dem Haik und eilen scheu durch das Gedränge.

Aber auch unverschleierte Frauen sahen wir; Negerinnen, deren grelle Kleidung die Häßlichkeit ihrer Züge um so mehr hervortreten läßt, bieten Lebensmittel feil; Kabylinnen, mit deren schmutzigen Röcken und Turbanen die goldenen Spangen und Ohrringe seltsam contrastiren, laufen ohne Schuhe durch den heißen Staub, und die schöne Malteserin in der modischen schwarzen Seidenrobe unterscheidet sich, wie sie coquettirend vorüberschwebt, von unseren europäischen Damen nur durch den schwarzen Schleier, welcher, das Gesicht freilassend, in reichen Falten vom Scheitel auf Hals und Nacken herabwallt. Jüdinnen bemerkten wir des Sabbaths halber nicht auf der Straße; doch konnten wir uns später überzeugen, daß sich ihre Tracht von der der maurischen Damen nur durch den Mangel eines Schleiers unterscheidet.

Am lebhaftesten gestaltet sich das Straßenleben in den Bazaren, und hier war es auch eigentlich, wo wir die eben angeführten Beobachtungen machten. Sowohl die Vorstädte, als auch die innere Stadt haben Bazare aufzuweisen. Derjenige, welcher dem Residenzschlosse des Beys von Tunis gegenüberliegt, ist der ansehnlichste; seine doppelten Arcaden dehnen sich über einen beträchtlichen Theil der Stadt aus, und ohne unsern liebenswürdigen Führer würden wir uns schwerlich aus dem Labyrinth herausgefunden haben. Hier wird dem Käufer Alles geboten, was er braucht, und überdies giebt’s dort unzählige Dinge, die er nicht braucht. Unser Interesse wurde aber durch die in den Hallen auf- und abwogende Menschenmenge so gefesselt, daß wir den zum Verkaufe ausgestellten Gegenständen, sowie denen, die uns von schreienden Hausirern angeboten wurden, nur wenig Aufmerksamkeit schenkten; ich entsinne mich nur, daß uns eingelegte Tischlerarbeiten, geschmackvolle Gewebe, Pantoffeln, Fez’s und reiche Pferdegeschirre in die Augen fielen.

Wir sagten nach einer fast dreistündigen Wanderung dem Bazar Ade. Gar zu gern hätten wir die Moschee Mohari’s, an welcher wir vorüberkamen, betreten, aber Freund Friedländer erklärte dies für ein Ding der Unmöglichkeit. Dafür versprach er, uns in ein jüdisches Bethaus und später in ein maurisches Privathaus zu führen.

Der jüdische Tempel war klein, aber mit Andächtigen dicht gefüllt. Frauen waren nicht sichtbar; die Männer trugen meistens maurische Kleidung, aber stets von dunkler Färbung; die europäische Tracht war sparsam vertreten. Sowohl in dem Bethause als auch in den Familien einiger reichen jüdischen Kaufleute, die wir am Abend besuchten, waren wir, Dank der Einführung des Herrn Friedländer, respectirte Gäste.

Die lange Wanderung, der Staub, die Hitze und die mannigfaltigen Eindrücke, die wir empfangen hatten, hatten uns ermüdet. Wir verfügten uns daher in’s „Hôtel Paris“, einen Gasthof nach europäischem Schnitte, und nahmen daselbst eine Erfrischung, und zwar ebenfalls nach europäischer Weise, zu uns; nur unser Doctor ließ es als gründlicher deutscher Gelehrter sich nicht nehmen, nach arabischer Art zu speisen. So weit ging er allerdings nicht, daß er sich nach morgenländischer Art zum Essen niederließ. Er saß wie wir zu Tische; aber auf einem Nationalgericht bestand er, und es ward ihm. Aus dem schmerzlichen Zucken der Gesichtsmuskeln meines Freundes und aus der rothen Färbung des Gerichtes zu schließen, war letzteres mit dem landesüblichen spanischen Pfeffer etwas stark gewürzt; aber der Brave behauptete steif und fest, so etwas Vorzügliches habe er in seinem ganzen Leben noch nicht genossen, und würgte das Essen bis auf den letzten Bissen hinunter. Ob er später auch seinen Durst in arabischer Weise gestillt hat, ist mir nicht mehr erinnerlich.

Gern hätten wir zu dem Kaffee, mit welchem wir unser Mahl beschlossen, eine tunesische Zeitung gelesen; aber Herr Friedländer belehrte uns, daß der Tunese seine Neuigkeiten im Bazar oder im Kaffeehause erfahre; eine Zeitung erscheine daher in Tunis nicht. Glücklicher Weise war im Hôtel kein Mangel an europäischen Blättern, und so konnten wir uns einen lange entbehrten Genuß wieder einmal verschaffen.

Die Sonne brannte mit mittägiger Kraft auf unsere weißen Sonnenschirme, als wir nach kurzer Siesta unverdrossen durch die staubigen Straßen auf das Maurenviertel Bab Dschesira lossteuerten. Dort, hatte Herr Friedländer uns versprochen, werde sich auf sein Klopfen das Haus eines der Bewohner unseren neugierigen Blicken öffnen.

In Schweiß gebadet, hielten wir endlich vor einem kleinen, unscheinbaren, aber sauber gehaltenen Hause. Herr Friedländer pochte an das verschlossene Thor, und alsbald ertönte aus dem Innern ein mit kräftiger Stimme gerufenes arabisches „Halt! Wer da?“ Zu unserm größten Erstaunen erwiderte Herr Friedländer in deutscher Sprache. „Machen Sie nur auf, Herr Müller! Es sind Freunde und Landsleute da, die Sie besuchen wollen.“

Der Riegel wurde zurückgeschoben, und wir traten durch das offene Thor in den Hofraum. Vor uns stand ein großer ältlicher Mann in arabischem Hauscostüm und barfuß.

„Herr Müller aus Westphalen, Leibgardist Seiner Hoheit des Beys von Tunis,“ stellte Herr Friedländer den Hausbesitzer vor, nachdem er diesem unsere Namen und Titel genannt hatte.

[347] „Sie sind herzlich willkommen!“ erwiderte der westphälische Araber und schüttelte uns kräftig die Hände. „Sie werden hoffentlich entschuldigen, daß ich“ – er zeigte auf seine bloßen Füße – „Sie so empfange“ aber –“

Wir tauschten die üblichen Höflichkeitsphrasen und folgten dem Leibgardisten in ein Gemach. Daß unsre Neugier auf’s Höchste gespannt war, ist selbstverständlich. Herr Müller ließ es sich trotz unserer Einwendungen nicht nehmen, seine Uniform, auf die er sehr stolz zu sein schien, anzulegen. Vor unseren Augen hüllte er sich in seinen reich mit Gold betreßten Rock und setzte eine etwa fußhohe Mütze auf, welche an ihrem oberen Ende mit einer pfundschweren Metalleinlage versehen war, damit sie genügend steif auf dem Kopfe sitze und andererseits die militärischen Embleme auf der Vorderseite nicht eingedrückt werden.

Während des Ankleidens erzählte uns Herr Müller, was wir zu wissen wünschten; allerdings war sein Bericht sehr lückenhaft, und wir hüteten uns wohl, durch eine indiscrete Frage irgend einen wunden Fleck in der Brust des alten Abenteurers zu berühren. Müller war – weiß Gott, wie er dazu kam – einstens Kämpfer in der algerischen Fremdenlegion gewesen. Wie er aus den Diensten der Franzosen in die des Beys von Tunis gekommen, das zu ergründen überließ er unserem Scharfsinn. So viel stand fest, daß er schon seit Jahren wirklicher Leibgardist des Beys, Moslem und nachgeahmter Maure war, der alle Gewohnheiten des Landes angenommen hatte.

Herr Müller zeigte uns nun seine häusliche Einrichtung. Der viereckige, gepflasterte Hof, in welchen wir von der Straße aus getreten waren, war auf der dem Thore gegenüber liegenden Front durch einen mit Betten, Schränken und Kisten vollgestopften Salon abgeschlossen, während den linken Flügel des Gebäudes die Vorrathskammer, den rechten, ärmlichsten die Gemächer der Frau des Hauses sammt Familie und Geflügel einnahmen.

Wohl wissend, daß es ein Verstoß gegen den guten Ton ist, sich bei einem Muselmann nach dem Befinden der Frau Gemahlin zu erkundigen, wagte ich keine diesbezügliche Frage. Aber siehe da, Madame Müller (Herr Friedländer theilte uns später mit, daß sie dem Pensionsstande des Harems des Beys entnommen sei) kam uns aus freien Stücken entgegen, und zwar unverschleiert. Sie erklärte in gutem Arabisch, daß ihr Haus durch unsern Besuch gesegnet sei, zog sich aber bald wieder zurück.

Unser Wirth führte uns jetzt in die Speisekammer, wo sämmtliche Vorräthe in riesigen irdenen Töpfen aufbewahrt standen. Durch den Umstand, daß im Hause des Arabers Mehl, Fleisch, in Oel conservirt, und alle sonstigen Victualien in Masse vorräthig sind, wird es den Bewohnern möglich, oft mondenlang ihr Heim nicht zu verlassen. Nachdem uns der arabische Müller seine Schätze gezeigt und seine Hauseinrichtungen erklärt hatte, führte er uns zurück in den Salon. Dort begann er unter einigen Papieren, welche sein Familienarchiv bildeten, herumzukramen und zog endlich einen Brief hervor, der den Poststempel einer Stadt in Westphalen trug, deren Namen ich leider vergessen habe. In dem Schreiben befand sich als Einlage eines jener Flugblätter über Episoden aus dem deutsch-französischen Kriege und trug den Titel: „Die Schlacht bei Sedan“.

Mit stolzen Blicken wies Müller auf dieses Blatt, das ihm, wie er berichtete, sein Neffe geschickt hatte, und erzählte gleichzeitig, daß der Junge auch mitgefochten habe.

Am Eingang der erwähnten Flugschrift war die erste Strophe der „[[ Die Wacht am Rhein|Wacht am Rhein]]“ abgedruckt.

„Von dem Lied,“ sagte Müller, „habe ich schon viel gehört; die Worte gefallen mir auch sehr gut, und ich möchte wohl einmal das Lied singen hören.“

„Dem Mann kann geholfen werden,“ meinte unser Doctor, der sich einer kräftigen Baßstimme erfreut. „Auf, ihr Herren, bilden wir einen Chorus und singen wir unserm freundlichen Wirth ‚die Wacht am Rhein‘ vor!“

Wir Andern, obgleich minder gute Sänger, waren gern dazu bereit und stimmten an:

„Es braust ein Ruf – – –“

Neugierig kam Frau Müller aus ihrem Gemach herbei, und neugierig drängten die Kinder nach. So etwas hatten die Wände des kleinen Araberhauses noch nie zu hören bekommen. Wunderbar aber war es anzusehen, welche Veränderung in den Zügen unseres Wirthes vorging. Zuerst zeigte sein gefurchtes Gesicht den Ausdruck der Spannung, und die Haltung seines Körpers war die des Lauschens. Als aber die Frage ertönte:

„Wer wird des Stromes Hüter sein?“

da richtete sich der Mann hoch auf; seine Brust dehnte sich; seine Hände ballten sich. Und als wir sangen:

„Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein – – –

da zuckte es schmerzlich in seinem Antlitz und seine Augenwimpern bewegten sich hastig auf und nieder.

Immer mehr nahm seine Rührung überhand, und als wir geendet hatten, saß der Renegat wie gebrochen auf seinem Schemel; er hatte sein Gesicht mit den Händen bedeckt; helle Thränen quollen zwischen seinen runzeligen Fingern hervor; seine Brust hob und senkte sich krampfhaft, und endlich schluchzte er wie ein Kind. Selbst auf die Frau des Hauses schien der Gesang, dessen Worte sie nicht verstand, einen gewaltigen Eindruck gemacht zu haben, und auch wir waren in eine weiche Stimmung versetzt worden, als wir die mächtige Erregung sahen, welche über den alten Abenteurer gekommen war.

Gesegnet von dem Ehepaar und begleitet von dessen besten Wünschen zogen wir von dannen, und wenn ich jetzt meine Erinnerungen an Afrika auffrische, verweile ich stets mit Vorliebe im Hause des arabischen Müller, wo ich in so ergreifender Weise von der Macht des deutschen Liedes überzeugt wurde.
B. in T.




Blätter und Blüthen.

Auf dem Ocean. „Ich will Ihnen ein Meisterstückchen unseres Schiffes zum Besten geben,“ begann der Capitain des Hamburger Dampfers ‚Westfalia‘, als wir am 12. Februar 1873 auf der Rückfahrt nach Europa im Rauchzimmer desselben gemüthlich beisammen saßen.

„Wie bekannt, strandete im August 1869 die ‚Germania‘ von der Hamburger Linie auf Cap Race. Zu dieser Zeit war dort zum Schutz der vielen von Frankreich nach Neufundland herüberkommenden Fischerboote eine französische Fregatte, der ‚Latouche Trouville‘, stationirt, und der Capitain derselben nahm die Schiffbrüchigen der ‚Germania‘ mit besonderer Liebenswürdigkeit auf, so daß von der preußischen Regierung ihm der rothe Adler-Orden zweiter Classe verliehen wurde.

Im October darauf kam ich nach New-York. Im dortigen Hafen lag zu derselben Zeit der ‚Latouche Trouville‘, dessen Capitain durch seine aufopfernde Hingebung bei dem erwähnten Unglücksfall namentlich unsere Gesellschaft so sehr verpflichtet hatte. Um unserer Dankbarkeit besonderen Ausdruck zu geben, wurde von Seiten der deutschen Notabilitäten New-Yorks beschlossen, dem Capitain und den Officieren der Fregatte an Bord meines Schiffes ein solennes Diner anzubieten. Unsere Einladung wurde angenommen, und es ist wohl in dem Salon dieses Dampfers nie wieder eine so fröhliche Gesellschaft zusammen gewesen, als an diesem Abend. Es war natürlich nichts gespart worden: die feinsten Weine aller Länder kamen auf den Tisch, und der französische Capitain sagte beim Abschied mit herzgewinnender Liebenswürdigkeit: ‚Capitain, Berge kommen nie zusammen, aber Menschen. Ich werde den heutigen Abend auf der ‚Westfalia‘ nie vergessen.‘

Neun Monate später brach der Krieg aus; mich erreichte die Nachricht von dem Beginn der Feindseligkeiten wiederum im Hafen von New-York, wo die ‚Westfalia‘ gerade zum Auslaufen bereit lag. Wir mußten jeden Gedanken an unsere Heimreise aufgeben und lagen nun Wochen, Monate lang an die ferne Küste gebannt, zu der Zeit, als täglich die fabelhaften Siegesbotschaften über’s Meer kamen und die ungeheure deutsche Bevölkerung drüben in einen wahren Freudentaumel versetzten. Im October 1870 endlich lief von der Direction in Hamburg der telegraphische Befehl für mich ein: die Heimreise anzutreten, aber mich nicht fangen zu lassen, ein Befehl, unter diesen Umständen leichter gegeben, als ausgeführt. Draußen vor Sandy Hook kreuzten, wie uns bekannt war, zwei Franzosen schon seit längerer Zeit, die auch ihre Berichte aus dem Hafen bekamen und denen meine bevorstehende Ausfahrt nicht verborgen bleiben konnte. Es wurde von den Vertretern der deutschen Dampfer-Compagnien Kriegsrath gehalten und zunächst beschlossen, daß unter neutraler Flagge eine Recognoscirungs-Deputation in die See hinausgeschickt werden solle, um zu sehen, ob die Luft rein sei. Es geschah: auf einem kleinen Schleppdampfer gingen drei Herren am nächsten Tage hinaus und brachten die Nachricht zurück, es kreuze allerdings ein französisches Kriegsschiff dort, scheine aber seinen Cours nach Süden zu nehmen. Es wurde nochmals Sitzung gehalten, und da für mich von Hamburg aus die bestimmte Weisung vorlag, gab ich den Ausschlag durch die Erklärung, daß ich unter allen Umständen in den nächsten Tagen die Reise antreten wolle. Fünf Passagiere fanden sich, die, obgleich vorher auf die Gefahren der Reise aufmerksam gemacht, sich dem Schiffe anvertrauten, und so dampfte die ‚Westfalia‘ an einem Nachmittage im October 1870 unter allgemeiner Theilnahme aller Landsleute mit entfalteten deutschen Wimpeln zum Hafen [348] hinaus. Wohl klopfte mir das Herz, als mein Schiff die schützende Bay verließ und nach Seemannsbrauch die Flaggen eingezogen wurden; aber mein Entschluß stand fest. Nach allen Seiten hatte ich Beobachtungsposten ausgestellt, die jeden auftauchenden verdächtigen Punkt zu recognosciren hatten – da naht sich eines der vielen vor der Bay von New-York stets kreuzenden Lootsenfahrzeuge, giebt mir das Zeichen zum ‚Stoppen‘, und als es näher kommt, erkenne ich darin einen mir befreundeten Lotsen, der, an der Seite unseres Schiffes angelangt, mir zuruft:

‚Capitain, auf Nordost kreuzt ein Franzose dicht vor Euch. Ihr könnt ihn nicht passiren.‘

‚Wißt Ihr, wie er heißt?‘ antwortete ich.

‚Es ist die Fregatte ‚Latouche Trouville‘!‘

Wunderbares Verhängniß! Da vor mir lag der Capitain, wahrscheinlich brennend vor Begierde, dem geschlagenen und gekaperten Feinde die empfangene Gastfreundschaft durch großmüthige Behandlung zu vergelten. Das Blut kochte mir, wenn ich daran dache, und in mir befestigte sich der Entschluß: du fällst nicht lebend in seine Hände.

Mein Befehl hatte gelautet: die Reise antreten, aber mich nicht fangen lassen. Diesem Befehle wollte ich wörtlich nachkommen. Ob ich auch die Reise glücklich vollenden würde, das stand in höherer Macht. Langsam in regelmäßigem Tempo geht der Dampfer seine Bahn – da ertönt vom Vordermast das erwartete Signal, alle Gläser richten sich auf den bezeichneten Punkt, und nach einigen Minuten ist er mit den Ferngläsern zu erkennen – es ist der Feind. Während wir den Cours nach Nordost halten, liegt er weiter nördlich, hat uns aber jetzt offenbar erkannt und versucht, unsern Cours zu gewinnen.

Jetzt ist der entscheidende Augenblick gekommen – die Vorbereitungen für diesen Fall sind längst getroffen –, ich gebe dem Ingenieur meine Befehle: in die Oefen fliegen die bereitgehaltenen Theer- und Petroleumfässer, und nach kurzer Zeit rasselt die Maschine mit verdoppelter Schnelligkeit, mit lautem ächzenden Geräusch, und wie von Geisterhand getrieben jagt meine alte ‚Westfalia‘ über die Wellen. Nie habe ich mehr gefühlt, wie sehr mein Herz an dem Schiffe hing, das ich seit so langen Jahren geführt hatte: da draußen der Feind, um uns bei erster Gelegenheit in den Grund zu bohren, da drinnen die tosende Maschine – ‚Herr Gott! nur eine halbe Stunde gieb dem Kessel verdreifachte Festigkeit!‘ betete ich. Wohl standen unsere Passagiere bleich zwischen der doppelten Gefahr, aber keiner verrieth ein Zeichen von Schwäche. Die See ging hoch, und das war unsere Rettung. Auch drüben wurde alles Erdenkliche daran gesetzt, uns zu gewinnen, aber das schwere Schiff wurde von den erregten Wellen von einer Seite auf die andere geworfen und kam nicht rasch genug vorwärts. Nach zehn Minuten banger, peinlicher Erwartung sahen wir, daß er uns nicht mehr erreichen konnte. Da dröhnt ein Schuß über die See, der letzte Ausbruch ohnmächtiger Verzweiflung – ein donnerndes Hurrah von unserem Bord antwortet darauf und triumphirend steigt an unserem Maste die deutsche Tricolore empor. Noch eine Viertelstunde, und das feindliche Schiff ist unserem Gesichtskreise völlig entschwunden. Zehn Tage später liefen wir im Hamburger Hafen ein.“

Der Capitain lachte mit herzlicher Behaglichkeit in der Erinnerung an seinen Sieg. Wir waren Alle lebhaft angeregt.

„Haben Sie seitdem nie wieder von dem ‚Latouche Trouville‘ und von dem Capitain gehört?“ fragte endlich einer unserer Gesellschaft.

„Als ich wiederum später nach New-York kam,“ erwiderte der Capitain, „sprach ich den Lootsen, der sich damals an Bord des spanischen Dampfers befunden hatte, und dieser erzählte mir, daß der Capitain bei der Jagd auf uns die verzweifeltsten Anstrengungen gemacht habe und, als er die Unmöglichkeit, uns zu erreichen, eingesehen, wie wahnsinnig auf dem Deck herumgesprungen sei. Uebrigens hat er seine Schuldigkeit gethan, wie ich die meine; er war ein braver und liebenswürdiger Officier, und wenn ich ihn heut irgendwo träfe, würde ich ihm ebenso herzlich die Hand drücken wie früher und ebenso unbefangen mit ihm über unsere Begegnungen in so verschiedenen Situationen sprechen. Der ‚Latouche Trouville‘ selbst soll im letzten Jahre im Hafen von Havanna verbrannt sein. Von dem Capitain habe ich nichts wieder gehört. Das war aber“ – und dabei sah uns der Capitain mit glänzenden Augen an, – „ein Meisterstück meiner Maschine da draußen.“
M. Pulvermacher.

Ein Sommertagebuch. Allen Respect vor der Wahrhaftigkeit Johannes Scherr’s, – sie ist uns stets einer der werthvollsten Charakterzüge dieses Autors gewesen – aber an den jetzt von ihm gemeldeten Tod seines Freundes Jeremias Sauerampfer können und wollen wir nicht glauben. Stände nicht deutlich der Name Scherr auf dem Titel des „Sommertagebuch“ vom Jahre 1872, das er im Nachlasse des angeblich verstorbenen Freundes gefunden haben will und so eben (bei Schabelitz in Zürich) herausgegeben hat, es würde dennoch jede Zeile, jede Wendung dieses Büchleins ein verrätherischer Beweis sein, daß kein Anderer als der mannhafte Geschichtskündiger in Zürich diese wuchtigen Streiche geführt, aus ureigenster Geistes- und Herzenswärme diese Blitze geschleudert haben kann. Forschen wir also nicht indiscret den Gründen nach, die Scherr bestimmt haben, bekannte Seiten und Tonarten seines Auffassens und Urtheilens hier einmal als Aeußerungen eines Anderen in die Welt zu führen. Ernstlichen Protest nur möchten wir erheben, wenn er damit gesagt haben wollte, daß der alte Freund Sauerampfer in ihm todt und begraben sei, daß er fortan verstummen und nicht mehr als ein Lebendiger zu den Lebenden sprechen solle.

Denn mehr als den wohlgedrechselten und hochtönenden Bombast, an dem wir keinen Mangel haben, brauchen wir in dem vielfach so ungeklärten, auch vielfach noch so schlummerig und mattherzig sich bewegenden Wirrsalen unserer Tage den scharfen und schneidigen Hauch solcher aufrüttelnden Prophetenstimmen, wie sie erst im vergangenen Jahre aus Scherr’s „Hammerschlägen“ durch Herz und Nieren der Nation gedrungen und wie sie jetzt wieder aus diesem „Sommertagebuch“ des Dr. Sauerampfer eine Fülle nicht blos des Genusses, sondern auch der erfrischendsten Belebung in voraussichtlich sehr weite Kreise tragen werden. Eine etwas schwarzsichtige und gallicht gefärbte Lebensanschauung? Nun ja, der Verfasser hat etwas davon, er nennt das seinen „Pessimismus“, aber wir möchten den denkenden und fühlenden Menschen sehen, der nicht respectvoll vor dieser Eigenthümlichkeit sich bewegen sollte. Denn Scherr’s mit urkräftigem Humor gepaarter Pessimismus ist keine coquette Phrase, keine frivole Blasirtheit und krampfhafte Grille; widerhaarig und abweisend, stachlig und beißend, wie er da vor uns erscheint, ist er lebendige Frucht eines großen Denkens, ist er einem unbestechlich in das Herz der Dinge eindringenden „Scharfbeobachtungsblicke“ und einem kerngesunden und goldigreinen Grunde entsprossen.

Als dieser Grund aber zeigt sich uns ein gewaltiger Haß gegen das Schlechte, das Unreife, das Narren- und Lumpenhafte, wenn es im gespreizten Lügenmantel des Guten, Berechtigten und Gereiften einherstolzirt, zeigt sich aber ferner auch eine energische Theilnahme für alles Ernste und Tüchtige, alles wahrhaft Edle, Ideale und Poetische, die oft wie lachendes Frühlingslicht das Gewölk des begründeten Zornes zertheilt und dann in hinreißend weichen und warmen Liebestönen zu unserm Gemüthe spricht. Wie sollte also nicht hochinteressant und bewegend sein, was ein solcher Originalcharakter, ein so kenntnißreicher, im Leben und Wissen erfahrener, geist- und gemüthvoller Schriftsteller beinahe vier Sommermonate hindurch ungezwungen in sein Tagebuch geschrieben hat? In kurz hingeworfenen Schilderungen, Randglossen, Bemerkungen und Urtheilen verbreitet sich das frische Buch über die verschiedensten Erscheinungen und Fragen der Zeit und des Tages. Wie bunt und mannigfaltig sich aber auch alle diese eigenartigen Aeußerungen vor uns entfalten mögen, beherrscht und zusammengehalten und sie doch sämmtlich durch den kraftvollen Grundton, die „reine und große Flamme“ einer wahrhaft heiligen Liebe zum deutschen Vaterlande, der aufjubelnden Freude über seine neu errungene Einheit und Größe. Hoffen wir also, daß Scherr mit der Trauernachricht vom Absterben dieses schwer entbehrlichen Sauerampfer nur einen kleinen Faschingsscherz gemacht, daß Sauerampfer noch lange seinen angeblichen Nachlaß überleben und uns unter diesem oder anderem Namen noch oft mit solchen Tagebüchern bis in die innerste Seele erfreuen und ergreifen wird.
A. Fr.

Arthur Müller’s letztes Gedicht. Wiederum ist ein geist- und phantasievoller Mitarbeiter der Gartenlaube zu den Todten gegangen: durch eigene Hand starb zu München am 10. April d. J. der Dichter Arthur Müller. Die Leser der Gartenlaube erinnern sich gewiß noch der lebensvollen Aufsätze über das Luther-Denkmal zu Worms und über den Chiemsee, sowie anderer interessanter Artikel aus der Feder dieses talentvollen Schriftstellers. Wir glauben das Andenken desselben nicht besser ehren zu können als durch den wenn auch verspäteten Abdruck des nachfolgenden schwungvollen Sonettes, welches er wenige Stunden vor seinem freigewählten Ende niederschrieb. Das Sonett lautet:

Allmutter Erde – Deinen Sohn nimm auf!
Aus all dem Elend, der engherz’gen Kleinheit,
Der außen um mich kriechenden Gemeinheit,
Wie sehn’ ich mich, zu enden meinen Lauf!

Allmächtig zieht es mich hinaus, hinauf,
Mein Ich will lösen sich in der Alleinheit,
Und für den frischen Odem der Allreinheit
Schlag’ ich – wie gern! – dies Dasein in den Kauf!

Ich that mein Tagewerk! Ich hab’ gestritten
Für Schönheit, Wahrheit, Freiheit, und gelitten!
Was dieser wundenreiche Kampf mir läßt,
Ist einst’ger Kraft doch nur ein schaler Rest.
Allmutter Erde, gieb dem Müden Ruh’
Und laß ihn endlich wieder werden – Du!



Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist so eben erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:
E. Werner,
Verfasser von „Ein Held der Feder“ und „Hermann“,
Am Altar.
Roman in zwei Bändern.
8. Eleg. brosch.     Preis 2 Thlr.

Der Verfasser hat sich auf dem Gebiete der Erzählung, namentlich durch seine im vorigen Jahre in der Gartenlaube abgedruckte Novelle „Am Altar“, im Sturm einen allgemein beliebten Namen erworben. Durch seine gegenwärtig die Gartenlaube schmückende, bisher noch unabgeschlossene Erzählung „Glück auf!“ ist er in der Gunst des Publicums noch mehr gestiegen, so daß wir den Wünschen der vielen neu hinzugekommenen Abonnenten zu entsprechen glauben, wenn wir sie auf die Separatausgabe des obigen Romans noch besonders aufmerksam machen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Aus dem Leben eines Musikers. Leipzig, J. J. Weber. 1859.