Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1869)/Heft 13

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[193]

No. 13.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


13.

Frau von Herbeck lachte spöttisch auf und deutete nach dem Dickicht, von wo noch einmal der helle Sommeranzug des Portugiesen herüberschimmerte.

„Da geht er hin ohne Sang und Klang!“ sagte sie. „Excellenz haben sich nun selbst überzeugen können, was das weiße Schloß für eine saubere Nachbarschaft hat! … Unverschämt! … Dies edle Portugiesenblut hält es nicht der Mühe Werth, vor einer deutschen Dame den Rücken zu beugen! … Excellenz, ich war außer mir über die Art und Weise, wie er Ihre Liebenswürdigkeit hinnahm!“

„Ich bezweifle sehr, daß es Hochmuth war,“ entgegnete die schöne Frau mit Achselzucken und einem flüchtigen, aber vielsagenden Lächeln.

Die zärtlich schwimmenden Augen der Gouvernante glitzerten für einen Moment wahrhaft katzenartig – ihr Widersacher hatte einen mächtigen Verbündeten; die weibliche Eitelkeit.

„Aber sein Benehmen gegen unsere Gräfin – entschuldigen Excellenz das auch?“ fragte sie nach einem momentanen Stillschweigen erbittert. „Zuerst umfaßt er sie sans façon und reißt sie auf die Seite –“

„Das hat mein Töchterchen sich selbst zuzuschreiben,“ warf die Baronin lächelnd ein und strich mit dem Zeigefinger leicht über Gisela’s Wange. „Dieser heroische Versuch, den Hund zu retten, war ein wenig – kindisch, meine Kleine!“

„Und dann stößt er sie plötzlich von sich“ – fuhr die Gouvernante mit erhöhter Stimme fort – „wollen Excellenz auch in Abrede stellen, daß er sie mit Ingrimm, ja, ich sage nicht zu viel, mit einem wahren Haß von sich gestoßen hat?“

„Das leugne ich ganz und gar nicht, meine beste Frau von Herbeck – denn ich habe es mit eigenen Augen gesehen – allein ich kann Ihre Schlagwörter, wie Haß und dergleichen, trotzdem nicht billigen. Warum, in aller Welt soll denn dieser Mann die Gräfin hassen? Er kennt sie ja gar nicht! … So wie ich die Sache ansehe, war es nichts als ein augenblicklicher, fast unbewußter Widerwille, mit welchem er zurückwich – und sehen Sie, da berühren wir einen Punkt, den wir, mein Gemahl sowohl, wie ich, Ihnen stets dringend an’s Herz gelegt haben – es ist nun einmal für unser Kindchen unumgänglich nöthig, daß seine einsame, abgeschiedene Lebensweise festgehalten wird.“

Sie schob ihren reizenden, mit einem Stiefelchen von Goldkäferleder bekleideten Fuß vor und ließ die Augen wie in qualvoller Verlegenheit darauf ruhen.

„Es ist mir zu peinlich, dieses zarte Thema nochmals zu erörtern,“ sagte sie endlich zu Gisela, „und doch muß es gesagt sein – um so mehr, als Du, mein Kind, die größte Lust zeigst, Dich zu emancipiren. … Viele Menschen, Männer und Frauen, haben eine Aversion gegen Alles, was ‚Nervenzufälle‘ heißt – Dein Uebel ist leider bekannt, meine liebe Gisela – im Verkehr mit der Welt würden Dich zahllose Rücksichtslosigkeiten verwunden – wir haben eben einen eclatanten Beweis gehabt!“

Sie deutete nach der Richtung, wo der Portugiese verschwunden war.

„Närrchen Du,“ begütigte sie, als sie sah, daß sich die Lippen der jungen Dame plötzlich wie infolge eines tödtlichen Schreckens schneeweiß färbten. „Das wird Dich doch nicht alteriren? … Hast Du denn nicht uns, die wir Dich auf den Händen tragen? Und hoffen wir denn nicht Alle, daß es allmählich besser mit Dir werden wird?“

Wie alle diplomatisch gewandten Menschen, die, wenn sie einen Pfeil mit Erfolg abgeschossen, das Thema sofort wechseln, brach auch sie das Gespräch ab. Sie befahl einem der Lakaien, den weggeworfenen Sonnenschirm zu suchen und gestand den Damen lachend ein, daß sie sich „entsetzlich gefürchtet“ habe.

„Kein Wunder!“ sagte, sie. „Ich habe das Waldhaus gesehen – es macht Einem den Eindruck, wie sein Herr selber – halb ist es der Wohnsitz eines Märchenprinzen und zur anderen großen Hälfte der eines nordischen Barbaren. … Wer weiß, was der Mann für eine Vergangenheit hat – selbst sein Papagei schnaubt Rache.“

Sie schwieg – es kamen Leute vom Waldhause her, die den Hund wegschafften und sorgfältig die Stelle säuberten, wo er gelegen. Sie faßten das todte Thier so schonend und behutsam an, als sei es ein verunglückter Menschenkörper.

„Den hat der Herr so lieb gehabt wie einen guten Cameraden,“ sagte einer der Männer zu dem Lakaien, der dabei stand. „Er hat ihn einmal ’rausgebissen, wie er unter die Räuber gefallen ist – das verwindet der Herr sobald nicht – er kam kreideweiß nach Hause. … Und der alte brummige Sievert heult gar – er hat sich in den paar Wochen so an den Hero gewöhnt!“

Die Damen standen unfern und hörten jedes Wort: bei Sievert’s Namen aber wandte sich die Baronin verächtlich ab und [194] schritt nach dem Frühstückstisch, wo sie sich niederließ. Sie nahm die Lorgnette vor die Augen und fixirte ihre Stieftochter, die mit Frau von Herbeck langsam herüberkam, während die Männer mit der Trage in den Wald zurückkehrten.

„Apropos, Gisela – laß Dir Eines sagen!“ rief sie dem jungen Mädchen entgegen. „Nimm mir’s nicht übel, aber Du machst eine zu absonderliche Toilette – so über alle Begriffe pauvre –“

Die junge Gräfin trug ein Kleid genau von demselben Schnitt, wie das vorgestrige, nur war es von zartblauer Farbe. Ohne jedwede Verzierung, sah es fast aus wie ein Talar mit weiten, offenen Aermeln, dessen Falten nur um die Taille mittels eines Gürtels zusammengezogen waren. Aber diese durchsichtigen Muslinfalten legten sich knapp um die zartgeformte Büste und ließen das rosige Weiß der Schultern durchscheinen – ein schwarzes Sammetband nahm heute das blonde, offene Haar von der Stirn zurück. Das war freilich keine Pariser Toilette à la Watteau, aber das Mädchen sah aus wie eine Elfe.

„Ach, das ist ja immer Lena’s Jammer, Excellenz!“ klagte die Gouvernante. „Ich sage schon lange kein Wort mehr –“

„Das dürfen Sie auch nicht, Frau von Herbeck!“ unterbrach sie Gisela ernst. „Haben Sie nicht erst gestern einem unserer Küchenmädchen versichert, sie sei verstoßen vor Gottes Angesicht, weil der Eitelkeitsteufel in ihr stecke?“

Ein frivoles Lächeln kräuselte die Lippen der Baronin – die Gouvernante aber erglühte in der Erinnerung an jenen Moment abermals in heiligem Zorn.

„Und das mit allem Recht!“ fuhr sie empor. „Hat sich doch das einfältige, gottvergessene Ding einen runden Strohhut gekauft, genau von der Form wie mein neuer! … Aber, liebste Gräfin, eine solche Parallele zu ziehen! … es ist unverantwortlich – ja, ja, das ist wieder einmal eine Ihrer liebenswürdigen, kleinen Bosheiten!“

„Ich hatte gehofft, Dich in dem reizenden Hausanzug zu sehen, den ich Dir von Paris aus geschickt habe, mein Kind!“ sagte die Baronin, unbekümmert um Frau von Herbeck’s Jammer.

„Er war mir viel zu kurz und zu eng – ich bin gewachsen, Mama.“

Ein lauernder Blick aus den dunklen Augen der Stiefmutter fuhr über das Mädchengesicht.

„Er ist genau nach dem Maße gemacht, das Lena mir bei unserer Abreise eingehändigt hat,“ sagte sie gedehnt und scharf zugleich, „und Du willst mir doch nicht weismachen, Kindchen, daß Du Dich in den paar Monaten so gewaltig verändert habest?“ …

„Ich habe Dir niemals etwas weismachen wollen, Mama, und deshalb muß ich Dir auch bekennen, daß ich den Anzug nie getragen haben würde, selbst wenn er passend gewesen wäre – ich hasse alle schreienden Farben – das weißt Du ja, Mama – ich habe die rothe Jacke Lena geschenkt.“

Die Baronin fuhr tiefgereizt auf – aber sie faßte sich rasch.

„Nun, da wird sich ja das Kammerkätzchen recht wohl befinden in dem feinen Cachemir!“ meinte sie spöttisch lächelnd. „Und ich werde mich künftig hüten, ohne die allerhöchste Genehmigung meines Töchterchens zu wählen. … Uebrigens kann ich mir nicht helfen – ich betrachte die gesuchte Einfachheit bei solch’ kleinen Backfischchen, wie Du eben eines bist, immer mit schwerem Mißtrauen – es sieht mir aus wie ein ganz klein wenig – Heuchelei.“

Gisela’s Mundwinkel bogen sich leicht abwärts in einem leise verächtlichen Zug.

„Ich heucheln? – Nein – dazu bin ich zu stolz!“ sagte sie gelassen.

Diese seltene Ruhe in dem Wesen des jungen Mädchens ließ den, der sie beobachtete, fortwährend im Zweifel, ob sie angeborener Sanftmuth, oder einem überwiegend vorherrschenden Verstand entspringe.

„Ich bilde mir sehr viel darauf ein, Gottes Ebenbild zu sein,“ sagte sie weiter. „Mögen Andere ihren Körper mit allen möglichen Modeartikeln behängen und verunstalten – ich thue es nicht!“

„Ah, meine liebe, kleine Bescheidenheit – da bist Du also überzeugt, so am schönsten zu sein?“ rief die Baronin. Sie maß die Stieftochter durch die Lorgnette von Kopf bis zu Füßen – ein wahrhaft satanischer Zug zuckte um ihren Mund.

„Ja,“ antwortete Gisela unbefangen, ohne Zögern. „Mein Schönheitsgefühl sagt mir, daß wir die einfach edlen Linien festhalten sollen.“

Die Baronin lachte laut auf.

„Nun, Frau von Herbeck,“ sagte sie mit beißender Ironie zu der Gouvernante, „dies Kind hat ja in seiner Einsamkeit recht interessante Studien gemacht – wir werden Ihnen sehr dankbar dafür sein! … Schade, mein Herz, daß Du nicht hübscher bist!“ fügte sie zu Gisela gewendet hinzu.

„Mein Gott, Excellenz,“ rief Frau von Herbeck erschrocken, „ich habe keine Ahnung, wie die Gräfin dazu kommt, sich plötzlich von einer so koketten Seite zu zeigen! … Nie, ich kann es beschwören, habe ich bemerkt, daß sie auch nur einmal in einen Spiegel sieht –“

Die Baronin winkte ihr, zu schweigen – der Minister kam eben vom See her.

Seine Excellenz sah nichts weniger als morgenfrisch und gutgelaunt aus. Unter dem tief in die Stirn gedrückten Strohhut hervor fuhr sein Blick über die Damengruppe und blieb an der jungen Gräfin hängen. Sie stand noch – während des Gesprächs hatte sie mechanisch einen etwas hochhängenden Zweig ergriffen und hielt ihn mit ausgestrecktem Arme fest – der weite Aermel hing flügelartig herab – es war eine charakteristische Stellung voll edler, keuscher Ruhe.

„Ah sieh da – eine Opferpriesterin im Druidenhaine!“ rief er sarkastisch hinüber, als er näher kam. „Phantastisch genug siehst Du aus, meine Tochter!“

Für gewöhnlich begleitete er dergleichen Scherze mit einem feinen, satirischen Lächeln, das sein Gesicht sehr pikant und anziehend machte – augenblicklich aber erlosch es in einem Ausdruck von Verdrossenheit. Er küßte seiner Gemahlin die Hand und setzte sich neben sie.

Während Frau von Herbeck die Chocolade einschenkte, erzählte die Baronin ihrem Gemahl das Abenteuer mit dem Besitzer des Hüttenwerks – sie beschränkte ihre Mittheilung lediglich auf das Erschießen des Hundes und berührte Gisela’s Betheiligung dabei mit keinem Wort.

„Der Mann versteht es, sich mit einem romanhaften Nimbus zu umgeben,“ meinte der Minister, indem er die dargebotene Chocolade zurückwies und sich eine Cigarre anbrannte. „Er scheint den Sonderling spielen zu wollen und läßt sich mit seinen Millionen suchen – nun, das wird aufhören, wenn der Fürst kommt; er will sich ja vorstellen lassen, wie man sagt, und dann werden wir ihn uns näher besehen.“

Er sah sehr zerstreut aus, als er das sagte – seine Gedanken waren offenbar nach einer anderen Seite hin lebhaft beschäftigt.

„Da hat mir doch der Tölpel von Tapezirer vorhin beim Aufstellen eine der neuen Vasen zerbrochen!“ sagte er nach einer Pause, während die Damen schweigend frühstückten.

„O weh!“ rief die Baronin. „Aber das sollte Dich doch nicht so verstimmen, mein Freund! Der Schaden ist leicht wieder gut zu machen – das Ding hat höchstens fünfzig Thaler gekostet!“

Der Minister schnellte die Asche von seiner Cigarre – in der Bewegung, mit welcher er sich wegwandte, lag viel heimliche Ungeduld.

„In dem Augenblick, als ich das weiße Schloß verließ,“ hob er nach einem momentanen Schweigen wieder an, „nahm Mademoiselle Cecile eine Kiste in Empfang, die Dein Pariser Schneider geschickt hat, Jutta.“

„O, das ist mir eine sehr angenehme Neuigkeit!“ rief die Dame. „Cecile hat schon gejammert, weil die Sachen so lange ausblieben, und ich selbst hatte Angst, à la Aschenputtel vor dem Fürsten erscheinen zu müssen!“

„Der Narr hat fünftausend Franken Werth angegeben,“ bemerkte der Minister.

Die Baronin sah verwundert auf.

„Der Mann hat ganz Recht,“ sagte sie. „Ich habe für fünftausend Franken Bestellung gemacht.“

„Aber, liebes Kind, wenn ich nicht irre, hast Du ja eben so und so viele Toiletten im Werth von achttausend Franken aus Paris mitgebracht?“ …

[195] „Allerdings, mein Freund,“ lächelte sie, „und es waren nicht acht-, sondern zehntausend Franken – ich habe sie aus meiner Tasche bezahlt und da vergißt es sich nicht so leicht. … Uebrigens bin ich sehr erstaunt, daß Du Dir nicht selbst sagst, wie es ein Ding der Unmöglichkeit für mich ist, Anzüge, die speciell für A. bestimmt waren, hier auf dem Lande zu tragen – eine so grenzenlose Geschmacklosigkeit wirst Du mir hoffentlich nicht Zutrauen!“

Während dieser Auseinandersetzung brockte sie sich mit großer Gemüthsruhe ein geröstetes Weißbrodschnittchen in die Chocolade. Ihr Blick schlüpfte einigemal seitwärts nach ihrem Gemahl, aber wenn auch die Lippen lächelten – ihre Augen, sonst so feurig und von wahrhaft dämonischer Gewalt, glitten mit einer eigenthümlichen Starrheit über das Profil und die tiefgesenkten Lider des Mannes. … Da war auch nicht der letzte Abglanz mehr von dem, was die schöne Braut einst in der Schloßcapelle zu A. mit ihrem Ja besiegelt hatte.

„Seit wann aber, liebster Fleury, controlirst Du meine Pariser Sendungen?“ fragte sie scherzhaft weiter. „Das ist Dir ja nie im Leben eingefallen! … Und dazu dies misanthropische Gesicht! … Ich will doch nicht hoffen, daß mit Deinem neulichen Geburtstag die Grämlichkeit eingezogen ist? … O pfui, liebster Mann, nur nicht alt werden!“

Das Alles klang neckend und wurde bezaubernd naiv hingeworfen, aber es enthielt scharfe Dolchstiche für den weit über zwei Decennien älteren Mann, der seiner vergötterten jungen Frau gegenüber um keinen Preis alt werden wollte.

Ueber sein unbewegliches Gesicht flackerte eine fahle Röthe, und ein halbes Lächeln theilte seine bleichen Lippen.

„Ich bin ein wenig verstimmt,“ gab er zu, „aber durchaus nicht über Deine Pariser Lappalien, mein Kind – dort sitzt die Missethäterin!“

Er zeigte auf Gisela.

Diese hob die nachdenklich gesenkten Wimpern und sah ihren Stiefvater befremdet, doch fest und erwartungsvoll an. Sein scharfer Ton würde Alle, die ihn näher kannten, erschreckt haben, auf dem Mädchengesicht aber zeigte sich keine Spur von Besorgniß oder Verlegenheit – und das reizte Seine Excellenz offenbar noch mehr.

„Dein Arzt war eben bei mir und da habe ich schöne Dinge hören müssen,“ sagte er mit schwerer Betonung. „Du widersetzest Dich seinen Anordnungen!“

„Ich bin gesund, seit ich seine Medikamente wegschütte.“

Der Minister fuhr empor – seine Augen öffneten sich weit und funkelten in maßlosem Zorn. „Wie, Du wagst es –“

„Ja, Papa – es ist das eine Art Nothwehr von meiner Seite. Der Mann hat mich zu allen Jahreszeiten im verschlossenen Wagen spazieren fahren lassen – er hat nie geduldet, daß ich auf meinen eigenen Füßen auch nur einmal durch den Schloßgarten gehen durfte – ein Trunk frischen Wassers war mir verboten wie tödtliches Gift. … Als aber Lena vor einem halben Jahr zu kränkeln anfing, da verordnete er ihr vor Allem frisches Wasser, Luft und Bewegung – nun, Papa, nach frischem Wasser, Luft und Bewegung lechzte auch ich – und da der Medicinalrath auf alle meine Bitten nur ein mitleidiges Lächeln hatte, so half ich mir selber!“

„Begreifen Excellenz nun die Schwierigkeit meiner jetzigen Stellung?“ fragte Frau von Herbeck, die während Gisela’s Bekenntnissen ihre Chocolade hatte kalt werden lassen.

Der Minister war längst Herr seiner Aufregung geworden.

„Du hast Dir auch ein Reitpferd angeschafft?“ frug er sehr gelassen, ohne die Bemerkung der Gouvernante zu beachten. Seine Cigarre, die er von allen Seiten betrachtete, schien ihn augenblicklich mehr zu interessiren, als die Antwort seiner Stieftochter.

„Ja wohl, Papa, von meinem Nadelgeld,“ entgegnete das junge Mädchen. „Ich kann nicht gerade sagen, daß ich das Reiten der Damen sehr liebe – allein ich will stark und kräftig werden, und solch’ ein Ritt in der frischen Morgenluft stählt Muskeln und Nerven.“

„Und darf man wissen, weshalb Gräfin Sturm sich à tout prix zur Walkyre ausbilden will?“ examinirte der Minister weiter – das satirische, anziehende Lächeln umspielte seine Lippen.

Gisela’s schöne braune Augen sprühten auf.

„Weshalb?“ wiederholte sie. „Weil gesund sein ,leben’ heißt – weil es mich beleidigt und verletzt, ewig der Gegenstand des allgemeinen Mitleids zu sein – weil ich die letzte Sturm bin! Ich will nicht, daß dies hohe Geschlecht in einem elenden, gebrechlichen Geschöpf endet. … Wenn ich in die Welt eintrete –“

Die Baronin hatte bis dahin Frage und Antwort spöttisch lächelnd, doch vollkommen ruhig mit angehört – in diesem Augenblick aber überflammte eine Scharlachröthe ihr Gesicht.

„Ah – Du willst zu Hofe gehen?“ unterbrach sie das junge Mädchen.

„Sicher, Mama,“ antwortete Gisela ohne Zögern. „Ich muß ja, schon um der Großmama willen – sie ist ja auch zu Hofe gegangen. … Ich sehe sie noch, wenn sie, mit Brillanten bedeckt, Abends in mein Zimmer kam, um mir Adieu zu sagen. … Aber ich habe auch einmal gesehen, wie ihr das Diadem einen tiefen, rothen Streifen in die Stirne gedrückt hatte – ich habe einen wahren Abscheu vor den kalten, schweren Steinen, und es macht mir Angst, zu denken, meine Stellung könnte mich einmal zwingen, Großmama’s Brillanten zu tragen.“

Sie fuhr wie unwillkürlich mit beiden Händen nach dem warmen, weißen Halse, als fühle sie dort bereits das eiskalte, gleißende Diamantencollier.

So sehr auch der Minister seine Züge in der Gewalt hatte, über ein fahles Erbleichen, das bei Erwähnung der Brillanten seine Wangen bedeckte, vermochte er doch nicht zu gebieten. Er schleuderte seine Cigarre als unbrauchbar weit hin über die Wiese und beschäftigte sich angelegentlich damit, eine bessere in seinem Etui zu suchen.

Das schöne Gesicht seiner Gemahlin aber versteinte förmlich in dem Ausdruck finsteren Nachsinnens. Sie rührte unablässig mit dem Löffel in der Chocolade – diese strahlenden Augen senkten sich sonst nie – innere Beschaulichkeit war nicht Sache Ihrer Excellenz – jetzt aber breiteten sich die langen Wimpern wie ein unheimlicher Schatten über die weißen Wangen.

Als ob er nicht eine Silbe von dem Wortwechsel der beiden Damen gehört, sagte der Minister nach einer Pause ganz in dem gütig nachgiebigen Tone, den er früher dem kranken Kinde gegenüber stets festgehalten hatte:

„Ich sehe schon, daß ich unserem guten alten Medicinalrath werde den Laufpaß geben müssen – er imponirt seiner kleinen, eigensinnigen Patientin nicht mehr – und Dich zu irgend etwas zwingen zu wollen, kann mir nicht einfallen, Gisela. … Vielleicht convenirt Dir Doctor Arndt in A. – ich werde ihn kommen lassen, denn, Kind – so himmelstürmende Begriffe Du auch von Deinem Gesundheitszustand hast – Du bist noch lange nicht hergestellt – im Gegentheil, der Medicinalrath prophezeit für die allernächste Zeit einen um so heftigeren Ausbruch Deiner Anfälle, als –“

Er hielt inne und blickte mit gerunzelter Stirne nach der entgegengesetzten Seite des Waldes.

„Gehen Sie doch einmal dort hinüber – ich glaube, es kommen Leute,“ sagte er zu einem herbeigerufenen Lakai.

„Excellenz, der nächste Fußweg nach Greinsfeld geht hier vorüber,“ wagte der Mann vorzustellen.

„Sehr weise bemerkt, lieber Braun – so viel weiß ich auch – will aber nicht, daß die Leute vorbeigehen, wenn ich da bin – es führen noch andere Wege nach Greinsfeld,“ sagte der Minister scharf.


14.

Währenddem war das Menschenkind, dessen Gewand hell durch das Dickicht schimmerte, auf die Wiese herausgetreten – es war das Töchterchen des Neuenfelder Pfarrers.

Gisela sah das Kind daher kommen – einen Moment überschlich sie dasselbe Gefühl, infolge dessen sie vorgestern, wenn auch nur während der Dauer eines Pulsschlags, überlegt hatte, wie sie wohl die Kinder im Kahn beseitigen könne: die Scheu, im Verkehr mit Niedrigerstehenden von Standesgenossen betroffen und von ihnen verurtheilt zu werden – eine feige, erbärmliche Empfindung, welche die Menschenseele entwürdigt und die, seit die menschliche Gesellschaft durch selbsterfundene Schranken sich trennt und zersplittert, zahllose Thränen schwergekränkter und beleidigter Herzen verschuldet hat. …

Aber auch jetzt siegte die ursprüngliche Charakteranlage über [196] die Resultate der Erziehung bei der jungen Gräfin. Sie erhob sich rasch und streckte dem nun pflichtschuldigst vorschreitenden Lakaien abwehrend die Hand entgegen.

„Das Kind darfst Du mir nicht wegschicken, Papa!“ sagte sie sehr entschieden zu dem Minister. „Es ist die Kleine, die vorgestern durch meine Schuld beinahe ertrunken wäre.“

Sie nahm das Kind, das auf sie zulief, bei der Hand und küßte es auf die Stirn. Das allerliebste Geschöpfchen hatte genau das Kindergesicht, wie es der Leser vor zwölf Jahren unter dem Christbaum des Neuenfelder Pfarrhauses in siebenfacher Wiederholung gesehen – rund und rosig weiß wie die Apfelblüthe, und mit einem Paar strahlender Blauaugen, die glückselig zu der jungen Gräfin aufsahen.

„Ich danke auch schön für die vielen, vielen Apfelsinen, die Sie mir geschickt haben!“ sagte die Kleine. „Ach, die riechen so gut! … Und meine blaue Orleansschürze hat die Mama ausgebügelt, und sie ist wieder wie neu! … Die Mama kommt auch – wir gehen nach Greinsfeld; ich bin vorausgelaufen und habe für die Muhme Röder Erdbeeren im Walde gesucht – aber Ihnen geb’ ich sie doch viel lieber als der Muhme.“

Sie hob den Deckel von ihrem Körbchen, das voll duftender Erdbeeren war.

„Ah liebe Gräfin – Ihr sauberes kleines Protegé plaudert ja seltsame Dinge aus!“ rief Frau von Herbeck erbittert herüber. „Ich werde die Südfrüchte für die Zukunft wieder unter meinen Verschluß nehmen – für das gottverlassene Neuenfelder Pfarrhaus sind sie doch wahrhaftig nicht gewachsen! …“

Gisela, die bei dem Verrath der Kleinen ein wenig erschrocken nach der Gouvernante hinübergesehen hatte, wurde glühendroth – trotzdem richtete sie ihre Gestalt hoch auf und maß die kleine, fette, erboste Frau mit einem stolzen Blick.

„Wie thöricht ist es doch, aus Rücksicht auf die Meinung Anderer, es zu verschweigen, wenn man recht handelt!“ sagte sie. „Es war meine Pflicht, mich nach dem Befinden des Kindes erkundigen zu lassen und ihm für den Schreck eine kleine Freude zu machen! … Weil ich aber Ihren Haß gegen das Pfarrhaus kenne, war ich schwach genug, Ihnen den Schritt nicht mitzutheilen. Ich bin bestraft dafür – ich fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben tief gedemüthigt, denn der Schein der Unwahrheit fällt auf mich! Ohne daß ich eigentlich Böses gewollt oder gethan habe, muß ich mich schämen!“ – abermals ergoß sich die Purpurröthe über ihr Gesicht – „pfui, welch’ eine häßliche Empfindung! … Das soll mir eine Lehre sein, Frau von Herbeck! Ich werde diese feige Rücksicht fallen lassen und künftig vor aller Welt handeln, wie es meinem Verstand und Herzen gut und recht erscheint!“

Damit war der Gouvernante der Fehdehandschuh hingeworfen, aber sie nahm ihn nicht auf. Wortlos, mit bebenden Lippen richtete sie ihre wehmüthig schwimmenden Augen hülfesuchend auf den Minister. Es blieb zweifelhaft, auf welche Seite er neigte – wohl zuckte ein feindseliger Blick unter den halbzugesunkenen Lidern hervor nach der aufrührerischen Stieftochter – allein im freien, offenen Walde waren leidenschaftliche Erörterungen nicht am Platze, um so weniger, als auch jetzt eine Frau auf der Wiese erschien.

Sie trat zwischen zwei Eichen hervor – hoch und gewaltig – das Urbild eines germanischen Weibes. Den runden Hut am Arm, ließ sie den starkgebauten Kopf mit der breiten Stirn und dem blonden, schlichten Scheitel von Luft und Sonnenlicht umfließen.

Einen Moment stutzte sie, als sie die vornehme Gesellschaft um den Frühstückstisch gruppirt sah, allein über die Wiese weg lief ja der schmal niedergetretene Weg, der Gemeingut war, und die scharfe Verwahrung Seiner Excellenz gegen jegliche Störung hatte die Frau nicht hören können.

Sie schritt demzufolge rüstig vorwärts, die Pfarrerin von Neuenfeld.

Ein Zeitraum von über zwölf Jahren lag zwischen heute und jenem verhängnißvollen Weihnachtsabend in der Pfarre. … Die mit jener Stunde auseinander gerissene Kluft zwischen Schloß und Pfarrhaus war seitens der tiefgereizten, feudalen Partei unerbittlich offen erhalten worden – auf der kleinen Waldwiese standen sich die drei Frauen zum ersten Mal wieder gegenüber.

Zeit, Mühen und Sorgen hatten wohl einzelne feine Linien in das helle Gesicht der Pfarrerin gezeichnet, aber das Wangenroth war nicht verlöscht, und die edelkräftigen Bewegungen der Glieder hatten nichts eingebüßt an Elasticität und Festigkeit – kein Wunder! War doch die kerngesunde Seele, die sie leitete und beherrschte, dieselbe geblieben! Am Charakter der Gesammterscheinung waren die zwölf Jahre ebenso spurlos hingeglitten, wie an jenem jungen, schönen, frivolen Weibe, dessen schwarze brennende Augen unersättlich begehrend in die Welt hineinleuchteten.

Das waren zwei Gestalten, die in der Frauenwelt zu allen Zeiten vertreten sein werden – jene Dritte aber, die kleine, fette Frau dort mit den tiefgesenkten Mundwinkeln und den andächtig schwimmenden Augen, gehörte zu den Erscheinungen, welche nur periodisch wiederkehren – ein Typus, der eben nur möglich ist, wenn Kirche und Politik zusammengehen.

Die eingefleischte Weltdame, die vierzig Jahre lang das Bibellesen lediglich als Privilegium beschränkter Frauen und der Armuth angesehen, die den Choral als etwas „Ueberschwängliches“ verachtet hatte und einen gewissen Höhepunkt der Tugend unausstehlich finden konnte – sie hatte einen wahren Harrassprung im äußeren Bekenntniß gemacht. – Dazu gehörte allerdings viel edle Dreistigkeit, aber die Freunde der „Erweckten“ nennen das Inspiration.

Eine Frauenseele kann abirren, kann fallen, ohne ganz den Hort der Religion aus ihrer Brust zu verlieren – und dann ist auch sie nicht die Verlorene – aber ein Weib, das um äußerer Vortheile willen diesen Hort heuchelt, verfällt dem strengsten Richterspruch, denn es treibt frechen Handel mit dem Heiligsten! …

„Mama, das ist die liebe, schöne Gräfin, die schuld ist, daß ich in’s Wasser gefallen bin!“ rief das kleine Mädchen seiner Mutter entgegen.

Gisela lachte wie ein Kind und auch aus den Augen der Pfarrerin strahlte der Humor und die Belustigung über ihr naives Töchterchen – aber sie blieb einen Moment wie angewurzelt vor der jungen Gräfin stehen. Wohl hatte sie das bleiche Gesichtchen des hochgeborenen Kindes zu verschiedenen Zeiten hinter den Glasscheiben des Wagens flüchtig an sich vorüberhuschen sehen – stets hatte sie gemeint, es sei das letzte Mal – und nun hatte ein einziges Jahr die gebrechliche Hülle zu einer lieblichen Mädchenblume umgewandelt.

„Mein Gott, liebe Gräfin,“ rief sie, „Sie sind ja die leibhaftige“ – nein, und wenn auch die Ähnlichkeit zwischen Großmutter und Enkelin eine wahrhaft staunenerregende war – sie konnte unmöglich dieses jungfräulich holdselige Geschöpf, das so liebreich ihr Kind an der Hand hielt, mit jenem Weibe vergleichen, welches einst als Gräfin Völdern in schrankenlosem Uebermuth, bar aller Zucht und Sitte, taub für die Klage der Nothleidenden und unerbittlich und erbarmungslos über zertretene Herzen hinschreitend, auf Erden gewandelt war!

(Fortsetzung folgt.)




Der Knoten im Taschentuch.

Bedarf es noch der erklärenden Worte zu dem trefflichen Bilde des Münchner Künstlers J. E. Gaiser? Spricht das verdrießlich-mürrische Gesicht, das verlegene Kratzen hinter dem Ohr, das forschende Schielen nach dem beängstigenden Knoten nicht deutlich genug? Schmeckte der Erbacher oder Laubenheimer gestern Abend, als das verhängnißvolle Zeichen geknüpft wurde, wieder so ausgezeichnet, daß mit dem letzten Tropfen des edlen Rebensaftes auch die Erinnerung an das schnupftüchliche Fragezeichen verschwunden war? Was steckt nun in dem geheimnißvollen Knoten? War’s eine wissenschaftliche Frage, die zu Hause das Conversationslexikon beantworten sollte; war es die Einladung zu einem Caviarfrühstück, was noch viel fataler wäre, oder hat sein Nachbar, der Herr Assessor, gestern Abend vielleicht in Anbetracht des schlechten Gedächtnisses des Knotenschlingers daran erinnert, ja nicht der morgenden Gevatterschaft bei der Frau Stadträthin zu vergessen, die das sehr übel aufnehmen würde?

[197]

Der fatale Knoten.
Nach dem Originalgemälde von J. E. Gaiser in München.

„Umsonst – umsonst – vergeblich all’ sein Ringen.“ Die Auflösung will nicht kommen und Herr Müller oder Fischer scheint auch kein Alexander zu sein! Trügen aber nicht alle Anzeichen, so wird der Vergeßliche seiner Frau heute sehr klar zu machen wissen, daß er Abends ganz notwendig wieder nach der Schoppenstube müsse, um dort sein beunruhigtes Gemüth zu befestigen und die Freunde um Auflösung des Räthsels zu befragen. Jedenfalls ist die vom Künstler so drastisch zur Darstellung gebrachte Situation eine auch unseren Lesern nicht ganz unbekannte, ja die meisten derselben haben sie wohl selbst einmal durchlebt und das verlegene Kratzen hinter höchst ihrem eigenen Ohre gefühlt.




Aus den Werkstätten deutschen Gelehrtenfleißes.

Unvergessen unter den Zeitgenossen ist die That schamloser fürstlicher Willkür, durch welche der König Ernst August im Frühling die hannoversche Verfassung umstürzte. In gutem Andenken ist ferner, daß dabei eine Anzahl Göttinger Professoren, deren Rechtssinn den auf diese Verfassung geschworenen Eid höher achtete als den Willen des Despoten, für solchen Rechtssinn ihrer Aemter entsetzt und des Landes verwiesen wurden. Alles, was Ehre und Freiheit liebte, trauerte damals über diesen unerhörten Gewaltact. Aber wie aus Bösem oft Gutes erwächst so auch hier. Einmal erhielt der Absolutismus in Deutschland durch [198] dieses Ereigniß einen mächtigen Stoß, dann aber trug dasselbe für die Wissenschaft die große und bedeutsame Frucht, von der wir im Folgenden reden wollen.

Unter den Göttinger Verbannten befanden sich Jakob Grimm, der Begründer und erfolgreichste Bebauer des Gebiets deutscher Sprachforschung, und dessen Bruder Wilhelm, gleichfalls ein hervorragender Gelehrter in diesem Bereich. Die Vertreibung der Brüder von ihren Lehrstühlen schuf ihnen Muße, die Weidmann’sche Buchhandlung regte den Plan zu dem großen deutschen Wörterbuch an, welches zu einem Ereigniß in unserer Literatur werden sollte, und die preußische Regierung, welche die Brüder einige Jahre später an die Berliner Akademie der Wissenschaften berief, stellte das nationale Unternehmen, indem sie die beiden Arbeiter an demselben aus gedrückter Lage in eine ehrenvolle und sorgenfreie Stellung erhob, unter günstige Sterne.

Volle vierzehn Jahre währten die Vorbereitungen, welche die gewaltige Arbeit erforderte. Dafür aber erkannte man auch in dem Werke, als im Sommer 1852 seine erste Lieferung erschien, eine Schöpfung, welche in ihrer Art einzig auf dem Felde der Sprachwissenschaft dasteht und in keinem Wörterbuch der Welt – das große Dictionnaire der französischen Akademie nicht ausgenommen – auch nur entfernt ihres Gleichen hat. In der That, nur Deutsche konnten sich eine solche Aufgabe stellen, die so Ungeheures umfaßte und so tiefes Eindringen in ihren Gegenstand forderte. Nur Deutsche konnten ihrer Sprache einen Tempel errichten, der gleich den großen Nationalheiligthümern der Hellenen so ganz ihr innerstes Wesen widerspiegelte. Nur deutscher Fleiß war im Stande, einen Bau hinzustellen, der unter Werken seiner Art – wir fürchten nicht zu übertreiben – alles Andere in dem Maße überragt, wie die Gruppe der großen Pyramiden alle anderen Gebäude unter der Sonne. Und dabei bargen diese Pyramiden nur Leichname von Königen und waren nur riesige Aufschichtungen todter Steine, während das Wörterbuch der Grimm die lebendige Seele des deutschen Volkes birgt und jeder Stein zu seinem Bau, jedes einzelne Wort ein Reflex dieser Seele ist.

Der Plan, nach welchem die Meister mit ihren Gehülfen und Nachfolgern bauten, ist in der Kürze folgender. Es sollte ein Bild von dem Leben unserer Sprache seit Luther geschaffen werden. Was durch ihn, dessen Auftreten auch auf diesem Gebiet den Beginn einer neuen Zeit bezeichnet, und was seit ihm, bis auf unsere Tage, an Wörtern neu entstanden oder verändert worden ist, sollte wiedergegeben, der gesammte Bildungsgang der deutschen Nation, soweit er sich in der Sprache ausgeprägt hat, sollte dargestellt werden. Es ist also nicht die Sprache einer bestimmten Zeit, deren Reichthum an Wörtern, Wortformen, Sprüchwörtern und dergleichen mehr und deren Art zu denken und zu empfinden aufgezeichnet werden sollte, um, wie das bei Abfassung des Wörterbuchs der Pariser Akademie die Absicht war, als Gesetzbuch der Rede- und Schreibweise der Nation zu dienen, sondern die Verfasser stellten sich die höhere Aufgabe, den ganzen unermeßlichen Organismus unserer Sprache in seinem Werden, in seiner flüssigen Bewegung und in seinem Lauf durch die Jahrhunderte ihrem Volke anschaulich zu machen. Jedes Wort von Wichtigkeit für diesen Zweck sollte seine besondere Geschichte haben, in welcher die Abstammung und Familie desselben, sowie seine Bedeutung und die Veränderungen und Abschattirungen der letzteren, die es in dem Laufe der Zeiten erfahren, übersichtlich vor Augen gelegt werden sollten.

Hier ist der Ort, einen Blick in die Gelehrtenwerkstätte zu thun, in der das Wörterbuch entstand und noch jetzt weitergeführt wird. Zu jenem Zweck bedurfte es umfassender, möglichst vollständiger Sammlungen: jedes einzelne Wort war aus der Gegenwart bis in die Zeit Luther’s zurück zu verfolgen, und das war wieder nur möglich, wenn man sein Vorkommen und die Art seiner Anwendung bei den zahlreichen deutschen Schriftstellern von größerer oder geringerer Bedeutung genau beobachtete, welche seit der Reformationszeit aufgetreten sind. Ein solches Unternehmen aber überstieg selbstverständlich die Arbeitskraft eines Einzelnen, auch wenn er davon so viel besaß und schon ein so gewaltiges Material beisammen hatte wie Jakob Grimm, dessen Forschungen unbewußt seit dem ersten Tage seiner Gelehrtenthätigkeit Vorarbeit für sein letztes großes Werk gewesen waren. Es war die Hülfe von sehr Vielen nöthig, und schon die Organisation dieser Ergänzungsthätigkeit ist so merkwürdig und namentlich so charakteristisch für das schöne Leben in der deutschen Wissenschaft, daß sie der ausführlichen Schilderung werth scheint.

Die Brüder Grimm schrieben durch ganz Deutschland an ältere und jüngere Männer und forderten sie auf, einzelne Schriftsteller für das Wörterbuch durchzulesen und auszuziehen. Von allen Seiten antwortete bereitwilliger Fleiß, Andere boten sich selbst zu dieser Mitarbeit an, und nicht ohne freudige Verwunderung erfuhr man später, daß Männer aus den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Lagern, Großdeutsche und Kleindeutsche, Liberale und Conservative, Wolf und Lamm, Vilmar neben Hoffmann von Fallersleben, Schweizer und Schwaben neben Ostpreußen und Hannoveranern, einträchtig an dem großen nationalen Werke mitgewirkt hatten. Die Vorrede, mit welcher Jakob Grimm die erste Lieferung desselben in die Welt gehen ließ, nennt dreiundachtzig Namen, das erste Verzeichniß der Quellen, aus denen sie schöpften, umfaßt vierundzwanzig, ein zweites elf, ein drittes acht Spalten engen Drucks. Unter den Mitarbeitern befinden sich etwa ein Dutzend Professoren, einige Prediger, ein Arzt; alle Uebrigen, eine Dame, Malchen Hassenpflug in Cassel, ausgenommen, sind Philologen; Rechtsgelehrte sind nicht darunter.

Die Thätigkeit dieser Gehülfen wurde methodisch geregelt. Jeder erhielt eine genaue Anweisung. Auf Zettel von vorgeschriebener Höhe und Breite sollte er jedes Wort verzeichnen, welches ihm bei langsamem und sorgfältigem Durchlesen des ihm zugetheilten oder von ihm selbst gewählten Schriftstellers aus irgend einem Grunde merkwürdig erschiene, nicht nur beim Gebrauch in ungewöhnlicher Bedeutung, sondern auch, wenn die Anwendung desselben irgendwie charakteristisch wäre, oder die Stelle, an welcher das Wort vorkam, sich leicht verständlich aus dem Zusammenhang der Rede lösen ließe. In allen derartigen Fällen sollte das betreffende Wort und darunter die Phrase oder der Vers, worin es stand, auf den Zettel geschrieben werden.

Nun ging Alles mit rüstiger Liebe zur Sache an’s Werk. Nach einiger Zeit langten von Süden und Norden, Osten und Westen Pakete kostbarer Zettel an, alle von gleicher Höhe und Breite, jeder mit einem merkwürdigen Citat beschrieben. Sie erschienen mit allerlei Fahrgelegenheiten und in den verschiedensten Reisekleidern, in Schachteln, Kasten und Koffern, bisweilen in alten Cigarrenkisten. Wie ein kleiner Berg thürmte sich so allmählich das Material auf, so daß auch einem sehr unternehmenden Gelehrten vor der Bewältigung dieser Auszüge hätte bange werden können. Nicht allen Einsendern war derselbe beharrliche Fleiß eigen gewesen. Von den Fleißigen die Fleißigsten waren Fallenstein in Heidelberg, Hartenstein, damals in Leipzig, Riedel in Göttingen, Schrader in Hörste, Weigand in Gießen. Als den Allerfleißigsten und Einsichtigsten aber rühmt Jakob Grimm den vor zwei Jahren als Rector der Dresdner Kreuzschule verstorbenen Klee, dem die Aufgabe zugefallen war, Goethe’s Werke für das Wörterbuch auszuziehen.

Es kam nun zunächst darauf an, in diese Masse von Zetteln die Ordnung zu bringen, in der sie für die Verfasser des Wörterbuchs ohne Aufenthalt verwendbar waren mit andern Worten, sie mußten sortirt werden. Wie groß ihre Anzahl war, ist nicht festgestellt worden, man wird aber kaum zu viel annehmen, wenn man sie auf eine Million veranschlagt. Zwei Männer hatten sechs Monate hindurch von früh bis spät zu thun, dieselben nach dem Alphabet zu vertheilen, die Belege zu jedem Wort auf einander zu legen, sie mit Bindfaden vor dem Auseinanderfallen zu sichern und schließlich den ganzen Schatz in zwei riesigen Wandschränken für die Verarbeitung zu deponiren, bei der sie die größere oder geringere Fülle des Inhalts der betreffenden Wörter bestimmen und deren Formen in den verschiedenen Zeiten und Landschaften finden halfen.

Die Schriftsteller, die für das Wörterbuch ausgezogen wurden, umfaßten, wie angedeutet, die Periode unserer Entwickelung, welche durch den Anfang des sechszehnten und die ersten drei Decennien des gegenwärtigen Jahrhunderts begrenzt wird. Nach Goethe und Schiller sind noch Tieck und Kleist, die Bettina, auch Gutzkow, Lenau, Jeremias Gotthelf, Auerbachs Dorfgeschichten und einiges Andere benutzt, so daß auch die Veränderungen, welche die deutsche Sprache in der allerneuesten Zeit erfahren hat, Berücksichtigung gefunden haben. Am wichtigsten waren natürlich diejenigen Autoren, deren schöpferische Kraft auch die Sprache mächtig fortgebildet hat, insbesondere wenn in ihnen das unmittelbare [199] Gefühl für das Schöne und der Sprache Natürliche lebte. Denn nicht alle bedeutenden Schriftsteller eines Volkes haben gleichen Theil an der stets Neues erzeugenden und das Alte umbildenden Sprachkraft, die in den Nationen fortlebt, so lange sie selbst fortexistiren. In einzelnen Geistern wirkt diese Kraft, die keinem Menschen gänzlich mangelt, ungewöhnlich mächtig oder in ganz eigenthümlicher Weise. Beispiele solcher besonders Begabten sind im sechszehnten Jahrhundert Luther, dann Hans Sachs und vor allen der originelle Satiriker Fischart, dessen Behandlung der Sprache an das Wunder grenzt. Kein deutscher Schriftsteller kommt letzterem gleich an geistvoller Fruchtbarkeit und glücklicher Kühnheit der Wortbildung, an Witzen und Wortspielen, wenige nur besitzen eine solche fortreißende Kraft im Bau der Perioden, eine solche kunstvolle Ausarbeitung der Gedanken, eine solche Uebereinstimmung zwischen Inhalt und Form der Darstellung. In dem armen Jahrhundert des dreißigjährigen Krieges, wo die Bildkraft der Sprache gedrückt war wie die ganze Nation, waren in dieser Hinsicht der Verfasser des Simplicissimus, der kräftige Gryphius und die Schlesier Opitz und Logau von Bedeutung. Aus dem letztverflossenen Jahrhundert sind Lessing, Jean Paul, Schiller und in erster Reihe Goethe zu nennen. Diese sind denn auch am sorgfältigsten ausgezogen worden, namentlich Fischart, Luther und Goethe.

Einige Jahre konnten Zweifel obwalten, ob die Brüder Grimm die Zeit gewinnen und behalten würden, das in dieser Art vorbereitete Riesenwerk wirklich in Angriff zu nehmen. Sie waren nebenher noch mit andern Arbeiten beschäftigt, und wie viel auch durch die geschilderten Auszüge gethan war, so erschien das immer noch wenig gegen die Hauptarbeit, den gewaltigen Bau aus den herbeigeschafften und handgerecht geordneten Materialien aufzuführen, und so war es als ein Ereigniß in der deutschen Literatur anzusehen, als das Erscheinen der ersten Lieferung zeigte, daß wirklich an’s Werk gegangen worden.

Von jetzt an schritt der Bau rasch fort. 1854 war der erste Band, 1860 der zweite, 1862 der dritte vollendet. Darüber hinaus erschien bis zum Herbst des folgenden Jahres nur ein Heft. Inmitten der Beschäftigung mit dem Artikel „Frucht“ war Jakob Grimm durch den Tod von der Arbeit abgerufen worden, nachdem ihm einige Zeit vorher sein Bruder vorangegangen war, von dem im Wörterbuch der Buchstabe D behandelt ist. Alles Uebrige von dem bis dahin Veröffentlichten stammt von Jakob, und jedermann, der die etwa neunhundert Seiten starken, enggedruckten Bände größten Lexikonformats überblickt, wird von Staunen erfüllt werden über die rüstige Kraft des greisen Gelehrten, welcher in verhältnißmäßig kurzer Zeit solche Massen zu bewältigen im Stande war. Scheint doch schon die zur Herstellung erforderliche mechanische Arbeit des Schreibens die Kräfte eines jungen Mannes zu übersteigen.

Der Tod Grimm’s war für das Wörterbuch ein großer Verlust, aber kein völlig unersetzlicher. An die Stelle des Meisters traten in der Person des Gymnasiallehrers Hildebrand in Leipzig, der bisher schon als Corrector des Werkes sich in den Plan und die Methode desselben eingelebt hatte und als sachkundiger Rathgeber auch in anderer Hinsicht stiller Mitarbeiter gewesen war, und des Professors Weigand in Gießen sofort tüchtige Gesellen, um den Bau weiter zu fördern, und neuerdings hat sich zu diesen noch in Dr. Moritz Heyne in Halle ein dritter wohlgeschulter Gehülfe gesellt. Weigand baute da fort, wo Grimm die Kelle niedergelegt hatte, er arbeitete zunächst die Artikel des Buchstaben F aus. Die zweite Abtheilung bis Ende von H hat Heyne übernommen, den Schluß, I und J Professor Lucä in Marburg. Am fleißigsten hat Hildebrand, jetzt Professor an der Leipziger Universität, gearbeitet, der zunächst an den wichtigen Buchstaben K gegangen ist, welcher einen ganzen starken Band in Anspruch nehmen wird und jetzt bis zu dem Artikel „Krachen“ im Druck vorliegt. Das Werk ist damit ungefähr bis zur Hälfte vollendet. Von den übrigen Buchstaben werden nur M, S und W noch sehr viel Raum fordern, und es steht zu hoffen, daß der Schlußstein des gewaltigen Baues etwa um dieselbe Zeit eingesetzt werden wird, wenn wir ein anderes Riesenwerk unserer Zeit, das Kölner Münster, gekrönt sehen werden.

Wie bemerkt, hatte die Literatur keiner Nation bisher Aehnliches aufzuweisen. Heute sehen wir schon den wichtigen Einfluß, den das Unternehmen auf die Nachbarvölker geübt hat. Die Holländer folgten Grimm’s Vorgang mit einem „Wordenboek der Nederlandsche Taal“, welches von den Mitgliedern der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften M. de Vries und L. A. te Winkel in Leyden bearbeitet wird und dessen erste Lieferung 1864, dessen zehnte und bis jetzt letzte 1868 erschien. Man ist hier bis heute nur bis „Afleenen“ (Ablehnen) gelangt. In Frankreich wurde die Akademie zu einer Nachahmung des deutschen Werks durch ein „Dictionnaire historique de la langue française“ veranlaßt, dessen Erscheinen aber sehr langsam vor sich geht, indem 1858 die erste, erst 1865 die zweite, mit dem Artikel „Actuellement“ schließende Lieferung herauskam und das Ganze seitdem stockt. Rüstiger arbeitet der berühmte E. Littré, der Verfasser eines ähnlichen, ebenfalls nach dem Muster Grimm’s eingerichteten französischen Werkes, welches sich aber schon in zwei starken Bänden vollenden soll. Dasselbe ist mit der zwanzigsten Lieferung bereits bis zu dem Artikel „Perdre“ vorgerückt. Endlich wird auch von den Engländern an ein großes, die Geschichte ihrer Sprache darstellendes Wörterbuch gedacht, und man ist mit den Vorbereitungen zu demselben beschäftigt.

Kehren wir zu unserem deutschen Nationalwerke zurück, so ist der Umfang desselben auf das Hochdeutsche beschränkt worden, welches sich durch das sogenannte Gesetz der doppelten Lautverschiebung vom Niederdeutschen ebenso scheidet, wie die gesammte deutsche Sprache durch die einfache Lautverschiebung von den übrigen stammverwandten Sprachen getrennt ist. Ein Wörterbuch des Niederdeutschen muß also ein eigenes Unternehmen werden. Dagegen hat sich der Umfang des Grimm’schen Werkes der Zeit nach sehr weit ausgedehnt, indem in vielen Artikeln auf das Mittelhochdeutsche und selbst auf das Althochdeutsche und Gothische zurückgegangen wurde, da nur so die Entwickelung der Sprache in ihrer Gesammtheit anschaulich zu machen war. Das Wörterbuch umfaßt ferner nicht blos die Schriftsprache der Deutschen, sondern nimmt vielfach auch auf die verschiedenen Mundarten, in welche das Hochdeutsche zerfällt, Rücksicht und steigt bis in die Kreise der Jäger, Vogelsteller und Hirten herab, um den Wörterschatz, mit dem es sich beschäftigt, womöglich ganz darzustellen. Ueberblicken wir eine der Lieferungen, so staunen wir, auch wenn wir gut im Deutschen zu Hause zu sein meinen, wie viele Wörter uns vollkommen fremd sind, und sehr lebhaft tritt uns die Wahrheit vor die Seele, wie viel reicher die Sprache einer Nation ist als die eines einzelnen Angehörigen derselben.

Nach dem Plane des Wörterbuchs scheint es, daß man anfangs die Mundarten, die neben der vornehmen Schriftsprache ein stilles, bescheidenes Naturleben führen, nur in unabweislichen Fällen berücksichtigen wollte. Bald aber wird man innegeworden sein, daß die Art, „wie das Volk spricht“, innig mit den Lebenswurzeln der Sprache verwachsen ist, in der wir schreiben, und daß mindestens die Stammwörter und die wichtigsten Abschattirungen ihrer Bedeutungen, die in der Alltagsrede der verschiedenen Landschaften enthalten sind, aufzunehmen waren. So giebt das Wörterbuch eine reiche Fülle von Stoff, aber unermeßlich ist die Menge von Wortbildungen und Wortverwendungen im Deutschen, und alle diese Strahlenbrechungen der Sonne des deutschen Lebens aufzufangen, jede Vorstellung, die sich einmal in ein Wort verwandelt hat, zu verzeichnen, ist ebenso unmöglich, wie das Zählen der Blätter eines Waldes.

Unbedingte Vollständigkeit war also bei allem Eifer und aller Sorgfalt nicht zu erreichen. Für die vergangenen Zeiten nicht; denn sehr viele Nebenbedeutungen wohlbekannter Wörter sind nie in die Schriftsprache gelangt, viele liegen noch in alten Flugschriften verborgen, in denen oft Ausdrücke sehr origineller Art vorkommen, die aber ungelesen bleiben mußten, wenn man das Erscheinen des Werkes nicht über Gebühr verzögern wollte. Und ebenso für die Gegenwart nicht. Auch hier wird der Sprachstoff stets unendlich viel größer sein als die Masse desselben, die in Büchern zu verzeichnen versucht wird; denn täglich wird Neues geboren, und nie ist die Schöpfung der Sprache abgeschlossen. Am meisten bemerkt dies, wer viel mit dem Volke verkehrt. Er stößt in jedem Dialekt auf unerschöpfliche Quellen für die Sprachforschung, auf merkwürdige, oft uralte Stammwörter, charakteristische Anwendungen und neue Zusammensetzungen. Er begegnet in der Sprache der verschiedenen Kreise praktischer Thätigkeit zahlreichen originellen Ausdrücken und eigenthümlichen Bedeutungen von sonst bekannten Wörtern. Er entdeckt endlich – und das ist das Anziehendste – [200] im sogenannten niederen Volke einen solchen glücklichen Instinct der Sprache und eine solche naive und starke Kraft, neue Wörter zu bilden und die vorhandenen in neuer Weise zu brauchen, daß er erstaunt; denn unter Gebildeten ist diese Gabe weit weniger häufig.

So kann es geschehen, daß der Leser des Wörterbuchs sich vor der Fülle desselben im Allgemeinen arm, vor einzelnen Stellen aber doch zugleich reicher fühlt, da er im Stande ist, aus seinem eigenen Leben heraus Lücken auszufüllen und Berichtigungen zu liefern. Jeder mag hier Wohlbekanntes vermissen, aber wäre der Umfang des Werkes auch dreimal so groß, dieselbe Erscheinung würde sich zeigen, so lange die deutsche Sprache als lebensvolle Fluth durch fast fünfzig Millionen Seelen strömt.

Das Wörterbuch hat den Anklang gefunden, den es verdient. Schon lange war der Mangel eines solchen Spiegelbildes unseres nationalen Sprachschatzes fühlbar; denn Adelung’s deutsches Lexikon, verdienstlich zu seiner Zeit, mußte in der unseren als vielfach ungenau und unvollständig erscheinen; berücksichtigte es doch, abgesehen von anderen schweren Mängeln, nicht einmal unsere größten Dichter. Da das Wörterbuch der Brüder Grimm die höhere Aufgabe verfolgt, ein Bild von der Entwickelung und dem gewaltigen Umfang unserer Sprache und damit unserer ganzen zu Wort gewordenen Bildung zu geben, so ist das Werk nicht nur ein Buch für den engen Kreis der Gelehrten, sondern ein werther Hausfreund für die Gebildeten aller Stände geworden. Tausenden hat es Rath und Belehrung in Sachen der Sprachverwendung gespendet. Tausende haben bei der einfachen und leichtfaßlichen Darstellung, welche die Geschichte der einzelnen wichtigen Wörter und die Bildung ihrer Ableitungen hier gefunden hat, beim Durchlesen vieler Artikel sogar anziehende Unterhaltung gefunden.

„Deutsche geliebte Landsleute,“ so schließt Jakob Grimm seine Vorrede zum ersten Bande, und so ruft uns der große Todte noch heute aus seinem Grabe zu, „welches Reichs, welches Glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane Halle eurer angestammten, uralten Sprache, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, eure Volkskraft und Dauer hängt in ihr. Noch reicht sie über den Rhein in das Elsaß bis nach Lothringen, über die Eider tief in Schleswig-Holstein, am Ostseegestade bis nach Riga und Reval, jenseits der Karpathen in Siebenbürgens altdakisches Gebiet. Auch zu euch, ihr ausgewanderten Deutschen, über das salzige Meer gelangen wird das Buch und euch wehmüthige liebliche Gedanken an die Heimathsprache eingeben oder befestigen, mit der ihr zugleich unsere und eure Dichter hinüberzieht, wie die englischen und spanischen in Amerika fortleben.“

Wir haben nichts hinzuzufügen. Gab es je ein Werk, welches die verschiedenen deutschen Stämme sich im Geist als Brüder erkennen und lieben läßt, so ist es dieses Nationalwerk, und war je eine Zeit, welche Ursache hat, mit herzlicher Theilnahme auf diese Hinterlassenschaft der Brüder Grimm zu blicken, so ist es die unsere.




Nachtseiten von London.

Sociale Skizze von J. H.
1.
Gepflastert mit Gold. – Die Londoner Docks und ihre Arbeiter. – Zahl der Londoner Diebe. – Organisation derselben. – Diebesschenken und Diebestheater. – Diebesschulen. – Arbeitstheilung und verschiedene Classen der Diebe. – Eine Versammlung jugendlicher Diebe. – Professionsmäßige Bettler und Landstreicher.

Keine Stadt der Welt ist reicher als London, aber auch keine birgt solche Tiefen des Elends in sich. Wie der Besitz maßlos ist, so ist es auch die Armuth. Im Munde des englischen Landvolks heißt es, daß die Straßen von London mit Gold gepflastert seien, und genau unterrichtete Kenner der Verhältnisse versichern, daß, wenn man den Totalreichthum der Stadt berechne, er zu einer so großen Summe ansteige, daß man die ganze Ausdehnung der fast zweitausend Meilen Pflaster, welche die Straßen und Gassen zusammen ausmachen, größtentheils mit Gold belegen könnte. Kostet doch dieses Steinpflaster allein schon nicht weniger als 14 Millionen Pfund, d. i. 168 Millionen Gulden. Dazu halte man die unermeßlichen Summen, welche die Herstellung der unterirdischen Gas- und Wasserleitungen, die über neunzehnhundert Meilen weit sich erstrecken, und der Cloaken verschlang, die ebenfalls Hunderte von Meilen unter London sich verzweigen, und man wird zu dem Schlusse kommen, daß jeder Quadratfuß Erde, den hier das Volk mit seinen Füßen tritt, kostbar ist. Wie hoch aber auch immer der Reichthum sich aufhäufen mag, vielleicht könnte er doch den Abgrund des Elends, der sich hier öffnet, nicht ausfüllen. Von den etwa drei Millionen, die gegenwärtig London bewohnen, befindet sich weitaus mehr als ein Dritttheil in der allerkläglichsten Dürftigkeit.

Die düstere, schmutzige und schwermüthige Romantik der verrufenen Winkel, in welcher diese zum Theil unheimliche Bevölkerung haust, hatte für mich einen dämonischen Reiz, und ich glaubte, ohne sie London nicht gesehen zu haben; daher war es mein Vorsatz, nachdem ich an der schimmernden Seite desselben mich übersättigt hatte, auch das Kehrbild aufzusuchen und in jene ein paar Streifzüge zu unternehmen. Ich fand lange keinen Gefährten dazu, und so führte mich zuerst der Zufall allein in einige dieser Gassen, als ich die Themse hinab zum Tunnel, der in der Nähe der Londoner Docks liegt, gefahren war. Schon im Tunnel selbst, der seinem Verfall entgegen zu gehen scheint, kam es mir nicht besonders heimlich vor. Eine von seinen beiden Straßen war versperrt, sie ist vielleicht ungangbar; die gangbare aber war nur auf kurze Strecken dürftig von einigen Gasflammen erleuchtet, die vor ein paar geöffneten Verkaufsläden brannten; der weitaus größte Theil derselben, namentlich gegen Süden, Rotherhithe zu, lag ganz in Dunkel gehüllt.

Außer mir promenirten hier nur noch ein paar Frauenspersonen, und so nahm sich der Ort für einen Raubanfall sehr einladend aus. Als ich aus dem Tunnel wieder herausgestiegen war, kam ich, mir einen Weg zum Tower suchend, allmählich in ein Gassenlabyrinth mit elenden, meist einstöckigen Häusern, an deren Thüren gewöhnlich in Lumpen gehüllte Weiber mit Kindern auf dem Arm standen und hinter deren Fenstern, die zum Theil erblindet, zum Theil auch verpappt waren, sich alte verkümmerte Gesichter zeigten. In den Gassen selbst trieben sich schmutzige und halbnackte Kinder herum. Hie und da begegnete mir ein verdächtiger Bursche, der mir in den Weg trat und mich fixirte; dann aber auch wieder rasch dahinwandernde Männer, denen man ansah, daß sie beschäftigte Arbeiter seien. Es war, wie ich aus dem Stadtplan entnahm, die Pfarrei St. George in the East, in der ich mich befand, einer der dichtbevölkerten und ärmsten Theile der Stadt. Während in London durchschnittlich nur fünf Häuser auf einen Morgen Landes kommen, sollen hier dreiundzwanzig auf einem stehen. Die Bewohner sind meistens Docksarbeiter, Säckemacher, Bootführer und solche, die ihren Lebensunterhalt an der Themse finden, Alles sehr arme, aber, wie ich später hörte, größtentheils ehrliche Leute.

Die Arbeiten in den Docks gehören zu den alleranstrengendsten und gewähren den Meisten, die sich ihnen unterziehen müssen, ein höchst unsicheres Brod. Man braucht dafür nichts gelernt zu haben, auch kein bestimmter Charakter ist notwendig; Alles, was gefordert wird, sind kräftige Muskeln, denn es müssen Lasten transportirt werden. Diese Arbeiten versammeln Menschen von allen Lebensaltern, Berufskreisen, Nationen und Himmelsstrichen: abgehauste Gewerbsleute, ehemalige Zolleinnehmer, alte Matrosen und Seeleute, politische Flüchtlinge, herabgekommene Gentlemen, entlassene Beamte, suspendirte Geistliche, freigewordene Sträflinge, Knechte, bekannte Diebe, kurz Jeden, der essen muß und sich auf andere Weise nicht den geringsten Lebensunterhalt schaffen kann oder will. Diebe, welche vorher hier vergeblich Arbeit gesucht haben, werden, wenn sie hernach wieder auf ihrem Handwerk ertappt werden, milder abgeurtheilt, weil man annimmt, sie hätten ihr Brod gern ehrlich verdient. Denn nicht jeder, der sich zu diesen Arbeiten erbietet, findet sie auch schon; gegen und auch über dreitausend Menschen treffen täglich an dem Thore der Londoner Docks ein, aber nur vier- bis fünfhundert sind ständig engagirt, die übrigen können [201] nur nach zeitweiligem Bedürfniß beschäftigt werden. Der wöchentliche Lohn des ständigen Arbeiters beläuft sich auf zehn Schilling sechs Pence, der des zufälligen für den Tag auf zwei Schilling sechs Pence im Sommer, auf zwei Schilling vier Pence im Winter; durchschnittlich für die Woche, wenn man die arbeitslosen Tage in Anschlag bringt, auf fünf Schilling. Die Totalsumme der zeitweilig gemietheten Arbeiter wechselt zwischen fünfhundert bis dreitausend und auch darüber, je nachdem mehr oder weniger Schiffe einlaufen, deren Zahl in der Woche unter dreißig sinken und über einhundertfünfzig steigen kann. Dieses Fallen und Steigen hängt von den Ostwinden ab, welche die Schiffe zurückhalten, und so kommt es, daß Hunderte und Tausende derer, die nur zufällig verwendet werden, sich durch ein Umschlagen des Windes ihres täglichen Brodes beraubt sehen und mit ihnen oft ihre sehr zahlreichen Familien.

Hier an den Docks ist der Kampf um das Dasein fast täglich um halbacht Morgens zu sehen. An den Haupteingang drängen sich die verschiedensten Gestalten in den buntesten und seltsamsten Aufzügen, um den Männern, die für die Arbeit miethen, sich zuerst sichtbar zu machen. Durch Schreien, Händeaufheben, durch Springen auf den Rücken eines Andern sucht jeder ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und an sich als einen alten Bekannten zu erinnern. Tausende drängen und raufen sich hier um Arbeit, damit sie nur einen Tag leben können. Aber sehr oft müssen die Meisten abziehen, ohne ihre Absicht zu erreichen. Die verhungerten Gesichter dieses Haufens zu sehen ist ein Anblick, den man nie mehr vergessen kann. Wochenlang sind viele vergeblich hieher gekommen, und von Tag zu Tag stieg mit der Noth ihre Verzweiflung, denn nicht blos für sich allein, auch für die zu Hause befindliche Familie gilt es die Rettung vom Hungertod. Es kam vor, daß mancher sechs Wochen lang vergeblich Arbeit suchte und sich von den zufälligen Brodbrocken, die ihm Docksarbeiter zuwarfen, nähren mußte. Um vier Uhr Nachmittags, nach achtstündiger Arbeit, die so hart ist, daß man sich wundern muß, wie sich täglich Tausende für den geringen Lohn herandrängen können, wird bezahlt. In einer halben Stunde ist dies abgethan. Bevor man aber die Arbeiter aus den Docks hinausläßt, werden sie noch ausgesucht, ob sie sich nicht widerrechtlich etwas angeeignet hätten. Die größten Reichthümer liegen in den Docks, und die ärmsten Menschen arbeiten in denselben, und doch ist es statistisch erwiesen, daß unter ihnen monatlich kaum[WS 1] achtmal ein Diebstahl und jährlich kaum dreißigmal Trunkenheit vorkommt, obwohl alle Arten von Getränken massenhaft hier aufgespeichert sind.

An dem Thore der Docks sitzt eine Art von Restaurant, der geringe und schlechte Nahrung verkauft, während die harte Arbeit doch die beste erfordern würde. Einige der Arbeiter nehmen nur um einen Penny oder einige Pence, andere verzehren im quälenden Heißhunger ihre ganze Einnahme und zwar mancher schon im Voraus auf Borg, so daß, wenn sie sich den ganzen Tag todtmüde und wieder hungrig gearbeitet haben, sie das eingekommene Geld für die bereits genossene Nahrung hingeben müssen und für die Nacht gewöhnlich nicht mehr die drei Pence besitzen, um in einem Lodging house (Logirhause) Aufnahme zu finden. Dann bleibt ihnen nichts übrig, als unter einer Brücke, auf dem schmutzigen Stroh eines Marktes, auf den Stufen eines öffentlichen Gebäudes oder auf der Bank eines Parks zu übernachten. Bemerkenswerth dürfte noch sein, daß dieser Restaurant fast nie betrogen oder bestohlen wird.

In London befinden sich aber sechs Docks und alle beschäftigen eine größere oder geringere Anzahl von Menschen, so daß man zwanzig- bis dreißigtausend Arbeiter dafür annehmen darf, wovon jedoch nur drei- bis viertausend permanent sind. Dazu kommen dann noch alle diejenigen, welche an den Werften zu thun oder überhaupt für die Schiffe zu arbeiten haben, die zusammen wohl mehr als dreißigtausend Köpfe ausmachen und die nun alle bei widrigen Winden, welche oft vierzehn Tage bis drei Wochen anhalten, mehr oder minder mit ihren Familien außer Verdienst gesetzt sind, so daß sich dann die Noth auf Hunderttausende erstreckt. Werden aber die Winde wieder günstig, dann laufen oft fünf- bis achthundert Schiffe auf einmal ein, und nun zieht die große und dringende Nachfrage nach Arbeitern, da jeder Eigenthümer seine Waaren so schnell als möglich an’s Land gebracht wissen will, aus der Nachbarschaft Londons ganze Schaaren von Menschen herbei, die nach kurzer Zeit wieder beschäftigungslos sind und dann den Vagabundismus und das Elend in der Hauptstadt vermehren helfen. Das Leben dieser Leute ist auf diese Weise auf den Zufall gestellt, eine Regelmäßigkeit in demselben wird durch die Unregelmäßigkeit der Einnahme zur Unmöglichkeit gemacht, und so geschieht es, daß sich dieser Classe der Bevölkerung der größte Leichtsinn bemächtigt. Sobald ein Genuß möglich ist, wird er bis auf die Neige ausgebeutet, um das unter einem unabwendbaren schrecklichen Verhängniß gedrückte und verzweiflungsvolle Bewußtsein zu betäuben. Es erweist sich statistisch, daß gerade in den Jahren der Noth die Consumtion des Branntweins steigt. Ueberhaupt ist der Verbrauch von Bier und spirituösen Getränken im vereinigten Königreich Großbritannien ungeheuer. Im Jahre 1843 betrug die dadurch erzielte Einnahme einige Millionen Pfund mehr, als die gesammten Staatseinnahmen, nämlich etwa fünfundsechszig Millionen Pfund, das ist siebenhundertundachtzig Millionen Gulden.

Bei dem großen Nothstand einer so zahlreichen Menge der Bevölkerung ist es wohl begreiflich, wie in London eine ganze Armee von gefährlichem Gesindel sich zusammenhäufen muß. Das äußerste Elend treibt wie mit Naturnothwendigkeit zum Laster und Verbrechen. Die Zahl der notorischen Diebe wurde im Jahre 1852 auf achttausend berechnet, dazu kommen aber noch vierzig- bis fünfzigtausend Leute, auf welche die Polizei ihre Aufmerksamkeit richten mußte. Wenn trotzdem die Masse des gestohlenen Gutes im Jahre 1853 nur auf einen Werth von etwa zweiundvierzigtausend Pfund sich beziffert, so ist dies vor Allem den trefflichen Sicherheitsmaßregeln zu verdanken. Seitdem ist mit der wachsenden Bevölkerung und der noch größer gewordenen Armuth die Zahl der Verbrecher und die Summe des gestohlenen Gutes wohl entsprechend gestiegen.

Die Londoner Diebe bilden einen Staat im Staat, sie sind ein Volk für sich, welches allen Besitzenden einen unversöhnlichen Krieg geschworen hat. Ein englischer Geistlicher, der viel mit ihnen verkehrte, weil er ihre Seelsorge übernommen hatte, theilte einige interessante Züge aus ihrem Leben mit. Darnach sind sie vollkommen organisirt und bewohnen besondere Quartiere, nicht selten sind drei bis vier zusammenstoßende Gassen und Winkel von ihnen besetzt. Sie zahlen gut und regelmäßig und halten fest zusammen. Ihre Wohnungen sind bei Weitem nicht so schmutzig und herabgekommen, wie man erwarten könnte. Sie benehmen sich hier ziemlich ruhig und ordentlich, denn sie halten es nicht für vortheilhaft, auf ihren eigenen Territorien Lärm und Aufsehen zu erregen. Eine ganze Colonie von Dieben nistet sich oft unter ehrlichen Leuten ein, und diese erfahren nicht eher etwas davon, als bis die Polizei eine Razzia veranstaltet. Sie haben ihre besonderen Schenken und Gasthäuser, ihre eigenen Kaufläden und Handelsleute, ja sogar ihre Statuten, wonach sie in höhere und niedere Classen sich ordnen. Wie sie eine eigene Sprache für sich haben, in welcher, wohl nicht ohne Absicht, kein Verbrechen mit seinem wahren Namen bezeichnet, sondern immer umschrieben wird, so daß es scheint, als verbänden sie gar nicht den Begriff des Verbrechens mit ihren Handlungen und wollten sie denen, die sich ihrem Handwerk als Neulinge widmen, einen solchen von diesem gar nicht aufkommen lassen, so circulirt unter ihnen auch eine besonders für sie berechnete Literatur, voll der gröbsten Obscönitäten und mit der Verherrlichung kühner Räuber und Diebe.

Weiter haben sie ihre eigenen Lieder, gemein und oft sinnlos; ihre Theater, die sogenannten Penny-gaffs, mit Darstellungen, welche die ganze Natur demoralisiren. Jedes Sittlichkeits- und Rechtsgefühl wird auf solche Weise ihnen mit den Wurzeln ausgerissen. Auch eine eigene Gebehrden- und Zeichensprache besitzen sie, die nur sie allein verstehen. Manche ihrer Gebehrden, die einem Passanten nichtssagend scheinen, würde ihn erschrecken, wenn er ihren Sinn verstände. Mit diesen Mitteln wandern sie im ganzen Lande umher und machen sich einander leicht erkennbar, so daß sie überall Aufnahme und Verpflegung unter Genossen finden, auch wenn sie zum ersten Mal in eine Stadt kommen. Selbst vom Schaffot herab geben sie ihren Mitschuldigen noch vielsagende Zeichen.

Kommt einer von ihnen aus dem Gefängniß oder aus der Strafcolonie, so wird er mit Allem, was er dringend nöthig hat, cameradschaftlich versorgt, bis er wieder selbst sein Geschäft in die Hand nehmen kann. Der erste Genuß der Freiheit wird wieder [202] zur Einladung, ja zu einer Nöthigung zum Verbrechen. Sie sagen: was soll ich für wenige Schillinge wöchentlich arbeiten, da ich mir durch Stehlen leicht fünf Pfund Sterling erwerben kann? Sie helfen ihren Kranken, begraben ihre Todten, sorgen für die hinterlassenen Kinder eingesperrter oder verstorbener Freunde. Unter sich halten sie einen gewissen Codex der Ehre aufrecht und opfern den Regeln desselben unter Umständen das Leben. Thaten der Liebe und Aufopferung sind unter ihnen nicht selten. Ihr Dasein verfließt unter beständiger Furcht und Aufregung, weil sie sich niemals sicher fühlen. Daher wechseln sie auch immer mit ihren Quartieren, namentlich wenn in einem, das sie bewohnen, ein Verbrechen vorgefallen ist.

Die Zeit, wo sie nicht auf ihre Arbeit ausgehen, verbringen sie mit Spielen, Rauchen, Trinken und Anhören der Abenteuer ihrer Cameraden. Der professionsmäßige Dieb aber betrinkt sich selten, weil er weiß, daß sein Gewerbe die größte Vorsicht und Thatkraft erheischt. Viele von ihnen sind das Opfer der Verhältnisse, wenige haben ein verbrecherisches Leben aus eigener Wahl angenommen; denn schon als Kinder wurden sie auf diese Bahn geführt. Verlassen von ihren Eltern, fielen sie nicht selten in die Hände sogenannter Diebszüchter, welche sie anfänglich erhielten, im Stehlen unterrichteten und dann auf Beute ausschickten. Aber auch Eltern selbst geben nicht selten ihren Kindern Anleitung zum Verbrechen und Laster, indem sie dieselben auf die Straßen jagen und nicht eher wieder zu Hause einlassen, als bis sie eine gewisse Summe Geldes mitbringen. Bei der eben erwähnten gewerbsmäßigen Ausbildung der Kinder zum Diebstahl durch ältere Diebe sollen jenen zuerst angekleidete Puppen, gleich den Modellpuppen der Maler, vorgestellt werden, um daran ihre ersten Uebungen zu machen; dann lassen die Meister an sich selbst die eingelehrten Diebskünste vornehmen, und erscheinen nun die Kinder gewandt genug, so müssen sie endlich dieselben auf den Straßen prakticiren, wobei sie die erste Zeit von ihren Lehrern überwacht werden, denen sie auch für ihren Unterhalt den Löwentheil der Beute abzuliefern haben.

Dickens hat im Oliver Twist, wo er von solchen unglücklichen Knaben erzählt, die im Dienst eines alten Gauners stehlen müssen, nur wirkliche Verhältnisse dargestellt. So wachsen manche Kinder ganz in verbrecherischen Anschauungen, Neigungen und Thaten heran als ein Material für das Gefängniß und Schaffot. Alle ihre Gefühle sind verwildert; der Geistliche, der sich ihrer annehmen will, erscheint ihnen als Heuchler, die Richter und Obrigkeit als Tyrannen, die anständige Menschheit als ihr ärgster Feind. Dieser traurige Skepticismus an der Wahrheit, Ehrenhaftigkeit und Güte der menschlichen Natur ist von höchstem Einfluß auf ihr verbrecherisches Treiben und kaum zu besiegen. Er stachelt sie zu einem wilden Zorn gegen alle Besitzenden. Hat aber ein Geistlicher einmal das Vertrauen und die Liebe dieser Elenden gewonnen, weil er ihrer Noth und Verzweiflung sich werkthätig angenommen, dann würden sie Alles eher ertragen, als daß ihm unter ihnen ein Leid geschähe.

„Niemals,“ erzählt der oben erwähnte Geistliche, „habe ich von einem Diebe, selbst wenn er betrunken war, ein unschönes Wort erhalten. Im Gegentheil, wenn ich mitten in der Nacht durch ihre Gassen wanderte, so wäre ich vollkommen sicher und würde es mir von allen Seiten entgegentönen: Dort geht unser Freund, der Diener Gottes, unser Pfarrer – Gott segne ihn! Und selbst wenn ein Dieb, der mich nicht kennt, mich berauben würde, die anderen würden mir alsbald mein Eigenthum wieder zurückstellen.“

Die Londoner Diebe haben unter sich das Princip der Arbeitstheilung aufgenommen, so daß jede Classe derselben nur einen bestimmten Zweig des großen und alten Handwerks cultivirt, worin sie es aber dann auch zur höchsten Virtuosität bringt. In dem Lande, wo z. B. das Uhrmachergewerbe sich in einhundertundzwei Abtheilungen spaltet, von denen jede besondere Arbeiter beschäftigt, kann es wohl nicht anders sein. Die Mitglieder einer einzelnen Diebssection sind mit einander genau bekannt und haben innerhalb der allgemeinen Gaunersprache wieder ihre besonderen Idiome. Machen wir uns mit diesen Sectionen etwas bekannt.

Da stehen in erster Reihe diejenigen, welche mit Gewalt plündern, indem sie entweder in die Häuser einbrechen (cracksmen) oder die Leute auf offener Straße (rampsmen) oder in Gemeinschaft mit schlechten Weibspersonen ausrauben (bludgers oder stick-slingers). In die zweite Classe dieser Section gehören die Garotters, welche vor einigen Jahren ganz London in Schrecken versetzten, jetzt aber nicht mehr so brutal auftreten. Sie überfielen gewöhnlich zu drei Mann, jeder bewaffnet und mit einer Kreppmaske verhüllt, den Wanderer bei Tag und Nacht. Der erste betäubte ihn durch einen Schlag, der andere hielt ihm die Kehle zu, daß er nicht Lärm machen konnte, der dritte bemächtigte sich rasch seiner Werthsachen. Aber ein solch’ unerbetenes Kleeblatt erschien oft auch mitten in der Nacht vor dem Bette eines sorglosen Schläfers, schlug und knebelte ihn und raubte dann seine Wohnung aus. Selbst in den ersten Hôtels sollen sich solche Besucher bei den Fremden eingefunden haben. Die Diebe dieser ersten Section müssen kräftige Männer sein. Darauf kommen die, welche denen, die ausgeraubt werden sollen, zuerst starkes Getränke beibringen und dann die Berauschten ausplündern (drummers und bug hunters). Zu diesem Zweig des Geschäfts bedarf es vor Allem einer gewissen vertrauenerweckenden Umgänglichkeit und Suada. Die dritte Section, die sich wieder in mehrere Classen sondert, wird von denen gebildet, welche heimlich stehlen. Für sie ist vor Allem Schlauheit, Geschicklichkeit und Schnelligkeit der Hand ein Erforderniß.

Hieher gehören nun die mobsmen oder swell-mobsmen, welche bei einem Menschengedränge, wie in einer Kirche, in einem Omnibus etc. stehlen und wovon die einen, die buzzers oder buz-nappers, die Taschen der Herren, die andern, wires, die der Frauen auf’s Korn nehmen. Diejenigen, welche es vorzugsweise auf Nadeln und Brochen oder auf Taschenuhren abgesehen haben, begründen wieder neue Unterabtheilungen, die prop-nailers und thumble-screwers. Die zweite Classe der dritten Section sind die shop-lifters, welche aus Gold- und Silber- und Juwelenläden stehlen; die dritte bilden die sneaksmen, kleine Diebe, die sich mit irgend einem Gegenstande fortschleichen. Wenn sie sich mit Gütern, die auf Karren und Kutschen liegen, wegschleichen, heißen sie drag-sneaks; wenn sie unter dem Thor eines Hôtels schlafen, um am nächsten Morgen mit dem Gepäck eines Reisenden, das vielleicht einen Moment unbewacht blieb, zu verschwinden, sind es die snoozers etc. Diese Classe verzweigt sich sehr, denn sie umfaßt Alle, die etwas wegstibitzen, seien es Kleider, die an Zäunen aufgehängt sind, seien es Nahrungsmittel aus den Verkaufsbuden, seien es Thiere, Hunde, Katzen, Vögel u. dgl. – Auch die Weiber und Buben, welche den Kindern anständiger Leute ihre Kleider, ihre Ohrringe und was sie sonst Werthvolles bei sich tragen, abnehmen, gehören hieher. Eine vierte Section sind die sogenannten Vertrauensbrecher, d. h. diejenigen, welche anvertraute Gegenstände veruntreuen, z. B. unehrliche Dienstboten, welche Diebe in die Wohnung der Herrschaft einlassen; Leute, welche Geldbriefe unterschlagen etc. Eine fünfte Section besteht aus den sho-ful-men, denjenigen, die durch Copien stehlen, wie die Falschmünzer, die Betrüger in Wechseln und Noten. Und endlich die sechste Section bilden diejenigen, die von den Dieben leben, indem sie, wie die fences, gestohlenes Gut kaufen oder, wie die coiners, falsches Geld ausgeben.

Diese Theilung ihrer Arbeit mag wohl die Ursache sein, daß die Londoner Diebe die ersten der Welt sind; es giebt kaum eine Unternehmung, die sie nicht wagten, kaum eine Sicherung, die sie nicht illusorisch machten. Sie bilden ihre Geschäftszweige mit derselben Feinheit aus, wie die ehrlichen Leute die ihrigen, und erwägen mir gleicher Umsicht wie diese alle Chancen des Gewinns. Die sogenannten ticket of leave-men, d. h. jene Verbrecher, die nach einigen Jahren guter Aufführung in den Strafcolonien einen Nachlaß ihrer Strafzeit erlangen und in die Heimath zurückkehren dürfen, verstärken besonders das Contingent der gewaltsamen Diebe. Da sie schwer Arbeit finden, sind sie gewöhnlich genöthigt, ihr altes Gewerbe wieder aufzunehmen. Aber nicht nur Männer, auch Weiber betheiligen sich an Verbrechen und zwar nicht selten an den allerschwersten. –

Mayhew, welcher nicht blos um die Erforschung der Nachtseiten der Londoner Gesellschaft, sondern auch um die Hebung des materiellen und moralischen Zustandes der niederen Classen viele Verdienste sich erworben hat, veranstaltete einmal ein Diebsmeeting. Er miethete zu diesem Zweck ein großes Schulzimmer und ließ an junge Diebe und Vaganten Eintrittbillets vertheilen. Bedingung für die Zulassung war, daß sie Vaganten und nicht über zwanzig Jahre alt seien. Es kamen ihrer hundertfünfzig. Sie waren [203] schon alle eine Stunde vor dem anberaumten Termin da. Nicht leicht war mehr Schmutz, lumpige Kleidung und Elend beisammen gesehen worden. Einige waren junge Männer, andere wahre Kinder, nur sechs Jahre alt. In Haltung und Aussehen waren sie sehr verschieden. Manche sahen gut und frisch, wie Knaben aus anständigen Familien, aus; andere trugen die Spuren aller Laster auf den Zügen. Anfangs war ihr Benehmen sehr unordentlich. Wüstes Geschrei, Flüche, Katzengeheul, Hundegebell – kurz jede Art von Tönen ließ sich hören. Neunzehn hatten ihre Eltern noch, neununddreißig nur noch den Vater, achtzig waren Doppelwaisen. Fünfzig waren professionirte Bettler, sechsundsechzig notorische Gewohnheitsdiebe. Als eine nähere Untersuchung ergab, daß die meisten Diebe waren, erhob sich ein ungeheurer Applaus. Viele waren bereits im Gefängniß gewesen und zwar schon mehrmals; darunter fünf zwanzigmal, sechs vierundzwanzigmal, einer neunundzwanzigmal.

Je öfter einer im Gefängniß gewesen, desto größeren Beifall spendete ihm die Versammlung. Als ein neunzehnjähriger Bursche erklärte, daß er schon neunundzwanzigmal eingesperrt gewesen sei, brach ein wahrer Sturm des Beifalls, ein dröhnendes Bravo, vermischt mit Händeklatschen und Katzengeschrei, los. Viele bekannten, daß sie von ihren Eltern zum Stehlen abgerichtet oder daß sie in Lodging-Häusern zu Dieben gemacht worden seien. Dreiundsechzig konnten lesen und schreiben, und gerade diese waren der Mehrzahl nach Diebe. Fünfzig erklärten, sie hätten die vulgären Diebsgeschichten und den Kalender von Newgate gelesen, und viele aus diesen betheuerten, daß gerade diese Lectüre sie zum Diebsleben verführt habe. Als sie gefragt wurden, was sie von dem berüchtigten Räuber Jack Sheppard hielten und ob sie sein möchten wie er, hieß es: Ja, wenn die Zeiten wie damals wären. Auf die weitere Frage, ob der Anblick von Hinrichtungen auf sie keinen abschreckenden Eindruck gemacht hätte, erklärten sie, nur das erste Mal, bei oftmaligem Sehen hätten sie sich ganz daran gewöhnt.

Einige mußten auf einen erhöhten Platz steigen und ihre Lebensgeschichte erzählen. So oft nun einer seine Diebereien berichtete, riefen die Andern: Schön, sehr gut! Sobald aber einer bekannte, daß er in den Logir-Häusern zum Fall gebracht worden sei, wurde ihm gedroht und zugerufen, er solle schweigen. Alle gestanden, unglücklich zu sein und an ihrer Lage keinen Gefallen zu finden. Mayhew richtete darum die Frage an sie, ob sie ihr gegenwärtiges Leben verlassen wollten. Einstimmig wurde mit Ja erwidert. Und als er constatirte, daß ihr Unglück aus den Lodging-Häusern stamme, gaben sie es Alle zu. Hierauf wurde darüber berathen, wie ihnen geholfen werden könne.

Zuletzt machte Mayhew ein Experiment, indem er ihnen erzählte, daß er schon oft alte notorische Diebe bei sich empfangen habe und daß ihm auch nicht um sechs Pence Werth weggekommen sei. Einmal hätte er einem Dieb einen Sovereign gegeben, um ihn wechseln zu lassen, und dieser habe das Geld wirklich zurückgebracht. Er frug sie nun, ob sie in gleicher Weise handeln wollten. Einige riefen, sie wollten es, Andere, sie wollten es nicht; und wieder Andere, sie wollten es nur ihm, aber keinem Andern. – Darauf gab Mayhew einem Buben von dem schlechtesten Aussehen, welcher bereits sechsundzwanzigmal abgestraft worden war, einen Sovereign, damit er ihn wechseln lasse. Zugleich wurde ihm versichert, daß, wenn er mit demselben entfliehe, ihm kein Leids geschehen solle. Kaum, daß er einige Minuten abwesend war, richteten sich schon Aller Augen gegen die Thür, ängstlich wartend, daß er zurückkomme und die Treue bewähre. Alle fühlten, daß ihre Ehre auf dem Spiele stehe, und Einige erklärten, sie würden den Buben tödten, wenn er nicht zurückkäme. Einige Minuten verstrichen in peinvoller Erwartung, und man begann bereits sein Ausbleiben zu fürchten. Endlich kam er – und nun brach die Freude der Anderen in lauten Jubel aus und sie trugen ihn triumphirend auf die Emporbühne.

Eng an die Diebe reihen sich die professionsmäßigen Bettler an, welche gewöhnlich kleine Entwendungen und Betrügereien nicht verschmähen. Sie ziehen im ganzen Lande umher – Mayhew giebt die Zahl der ständigen Vaganten beiderlei Geschlechts in England und Wales auf hundertzehntausend an. Sie bedecken alle Straßen und bringen mit sich eine Fluth von Unreinlichkeit Immoralität und ansteckenden Krankheiten. Den Tag über betteln sie, Nachts suchen sie ein Workhouse (Arbeitshaus) auf, wo sie zwischen sechs bis zehn Uhr Abends zugelassen werden und diejenigen, welche vor neun Uhr kommen, auch noch Brod und Milchsuppe bekommen. Am anderen Morgen erhalten sie dasselbe zum Frühstück, wenn sie dafür drei Stunden arbeiten wollen. Wegen des Ungeziefers, mit dem sie gewöhnlich bedeckt sind, kann man ihnen nur selten ein Bett geben. In einigen Landstrichen bestehen diese Vaganten zu gleichen Theilen aus Engländern und Irländern, in andern bilden die letzteren zwei Drittel. Einige von ihnen treten hie und da anständig gekleidet auf, und die Lumpen, welche ihre Weiber als Reisebagage mitschleppen müssen, werden erst dann angezogen, wenn sie einem Orte nahe kommen, wo sie betteln wollen. Sie erkundigen sich überall nach den wohlhabenden Leuten, nach ihren Gewohnheiten und Sympathien, endlich auch nach ihren Verwandten, um sich bei ihnen als gute Freunde derselben einzuführen, wodurch mitunter eine gute Beute abfällt. An den Hausthüren, wo sie gebettelt oder gestohlen haben, schreiben sie dem Uneingeweihten unverständliche Hieroglyphen an, die aber den später kommenden Genossen sagen, welch’ eine Art von Geschäft hier zu machen sei.




Hebel’s Vreneli.

 Hans und Verene.

Es gfallt mer numme eini,
Und selli gfallt mer gwis!
O wenni doch das Meidli hätt,
Es isch so flink und dundersnett,

5
     so dundersnett,

I wär im Paredies!

’s isch wohr, das Meidli gfallt mer,
Und ’s Meidli hätti gern!
’s het alliwil e frohe Mueth,

10
E Gsichtli hets wie Milch und Bluet,

     wie Milch und Bluet,
Und Auge wie ne Stern.

Und wenni ’s sieh vo witem,
Se stiigt mer’s Blut ins Gsicht;

15
Es wird mer übers Herz so chnapp,

Und ’s Wasser lauft mer d’Backen ab,
     wohl d’Backen ab,
weiß nit, wie mer gschicht.

Am Zistig früeih bi’m Brunne,

20
Se redt’s mi frei no a:

„Chumm, lüpf mer, Hans! Was fehlt der echt?
Es ist der näume gar nit recht,
     nei gar nicht recht!“
I denk mi Lebtig dra.

25
I ha ’s em solle sage,

Und hätti’s numme gseit!
Und wenni numme riicher wär,
Und wär mer nit mi Herz so schwer,
     mi Herz so schwer,

30
’s gäb wieder Glegeheit.


Und uf und furt, jez gangi,
’s wird jäten im Salat,
Und sag em’s, wenni näume cha,
Und luegt es mi nit fründli a,

35
     nit fründli a,

So bini morn Soldat.

En arme Kerli bini,
Arm bini, sell isch wohr.
Doch hani no nüt Unrechts tho,

40
Und sufer gwachse wäri jo,

     das wäri scho,
Mit sellem hätts ke G’fohr.

Was wisplet in de Hürste,
Was rüehrt sie echterst dört?

45
Es visperlet, es ruuscht im Laub.

O bhüetis Gott der Her, i glaub,
     i glaub, i glaub,
Es het mi näumer ghört.

[204]

„Do bini so, do hesch mi,

50
Un wenn de mi denn witt!

I ha’s scho siderm Spöthlig gmerkt’,
Am Zistig hesch mi völlig bstärkt,
     jo, völlig bstärkt.
Und worum seischs denn nit?

55
Und bisch nit riich an Gülte,

Und bisch nit riich an Gold,
En ehrli Gmüeth isch über Geld,
Und schaffe chasch in Hus und Feld
     in Hus und Feld,

60
Und lueg, i bi der hold!“


O Vreneli, was seisch mer,
O Vreneli, isch so?
De hesch mi usem Fegfüür gholt,
Und länger hätti ’s nümme tolt,

65
     net, nümme toll.

Jo frili willi, jo!



Hebel und Vreneli.
Nach einer älteren Handzeichnung


Jedes Gedicht hat seine Geschichte. Dieselbe bildet zugleich den besten Commentar für die poetische Schöpfung und lehrt sie erst recht verstehen, indem sie uns in die Umgebung des Dichters führt und uns mit den Verhältnissen bekannt macht, unter deren Anregung und Einflüssen das Werk entstanden ist. Ohne dem idealen Elemente Eintrag zu thun, lassen diese Grundlagen des Dichters idealisrende Macht in ihrem wahren Lichte erkennen und seine Schöpferkraft beurtheilen. Ein freundlicher Zufall wirft oft dem Dichter eine Thatsache, einen Gegenstand in den Weg, welchen er rasch erfaßt und in seiner Weise gestaltet. Diesen Stoff in seiner ursprünglichen Form kennen zu lernen, maß das Bestreben jedes Freundes der Poesie sein, besonders wenn er einen Volks- und Dialektdichter liest, welchem das alltägliche Leben reichen Stoff, ungesucht, wie in einem erleuchtenden Blitzstrahl, entgegensendet.

Das hier Gesagte findet seine volle Anwendung auf obiges Gedicht Hebel’s, des bekannten Verfassers der herzigen anmuthig- schalkhaften „Alemannischen Gedichte“ und des noch heute unübertroffenen Volksbuchs „Das Schatzkästlein des rheinländischen Hausfreunds“, denn da ist nichts Gesuchtes, nichts künstlich Gemachtes, nichts ängstlich Erwartetes oder Vorbedachtes: seine Gedichte sind vielmehr, um sein eigenes Wort zu gebrauchen, „Fündli“, die ihn der Augenblick thun ließ, und ein solches „Fündli“ (kleiner Fund) ist denn auch sein Gedicht „Hans und Verene“. Das zu erzählen, mit möglichster Auseinanderhaltung von Dichtung und Wahrheit, sei hier unsere Aufgabe.

Es lebte in Karlsruhe ein vielfach noch in schönem Andenken stehender Privatmann von tiefem Gemüth und wissenschaftlichem Sinn, Herr Emil Groos, welcher auf einem seiner Morgenspaziergänge in der Umgebung von Karlsruhe einst einer muntern lebhaften alten Frau begegnete, welche auf ihn einen so freundlichen Eindruck machte, daß er sich mit ihr in ein Gespräch einließ. Das einnehmende Wesen des Herrn gewann auch das Vertrauen der ohnehin schon gesprächigen und mittheilsamen Frau; sie erzählte ihm Züge aus ihrem Leben, und so erfuhr Herr Groos zu seiner freudigen Ueberraschung, daß er das Urbild von Hebel's Vreneli vor sich habe. Dieser Zufall ist besonders hervorzuheben weil er den Anlaß gab, daß diese Thatsache, welche nur in engeren Kreisen bekannt war, in das volle Licht der Oeffentlichkeit trat; denn Herr Groos machte alsbald weitere Mittheilung von seiner unverhofften Entdeckung, und einer seiner Freunde, der bekannte Literaturhistoriker Heinrich Kurz, gab ihr journalistische Verbreitung. Seine Mittheilung erschien auch in der Karlsruher Zeitung 1856 Nr. 219, im Frühling desselben Jahres, in welchem in Baden ein Hebel-Cultus begann, indem am 29. November eine Abendunterhaltung im Karlsruher Museum stattfand, um Beiträge für das in Schwetzingen auf Hebel’s Grab zu setzende Denkmal zu [205] gewinnen, und am 10. Mai 1860 die große Feier des hundertjährigen Geburtsfestes Hebel’s im Großherzoglichen Hoftheater begangen wurde. Diese Zeit nun war zugleich auch begleitet von einem freundlichen Abendroth für Vreneli, indem auch sie die Theilnahme des Publicums bei dieser Gelegenheit anregte.

Ihr Name war Veronika Rohrer. Sie war geboren in dem durch seine Erdmannshöhle bekannten Dorfe Hasel bei Schopfheim, also in der Nachbarschaft des Geburtsortes Hebel’s, Hausen.

Vreneli als Greisin.
Nach dem einzigen existirenden Portrait im Besitz des Hofbuchhändlers Müller in Karlsruhe.

Ihre Mutter hieß Geiger und war eine Arbeiterin; die Tochter Veronika war die Frucht eines Verhältnisses mit einem adeligen Herrn, welcher frühzeitig starb, ehe er noch, wie er beabsichtigt haben soll, für das Kind gesorgt hatte. Auch die Mutter starb früh, und das Kind kam unter fremde Leute.

Hebel lernte sie in folgender Weise kennen. Man erzählt sich, er sei in einem Oberländer Orte (man nennt Kirchen bei Lörrach) zum Mittagstisch bei einem Herrn Pfarrer Mylius zu Gaste gewesen, wo Vreneli sich in jener Eigenschaft befunden habe, welche die Mitte hält zwischen einer Pflegetochter und einem Dienstmädchen: das „sufere, flinke und dundersnette Meidli“ machte einen so angenehmen Eindruck auf Hebel, daß er in seiner guten Tischlaune alsbald obiges Gedicht improvisirte, welches dem Herrn Pfarrer Mylius selbst so gefiel, daß er auch der Veranlasserin desselben die Freude es anzuhören machen wollte, und Vreneli hereinrief, worauf Hebel das Gedicht ihr vortrug. Ob das Gedicht dieselbe Form hatte, wie es jetzt vor uns liegt, wollen wir nicht untersuchen, es wird zu viel behauptet sein, daß Hebel unter dem Namen Hans sich selbst gemeint habe, da er selbst ja Johann Peter hieß, indem das Gedicht gegen den Schluß eine ganz andere als auf Hebel bezügliche Richtung nimmt. Eine mündliche Tradition behauptet, daß damals schon Vreneli ihren späteren Mann, den Küfer und Bierbrauer Rohrer von Grünwettersbach bei Durlach, gekannt habe. Derselbe sei damals im Oberlande auf der Wanderschaft gewesen und habe oft dem Vreneli am Brunnen beim Wasserholen geholfen. Nach anderen Berichten folgte Vreneli der Pfarrersfamilie bei ihrer Versetzung in das badische Unterland und heirathete 1824 in Grünwettersbach den Rohrer. Es lassen sich leicht beide Angaben vereinigen.

„Du hesch mi us em Feg’füür g’holt!“ konnte Vreneli nach ihrer Verheirathung nicht sagen, sondern im Gegentheil, sie kam durch diese Ehe in’s Fegefeuer; denn Rohrer zeigte sich während derselben als ein Mann, wie ihn Hebel in seinem kleinen Gedicht „Auf den Tod eines Zechers“ schilderte „Si allerliebste Kumpani sin allewil d’drei König gsi,“ d. h. er war ein Trinker und roher Mensch, der seine Frau mißhandelte. „Zwölf johr und zwölf Chrütz! Chumm Schueflebne, schuefele mi abe!“ hätte Vreneli ähnlich dem Kätterli im „Karfunkel“ rufen können. Sie wurde von dem rohen Manne körperlich mißhandelt; ihr wurde der rechte Arm verletzt, und sie mußte sich einst vor seinen drohenden Gewaltthaten durch einen Sprung aus dem Fenster retten, wobei sie sich so verletzte, daß sie für die übrige Lebenszeit an einem Fuße etwas hinkte. Daß es unter solchen Verhältnissen mit dem Haushalte des Ehepaars zurückging, läßt sich denken. Wenn auch die Frau nach Hebel’s Vorschrift „de rothe Chrützere“ nachging, so konnte sie doch nicht „zum Gulde cho“, weil der böse Mann im Wege stand. Als dieser endlich 1836 starb, so hinterließ er ihr nichts als eine verschuldete Wohnung; die Wittwe arbeitete fleißig, spann, sammelte Blumen, die sie in die Stadt trug, wobei sie sich besonders durch geschmackvolles Ordnen und Binden ihrer Bouquets auszeichnete, verkaufte Obst, that Gänge, kurz suchte sich durch ihrer Hände Arbeit ehrlich durchzubringen, auch erhielt sie Unterstützung aus dem kleinen Kreis ihrer Freunde, welchen sie als Hebel’s Vreneli schon bekannt war, und unterdenen auch die verstorbene Großherzogin Sophie und die verwittwete Fürstin von Fürstenberg sich befanden. Sie soll sich in dieser Zeit sehr liebevoll und freigebig gegen die Verwandten ihres verstorbenen Mannes gezeigt haben. Aber mit der Zeit machte das Alter unerbittlich seine strengen Rechte geltend: mit dem Spinnen wollte es nicht mehr so rasch geben, Verlegenheiten und Mangel fingen an sich einzustellen, und zuletzt wurde der armen Frau auf Antrag des Gläubigers die Wohnung verkauft. Diese letzte Maßregel besonders erfüllte sie, bei aller sonstigen Gutmütigkeit, mit einem bittern Gefühl, und sie äußerte sich hierüber noch in späteren Tagen mit einer gewissen Erregung, da von dieser Zeit an die Zerrütttung ihrer Verhältnisse sich immer fühlbarer machte. In dieser Lage befand sie sich, als die oben erwähnte Begegnung mit ihren wohlthätigen Folgen stattfand. Die Karlsruher Zeitung fügte nämlich der Veröffentlichung des Aufsatzes von Heinrich Kurz den Aufruf zu einer Sammlung bei, zu welchem Zweck sie ein pfarramtliches Zeugniß des Pfarrers Ph. Müller in Grünwettersbach beigab, worin der Veronika das beste Zeugniß ausgestellt und bestätigt wurde, daß sie der Unterstützung vollständig würdig und bedürftig sei. Das Zeugniß hob besonders hervor, daß sie für ihre Freunde und Wohlthäter stets sehr dankbare Gesinnungen habe, kurz es lautete durchaus vortheilhaft. Mit diesem Schritt in die Oeffentlichkeit brach nun eine [206] bessere Zeit für Veronika an, und man glaubte vielfach, eine Pflicht der Pietät gegen Hebel selbst zu erfüllen, wenn man sich der Frau annahm. Der Name Hebel’s hat mit Recht einen guten Klang in seinem Vaterlande, und es leben noch manche von seinen Schülern, die ihn hoch ehren. Aus den Oberländer Gegenden kamen auch Beiträge zur Sammlung, und so konnte bald eine nicht unbedeutende Summe bei der Sparcasse angelegt werden, von welcher Vreneli, je nach Bedürfniß, von Zeit zu Zeit die zu ihrem Unterhalt nothwendigen Beträge holen konnte. Dazu kam noch ein äußerer Triumph zur Zeit der beiden Festlichkeiten im Museum und im großherzoglichen Hoftheater zu Ehren Hebel’s, da Jedermann gern das Original seines Vreneli gesehen und gehört hätte. Wir sagen gehört; denn das Vreneli hatte Hebel’sche Gedichte im Gedächtniß, ganz besonders natürlich „Hans und Verene“, welche es auf Verlangen im Dialekt hersagte, und so fand es seinen Weg selbst in die Schulen, wo es sich hören ließ. Bei der am 10. Mai 1860 stattfindenden Festvorstellung im großherzoglichen Hoftheater wurden sechs lebende Bilder nach Hebel’s Gedichten aufgeführt, unter ihnen auch „Hans und Verene“, und hierbei hatte das Urbild der Letzteren seinen Ehrenplatz im Publicum zwischen zwei Hofschauspielern. Es bot jene Aufführung das seltene Schauspiel, daß ein idyllischer Dichter und Prälat von der Bühne herab Huldigung empfing.

Dies war der Höhepunkt der Rolle, zu welcher Vreneli in ihrem Alter noch berufen war, auf dem sie jedoch natürlich sich nicht halten konnte; sie verschwindet wieder aus der Oeffentlichkeit, und wir haben nur noch beizufügen, daß sie ihre letzte Zeit im Diakonissenhaus in Karlsruhe zubrachte, wo sie am 8. Januar d. J. starb. Die neue badische Landeszeitung berichtet darüber in folgender Weise.

„Veronica Rohrer aus Grünwettersbach hat das Zeitliche gesegnet. Veronica Rohrer? werden Sie fragen, was ist denn das für eine hervorragende Persönlichkeit? Antwort: Es ist ‚Hebel’s Vreneli‘, land- und stadtbekannt, und der hiesige Liederkranz hat heute Nachmittag über dem geschlossenen Grabe die letzten Klänge der Huldigung für sie in gleichzeitiger freundlicher Erinnerung an unseren großen Volksdichter bei Anwesenheit einer zahlreichen Menge dargebracht. Einundneunzig Jahre waren dem ‚Vreneli’ auf dieser Welt beschieden; möge ihr, der treuen Dulderin, die Erde leicht sein.“

Sie starb an Altersschwäche, 89 (91?) Jahre alt, nachdem sie noch von einem Augenleiden heimgesucht worden war, und liegt auf der Nordostseite des Karlsruher Kirchhofs, in der Nähe des Preußen-Denkmals, begraben. Der Karlsruher Liederkranz, welcher überhaupt seine Pietät für Hebel’s Andenken in rühmlicher Weise stets bethätigt hat, wird ihr ein kleines Denkmal errichten lassen.

„Und’s Deckbett lit der, dick und schwer
In d' Höchi gschüttlet uffem Herz.
Doch schlofsch[WS 2] im Friede, ’s druckt di nit.
Schlof sanft und wohl!“

Dies ist in kurzen Zügen das Lebensbild des „Meidli“, auf welches Hebel die Idylle von der „Einzigen“ gedichtet hat. Die Selige verleugnete noch in ihren alten Tagen, in welchen sie der Verfasser dieses Aufsatzes kennen lernte, die Eigenschaften nicht, welche sie in ihrer Jugend ausgezeichnet und den Dichter für sie eingenommen hatten. Von dem „Dundersnett“ war freilich nichts mehr vorhanden, aber „flink“ war die alte Frau noch. Dabei trug ihr Aeußeres auch noch Spuren von ihrer vornehmen Abkunft an sich; denn sie hatte keine bäurischen Manieren an sich, und in ihrem Benehmen gab sich eine gewisse Gewandtheit und natürliche Gefälligkeit kund, welche man bei Leuten ihres Standes sonst nicht findet. Trotz ihres langen Lebens im Unterlande blieb sie mit Leib und Seele Markgräflerin und entsagte auch dem bekannten markgräfler Häubchen nicht. Freilich trug sie keine „goldige Chappe, mit de lange Zupfen und mit der längere Hoorschnur“, sondern nur ein kleines Häubchen, gerade hinreichend, um ihre Abstammung aus der Oberländer Gegend zu bekunden. Was die alte Frau besonders auszeichnete, war die ungemeine Munterkeit und die sich bis zur Begeisterung steigernde Lebhaftigkeit, wenn von Hebel die Rede war. Dazu kam noch die Ueberzeugung, die sie bei jeder Gelegenheit aussprach, daß der Herr „Prälat“ bei längerem Leben gewiß für sie gesorgt haben würde. Man muß die Frau selbst gesehen und beobachtet haben, um die Meinung Einiger, das Urbild sei nicht echt gewesen, als unrichtig mit Entschiedenheit betrachten zu können.

Das bisher Gesagte giebt uns schon den Fingerzeig zu einer richtigen objectiven Beurtheilung des Verhältnisses Hebel’s zu Vreneli. Wir müssen auch die leichteste Vermuthung einer gewöhnlichen Herzensangelegenheit hier zurückweisen. Hebel blieb zwar unverheirathet, war aber doch ein großer Verehrer des weiblichen Geschlechts und liebte besonders den Umgang mit Künstlerinnen; doch der Sänger des Liedes „Freude in Ehren“ wandelte stets „in der Unschuld G’leit mit Zucht und Sittsamkeit“. Selbst in den reichen Schatz von Anekdoten über ihn findet sich nicht eine, welche einen erotischen Charakter hätte, und Hebel entfernte sich nie über die Grenze der Sittlichkeit und des Anstandes, sondern hielt sich stets dem weiblichen Geschlecht gegenüber bescheiden zurück, ohne seinem Stande etwas zu vergeben, so daß von einem Liebesverhältniß auch hier nicht die Rede sein kann. Diesen Charakter bewahrte auch sein zartes Verhältniß zu Gustave F. Sein Gedicht ist der joviale Erguß eines augenblicklich angeregten Gemüthes, die Schilderung eines angenehmen Eindruckes, den der Dichter selbst wieder im weiteren Verlaufe einem Dritten zuweist. Ueberhaupt hält sich Hebel gern im Hintergrunde, er schickt seine Gestalten vor und tritt bescheiden wieder zurück. Hebel’s Gedichte sind die Erzeugnisse des Heimweh’s, aber dieses Heimweh war kein düsterer, finsterer Geist, der lebensüberdrüssig in tiefem Trübsinn hinbrütete, sondern ein sanfter, stiller Genius, der mit freundlich grüßendem Blick nach dem heimathlichen Thale zurückdeutete: „Dort schwebt mi muntere Blick, und schwebe mini Gidanke.“ Kein anderer Grundton darf in seinen Gedichten gesucht werden, am wenigsten der einer romantischen Liebe!

Für denjenigen Theil des Publicums, welchem Personen und Sache, auch Hebel’s Gedichte besonders um ihres Dialekts willen ferner liegen, wird die hier mitgetheilte anspruchslose Erzählung wenigstens das Interesse haben, daß sie einen neuen Beweis liefert, wie liebliche Jugenderinnerungen eine belebende, verjüngende Kraft haben, daß sie einen verklärenden Schein auf die Schatten des späteren Alters werfen, daß die Jugendideale nicht welken oder sterben und daß die Poesie auch das Geringste und Kleinste zu adeln vermag.




Von den Geheimnissen der Vogelstellerei.

Von Karl und Adolph Müller.
3. Nachtigall und Grasmücke und das Schlaggarn.

Allgemein ist die Klage über Verminderung unserer Nachtigallen. Weniger empfindlich zeigt sich die Abnahme der Bevölkerung dieser edelsten Sänger in den englischen Anlagen, nahe den Städten, wo das Auge der Polizei mit einer Schärfe wacht, welche die List des schlauesten Vogelstellers durchschaut, und die Strafe jeden noch so begierigen Fänger schreckt, so lange das Ehrgefühl nicht unter der Macht seiner Leidenschaft gelitten hat. Aber in Gegenden, wo die diesen eigensinnigen und wählerischen Vögeln zusagenden Oertlichkeiten nur vereinzelt zu finden sind, muß es der Wanderer oder Spaziergänger für ein besonderes Glück halten, wenn ihm Tags oder Abends der unvergleichliche Schlag der Königin des Gesanges zu Ohren dringt. Das Publicum hat eben so sehr ein Recht und Interesse, nach den Ursachen der Entvölkerung zu fragen, als es Pflicht der Naturkundigen ist, dieselben zu erforschen und bekannt zu machen.

Sehen wir uns zunächst in unserer Umgebung um, so finden wir in dem Wegfangen der Nachtigallen einen unverkennbaren Grund ihrer Verminderung. Leichter läßt sich wohl kein Vogel fangen als dieser arglose. Die Vogelhändler durchziehen im Frühjahr von der Mitte des April bis Mai die Thäler, Gärten [207] und Waldheegen und machen ihre Hauptbeute in den Frühstunden des Tages, wo selbst die dem zarten Vogel empfindlichen Nachtfröste den mächtigen Drang des Minneschlags oder der wohlbekannten Paarungsrufe nicht ganz zu bewältigen vermögen. Da der Zug der Nachtigall theils durch den Einfluß der Witterung, theils durch die fesselnde Beschaffenheit der unterwegs besuchten Herbergen unterbrochen wird und die Natur sie überhaupt auf ein Wandern von Strecke zu Strecke angewiesen hat, so läßt es sich denken, daß sie der Gefahr, gefangen zu werden, öfters ausgesetzt ist und manches Männchen in der alten Heimath vergeblich erwartet wird, weil es in dem Käfig oder Tuch eines Vogelhändlers vielleicht hundert Stunden oder Meilen weiter südlich zu Markte getragen wird.

Aber auch das Beschneiden unserer Hecken, das Vorwalten der Nutzen und Gewinn bringenden Behandlung unserer Gärten, das Auslichten der Gehölze, kurz, die ewig Wandlung und Veränderung bewirkende Cultur entfremdet uns die beliebten Sänger in hohem Maße. Verderblicher jedoch, als der Fang und jene örtlichen Störungen oder die gefahrdrohenden Zufälligkeiten und Entbehrungen auf der Wanderung, sind die Nachstellungen von Seiten der Italiener, welche im Herbst, wo der Genuß süßer Früchte die Vögel feist gemacht hat, mit rücksichtsloser Grausamkeit unter vielen anderen Sängern auch eine Menge von Nachtigallen zur Befriedigung des lüsternen Gaumens der Feinschmecker tödten.

Eine Nachtigall zu fangen fällt jedem leicht, der mit einem Schlaggarn umzugehen weiß und sich eines zappelnden Mehlwurms als Lockspeise bedient. Der Erwerbsinn, welcher nichts übersieht, was irgend wie auszubeuten wäre, hat dafür gesorgt, daß in größeren Städten das Schlaggarn in den Handel gekommen ist. Seine Einrichtung beruht auf denselben Grundsätzen, wie diejenige der gewöhnlichsten Art von Mausfallen, welche von umherziehenden Mausfallenkrämern feil geboten werden. Eine gewundene Feder von Draht verursacht das rasche Zuschnellen des in Halbkreisform gebogenen Drahtes, an welchem das Garn mit ziemlich kleinen Maschen befestigt ist. Ohne alle Bedeckung durch Blätter oder Gras stellt man das Schlaggarn mit einem an einem Häkchen mit dem Hintertheil angehängten oder in ein Stellholz geklemmten Mehlwurm da hin, wo sich die Nachtigall gern aufhält. Die beliebte Stelle wird von der Verscheuchten alsbald wieder besucht, wenn man sich in geeignete Entfernung zurückgezogen hat. Ihr scharfes Auge entdeckt unverzüglich den Mehlwurm. Mit vorgestrecktem und schiefgehaltenem Kopf blickt sie gierig hinab, giebt ihre Erregung und freudige Ueberraschung durch ein wie „tack“ klingendes Schnalzen und ein liebliches Knarren, das mit „vit gerr“ bezeichnet werden kann, zu erkennen und hüpft mit gesenkten Flügeln und abwechselnd auf und nieder schlagendem Schwanz von einem Zweig zum anderen zu Boden. Hier angekommen, fällt sie keineswegs ungestüm über den Mehlwurm her, sondern nähert sich ihm in bedächtigen Sprüngen, mit Blicken ihn musternd, welche die Vermuthung geben können, als traue sie nicht recht.

Sie beugt sich dann mit gestrecktem Leibe vor, um sich des Mehlwurms zu bemächtigen, schnappt nach ihm und wird im Nu von dem zuschlagenden Garn bedeckt. Tritt aber der Fall ein, daß das Garn fehlschlägt oder sie in dem Augenblick entschlüpft, wo eine ungeschickte Hand sie aus den Maschen des Netzes befreien will, so weiß sie oft ebenso klug den ferneren Nachstellungen auszuweichen, wie ihrer Vorliebe für Mehlwürmer zu widerstehen. Mit wahrer Verachtung würdigt sie den zappelnden Mehlwurm nunmehr kaum eines Blickes, fängt in der Nähe Spinnen und Käferchen, Fliegen und Nachtschmetterlinge, hüpft vorsichtig um das Netz herum, wendet die dünnen Blätter, Larven suchend, um und widerlegt durchaus den Ruf ihrer Dummdreistigkeit.

Auf Grund dieser letzteren Erfahrung und Beobachtung empfehlen wir den Freunden und Beschützern der Nachtigallen ein Mittel, welches in den meisten Fällen der Absicht entspricht, die Pläne der Vogelsteller zu vereiteln. Sogleich nach der Ankunft fange man die Nachtigall so oft, als sie sich von dem zappelnden Mehlwurm verführen läßt. Viele Nachtigallen meiden nach ein-, höchstens zweimaliger Deckung die Gefahr, und ihre Verfolger werden bald von ihren vergebliche Fangversuchen ablassen. Auch gelingt es nicht selten, eine der Neigung und Lebensweise der Nachtigall entsprechende Oertlichkeit mit diesen Sängern zu bevölkern, wenn man ein auf dem Zuge befindliches Männchen fängt und ihm einige der äußersten Schwungfedern auszieht, wodurch es genöthigt wird, zu bleiben, jedoch in den Stand gesetzt ist, kleine Strecken, wenn immerhin unbeholfen, zu durchfliegen und den Nachstellungen von Seiten der Raubthiere durch genügend raschen Aufschwung vom Boden sich zu entziehen. Gelingt es dem im Gesange dadurch nicht wesentlich gestörten Männchen ein vorüberziehendes Weibchen an sich zu fesseln so ist es besser, als wenn man anderwärts ein solches suchen und wie das Männchen behandeln muß. Die durch dieses Verfahren erzielten Jungen kehren, wenn ihnen kein Unheil in der Fremde oder auf dem Zuge widerfährt, im nächsten Frühjahr wenigstens zum Theil an den Geburtsort zurück.

Im Spätsommer läßt sich die Nachtigall auch mittels rother Hollunderbeeren fangen, obgleich sie dieselben nicht in dem Maße liebt, wie die schwarzköpfige und die graue Grasmücke. Die erstgenannte dieser Grasmücken ist ein allgemein beliebter Stubenvogel und erfährt darum vielerlei Nachstellungen. In den Sprenkel geht sie sehr ungern, und es führt selbst ein längeres „Anpöschen“ des Vogels gewöhnlich nicht zum Ziele. Sobald der Schwarzkopf den Sprenkel bemerkt, stößt er den ihm eigenen Angstton „Döh“ aus, bleibt eine Zeit lang unbeweglich sitzen, als ob ein Raubvogel sich gezeigt hätte, dann aber sträubt er die Federn der schwarzen Kutte und hüpft gätzend um die rothen Beeren, wobei sein Begehren mit dem erregten Mißtrauen kämpft und in den meisten Fällen überwunden wird. Mit sicherem Erfolg wird dagegen das Schlaggarn angewendet, welches jedoch zu diesem Zweck einen Durchmesser von mindestens einem Fuß haben und mit Laub bedeckt werden muß. Ehe aber dasselbe gestellt wird, befestigt man an den Zweigen des Gebüsches den Traubenhollunder und steckt auch ein mit diesem versehenes Stöckchen mit Aestchen, worauf die Vögel Fuß fassen können, in den Erdboden. Hat man so allmählich die Thierchen herabgewöhnt und vertraut gemacht, dann stellt man das Schlaggarn mit dem Hollunderköder, und der Erfolg ist gesichert. Die ganze Schwarzkopffamilie ist übrigens um die Zeit der Reife dieser Beeren noch vereinigt, und wenn man es auf das alte Männchen abgesehen hat, so muß man gewärtig sein, daß ihm ein junger Naseweis zuvorkommt und durch sein Schicksal den zurückhaltenden Vater zur Vorsicht mahnt. Nicht ganz so leicht, aber bei einiger List und Sorgfalt läßt sich die graue Grasmücke in derselben Weise fangen. Sie läßt sich gewöhnlich wie der Schwarzkopf von einem Zweige des Busches nahe der Erde plump auf die Beeren nieder.

Beide Grasmückenarten erscheinen ihrer Lebensweise nach im Spätsommer und Herbste wie umgewandelt. Im Frühling sind sie die flinken, unruhigen, im Gebüsch und auf Bäumen bald in der Tiefe, bald hoch in den Kronen hin und her wandernden Sänger; im Herbst aber ist die Zeit des Fettansatzes und der Trägheit. Treten wir in warmer Mittagsstunde unter einen alten Hollunderbaum, um uns die faule Gesellschaft zu betrachten. Der unkenartige Ton des Schwarzkopfs „Döh“ ist das Erste, was wir vernehmen. Noch liegt der Vogel platt auf dem Bauch und läßt Flügel und Schwanz lose herabhängen. Er kann sich kaum entschließen, sich aus der behaglichen Ruhe zu erheben. Nur langsam hüpft er nach Ausreckung der Glieder von Ast zu Ast weiter. Ihm zur Seite sitzt in gleicher Weise eine graue Grasmücke, über und unter ihm ruhen junge und alte Schwarzköpfe. Junge und alte „Müllerchen“ (klappernde Grasmücken) lugen neugierig herab und gätzen, und an der Außenseite des Baumes, der Sonne zugekehrt, sind der große und der kleine Weidenzeisig mit Familie beschäftigt, Insecten zu fangen und von den Zweigen und Beeren abzulesen und dazwischen eine der letzteren zu verschlucken. Eben läßt sich eine graue Grasmücke vom Nachbarbaume hoch oben auf eine Dolde nieder und zerrt Beeren lüstern los und verschlingt sie in Eile. Ein altes Fitismännchen scheint von Lenz und Liebe zu träumen, den leise entringt sich seiner Kehle die rührende Strophe und noch leiser lispelt der kleine Weidenzeisig sein „Tiltell“. Nach und nach verläßt die ganze Gesellschaft den Baum, da beim Anblick unserer Gestalten es ihr doch allmählich unheimlich geworden ist. Aus der Trägheit gerüttelt, drückt ein ausgemauserter Schwarzkopf seine Belebung durch den überraschenden Ueberschlag aus, der sich aus dem Gezwitscher der jungen melodisch heraushebt.

Aber der eigentliche Beweggrund des Gesanges fehlt - die süße, mächtige Liebe. Aus den jungen Nachtigallen, Schwarzköpfen und grauen Grasmücken, welche man im Herbste fängt oder gar [208] im Sommer aufzieht, wird niemals etwas Bedeutendes. Die Nachtigall erlangt so nun und nimmer den vollendeten Schlag, der sie in der Freiheit so sehr auszeichnet. Der junge Schwarzkopf bringt es gewöhnlich weiter, weil der Originaltheil seines Gesanges nur in dem Ueberschlag besteht und er sich die Weise der ihn umgebenden Vögel theilweise anzueignen vermag. Die junge graue Grasmücke aber ist und bleibt in der Gefangenschaft bei Weitem der stümperhafteste Sänger von allen dreien.

Da trotz aller Verbote und der in manchen Ländern eingeführten Steuer diese drei Sänger von vielen Vogelfreunden gehalten werden, so dürfte eine Erinnerung an die richtige Behandlung derselben in der Gefangenschaft an ihrem Orte sein. Wie viele Nachtigallen verlieren im Besitz unverständiger und unmenschlicher Vogelsteller alsbald nach dem Verluste ihrer Freiheit auch ihr Leben! Hier ist’s der Mangel an frischen Ameisenpuppen und Mehlwürmern, mit denen allein sich die Nachtigall im Frühjahre mit Sicherheit eingewöhnen und erhalten läßt, dort verderben die dünnen und harten Sitzstangen die zarten Füße; hier ist der Käfig zu eng, dort die Decke desselben, anstatt von Leinwand, aus Holz gefertigt, so daß der stürmische Vogel sich den Kopf zerstößt.

Ein recht geräumiger Käfig von mindestens drei bis vier Fuß Länge und ihr entsprechender Höhe und Tiefe mit einer Leinwanddecke, Sitzstangen von doppelter Fingerdicke, welche mit Tuch überzogen sind, und Futter-, Trink- und Badenäpfchen aus Steingut oder Blech, die in angebauten Gehäusen zur Rechten und Linken vertheilt sind – ein solcher Bewegung gewährender, rein gehaltener und jegliche Verletzung verhütender Behälter ist unerläßliche Bedingung zur Erhaltung der Gesundheit des Vogels. Mit gebundenen Schwingen läßt man die Nachtigall sich erst mehrere Tage an Käfig und Futter gewöhnen. Während der Singzeit deckt das nach dem Lichte des Tags gekehrte Gitter ein grünes Linnentuch, und der Stand des Käfigs erfordert ein ruhiges Plätzchen.

Weniger, ja fast gar keine Schwierigkeit verursacht die Eingewöhnung des Schwarzkopfs, wiewohl auch ihm Nachtigallenfutter, Reinheit und Weite des Behälters gar wohl thun. Für ihn sind geriebene Möhren, mit Semmel vermischt, die gesündeste Nahrung, so lange die frischen Ameisenpuppen nicht vollständig zu haben sind. Die graue Grasmücke aber wird selten mit anderer Wartung erhalten, als mit dieser. Keinem Vogel entspricht das einfache Rübenfutter mehr, als ihm. Darum hinweg mit allen anderen Zuthaten und Leckerbissen, es seien denn im Herbste Hollunderbeeren, Zwetschen und anderes Obst, wovon man dem Vogel täglich ein wenig reichen soll.

Wer sich zum Vergnügen oder auch aus wissenschaftlichem Antrieb Vögel halten will, der muß die unleugbare Thatsache bedenken, daß sie alle Empfindung und Seele besitzen, der öffne das Herz den Freuden und Leiden der Gefangenen und stelle sich zu ihnen in lebendige, warme Beziehung.

Karl Müller.     




Kein Trost.[1]
Gruß an Robert Prutz.

Seid Ihr vereint zur guten Stunde,
Wo man am Blick den Bruder kennt,
Gedenket in dem heil’gen Bunde
Auch Derer, die von Euch getrennt.

5
Ertönt der alte Schwur auf’s Neue,

Der, nie gelöst, der Lösung nah,
Da wißt, es blüht die deutsche Treue
Auch herrlich in Amerika.

Es flammen uns dieselben Triebe;

10
Es spricht zu uns dieselbe Pflicht.

Es glüht in uns dieselbe Liebe;
Doch kennen wir die Trauer nicht.
Kein Trost! Wie Nebelduft zerrissen,
Verschwindet uns die Welt des Scheins.

15
Es ward das Glauben uns zum Wissen;

Wir wissen alles Deutsche Eins.

Uns hemmen nicht des Weltmeers Wogen;
Ihr fühlet unsern Bruderkuß.
Und eine Grenze wär’ gezogen

20
Dem deutschen Volk im deutschen Fluß?

O mögen Sturm und Wogen grollen!
Wie unser Auge heimwärts blickt,
Da schau’n wir nur ein starkes Wollen,
Das alle Ströme überbrückt.

25
Was wir gelebt, was wir gesehen,

Was wir gewirkt im fremden Land,
Ist für des Vaterland’s Erstehen
Uns ein geweihtes Unterpfand.
Nicht täuschet uns die flücht’ge Wolke.

30
So harren wir in stolzer Ruh’,

Und führen dem erhabnen Volke
Den freien Bundsgenossen zu.

New-York, Februar 1869. Friedrich Lexow.     

  1. Eine aus Amerika eingetroffene Antwort auf das schöne Gedicht von Robert Prutz in Nr. 3 unsers Blattes. D. Red.     




Blätter und Blüthen.

Heilmittel bei ausgebrochener Wuthkranktieit oder Wasserscheu des Menschen. Dr. Ernst Guisan (De la rage, sa nature et son traitement. Lausanne. Bridel. 1868) will im arsensauren Kali ein rettendes Mittel bei wirklich ausgebrochener Wasserscheu, die bis jetzt stets zum Tode führte, gefunden haben. Er giebt es in Pillenform drei, vier bis fünf Mal täglich und, je nach der Intensität der Erscheinungen, ein Zwanzigstel bis ein Fünfzehntel eines Granes. – Auch als vorbeugendes Mittel, wenn der Arzt bald nach erfolgtem Bisse zum Kranken gerufen wird, verordnet Guisan äußerlich: Verbinden der Wunde mit verdünnter Fowler’scher Lösung, und innerlich: Morgens und Abends, während sechs bis sieben Wochen, jedesmal eine Pille von einem Zwanzigstel Gran (für Kinder ein Vierzigstel) arsensaures Kali. – Da noch durch kein Arzneimittel die ausgebrochene Wasserscheu gehoben worden ist, so verdient obiges Mittel jedenfalls Beachtung und Anwendung.


Kleiner Briefkasten.

K. in Gotha. Ueber die bei Senff erschienene Gesammtausgabe der Schubert’schen Lieder können wir Sie einfach auf das Urtheil des bekannten Musikkritikers Otto Gumprecht verweisen. Sie ist, sagt er in der Nationalzeitung, von Julius Rietz genau revidirt, und zwar handelte es sich dabei nicht um ein inhaltloses Ehrenamt und einen klangvollen Namen mehr auf dem Titel, sondern um eine ernste und schwierige Arbeit, welche die Werke des größten deutschen Liedercomponisten gegenüber vielfältigem, durch die Eitelkeit der Sänger und die Willkür der Herausgeber ihnen zugefügten Unglimpf in ihr ursprüngliches Recht wieder einzusetzen hatte. In elf handlichen Octavbänden werden uns hier zweihundertfünfundzwanzig Gesänge geboten. Der Preis für die ganze Sammlung beträgt sechs Thaler, also vielleicht den fünften Theil der Summe, deren es ehedem zur Anschaffung bedurfte. Daß Schubert’s Lieder in dem musikalischen Hausschatz jeder deutschen Familie eine Stelle gebührt, daß sie selbst denen die reichste künstlerische Ausbeute gewähren, welche sie nur durch das Clavier sich vermitteln können, darüber brauchen wir kein Wort mehr zu verlieren. In der gesammten weiten Tonwelt giebt es nächst der Beethoven’schen Sonate nichts Anderes, was so traulich sich zum Einzelnen hinabneigt und so liebevoll Theil genommen an seiner Lust und an seinem Weh, wie diese Lyrik, welche in einer Fluth von Wohllaut Alles geoffenbart, was das menschliche Herz an Freude und Leid, an Liebe, Hoffnung und Sehnsucht zu fassen vermag.


Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Der Knoten im Taschentuch. Mit Abbildung. – Aus den Werkstätten deutschen Gelehrtenfleißes. – Nachtseiten von London. Sociale Skizze von J. H. 1. – Hebel’s Vreneli. Mit Portraits. – Von den Geheimnissen der Vogelstellerei. Von Karl und Adolph Müller. 3. Nachtigall und Grasmücke und das Schlaggarn. Von Karl Müller. – Kein Trost. Gruß an Robert Prutz. Gedicht von Friedrich Lexow. – Blätter und Blüthen: Heilmittel bei ausgebrochener Wuthkrankheit oder Wasserscheu des Menschen. – Kleiner Briefkasten.


Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen. Die Verlagshandlung.     


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: kam
  2. Vorlage: schloffch