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Die Gartenlaube (1869)/Heft 14

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[209]

No. 14.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Die Pfarrerin hielt demnach inne und verbesserte sich, indem sie sagte: „Sie sehen ja aus wie die Gesundheit selbst!“

„Mein Kind, es ist Zeit, aufzubrechen!“ rief die Baronin hinüber.

Gisela’s Augen verfinsterten sich – die Stimme der Stiefmutter ging ihr durch Mark und Bein. Die stattliche Frau da vor ihr mit den guten, treuherzigen Augen sollte ja mittels dieser schneidend hochmüthigen Töne fortgescheucht werden.

„Ich nehme die Erdbeeren mit nach Hause, Röschen,“ sagte sie zu dem Kinde, „und morgen kommst Du selbst zu mir und holst das Körbchen, nicht wahr?“

„Im weißen Schlosse?“ fragte die Kleine und schlug die unschuldigen Augen groß auf – sie schüttelte energisch das blonde Köpfchen. „Nein, dahin kann ich nicht kommen,“ entgegnete sie sehr entschieden; „Bruder Fritz sagt, im weißen Schlosse hätten sie den Papa nicht lieb!“

Darauf ließ sich nichts erwidern – Frau von Herbeck haßte in der That den Mann, und Gisela kannte ihn nicht. Das Gesicht der Pfarrerin aber war plötzlich sehr ernst geworden, wenn auch ihr Blick noch mit unverkennbarer Innigkeit an der jungen Dame hing, deren Mund betroffen schwieg.

Sie nahm ihr Kind an die Hand, um ihren Weg fortzusetzen – die Damen da drüben zogen die Handschuhe an, und Frau von Herbeck ließ sich von einem der Lakaien mit großer Ostentation den Spitzenshawl um die Schultern legen. …

Und wenn auch die schöne, junge, hochgestellte Dame dort einst ihr Brod gegessen und unter ihrem Dache Schutz gefunden hatte, die einfache Frau war doch stolz und tactvoll genug, sie nicht mehr zu kennen, da die zwei schwarzen Augen alles Andere, nur sie nicht zu sehen schienen.

Der schräglaufende Weg führte ziemlich hart am Frühstückstisch hin – die Pfarrerin neigte sich höflich im Vorüberschreiten; die Damen erwiderten den Gruß mit einem leichten Kopfnicken, und der Minister lüftete den Hut. … Sei es nun, daß der Sonnenstrahl, der dabei auf seine Stirn fiel, das Steingesicht freundlich belebte, oder blickten die halbgeschlossenen Augen in der That nicht so streng und zurückweisend wie gewöhnlich – genug, die Frau blieb plötzlich wie angewurzelt vor ihm stehen.

„Excellenz,“ sagte sie bescheiden, aber ohne die geringste Furcht oder Befangenheit, das hörte man an ihrer festen, sonoren Stimme – „der Zufall führt mich da vorüber – in’s weiße Schloß wär’ ich nicht gekommen; aber hier im weiten Walde, wo die Luft uns Allen gehört, kommt Einem auch ein Wort leichter auf die Lippen. … Sie dürfen ja nicht denken, daß ich um etwas bitten will – arm sind wir, aber arbeiten können wir auch Alle – Gott sei Dank – rechtschaffen. … Ich will nur fragen, weshalb mein Mann pensionirt worden ist?“ …

„Das fragen Sie am besten Ihren Mann selbst, Frau Pfarrerin!“ entgegnete der Minister spitz.

„Ei, Excellenz, da gehe ich lieber gleich vor die rechte Schmiede und antworte mir selber! … Ich kann es meinem Mann unmöglich zumuthen; denn wenn er der Wahrheit die Ehre geben will, da muß er fügen: ,Ich bin ein Mann, wie er sein soll – demüthig vor Gott und furchtlos vor den Menschen, eifrig und streng in meiner Pflichterfüllung und goldtreu von Gemüth – und muß mich nur wundern Uber die verkehrte Welt, wo bestraft wird, wer nicht gesündigt hat –’“

„Hüten Sie Ihre Zunge, Frau!“ fiel der Minister mit kalter Stimme ein und hob drohend den Zeigefinger – Frau von Herbeck aber kicherte unbeschreiblich maliciös auf – „eifrig und streng in der Pflichterfüllung!“ wiederholte sie, wenn auch mehr wie für sich – eine direkte Einmischung war doch zu sehr gegen die Etikette.

Das satanische Hohngelächter traf das Herz der Pfarrerin wie ein Messerstich; die rebellischen Blutwellen schossen ihr in’s Gesicht und die blonden, starken Brauen falteten sich finster – allein diese Frau ließ sich niemals fortreißen.

„Gnädige Frau,“ sagte sie, gelassen den Kopf nach der Dame umwendend, „Sie sollten nicht so lachen – ich mein’ sonst wirklich, die Neuenfelder Leute haben Recht, wenn sie sagen, Sie hauptsächlich hätten meinen Mann um’s Amt gebracht – einer Frau steht das Verfolgen gar nicht schön an!“

Jetzt war es um die letzte Etikettenrücksicht der Gouvernante geschehen! Den andächtigen Augen stand im Dienst des Herrn noch weit mehr verächtlicher Grimm zu Gebote, als ehemals der feudalen Weltdame.

„Was liegt mir an Ihrer Meinung?“ rief sie. „Denken Sie immerhin, was Sie wollen – das soll mich durchaus nicht abhalten, Nattern zu zertreten, wo ich sie treffe!“

„Sie vergessen sich, Frau von Herbeck!“ rief der Minister. Er streckte ihr Schweigen gebietend die bleiche Hand entgegen.

„Liebe Frau, die langen Auseinandersetzungen sind gegen mein Princip,“ wandte er sich mit der ganzen vernichtenden Kälte des gereizten Gewalthabers an die Pfarrerin zurück. „Ich hätte [210] viel zu thun, wenn ich meine Maßregeln den Betreffenden stets in eigener Person erschöpfend motiviren wollte. … So viel will ich Ihnen aber sagen, daß die gerühmte Pflichterfüllung sehr, sehr viel zu wünschen übrig gelassen hat. Wir haben Alles gethan, den Mann aus seinem alten Schlendrian aufzurütteln – es war verlorene Mühe. Er hat sich jeder heilsamen Reform auf kirchlichem Gebiet mit konsequentem Starrsinn widersetzt – jetzt ist es freilich offenbar geworden, weshalb: das Observiren des Sternenhimmels war ihm interessanter, als das gewissenhafte Studium der alten Kirchenväter – wir können aber keinen Pfarrer brauchen, der ein solches Steckenpferd reitet, liebe Frau –“

„Und der Pfarrer in Bodenbach, der von seinem Bienenstand weggeholt werden muß, wenn er predigen soll?“ warf die Pfarrerin fragend ein, und ihr durchdringendes, kluges blaues Auge wich nicht von dem Marmorgesicht Seiner Excellenz.

Er stand auf und klopfte die Frau mit einem impertinenten Lächeln auf die Schulter.

„Ei, meine liebe Frau Pfarrerin,“ sagte er, „der Pfarrer von Bodenbach hat stündlich das Bild der Kirche in seinem Bienenstand vor Augen – die einmal gegebenen Satzungen werden herrschen, so lange es eben Bienen giebt, und Königin wie Arbeiter unterwerfen sich widerspruchslos allen ihren Forderungen … Ich kann Ihnen versichern, der Pfarrer von Bodenbach ist der wackerste Seelsorger weit und breit, er bleibt – bei seinem Leisten!“

„O du grundgütiger Gott, also ist’s doch wahr!“ rief die Pfarrerin und schlug die Hände zusammen. „Weil es da droben in den Sternen nicht ganz so aussieht, wie es die heilige Schrift besagt, so sollen nun auch die Menschen nicht mehr hinaufsehen! Sie sollen denken, der große allmächtige Gott mache sich die Kurzweil, am Abend bunte Lichterchen am Himmel lediglich für seine kleinen Erdenwürmer anzuzünden! Sie sollen sich auf einmal einbläuen, weiß sei schwarz und zweimal zwei fünf! … Und wenn sie dies Alles thun wollten, hat es etwas zu schaffen mit der Lehre unseres Herrn und Heilandes? Schlagen sie die Lehre von Gottes Allmacht und Weisheit nicht selbst in’s Gesicht, wenn sie seine Werke verkleinern und mangelhaft machen, nur um des Buchstabenglaubens willen?“

Sie schöpfte tief Athem, dann fuhr sie fort:

„Wird die Bibel nicht der lebendige Quell des Trostes und Segens für alle Zeiten bleiben, wenn ihr auch hie und da menschliche Irrthümer ankleben? … Wer auch nur ein einziges Mal im Kummer nach ihr gegriffen hat, der weiß, daß sie ewig ist. Die also um des angefochtenen Buchstabens willen für sie zittern, die kennen ihren Geist nicht! … Excellenz, ich bin eine schlichte Frau, aber so viel hab’ ich stets begriffen, daß sich das Gleichniß vom Hirten und der Heerde nur auf die Zusammengehörigkeit in der christlichen Liebe bezieht – niemals aber auf den Stock des Hirten und auf den Pferch, in welchem die Schafe zusammengehalten werden sollen. … Und in dem Sinne steht mein Mann auf der Kanzel und in seiner Gemeinde, und sie haben ihn Alle herzlich lieb; die Kirche ist immer gefüllt, und wenn er auf Gottes Wunderwerke zu reden kommt, die er selbst erforscht in der tiefen, stillen Nacht, da kann man eine Stecknadel fallen hören in der ganzen, weiten Kirche –“

Bis dahin hatten Alle die Frau schweigend gewähren lassen, jetzt aber lachte Frau von Herbeck laut auf.

„Und bei diesen Forschungen in der tiefen, stillen Nacht secundirt ihm der alte Knasterbart, der Freigeist, der Soldat Sievert! Schöne Gesellschaft für einen Diener des Herrn!“ rief sie mit einer Art von wildem Triumph. „Excellenz, die Frau hat sich selbst gerichtet – sie ist Rationalistin durch und durch!“

„Den alten Sievert dürfen Sie mir nicht antasten, gnädige Frau!“ entgegnete die Pfarrerin stirnrunzelnd und hob protestirend die Hand gegen die Dame – den boshaften Angriff auf sie selbst ignorirte sie völlig. „Das ist ein braver Mann, der sich sein Leben lang aufgeopfert hat für Andere – er hat somit mehr Religion im Herzen, als Manche, die sie auf der Stirn und auf den Lippen tragen! … Kennt ihn Eines, so bin ich’s – er hat in meinem Hause gelebt, seit der wackere Hüttenmeister verunglückt ist. Damals kam er wie wahnsinnig vor Schmerz und suchte und fand Trost in der Pfarre. Und jetzt noch, nach elf Jahren, wo Niemand mehr an das schreckliche Unglück denkt –“

Das Gesicht der Baronin überflog eine momentane Blässe, und der Löffel, mit welchem ihre Hand mechanisch gespielt hatte, fiel klirrend auf die Tasse zurück – die schwarzen, funkelnden Augen aber hefteten sich drohend auf die Sprecherin – der Minister kam ihr zu Hülfe.

„Gute Frau, Sie haben vorhin gesprochen wie ein Buch!“ unterbrach er, als habe er gar kein Verständniß für ihre letzten Worte, mit beißender Ironie die Pfarrerin. Er zuckte die Achseln. „Es thut mir leid um die verlorene Mühe,“ fuhr er fort, „aber ich kann gar nichts thun und muß der Sache ihren Lauf lassen!“

„Ich verlange auch nichts, Excellenz, gar nichts!“ antwortete sie, indem sie das Händchen ihres Kindes wieder fest in die ihre nahm. „Es wird uns Allen zwar sehr schwer ankommen, den Stab weiter zu setzen und fortzugehen aus dem Neuenfelder Thal, wo wir einundzwanzig Jahre lang Glück und Unglück, Freud und Leid mit vielen guten Menschen redlich getragen haben –“

„Nein, Sie sollen nicht fortgehen!“ rief Gisela und trat neben die Frau. Ihre braunen Augen brannten – sie erschienen in diesem Moment fast dunkler, als die schönen, schwarzen der Stiefmutter, die sich in wortlosem Grimm starr auf ihr Gesicht hefteten – „Kommen Sie zu mir nach Greinsfeld!“ sagte sie fest.

„Gräfin!“ rief Frau von Herbeck und sank, die Hände zusammenschlagend, an die Stuhllehne zurück.

„Seien Sie ohne Sorge, gnädige Frau,“ sagte die Pfarrerin mildlächelnd zu der entsetzten Gouvernante, während sie Gisela’s dargebotene Hand herzlich drückte. „Ich nehm’ es nicht an, schon um der Gräfin selbst willen nicht! … Gott segne ihr gutes Herz! Sie soll nie eine trübe Stunde haben, am allerwenigsten aber um meinetwillen! … Aber Ihnen, Frau von Herbeck, sage ich noch Eines,“ fügte sie tiefernst hinzu und hob fast feierlich den Zeigefinger. „Der Mann geht, den Sie ,wie eine Natter zertreten’ haben. Sein Beruf ist ihm genommen worden, und das trifft ihn tausendmal härter, als wenn er Mangel leiden müßte. … Es ist eben eine Zeit, wo Sie Alles wagen können, denn Sie werden beschützt! … Aber glauben Sie ja nicht, weil Sie jetzt die Wahrheit unter den Füßen haben, daß es auch so bleibt! … Sehen Sie sich Neuenfeld an! Da wächst der Geist, den Sie niedertreten wollen, mit jeder Stunde! Und wenn Sie mit Keulen d’rauf schlagen, Sie bringen ihn nicht unter, er verschlingt Sie doch zuletzt, denn er hat das ewige Leben – er geht ja mit der Liebe zusammen, die das Christenthum zu allererst predigt. … Setzen Sie immerhin den alten Teufel mit seiner Hölle wieder ein, stellen Sie ihn vermessen dem lieben Gott gegenüber, bauen Sie ihm einen Thron, höher als den, auf welchem der Allmächtige sitzt – es hilft Ihnen Alles nichts – Sie machen eine Leiche nicht wieder lebendig!“

Sie verbeugte sich gegen den Minister und die junge Gräfin und ging.

Seine Excellenz sah ihr sprachlos nach – diese Kühnheit überstieg alle Grenzen; und er hatte nicht einmal Gelegenheit, die Frau zu strafen – er konnte ihren Mann doch nicht zweimal pensioniren. … Das sah einer Niederlage sehr ähnlich – in solchen Fällen aber hatte Seine Excellenz nie anders gewollt. Er setzte sich demnach sehr gelassen nieder und zündete seine erloschene Cigarre aufs Neue an.

Frau von Herbeck, deren bleichgewordene Lippen im tiefsten Zorn bebten, warf ihm einen heimlichen Blick voll Gift und Galle zu – in diesem Augenblick war doch die berühmte diplomatische Ruhe wahrhaftig nicht am Platze!

„Ein unverschämtes Weib!“ stieß die Baronin heftig hervor. „Und das wirst Du ungestraft hingehen lassen, Fleury?“

„Ei was – laß sie laufen!“ entgegnete er verächtlich.

Er lehnte sich behaglich zurück und ließ einige blaue Duftringel seinen Lippen entschweben, während er mit einem sarkastischen Blick seine Stieftochter von Kopf bis zu Füßen musterte – sie stand noch mit allen Zeichen tiefster Erregung vor ihm.

„Nun, meine Tochter,“ sagte er ironisch lächelnd, „Du warst ja eben im Begriff, Dein altes Greinsfelder Patronatsrecht zum Besten des fortgeschickten Pfarrers aufzufrischen! … Toleranz ist eine schöne Sache, aber neu und pikant wäre es doch, wenn sich die katholische Gräfin Sturm von einem protestantischen Geistlichen die Messe lesen ließe!“

Gisela hielt die gefalteten Hände fest gegen die Brust gedrückt, als wolle sie das Klopfen ihres Herzens beschwichtigen.

„Das ist mir nicht eingefallen, Papa!“ entgegnete sie mit [211] gepreßter Stimme. „Ich wollte den armen Vertriebenen - eine Heimath geben und ihr Leben sorgenfrei machen!“ –

„Sehr großmüthig, meine Tochter,“ spottete der Minister, „wenn auch ein wenig tactlos, da ich es bin, der sie ‚vertrieben‘ hat, wie Du beliebst Dich auszudrücken.“

„O liebe Gräfin, haben Sie sich wirklich durch das Lügengewebe bethören lassen?“ rief Frau von Herbeck.

Bei diesen Tönen voll Hohn und Haß brach die mühsam behauptete Fassung des jungen Mädchens zusammen.

„Das Lügengewebe?“ wiederholte sie, und ihre Augen flammten. „Die Frau sprach die Wahrheit!“ fuhr sie entschieden fort. „Da war auch nicht ein Wort, das mich nicht bis in’s innerste Herz getroffen hätte! … Wie kindisch lenksam und unerfahren bin ich bis jetzt gewesen! Ich habe Menschen und Dinge mit Ihren Augen angesehen, Frau von Herbeck – ich war denkfaul und blind! Das ist ein bitterer Vorwurf, den ich mir machen muß! –“

Sie schwieg plötzlich, ihre Lippen legten sich fest aufeinander. Sie hatte einen tiefen Abscheu vor aller aufbrausenden Heftigkeit – und jetzt strömten ihr die Worte über die Lippen, ihr Klang fiel zündend auf ihr Herz zurück und riß sie fort – das durfte nicht sein. Sie preßte einen Moment die schmalen Hände gegen die Schläfe, dann ergriff sie ihren Hut.

„Papa, ich fühle, daß ich aufgeregt bin,“ sagte sie mit ihrer süßen Stimme, in welcher bereits der sanfte Klang wieder vorherrschte. „Darf ich mich ein wenig in den Wald zurückziehen?“

Der Minister schien mit der „gereizten“ Stieftochter dieselbe Nachsicht zu haben, wie einst mit dem kranken Kind. Er hatte sie mit keinem Wort, keiner Bewegung unterbrochen, und jetzt winkte er ihr väterlich gütig und gewährend mit der Hand.

Sie schritt über die Wiese in den Wald hinein.

„Sie sind alt geworden, Frau von Herbeck!“ sagte Seine Excellenz beißend und schonungslos zu der erbleichenden Gouvernante, als das blaue Kleid hinter dem Gebüsch verschwunden war. „Da machen sich andere Zügel nöthig! …“


15.

Gisela schritt am Seeufer hin. Sie hielt den Strohhut in der rechten, während ihre linke Hand mechanisch das niedrige, elastische Ufergebüsch durch die Finger gleiten ließ. Der schwache Morgenwind, der das blonde Haar der jungen Dame leise hob, kräuselte auch die sonnenfunkelnde Wasserfläche – sie schien besä’t mit zahllosen, flatternden und pickenden goldenen Vögeln.

Droben huschte der scheue, gelbglänzende Kirschpirol durch die Aeste und flötete einzelne abgebrochene Cadenzen – auch ein erschrockener Frosch, der seinen fleckigen Leib auf einem der weißgebleichten Uferkiesel gesonnt hatte, plumpte klatschend in’s Wasser – sonst war es lautlos ruhig auf dem See und in den Wipfeln, und nur die schwarze Hummel, den kleinen, zottigen Pelz voll gelben Blüthenstaubes, zog durch das hohe, geschonte Ufergras, und ihr monotones Surren und Summen machte die Waldstille noch traumhafter.

Die braunen Augen der jungen Dame blickten finster – sie hielt Einkehr in sich selbst. Die einfache Pfarrersfrau hätte kräftig an dem Boden gerüttelt, auf dem sie bis jetzt selbstbewußt, mit festem Fuß gestanden. … Sie hatte, so lange, sie denken konnte, nur mit dem kalten, erwägenden Verstande gelebt. War ja einmal das Herz zum Durchbruch gekommen, dann hatten die drei Menschen, die sie eben auf der Waldwiese verlassen, sofort den Schatten der Großmama heraufbeschworen, und mit der Erziehungsdevise: „Es schickt sich nicht für Dich!“ war der Riegel vor die aufbrechende Gefühlswelt geschoben worden.

„Der Geist in Neuenfeld geht mit der Liebe zusammen, die das Christenthum zu allererst predigt!“ hatte die Pfarrerin gesagt – das war’s! … Nahezu achtzehn Jahre hatte das junge Mädchen gelebt und nie einen Menschen lieb gehabt! In ihrer Großmutter hatte sie zu allen Zeiten den Inbegriff der Erhabenheit verehrt, aber niemals war ihr als Kind das Verlangen gekommen, die kleinen Arme um den schönen, weißen Hals der stolzen Frau zu legen – jetzt noch schlug ihr das Herz ängstlich bei dem Gedanken, wie wohl eine solche „Zudringlichkeit“ würde aufgenommen worden sein. … Und wie sie sie der Reihe nach musterte, mit denen sie ausschließlich ihr junges Leben verbringen mußte – Seine Excellenz mit dem eiskalten Gesicht und undurchdringlichen Blick, die schöne Stiefmutter, die kleine, fette, fromme Frau, den Arzt, Lena – da schauerte sie selbst unter der tödtlichen Kälte und Feindseligkeit, mit denen sie ihnen stets und immer gegenüber gestanden – und das wurde nie anders! …

Denkfaul und blind hatte sie sich selbst genannt, und mit allem Recht. … Sie hatte ihren Puß zärtlich geliebt, sie konnte eine schöne Blume inbrünstig an ihre Lippen drücken – nie aber war die Betrachtung in ihr aufgestiegen, ob es wohl auch Menschen gäbe, die man so lieb haben könne … Ganz von selbst, fast zu ihrem eigenen Erschrecken, war die unbekannte Knospe in ihrem Gemüth vor wenig Augenblicken gesprungen – sie hätte an das Herz der kraftvollen, muthigen Frau flüchten und sie bitten mögen: „Habe mich auch lieb!“

In Neuenfeld waltete die Liebe. Sie baute den Bedürftigen Häuser, gab ihnen geistige und leibliche Nahrung und machte ihr Leben sonnenlicht; sie nahm die Verwaisten schützend in ihre Arme und ersetzte ihnen Vater und Mutter – und der diese Liebeswerke auf deutschem Boden schuf, er war ein Fremder – und sie, die reiche Erbin, fuhr täglich an den elenden Baracken ihrer Greinsfelder Gutsangehörigen, an den zerlumpten, verwilderten Kindern der letzteren vorüber, ungerührt, in der von Kindesbeinen an fest eingeprägten Ueberzeugung, daß es so und nicht anders sein müsse.

Der Mann im Waldhause mit der finsteren Stirn und den räthselhaften Augen hatte Recht, wenn er sie verachtete, wenn er das durch die Gouvernante in ihrem Namen hochmüthig gebotene winzige Scherflein mit dem Fuße fortgestoßen.

Gisela blieb einen Moment wie athemlos stehen – eine Feuerflamme schlug über ihr Gesicht, und ihr Herz klopfte so stürmisch, daß sie meinte, es hören zu können. … Sie dachte an jenen Augenblick, wo er scheu vor ihr zurückgewichen war, um ihres vermeintlichen Gebrechens willen – sie dachte an die sprachlose Bewunderung, mit der sein Auge an dem schönen Gesicht der Stiefmutter gehangen hatte. …

Sie schritt längst nicht mehr am Ufer hin – die tiefe Waldesnacht hatte sie umfangen. Der Pirol schwieg, und die surrenden Hummeln waren an den Blüthenkelchen des sonnigen Ufers hängen geblieben. Weit, weit, da drüben lag die kleine Lichtung mit dem silberschimmernden Frühstückstisch und den Menschen, die jedenfalls noch zu Gericht saßen über das unschickliche Benehmen der Gräfin Sturm.

Plötzlich hob das junge Mädchen den nachdenklich gesenkten Kopf und horchte – das Weinen eines kleinen Kindes drang, wenn auch aus ziemlich weiter Entfernung, zu ihr herüber. Es klang so verlassen und hülflos, so ununterbrochen, als fehle eine beschwichtigende Stimme gänzlich.

Gisela nahm ohne Weiteres ihr Kleid zusammen und drang quer durch das Dickicht, dem Schalle nach. Sie kam an den Holzweg, der von Neuenfeld nach A. führte – und da kauerte ein Weib mit geschlossenen Augen, in todtenähnlichem Zustande, am Stamm einer Buche.

Es war eine jener armen sogenannten Porcellanfrauen, die Jahr aus, Jahr ein nach Brod gehen müssen. Sie kaufen den Ausschuß in den Porcellanfabriken hoch auf dem Thüringerwald um ein Billiges und schleppen die Last oft viele Meilen weit in’s Land hinab, um sie unten gegen kärglichen Gewinn wieder zu verhandeln. Den schweren Korb, auf dem Rücken, das kleinste Kind auf dem Arm, und öfter auch noch ein größeres an der, Hand, wandern die armen Kreuzträgerinnen mit wunden Füßen durch Wind und Wetter – elender noch als das Lastthier; denn sie leiden nicht allein sie sehen ihre Kinder frieren und hungern. …

Die Frau war offenbar aus Erschöpfung ohnmächtig geworden. Der Korb mit dem Geschirr stand neben ihr, und der kleine Schreihals, ein Bübchen von vielleicht acht Monaten, hockte auf ihrem Schooße. Die Augen des Kindes waren vom Weinen dick verschwollen, aber seine heiser geschrieene Stimme schwieg sofort, als Gisela neben die Frau trat.

Die junge Dame sah mit angstvollen Augen auf die Bewußtlose und nahm bebend die kalten, schlaffen Hände zwischen die ihrigen. … Hier sollte und mußte sie Hülfe schaffen – aber wie? … Da stand kein vielseitiger, gewandter Lakai in der Nähe, [212] der pflichtschuldigst in allen möglichen Lagen Rath wissen mußte; weit und breit war keine menschliche Stimme, kein Fußtritt zu hören – keine stärkende Essenz, nicht einmal ein Glas frischen Wassers stand der rathlosen jungen Dame zu Gebote. Dabei befand, sie sich auf völlig fremdem Terrain – ihre eigenmächtigen, einsamen Waldwanderungen hatten immer nur den See zum Ziel gehabt. Es half nichts, sie mußte nach der weitentlegenen Waldwiese zurücklaufen.

Zu demselben Augenblick war es ihr, als höre sie das Plätschern eines Brunnens. Sie schritt sofort den Holzweg entlang und kam dem Geräusch immer näher. Rechts zweigte sich ein schmaler Weg durch das Unterholz ab; sie betrat ihn ohne Zögern – er führte sicher in Menschennähe.

Hinter ihr schrie das Kind jäh auf, als sie seinen Augen entschwunden war – sie beschleunigte angstvoll ihre Schritte und stand plötzlich der hochaufspringenden Fontaine des Waldhauses gegenüber. Sie fuhr heftig zusammen und trat unwillkürlich in’s Gebüsch zurück.

In diesem grünumsponnenen, alterthümlichen, grauen Hause, „halb der Wohnsitz eines Märchenprinzen und halb der eines nordischen Barbaren“, wie sich die schöne Stiefmutter ausgedrückt hatte, wohnte der Portugiese – er konnte jeden Augenblick dort in die weitoffene Thür treten. … Um Alles mochte sie den zwei Augen nicht wieder begegnen, die vorgestern so finster und kalt strafend auf ihr geruht und heute wieder scheu, in Abneigung sich von ihr gewendet hatten. …

Dort quoll das belebende Naß, das sie so angstvoll suchte, aber aus dem Murmeln und Plätschern schollen ihr dunkle, strenge, zurückweisende Stimmen entgegen – jeder der funkelnden Tropfen schien kältend auf ihr Herz zu fallen – sie schauerte in sich zusammen – und dennoch mußte sie das schützende Dickicht verlassen; das ferne klägliche Weinen des Kindes trieb sie unwiderstehlich vorwärts.

Sie verließ den Waldboden und erschrak auf’s Neue über den Kies, der unter ihren leichten Tritten knirschte. … Todtenstille herrschte um das Haus – auf den Spiegelscheiben glitzerte die höher emporsteigende Sonne, und die losen Ranken der Aristolochia bewegten sich leise hin und her im schwachen Windhauch – kein Menschenantlitz ließ sich hinter den Fenstern sehen. Vielleicht war der Herr des Hauses in Neuenfeld – er sollte ja unermüdlich thätig sein. Irgend einer von der Dienerschaft aber verstand sich gewiß dazu, sie zu begleiten und dem armen Weibe beizustehen.

Ermuthigt schritt sie bis an den Fuß der Treppe, die auf die Terrasse führte, doch mit einem leisen Aufschrei fuhr sie zurück – der Papagei, der sich bis dahin mäuschenstill verhalten hatte, stieß ein mißtönendes Krächzen aus, und der kleine Affe sprang zähnefletschend, mit einem ungeheuren Satze von seinem Lieblingsplatz herab – es wurde unheimlich lebendig um das junge Mädchen her.

Ihr Schrei mußte im Hause gehört worden sein – ein alter Mann trat mit forschenden Augen aus der Halle, blieb aber bei Gisela’s Anblick, als sähe er ein Gespenst, wie festgewurzelt auf der Terrasse stehen.

Die junge Dame hatte wenig Gelegenheit gehabt, physiognomische Studien zu machen, allein das wußte sie sofort – der Mann dort stand ihr gegenüber wie ein ergrimmter Feind. Haß und schreckhafte Ueberraschung spiegelten sich auf dem dunklen, harten Gesicht. Er streckte ihr abwehrend die großen, knochigen Hände entgegen und rief rauh hinab:

„Was wollen Sie? … In dem Hause hier haben Sie gar Nichts zu suchen! Es hat mit den Zweiflingen und dem Fleury nichts, mehr zu schaffen!“ – Er zeigte nach einem der schmalen Waldpfade zur linken Hand. „Dorthin führt der Weg in’s Arnsberger Holz!“ fügte er hinzu, als gehe er von dem Wahn aus, sie habe sich verirrt.

Wie zu Stein erstarrt blickte das junge Mädchen mit entsetzten Augen zu dem unheimlichen Mann auf. Eine dunkle Erinnerung aus ihrer Kinderzeit stieg in ihr empor – sie wurde in diesem Augenblick zum zweiten Mal von der Schwelle des Waldhauses fortgewiesen. … Eine unsägliche Furcht überschlich Ihr Herz, aber das stolze Blut der Reichsgrafen Sturm und Völdern kreiste nicht umsonst in ihren Adern – es schoß ihr siedend nach dem Kopfe; und wenn sie auch am liebsten spornstreichs in den schützenden Wald zurückgeflüchtet wäre, so fand sie doch den Muth, die äußere Ruhe zu behaupten.

Sie maß den alten Mann mit einem stolzen Blick, und ihre Mundwinkel senkten sich genau in jener hochmüthig verächtlichen Weise, mit welcher einst die Gräfin Völdern manchem Herzen den Todesstoß versetzt hatte.

„Ich habe nicht daran gedacht, dieses Haus zu betreten!“ sagte sie schneidend und wandte ihm den Rücken – sie wollte sich langsam entfernen – aber durfte sie gehen, ohne Hülfe mitzubringen? … Es kostete ihr eine unsägliche Ueberwindung, noch einmal zurück in das Gesicht des schrecklichen Mannes zu sehen – aber sie that es – die Lehre von der Liebe, die sie heute in ihr Herz aufgenommen, ließ sich nicht wieder verlöschen.

„Ich lasse Ihre Herrschaft um ein Glas bitten, damit ich dort Wasser schöpfen kann!“ sagte sie in demselben gebieterischen Ton, mit welchem sie im weißen Schlosse zu befehlen gewohnt war, und deutete nach dem Springbrunnen.

„Holla, Frau Berger!“ rief der Mann in das Haus zurück, ohne jedoch seine Stellung im Mindesten zu verändern – er stand dort, als gelte es, die Schwelle mit dem feurigen Schwerte zu hüten.

Eine stattliche Frau mit weißer Haube und Schürze jedenfalls die Haushälterin – erschien im Hintergrund der Halle.

„Ein Trinkglas!“ rief ihr der Alte zu.

Sie verschwand wieder.

„Was giebt es, Sievert?“ fragte plötzlich in der Halle die Stimme des Portugiesen.

Der alte Soldat erschrak sichtlich – fast schien es, als hüte er die Thür so ängstlich wegen des Mannes da drinnen. Er streckte hastig und abwehrend die Hand gegen das Haus, aber da stand der Portugiese bereits auf der Schwelle.

Er sah bleich aus – „kreideweiß vor Schmerz um den erschossenen Hero“ hatte vorhin der Diener auf der Waldwiese gesagt. Als jedoch seine Augen auf Gisela fielen, die noch, mit Stolz und Hochmuth umgürtet, am Fuß der Treppe stand, da flog eine tiefe Gluth über das braune, männliche Gesicht. In diesem Moment jäher Ueberraschung zeigten seine Züge nichts weniger als Abscheu und Verachtung – das dunkle, menschenfeindliche Gepräge der Stirn freilich schien unverwischbar, aber die Augen leuchteten, wenn auch nur meteorartig, in einem eigenthümlichen Glanze auf.

Unter diesem Blick verwandelte sich Gisela’s Haltung sofort. Sie verlor fast unbewußt den Schild des Trotzes und der Entrüstung und stand plötzlich wieder dort, wie sie gekommen – als junges, scheues, hülfeheischendes Mädchen. … Wie infolge einer Eingebung hob sie die Hände zu ihm empor.

Diese eine Bewegung brachte den alten Soldaten völlig außer sich.

(Fortsetzung folgt.)




Land und Leute.

Nr. 30. „Dat söte Länneken“.

Nach Fluchten und nach Zügen
Weit über Land und Meer,
Mein trautes Ländchen Rügen,
Wie mahnst du mich so sehr!
O Eiland grüner Küsten,
O bunter Himmelschein!
Wie schlief an deinen Brüsten
Der Knabe selig ein!

Wie locken deine Minnen
Mit längst verklungnem Glück
Den grauen Träumer hinnen
In alter Lust zurück!
Drum grüß’ ich aus der Ferne
Dich, Eiland, lieb und grün:
Sollst unterm besten Sterne
Des Himmels ewig blühn!

So sang aus dem junggebliebenen Herzen des alten Arndt im Paradies des Rheinlandes noch das Heimweh nach seiner Heimathinsel. Und wenn auch nur von den Bewohnern des

[213]

Hochzeitszug in Mönchgut auf Rügen.

[214] ärmsten und von der Natur am stiefmütterlichsten behandelten Theils von Rügen, von denen auf Hiddensöe, dem an der Nordwestküste der Insel langhingestreckten sand- und haidereichen Eilande, ihre reizlose Heimath „dat söte Länneken“ – das süße Ländchen – genannt wird, so klingt dieser Ausdruck doch so nach dem Herzen aller Rügen’schen Leute, daß wir ihn für die ganze Insel und mit demselben Recht für jeden andern Theil derselben anwenden dürfen.

Sage und Volksglaube halten an der Ansicht fest, daß Rügen einst mit dem pommerschen Festlande ein Ganzes gebildet habe. Die Naturforschung widerspricht dem nicht, wenn es auch nicht die Cimbrische Fluth allein gewesen sein sollte, welche die Trennung entschied, die vielen Buchten und Meerbusen in das Land hineinriß und dem Meer die Wege bahnte, um die Binnenseen auszufüllen, welche die Gestalt der Insel in das wunderliche Bild verwandelten, das sie uns heute zeigt. Ein Blick auf die Landkarte von Rügen läßt uns einen festen Kern von einer Reihe von Außengliedern unterscheiden, welche mit diesem nur durch schmale Landzungen in Verbindung stehen. Seltsamerweise bieten gerade diese Halbinseln dem naturwunderseligen Wanderer die sehenswürdigsten Reiseziele. Die nördlichste ist Wittow mit dem sagenreichen Felsenwall Arcona, unter welchem das Meer vergeblich im ewigen Kampf gegen das Land tobt. Sie streckt einen Arm nach Südosten aus, und der reicht bis zur Halbinsel Jasmund. Hier geht dem Freund der Wälder das Herz auf. Von den westlichen Ebenen nach Osten hin aufsteigend schmückt der frischeste Buchenkranz noch die Kreidefelsen des kühn aufragenden Strandes und beschattet die Stätten, wo germanische und slavische Götter sich ihrer Heiligthümer freuten, wo die Herthaburg gestanden und wo der Königsstuhl auf Stubbenkammer thront und auf das Meer hinabzeigt, auf welchem vor unseren Augen und nach Jahrhunderten zum ersten Male wieder deutsche Kriegsschiffe mit dem Dänen um den Sieg rangen.[1] Und im Südosten endlich legt, aus den Wäldern der Granitz sich herausdehnend, die Halbinsel Mönchgut ihren Handschuh mit dem Daumen und drei Fingern auf die tückische Ostsee. Hier aber wollen wir bleiben, denn Mönchgut ist es, dem wir heute einen besonderen Besuch abstatten.

Die Männer von Mönchgut behaupten, daß sie vor allen anderen Rügenern Ursache hätten, der Tücke der See zu grollen und sich in deren Dienst schadlos zu halten. Es geht bei ihnen nämlich die Sage, ihr Land sei vor Zeiten von Pommern nur durch ein schmales Wasser getrennt gewesen, über welches man auf hineingeworfenen Pferdeschädeln und Steinen sicher habe gehen können. Da sei die große Sturmfluth von 1309 gekommen, habe den größten Theil ihres Landes abgerissen und durch den Rügener und Greifswalder Bodden den Stralsundern zu einem besseren Fahrwasser verholfen, als ihr Gellen, die Meerenge, welche sie von Rügen scheidet, vorher gewesen. Die Greifswalder Oee und die Insel Ruden sehen sie für Trümmer ihres Gebietes an. Und nicht genug mit dieser Absperrung vom Festland: als sie Eigenthum des Klosters Eldena bei Greifswald geworden waren – woher der Name „Mönchgut“ stammt, denn vorher hieß das Ländchen Reddewitz, wie jetzt nur noch der längste westlichste Finger des Handschuhs genannt wird –, da gebot ihnen der Abt, damit der geistliche vom profanen Boden der Insel für alle Zeit deutlich geschieden sei, am schmalsten Theil der Landzunge, durch welchen dieselbe nördlich mit der Granitz zusammenhängt, einen tiefen Graben zu ziehen, den Mönchsgraben, den die lange protestantische Zeit noch heutzutage nicht ganz geebnet hat. Dieser klösterlichen Abgeschlossenheit verdankt jedoch die Bevölkerung von Mönchgut jene Eigenthümlichkeiten in Sitten und Gebräuchen, welche sie vor allen anderen Rügenern auszeichnen und die so tief gewurzelt sind, daß selbst die nivellirenden Wogen der Gegenwart ihnen noch wenig anhaben konnten.

Der Wunsch, dieses interessante Völkchen von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen, ist mir, allerdings schon vor einem Dutzend Jahren, bei Gelegenheit eines Besuchs in Stralsund in Erfüllung gegangen. Ein wackerer Freund hatte damals hinter meinem Rücken eifrig für möglichst vollständige Erfüllung meines Wunsches gesorgt, indem er bei Befreundeten drüben sich erkundigte, ob nicht eine Hochzeit in naher Aussicht stehe. Ich kenne seine Festigkeit; er würde meine Abreise wochenlang verzögert haben, um seinen Zweck zu erreichen. Nun kam’s Hals über Kopf, meine von ihm angeordnete „Präparation“ nach Grümbke’s bekannten trefflichen Werken über Rügen war noch nicht zur Hälfte beendet, da schob er mir einen offenen Zettel als Empfehlungsbrief in die Hand, die Bücher ins Ränzel und mich zur Thür hinaus. „Nun reise! Fahr’ wohl!“

Seitdem Rügen nicht blos für alle diejenigen Norddeutschen, welche daheim nie der Anblick eines Berges erhebt, sondern auch für die Mitteldeutschen bis nach Thüringen hinauf und in’s Erz- und Riesengebirge hinüber, wenn sie sich nach dem Meere sehnen, zu den jährlich besuchter gewordenen Reisezielen gehört, ist der Weg von Stralsund nach Mönchgut kein Geheimniß mehr. Ich fuhr von Alte Fähre auf Rügen im Postwagen nach Putbus. Unterwegs auf der herrlichen Fahrt durch die Insel (deren Beschreibung, ebenso wie die von Putbus, als nicht zu unserer Aufgabe gehörig, mir erlassen werden muß) fand sich ein Gesellschäftchen zu einer Wasserpartie von Lauterbach, der Badestätte von Putbus, nach Groß-Zicker, einem Kirchdorf auf der mittelsten der drei südlichen Landzungen von Mönchgut, zusammen, dem ich mich natürlich anschloß.

Am anderen Morgen fanden wir uns, verabredetermaßen, in Lauterbach, und nach einem erfrischenden Bad und stärkenden Frühstück bestiegen wir, fast zu einem Dutzend Männlein und Fräulein angewachsen, bei willkommenstem Wind und lachendem Himmel das kleine Segelboot. Nach etwa dreistündiger überaus köstlicher Fahrt lag die dritte Landzunge von Mönchgut mit dem Dorfe Thissow gerade vor uns und links öffnete sich der Zickersee, der uns zu unserem Ziele führen wird.

„Was bedeutet die Flagge bei Thissow?“ fragte eine der liebenswürdigen Damen.

Ah, wie kam mir nun meine Präparation zu Gute! Ohne den Verräther aus dem Ränzel zu ziehen, docirte ich getreu nach Grümbke: „Am Ostufer der Halbinsel dort drüben liegen drei Dorfschaften, welche allein das Recht der Lootserei haben. Diese drei Lootsendörfer heißen: Göhren, Lobbe und Thissow. Da die Passage durch die Meerenge zwischen Pommern und Rügen für die nach Wolgast, Greifswald oder Stralsund segelnden Kauffahrteischiffe wegen vieler seichter Stellen und Sandbänke unsicher ist, so müssen alle diese Schiffe für diesen Weg sich der Führung eines Piloten aus jenen drei Dörfern fügen. Der Ordnung und des Friedens wegen lassen die drei Dörfer das Lootsenrecht Reihe um gehen, und die Flagge dort bedeutet demnach, daß heute Thissow den Lootsen zu stellen hat.“

In Groß-Zicker trennte ich mich von der Gesellschaft, die vor Allem die hinter dem Pfarrhause sich erhebenden Hügel besteigen und dann zu Wagen weiter streben wollte. Mein einziges Augenmerk waren von jetzt an die Mönchguter Leute. Ihretwegen schritt ich in die Schenke und durch die Dorfgassen, blieb vor jeder Hausthür, vor jeder Gruppe, vor jedem Kinde stehen, verglich im Kopf alles Erschaute mit meinem Grümbke im Ränzel und schwenkte endlich zum Orte hinaus, um noch Middelhagen zu guter Zeit zu erreichen.

Das, was von den Eigenthümlichkeiten dieses Völkchens zunächst auffällt, die Tracht, hatte einen eigenen Eindruck auf mich hervorgebracht. Die vorherrschende Dunkelfarbigkeit der Kleidung bei beiden Geschlechtern erinnerte allerdings an etwas Klösterliches.

Die Mannsleute tragen schwarze Jacken mit schwarzen Knöpfen, von einem selbstgemachten Zeuge, welches Dreiling (Drillich, Drell) genannt wird, ferner ein oder auch zwei Paar kurze wollene Kniehosen und darüber sehr weite und etwas längere Pump- oder Fischerhosen, für gewöhnlich von weißer Leinwand, für feierliche Gelegenheiten ebenfalls schwarz. Ihre Kopfbedeckung ist daheim die Zipfel-, außerdem die Seemannsmütze und an Sonn- und Feiertagen ein niedriger schwarzer Filzhut mit breitem, über die Krämpe hängendem Band. Auch die Strümpfe sind von schwarzbrauner Wolle, und die Schuhe werden, statt mit blanken Schnallen, mit Senkeln oder Riemen befestigt.

Von demselben ehrwürdigen Alter und Aussehen sind die weiblichen Trachten. Frauen und Mädchen kleiden sich in schwarze Röcke und vorne zugeschnürte Mieder aus einem ebenfalls selbstgewebten Wollenzeuge, das sie „Warp“ nennen; die Röcke sind kurz und in unzählige Falten gelegt und die Mieder der Jungfrauen mit blanken Flittern benäht. Das wahre Kennzeichen der Mönchguterinnen ist ihr Kopfputz; er besteht aus einer Haube von feiner weißer Leinwand, über welcher eine schwarze, oben kegelförmig zugespitzte [215] Mütze so sitzt, daß nur ein schmaler Streif der Haube hervorsieht. Im Sommer wird über diesem Ungethüm noch der Strohhut getragen. Trotz alledem sagt ein Mönchguter Sprüchwort:

„Twei Ehl Resch un ein Pund Wulle
Gifft eine gaude Paudenhulle.“[2]

Uebrigens wird die Mütze der Verheiratheten mit einem schwarzen Bande über die Nähte besetzt und mit einem schwarzen Seidenbande zugebunden, wogegen das Kinnband der Jungfrauen nur aus Wolle sein darf. Wie die Männer zwei Paar Beinkleider, tragen die Mönchguterinnen zwei Hemden, ein langes ärmelloses und darüber ein kurzes von feinerer Leinwand und mit Aermeln. Als Trauertracht legen sie ein kurzes schwarzes, von der Faltenmenge ganz steifes Mäntelchen um. Trauernde Frauen müssen außerdem noch beim Abendmahl den Kopf in ein großes weißes Trauertuch hüllen. Eine Wittwe darf in ihrem Trauerjahr in der Kirche nicht auf ihrer gewöhnlichen Bank, sondern muß quer gegen dieselbe auf einem kleinen Schemel sitzen. Wahrlich, die Eldenaer Mönche haben hier dauerhafte Arbeit hinterlassen!

Leider fand ich auch den Weg, den ich fürbaß schritt, und später die meisten nicht fürstlich Putbus’schen Wege auf Rügen von gleicher Allerthümlichkeit wie diese Trachten. Ich hatte die sogenannte Straße erreicht, welche von Thissow nach Göhren und Middelhagen heraufführt; sie nahm aber bald die Eigenschaften einer bloßen Radspur an, ein Bild der einfachsten Eindrücke in die liebe Natur. Nach etwa zweistündigem Marsche gelangte ich an Lobbe vorüber, dann auf einer schmalen Erdzunge und schließlich auf einem Steindamme, die beide zwischen dem Lobber See und den Hagen’schen Wiek hinführen, nach Middelhagen.

Es ist sehr freundlich von dem Ort, daß sein erstes Haus rechts das Wirthshaus ist und daß der Reisende hier gleich die hübschen Mönchguterinnen zum Zwecke seiner Dialektstudien in die fröhlichste Unterhaltung ziehen kann. Das hiesige Plattdeutsch klingt aus dem Munde der Männer eben nicht angenehm, weil sie es gar zu arg dehnen; viel lieblicher, kaum wieder zu erkennen, klingt dieselbe Sprache im zungenfertigeren Frauenmund, besonders wenn schöne Augen über ihm zum Unverstandenen den erquickenden Commentar liefern.

Der Mann meines Empfehlungszettelchens war leicht gefunden, und an einem Tische vor dem „Kruge“ sitzend, hatten wir uns bald in unseren Gegenstand, das Leben und die Sitten der Mönchguter, eifrig vertieft.

„Und wie steht’s,“ fragte ich unter Anderem, „mit dem sogenannten ‚Jagen‘ der Mädchen?“

„Auch diese noch bestehende Sitte ist wenigstens falsch gedeutet worden. Allerdings haben Wittwen und Mädchen das Recht, um einen Mann zu werben, aber dies geschieht nur, wenn sie eine Wirthschaft besitzen oder ihnen ein Ackerhof durch Erbschaft zugefallen ist. Eine solche schickt, wenn sie nicht eine besondere Neigung für einen Bestimmten hat, einen befreundeten Mann mit einer Liste ab, auf welcher diejenigen Mannsleute verzeichnet sind, die ihr gefallen. Dann heißt es aber nicht ‚Jagen‘, sondern mit dem richtigen Fischerausdruck: Sie stellt nach Dem und Dem aus. Wenn freilich dieses Ausstellen oft fruchtlos gewesen ist, so mag wohl gesagt werden: Sie jagt das ganze Land durch. Uebrigens gereichen noch so viele derartige ‚Körbe‘ der Ehewerberin keineswegs zum Nachtheil. Aber haben Sie schon von den Eheproben der Mönchguter gehört?“

Ich mußte dies verneinen.

„Das ist der seltsamste aller alten Bräuche, durch welchen mancher unglücklichen Ehe vorgebeugt wurde und der noch jetzt hie und da vorkommt. Wollen sich nämlich zwei junge Leute heirathen, so leben sie erst eine Zeitlang zusammen, um zu prüfen, ob sie auch zu einer zufriedenen Ehe zusammenpassen. Es thut der Ehre keines Theils Eintrag, wenn sie wieder auseinandergehen; schon manches Pärchen hat sogar die Probe wiederholt. Nur wenn die Zusammenlebenden sich folgenreiche Eherechte herausgenommen haben, müssen sie ungesäumt den Bund schließen.“

„Um so seltener,“ fuhr mein Begleiter fort, „waren ehedem Vergehen gegen die Sittlichkeit; die Gefallene sah sich zur entsetzlichsten Strafe nicht blos auf dieser Halbinsel, zur Ausstoßung aus aller Gemeinschaft mit den Einwohnern, verdammt. Noch aus den dreißiger Jahren erzählt man die Geschichte eines von einem Fremden verführten bildschönen Mädchens, das nach kurzer Zeit vor Gram über die öffentliche Schmach gestorben ist. Seitdem jedoch die größtentheils hoch und schlank gewachsenen jungen Mönchguter, trotz ihrer Wasserrattennatur, häufig nach Berlin zur Garde gezogen werden, droht dieser Sittenreinheit manche Gefahr.“

Sehr wohlthätig ist der Anblick der durchschnittlichen Wohlhabenheit. Ackerbau, Fischfang, besonders auf den Häring, und die Lootserei sorgen dafür, daß die etwa fünfzehnhundert Menschen des Mönchguts keine Noth leiden und keine fremde Hülfe brauchen, nicht einmal zum Heirathen, denn sie bleiben auch in dieser Beziehung unter sich. Und lustig ist das Völkchen bei seiner Rastlosigkeit. Das Schäkern der mit Netzestricken oder sonstigen Arbeiten beschäftigten Mädchen mit Alt und Jung erfreute uns fast vor jeder Thür bei unserem späten Abendgang durch den Ort im süßen Ländchen.

Am Morgen holte mein Begleiter, bereits festlich angethan, mich zeitig ab, um mich bei den beiden Familien der Brautleute einzuführen, welche heute ihre Hochzeit feierten. Die Braut war in Middelhagen daheim, der Bräutigam ein Lootse von Lobbe. Wir gingen zuerst in das Brauthaus und nahmen hier die Einladung für das Fest an, dann wanderten wir das halbe Stündchen nach Lobbe hinüber, um auch den Bräutigam und die Seinen zu begrüßen.

Die Sitte schreibt nämlich vor, daß jedes der Brautleute seine Verwandten und Freunde für und zu sich einladet und für sie auch die Kosten des Hochzeitschmauses allein trägt. Beide Theile versammeln sich auch nicht gemeinsam in einem Hause, sondern beginnen das Fest in derselben Geschiedenheit. Ist eines der Brautleute von einer anderen Ortschaft her, so wählt es wohl für sich und seine Gäste das Haus eines Verwandten im Kirchdorf. Die Herrlichkeit selbst beginnt am Nachmittag.

Wir begaben uns in’s Brauthaus. Die herzliche Begrüßung durch die Brauteltern und ein wenig scheues Anstaunen des Fremden von Seiten der Gäste, das war Beides nichts Auffälliges. Erst jetzt sah ich die Braut, ein schönes, stattliches Mädchen, und zwar in ihrem Schmuck. Farbe und Schnitt dieser Kleidung sind wie gewöhnlich, nur kam mir Alles zierlicher vor. Auf dem Haupte trug sie über dem heute nicht unter der dicken Wollmütze versteckten Haar, das vielmehr ganz besonders frisirt, mit Eiweiß geglänzt und aufgesteift war, einen Kranz und darüber eine Krone, beide von Buchsbaum, dessen Blätter stark von Gold- und Silberschaum schimmerten. Eine Guirlande von Buchsbaum und Blumen schmückte ihre schöne Büste wie eine Ehrenkette.

Der Zug setzte sich, ohne Bräutigam, in Bewegung. Als wir auf dem Kirchhofe ankamen, rückte von der anderen Seite der Bräutigamszug herein. Hier erst begrüßten sich die Brautleute, indem der Bräutigam seiner Verlobten die Hand reichte. Und nun nahm die Braut Abschied von ihren Eltern und Freundinnen, und obwohl ihr Schicksal sie nur eine halbe Stunde weit vom Heimathdorf führte, flossen da doch der Thränen so viel, als ging’s direct nach Amerika.

Auch der Bräutigam erschien in der gewöhnlichen Sonntagstracht, nur mit einem Strauß an der Brust und einen großen weißen Halstuch, einem Brautgeschenk, mit dem es eine besondere Bewandtniß hat. Die Zipfel desselben dürfen nur in dem Fall vorne lang herunterhängen, wenn der Bräutigam ein treuer Junggesell geblieben; außerdem müssen sie eingesteckt werden.

Unser Bräutigam ließ sie lang flattern, und es war ein stolzer Blick, den die Braut darauf warf, als sie an seinem Arm in die Kirche und zum Traualtar schritt.

Nach der Trauung führte der junge Ehemann seine junge Gattin, die wir aber noch immer Braut heißen, diesmal die Dorfmusik voran, die Gäste hinterdrein, von denen einige mit bunten Bändern geschmückte Kränze auf hohen Stangen trugen, blumenstreuende Kinder dazwischen und Jubel ringsumher, bis zum sogenannten Warmbierhause, wo er sie entließ, um mit allen männlichen Gästen in’s Bräutigamshaus zurückzukehren, während alle weiblichen hier zurückblieben.

Ob wohl keine Ausnahme mit den Fremden gemacht wird? Ich flüsterte dies meinem Begleiter zu und dieser vermittelte es, daß ich wenigstens die Einleitung dieser weiblichen Separatfeier mit ansehen durfte.

Nachdem man allerseits Platz genommen, überreichte eine [216] Frau der Braut einen Topf mit Warmbier, wozu sie folgenden Vers sprach:

„Gauden Avend, mien’ lewe Jungfer Bruut!
Hier bring ik Dienen warmen Pott.
Darut drink mit dem lewen Gott,
Drink Du mit alle Diene lewe Fründ,
Bet ji ju (ihr euch) im Himmel wedder find’t.“

Und nun begann eine ordentliche Collation von Warmbier, in welchem reichlich große Rosinen schwammen. – Nicht gelüstig nach diesen Süßigkeiten, eilten wir zu der Männergesellschaft im Bräutigamshaus. Hier sprach man dem frischen Wolgaster tapfer zu, denn dieses Bier zieht man für solche Festlichkeiten vor, während den gewöhnlichen Trank der Mönchguter sich selbst braut und sogar den Hopfen dazu selbst baut. Außer dem Bräutigam zeichneten sich hier der Hochzeitbitter und der Schenker (Mundschenk) ebenfalls durch weiße Tücher aus. Ein dritter, der Troß (Truchses), der die Speisen aufzutragen hatte, bekam später seinen Schmuck.

Es ging schon auf den Abend zu, als der Schenker mit einer Kanne Bier und einer Pistole bewaffnet aufbrach. Wir folgten ihm – zum Warmbierhause. Dort schoß er seine Pistole los, schritt dann zur Frauengesellschaft und hielt, die Kanne zum Rundtrunk darbietend, folgende Anrede:

„Na gauden Avend! Hier
Bring ick ene Kanne Bier.
As de Topper (Zapfer) toppt hett,
As de Schenker gaaten (gegossen) hett,
Nich vörm (für den) Hunger,
Nich vörm Kummer,
Gaud vörm Döst (Durst),
Gaud vörm Frost;
Ut schall’t sien! (aus soll es sein.)“

Gewissenhaft ward die Kanne geleert, sämmtliche Frauen folgten nun dem Schenker in das eigentliche Hochzeitshaus, wo man sich endlich zum richtigen Hochzeitsschmaus niedersetzte. Und als nun der Troß das erste Gericht, eine mächtige Kumme Reis auf die Tafel setzte, da band die Braut auch ihm ein großes weißes Tuch um den Arm. Alles andere, Essen, Trinken, Tanzen und Ende, verlief wie bei allen anderen Kindern dieser Welt, so daß ich stillen Abschied nahm, ohne letzteres abzuwarten.

So hatte ich denn an den beiden Tagen nur Licht, nur hellen Himmel über frohen Gesichtern gesehen. Es wird auch nicht an Schatten und schwarzen Tagen des Leids fehlen – und sollten nur die Kreuze auf den Gräbern dafür zeugen. Alles zusammengenommen: ein glücklicher, guter, kerniger Menschenschlag wohnt auf Mönchgut, und wer einmal dort war, sehnt sich gewiß dahin zurück. H. v. C.     




Letzte Anwendung der Folter in Deutschland.

Justizbild aus dem neunzehnten Jahrhundert.

Unmöglich könnte man heute eine Hexe gerichtlich anklagen und verurtheilen, unmöglich einen Menschen durch Anwendung körperlicher Schmerzen zu einem gerichtlichen Geständniß zwingen wollen; käme dergleichen noch vereinzelt vor, so würde es einfach unter die Kategorien der Verbrechen oder der Verrücktheiten fallen und als reine, abnorme Zufälligkeit ganz außerhalb des jetzigen, als berechtigt und sittlich anerkannten Geisteslebens stehen! Dieser Satz ist richtig, aber wie langsam im Allgemeinen der Fortschritt der sittlichen Ideen ist, bis sie die Hindernisse gegen die bessere Erkenntniß mit bewältigender Kraft darniederdrücken und die Vernunft zu ihrem vollen Rechte gelangt, dafür spricht wohl nichts mehr, als eben die Geschichte des Rechts selber. Es ist nicht unsere Absicht, dies hier weiter auszuführen, wir wollen nur einige Belege von jener Barbarei geben, welche unser heutiges Rechts- und ästhetisches Gefühl gleich stark beleidigt, die aber früher so natürlich der allgemeinen und speciell der juristischen Anschauung entsprach, daß sie eine kaum zu übersehende Literatur hervorrief. Giebt doch das 1745 erschienene Zedtler’sche Lexikon in dem vierundfünfzig Folioseiten umfassenden Artikel „Tortur“ schon eine ganze Bibliothek der auf diesen Gegenstand bezüglichen Schriften, und ist nicht einmal vollständig! Und selbst noch nach ihm, bis in unser Jahrhundert hinein, ist die Literatur mit immer wiederholten Ausführungen darüber fortwährend vermehrt worden, bis endlich die siegende Humanität erst vor wenigen Decennien dem Unwesen ein völliges Ende machte.

Wir finden die Tortur schon bei den Griechen und Römern, auch schon in den alten deutschen Volksrechten der Salier, Westgothen, Baiern und Burgunder. Im deutschen Mittelalter läßt sich der Gebrauch der Folter schon im vierzehnten Jahrhundert verfolgen und einzelne Spuren weisen selbst noch in eine frühere Zeit zurück. Allmählich bildete sich ein normales Verfahren mit Folter und Todesmarter zu voller Entsetzlichkeit aus. Später erhielt die spanische Inquisition in des Großinquisitors Valdez Statuten die Quintessenz des auf Kosten des menschlichen Gefühls gesteigerten Raffinements, Menschen zu quälen; dieselbe ließ in Neapel den unglücklichen Campanella vierzig Stunden lang die Folter leiden. Die Folterwerkzeuge, welche die spanische Armada mit sich führte und welche noch im Londoner Tower gezeigt werden, sind grausenerregende Denkmale der Tigernatur im Menschen, und doch bot das gerichtliche Verfahren unter der englischen Elisabeth ganz ähnliche Entsetzlichkeiten dar. In Frankreich war schauderhaftes Verbrennen der Ketzer, die an Ketten über den Flammen des Scheiterhaufens hangend bald in diese versenkt, bald ihnen entrückt wurden, um die Qual zu verlängern, Viertheilen und gräßliche Folterpein bis zur gänzlichen Körperzerrüttung an der Ordnung, und Deutschland gewann sich namentlich in der Unzahl von Hexenprocessen das gleich unauslöschliche Gepräge gerichtlicher Barbarei. Sein Benedict Carpzov (1595–1666), Professor der Rechte in Leipzig und sächsischer Geheimer Rath fürchterlichen Andenkens, war ein mit fanatischem Rigorismus gegen die Menschlichkeit wüthender Knecht des gesetzlichen Buchstabens: derselbe soll an zwanzigtausend Todesurtheile gefällt haben! Dabei ging er, ein frommgläubiger Christ, jeden Monat zum heiligen Abendmahl und las dreiundfünfzigmal die heilige Schrift durch!

Ueberhaupt war die Zahl der Personen, welche namentlich im fünfzehnten, sechzehnten und siebenzehnten Jahrhundert in den verschiedenen deutschen Gerichten schuldig oder unschuldig der Folter unterworfen und nach Befinden hingerichtet wurden, unglaublich groß. Man folterte, zwickte, schleifte, räderte, viertheilte und briet im Wetteifer; geringe Vergehen wurden mit den härtesten Strafen belegt, bei unerwiesener Schuld Todesurtheile gesprochen, und einfacher Tod war Gnade. Die Reformation änderte hierin wenig; freilich waren die Katholiken den Evangelischen voraus in Verbrennung der Ketzer, aber die Barbarei der Hexenprocesse war gemeinschaftlich. Im Braunschweig’schen wurden von 1590–1600 an zehn bis zwölf Hexen an Einem Tage verbrannt; die Brandstätte vor dem Lechelnholze bei Wolfenbüttel war von den Brandpfählen anzusehen wie ein kleiner Wald. Ebenso wurde im Henneberg’schen gewüthet. Entsetzlich war das Verfahren im Bisthum Bamberg: hier wurden von 1624–1630 nicht weniger als dreihundertsieben Personen, meistens um der Hexerei willen, zum Tode verurtheilt, und in dem kurzen Zeitraum von neunundzwanzig Jahren wurden allein in dem kleinen nur hunderttausend Seelen umfassenden Ansbacher Bezirk mehr als vierzehnhundertvierzig Menschen gefoltert, dreihundertneun mit Pranger und Staupbesen belegt und vierhundertvierundsiebenzig hingerichtet.

Doch genug davon; nur noch ein kurzes Wort über die Folter selbst. Wie viele Grade der Folter sind, sagt ein alter Criminalist, kann so gewiß nicht beschrieben werden, weil sie sowohl nach der Zahl als den Instrumenten in keiner Weise an allen Orten übereinkommen. Einige fingiren neun Species, Andere glauben, daß sieben genug seien, und Andere machen fünf Grade der Tortur, nämlich 1. die Drohung, zu torquiren, 2. die Führung an den Ort zur Folterung, 3. die Entblößung und Bindung, 4. das Aufheben zur Folterbank und 5. die Erschütterung, wann der Aufgehenkte aufgehalten und mit Schlägen gepeinigt wird. Andere wiederum – die verbreitetste Annahme – zählen zu dem ersten Grad die Daumenstöcke mit den Schnüren; zum andern das Aufziehen auf der Leiter, ingleichen die spanischen Stiefel und [217] den gespickten Hasen; zum dritten die Ausdehnung der Glieder mit dem Kolben und die Brennung des Leibes mit brennenden Lichtern. Zur Erklärung der Instrumente bemerken wir Folgendes:

Die Daumenstöcke sind, wie uns ein früherer Artikel in der Gartenlaube 1864, Nr. 34 bereits gelehrt hat, kleine eiserne Schrauben mit innen gekerbten Flächen; zwischen diese ward das obere (nach Anderen das zweite) Glied des Daumens gelegt und dann hart zugeschraubt. Die Schnüre bestandeu aus hänfenen, federkiel- (neun Fäden) dicken Bindfaden, an den Enden mit hölzernen Quergriffen. Sie werden „solchergestalt appliciret, daß der Scharfrichter und dessen Knechte dieselbe nicht nur über die zusammengebundenen Arme, und zwar über dem Handgelenk nach dem Ellenbogen zu, einmal über’s andere herumschlingen und damit kneipen, sondern auch gegeneinander stehend stark hin und wieder ziehen, als wenn sie sägeten. Welches Schnüren denn (das häufig bis auf den Knochen ging) den Inquisiten grausame Schmerzen macht, so daß sie gar jämmerlich thun und überlaut schreien“. Auf der besonders dazu construirten Leiter ward der Delinquent an den auf den Rücken gebundenen Händen in die Höhe gezogen und seine Füße mit Gewichtstücken beschwert, deren größere oder geringere Schwere den Foltergrad verminderte oder verstärkte. Die spanischen Stiefeln waren größere Pressen von Holz mit Schrauben, deren gekerbte Innenseiten auf das Schienbein gelegt und dann mit den eisernen Schraubenschlüsseln bis zum unerträglichsten Schmerze angezogen wurden. Auf der Leiter diente zur Verschärfung der sogenannte gespickte Hase, eine Stachelwalze, die beim Aufzug unter den Rücken des Gefolterten geschoben und an der Leiter befestigt wurde. Im Uebrigen war die Zahl und die Form der Instrumente, überhaupt die Art der Folterung nach den verschiedenen Gegenden und Zeiten verschieden. Jetzt noch zahlreich erhaltene Geräthe (in Nürnberg, Hannover, Regensburg etc.) geben davon eine Anschauung.

Einzelne der Instrumente erhielten von den Gegenden, wo sie erfunden oder besonders gebraucht wurden, auch ihren Namen, so die Braunschweig’schen Stiefeln, der Lüneburg’sche Stuhl (mit Stachelsitz), der Mannheimer Bock, das Bamberg’sche Instrument, der dänische Mantel, die spanische Kappe, das doppelte spanische Fußband – welche im Einzelnen näher zu beschreiben wir gern unterlassen; es genüge, über die schreckliche Wirkung dieser Geräthe nur zu bemerken, daß viele Delinquenten unter dem Druck der unsäglichen Qualen ihr Leben aufgaben, wiewohl die alten Criminalgesetzbücher ausdrücklich erinnern, daß die Folter „nicht härter sein müsse, als die Strafe, welche auf die Wahrheit der Missethat erfolget, und daß Alles mit solcher Moderation und Maße geschehe, damit nicht der Inquisit darüber crepire“. Als Probe Folgendes:

„Bedürfenden Falles wird ferner auch zum Feuer gegriffen, da man dann entweder Federkiele in zergangenen Schwefel eintunket und dem Inquisiten, indem er auf der Leiter lieget, solche angezündet auf den bloßen Leib wirft, oder davon gemachte Pflaster anzündet und auf den Leib klebet; item einen gewissen Knaul von einer halben Elle lang Holz, mit Hanf umwunden, in zerlassen Pech eintunket, bis daß es ungefähr ein Knaul von einer Faust groß geworden, den man hernach anzündet und dem Inquisiten auf den bloßen Leib wirft, doch so, daß das Bewerfen mit brennendem Schwefel oder Pech nicht auf die Brüste, sondern auf die Schultern geschehe, oder auch spitzige Zwecken von Kienholz unter die Nägel schläget und anzündet, jedoch muß auch hiermit behutsam umgegangen werden, weil von dem Gebrauche der Kienstöcke allerhand schädliche Wirkungen zu besorgen.“ Das Buch, dem wir diese Stelle entnehmen, ist: Der Klugen Beamten auserlesener Criminal-Proceß vom Jahre 1760.

Seitdem ist die Folterung noch sehr häufig vorgekommen, wenn auch in der letzten Zeit wohl mehr nur in der Form der sogenannten Territion, wobei dem Inquisiten die Instrumente nur angelegt wurden, um ihn zu schrecken, ohne die Folter selbst zu vollziehen. Die letzten Fälle sind uns bis jetzt aus dem Hannover’schen bekannt. Die Territion wurde hier noch im April 1799 bei dem Amte Uslar, in der Nacht vom 4. zum 5. März 1805 in der Stadt Hannover und in der Nacht vom 12. auf den 13. März 1818 bei dem Amte Meinersen angewendet. Um einen Begriff von der Barbarei zu geben, welcher noch in unserm vorgeschrittenen Jahrhundert ein möglicher Weise vollkommen Unschuldiger ausgesetzt war, geben wir von diesem in Deutschland wahrscheinlich allerletzten Falle im Nachstehenden das ausführliche Protokoll.

Der Köthner Fr. Wiegmann aus Ottbergen ward im Jahre 1816 beim Amte Meinersen verhaftet und zur Untersuchung gezogen, weil er verdächtig war, zwei Pferde, zum taxirten Gesammtwerthe von achtzig Thalern Gold, des Nachts von der Weide gestohlen zu haben. Bei dem beharrlichen Leugnen des Inquisiten wurde gegen ihn die Realterrition erkannt und zu diesem Behufe von der königlichen Justiz-Canzlei in Celle unterm 4. März 1818 eine ausführliche Instruction an das Amt erlassen, worin es unter Anderm heißt: daß der Nachrichter, wenn der Inquisit in das Torturgemach eingeführt und ihm zur Vollstreckung des Erkenntnisses übergeben sein würde, demselben die zur Peinlichkeit dienlichen Instrumente vorzeige, ihn zur Vermeidung der Marter zu einem ungezwungenen (!) Bekenntnisse ermahne, bei beharrlichem Leugnen den Inquisiten durch seine herzutretenden Leute wirklich angreifen, entkleiden und auf die Folterbank setzen lasse, die Daumschrauben anlege und mit deren Zuschraubung einen gelinden Anfang machen lasse. Diese genaue Vorschrift wurde von dem Amte laut eingesandten Protokolls folgendermaßen ausgeführt.

In dem Gewölbe unter dem alten Amthause fand man jetzt den Scharfrichter Funke so wie dessen Bruder und neun bis zehn Henkersknechte bereits versammelt. Das ohnehin grauenhafte Gewölbe hatte in dieser Nacht (12. bis 13. März) ein schauderhaftes, furchtbares Ansehen von innen, welches die Todtenstille, weil kein einziger Zuschauer zugelassen worden, und die absichtlich angebrachte matte Erleuchtung in den grausenvollen Winkeln noch besonders vermehrte.

Inquisit Wiegmann wurde vorgeführt, von Ketten losgeschlossen, die Uhr zeigte auf zwölf Uhr fünfzig Minuten. Der Inquisit blieb ganz ruhig und schien entschlossen zu sein, Alles mit sich machen zu lassen, was man wolle. Amtsseitig ermahnte man ihn nochmals, jetzt, da er Ernst sehe, es nicht auf das Aeußerste ankommen zu lassen. Derselbe blickte gar nicht um sich und erklärte mit Fassung, daß er unschuldig sei. Hierauf trat der Scharfrichter Funke vor, forderte den Inquisiten Wiegmann nochmals zum Bekenntniß auf und führte ihn etwas zur Seite an den Tisch, auf welchem die Peinigungsinstrumente zur Hand lagen. Hier stellte ihm Funke auf eine grausame Weise, jedoch in aller Kürze vor, was man mit ihm und seinen Knochen jetzt sogleich vornehmen werde, und sodann mußte er vor den Tisch der Beamten treten, welche nochmals ihn zu einem gütlichen Geständniß aufforderten.

Der Gang der Realterrition war folgender: Zwölf Uhr dreiundfünfzig Minuten gab man dem Scharfrichter den Wink zum Angriff. Neun Knechte fielen mit Drohungen und Geschrei über den Inquisiten her und rissen ihm unter Hin- und Herraufen die sämmtlichen Kleidungsstücke vom Leibe, banden ihm eine weiße Schürze vor und zogen ihn nach der Folterbank. Das Zeug war stark und ging das Abreißen desselben langsamer, als gewöhnlich, obgleich man bei dem Losschließen gleich einen starken Kittel dem Inquisiten ausgezogen hatte. Inquisit erklärte, er habe nichts gethan und könne nichts bekennen. Von den Beamten ward er aufgefordert, sich die Marter zu ersparen. Inquisit schien die Schmerzen zu verachten, der furchtbare Angriff imponirte gar nicht, er sagte ganz ruhig: „Wie kann ich was bekennen, was ich nicht gethan?“ Zwölf Uhr sechsundfünfzig Minuten befand sich Inquisit auf dem Marterstuhl, auf den er vor einigen Augenblicken unsanft niedergesetzt war; der Stuhl ward etwas zurückgelehnt, damit Inquisit das Marterkissen (mit den Stacheln) desto mehr fühlen möchte. Derselbe behielt seine ganze Fassung, antwortete ohne Seufzer und Miene zu verzucken: „ Ich bin unschuldig“. Zwölf Uhr siebenundfünfzig Minuten waren dem Inquisiten die Hände an die Stuhllehne gebunden, die Augen waren ihm gleichfalls verbunden. Derselbe ließ Alles geduldig mit sich machen, antwortete jedem Beamten bei seinem Charakter mit Höflichkeit und langsam, „daß er nichts gethan habe“.

Zwölf Uhr achtundfünfzig Minuten waren ihm die Hände wieder losgebunden, er ward aufgerichtet, ermahnt zur Wahrheit, indem er jetzt Ernst sehe und sich überzeugen müsse, daß dies kein Blendwerk sei. Inquisit in ruhiger Gelassenheit sagte: „Wenn man mich todt martert, ich habe nichts gethan, machen Sie, was Sie wollen.“ Vor zwölf Uhr neunundfünfzig Minuten war er bereits wieder auf dem Marterkissen. Nach zwölf Uhr neunundfünfzig Minuten wurde der Stuhl zurückgelehnt, einige Secunden darauf waren die Daumstöcke angelegt. Inquisit sagte nichts, hielt [218] geduldig die Hände her. Amtsermahnungen halfen nichts. Vor ein Uhr schrob man etwas, ein Uhr waren solche zugeschroben, jedoch angeblich gelinde. Inquisit schwieg; Ermahnungen fruchtlos. Scharfrichter Funke ließ ihm einen Peitschenhieb geben. Inquisit zuckte, weil solcher bei verbundenen Augen unvermuthet kam. Kein Laut, kein Seufzer, Ermahnungen vergeblich. Ein Uhr und eine halbe Minute zweiter Peitschenhieb. (Funke versicherte, daß vor dem festen Zuschrauben einige Hiebe in dies Verfahren gehörten.) Inquisit schien diesen zweiten Hieb nicht zu achten. Es war ein Uhr eine Minute. Der Marteract war vorbei, ein Uhr ein und eine drittel Minute wurde Inquisit vor den Tisch geführt, gestand aber nichts, er antwortete, als wenn er Jemanden heftig etwas versicherte: „Wie kann ich etwas bekennen, was ich nicht gethan!“

Der Inquisit wurde unter dem Vorwande, daß ihm die weiteren Instrumente nochmals sollten umständlich gezeigt werden, an den Tisch des Scharfrichters geführt, hier wurde er mit Salben bestrichen. Derselbe zeigte an: „Ich friere und kann es nicht besehen.“ Er achtete auch nicht auf die Drohungen und ward ein Uhr zwölf Minuten geschlossen wieder in das Gefängniß abgeführt.

Am folgenden Tage zeigte der Gefangenwärter an, der Inquisit sei heute Morgen außerordentlich traurig, lese in einem Gebetbuche und glaube, daß diesen Abend die Sache von Neuem wieder losgehen werde. Er, Comparent, habe es für seine Pflicht gehalten, den Inquisiten hierbei zu lassen. Bald darauf habe ihm Wiegmann entdeckt, daß er lieber sterben wolle, als diesen Abend die ihm gestern Nacht gezeigten Martern aushalten könne. Amtsseitig hielt man für zweckmäßig, die Wachen zu verdoppeln, um desto mehr Geräusch zu machen, und wies den Gefangenwärter an, den Inquisiten in seinem Glauben, daß die Sache wiederholt werden würde, zu bestärken. Der Scharfrichter Funke zeigte an, er habe den Wiegmann heute mit Salben versehen, finde solchen gesund und habe ihn ermahnt, heute Abend zu bekennen, weil er sonst wider seinen Wunsch das an ihm wirklich verrichten werde, was er vergangene Nacht ihm nur gezeigt habe. Später berichtete der Gefangenwärter weiter, daß Wiegmann, wie ihm deuchte, mit sich selbst kämpfe, ob er gestehen wolle oder nicht; er höre genau auf die Wachen, ob diese von demjenigen sprächen, was heute Nacht vor sich gehen würde. Er habe demselben mehrmalen gesagt, daß er bis diesen Abend noch Zeit habe, sich zu bedenken, daß er aber vor Abend bekennen müsse. Den neuen Wachen habe er gesagt, daß sie sich als eine Heimlichkeit untereinander, doch so, daß es zu Wiegmann’s Ohren komme, gegen Abend erzählen möchten, daß noch mehr Leute zu des Scharfrichters Truppe gekommen wären. Amtsseitig bedeutete man, daß man vor Abend den Inquisiten nicht ängstigen möge.

Abends sieben Uhr zeigte der Gefangenwärter an: Wie es dunkel zu werden angefangen, habe der Inquisit Wiegmann große Angst verrathen, und die Wachen hätten sich einander erzählt, daß ein neuer Wagen voll Schinderknechte eben angefahren sei, auch daß alle Leute vor dem Amte schon hin und her liefen. Jetzt habe er den Inquisiten mit Hinweis auf die bevorstehenden Martern nochmals eindringlich zur Wahrheit ermahnt. Wiegmann habe ihm jetzt erklärt, daß er sich vor Angst nicht zu retten wisse, lieber bekennen als sich von Neuem martern lassen wolle und daß er daher um ein Verhör bitte. Der Gefangenwärter kehrte sofort zurück, mittlerweile dann der Beamte es übernahm, in aller Eile mündlich vom Inquisiten das freie (!) Geständniß zu erhalten, worauf man denselben in einem Tempo auf die Amtsstube führen lassen wolle. Um Widerruf zu vermeiden, ließ man vieles Licht auf die von spät beendigten Terminen noch ganz warme Amtsstube bringen, ließ ferner eine Menge Leute auf den Amthof zusammentreiben und Geräusch so viel wie möglich darauf verbreiten, wobei denn Leute mit Leuchten nach dem Torturgewölbe hin und her laufen mußten. – –

So war denn das Ziel erreicht! Die königliche Justiz-Canzlei zu Celle aber rescribirte auf den Amtsbericht: „Wir haben aus den über die Vollstreckung der Euch demandirten Realterrition eingesandten Protokollen ersehen, daß Ihr nicht nur bei der Vollstreckung derselben mit einer eigenmächtig geschärften Strenge verfahren, durch welche der Inquisit weit mehr gelitten hat, als es die allgemeinen Regeln des Criminalprocesses und der Praxis und das von uns ertheilte specielle Instructorium vom 4. März dieses Jahres beabsichtigten und erlaubten, sondern auch außerdem noch eine überall nicht autorisirte, fast einen ganzen Tag fortgesetzte Verbalterrition hinzugefügt habt, wodurch Ihr die Angst des Inquisiten bedeutend vergrößert und vielleicht bleibende Nachtheile für dessen Gesundheit verursacht habt. Wir sind vom königlichen Cabinets- Ministerio beauftragt, Euch wegen dieser Procedur das Mißfallen desselben zur Belehrung für künftige Fälle (!) zu erkennen zu geben.“ –

Gottlob kam es nicht zu „ künftigen Fällen“! Eine Verordnung vom 17. April 1822 hob endlich die Tortur in dem Königreiche Hannover auf. Im Jahre 1840 wurde auch Karl’s des Fünften peinliche Halsgerichtsordnung zu Grabe getragen, wie in einem Bilde mit den Porträts aller Celler Richter (als Leidtragender) solches der Nachwelt erhalten worden ist. Und der Inquisit Wiegmann? Nachdem derselbe zwar die Folter, ohne zu bekennen, überstanden hatte, jedoch alsdann durch die Angst vor ferneren Qualen zur Ablegung eines vollkommenen Geständnisses gedrängt war, ist er zu einer vierjährigen Zuchthausstrafe verurtheilt worden und noch vor deren Ablauf im Zuchthause gestorben.




Geistliche Exercitien.

Es war am Sylvestertage des Jahres 18.., als ich nach X. abreiste. Ich sollte nach der Bestimmung derer, welche mir durch Darbietung der nöthigen Geldmittel die Fortsetzung meines Studiums ermöglichten, in das dortige Knabenseminar eintreten und mich darin zu dem geistlichen Berufe vorbereiten. Mein Vater war dagegen – ich ursprünglich ebenfalls. Dennoch reiste ich meinem neuen Bestimmungsorte zu, weil ich einsah, daß die Mittel meines Vaters zu beschränkt waren, als daß ich mir mit ihrer Hülfe eine höhere Bildung hätte verschaffen können. Zudem findet man sich in der Jugend leicht in jede Aenderung, man erblickt die unangenehmsten Lebensverhältnisse durch die rosige Brille kindlicher Unbefangenheit und jugendlichen Vertrauens.

Am Abend desselben Tages langte ich in X. an; die Pforten des Knabenseminars, von einer barmherzigen Schwester geöffnet, schlossen sich hinter mir und trennten mich für drei Vierteljahre von der äußern Welt, in deren Wogen und Treiben der Jüngling zum Manne reifen muß, wenn er ein rechter Mann werden will. Andere Leute denken freilich anders, auch meine hohen Gönner und Helfer – die katholische Geistlichkeit meines Orts – waren darüber anderer Ansicht. Die Welt ist ein Sumpf, durch den sich nur der geläuterte und im Christenthum erstarkte Mann mit Ehren durchwinden kann, – über dem Haupt des unerfahrenen Jünglings schlagen die Schmutz- und Kothwellen des Lasters zusammen, er geht moralisch zu Grunde und kann infolge dessen nie ein brauchbares Werkzeug der Kirche, d. i. der Geistlichkeit werden, – so war ihre Meinung, und sie haben vielleicht von ihrem Standpunkte aus Recht.

Ich habe nie ein Institut kennen gelernt, das den Zweck, seine Zöglinge von dem Verkehr mit der Welt auszuschließen, in umfassenderer Weise erfüllt hätte, als das Knabenseminar.

Vergegenwärtigt man sich eine Anstalt, in der ein gleißnerischer, himmelsüchtiger junger Geistlicher von asketischer Frömmigkeit ein eisernes Regiment führt, gestützt auf die Berechtigung, seinen Zöglingen Frühstück, Vesper- und Abendbrod ad libitum auf längere oder kürzere Zeit zu entziehen und sie mit Maulschellen oder Stubenarrest zu tractiren; eine Anstalt, in der nach der Schablone gedacht, gearbeitet, gebetet, ja sogar gegessen und getrunken wird, deren Insassen durch Heuchelei, Frömmelei und gegenseitige Angeberei sich in der Gunst des Herrn Präses Hochehrwürden festzusetzen suchen, – so hat man ein bis in’s kleinste Detail genaues Conterfei des Instituts, in welches mich die Güte meiner Gönner versetzte.

Ich hatte bis zu meiner Ankunft in X. in einer durch und durch protestantischen Gegend gelebt, ein rein protestantisches Gymnasium

[219] besucht und mir dadurch, wohl unbewußt, eine sehr liberale Anschauung in Religionssachen angeeignet.

Nun dieser Umschwung! Schon im Anfang meiner Laufbahn in X. sollte mir der Unterschied einer liberalen protestantischen und einer asketisch katholischen Erziehungsweise sehr deutlich gemacht werden. Es war nämlich eine althergebrachte Sitte, daß in den ersten Tagen jedes Jahres sogenannte geistliche Exercitien von einem Klostergeistlichen – gewöhnlich aber von einem Jesuiten – abgehalten wurden, – eine geistige Uebung, welche den Zweck hat, das menschliche Herz gleichsam zu zerquetschen, es in eine derartig mönchsmäßige, armsünderliche und deprimirte Stimmung hineinzubeten, daß es ganz verhimmelt, aus den Erbärmlichkeiten und Sünden dieses Jammerthals sich zu befreien und einen Vorgeschmack der Seligkeiten des Jenseits zu erhalten strebt, – alles dieses natürlich im Vollbewußtsein seiner Unwürdigkeit. Gleich am ersten Tage nach meiner Ankunft sollte mir Gelegenheit in Fülle gegeben werden, mein Gesicht über die im Knabenseminar herrschenden merkwürdigen Gebräuche in verwundert krause Falten zu legen. Zwar machte es schon einen eigenthümlich beklemmenden Eindruck auf mich, als um halb fünf Uhr Morgens eine alte Glocke, von einer barmherzigen Schwester in Bewegung gesetzt, ein ohrenzerreißendes Geheul anstimmte und das ganze Seminar binnen fünf Minuten auf die Beine brachte; zwar fühlte ich mich seltsam berührt, als ich, kaum aus den Federn gekrochen und nur mit Hauskleidern versehen, mich aus dem warmen Bett in die kleine, kalte Capelle versetzt sah und, die Augen krampfhaft geöffnet, mich mit undeutlicher Stimme an der Herbetung des Glaubens, eines Dutzend Paternoster, sowie unterschiedlicher anderer mit Ave Maria dicht gespickter und gemischter Gebete fromm betheiligte; zwar sträubte sich mir unwillkürlich das Haar, als ich sah, wie der Präses, indignirt über einen Alumnen, der die Frechheit hatte, statt den Rosenkranz zu beten, mit den Perlen seiner Schnur spielend die Langeweile abzuwehren, dem Unglücklichen eine beträchtliche Anzahl urkräftiger Ohrfeigen verabreichte und dies mit einer Virtuosität, die auf eine langjährige, erfolgreiche Praxis schließen ließ; – aber meine Verwunderung erreichte erst den höchsten Grad, als der Herr Präses Hochehrwürden nach gedeihlicher Beendigung des Morgensegens den Arbeitssaal betrat und seine Seminaristen ungefähr folgendermaßen anredete:

„Meine in Christo geliebten, theueren Söhne! Noch voll dankbarer Erinnerung an den reichlich gespendeten Gottessegen des heiligen Weihnachtsfestes kehrt Ihr zurück in die Euch mit einer wahren, echten, christlichen Erziehung versehende Anstalt, in die Anstalt, deren Vorsteher es sich zum heiligsten Ziele gesetzt haben, Euch zu echten Christen auszubilden, die das lautere Gotteswort hoch über irdische Weisheit stellen, Euch zu dem hohen Berufe, Diener Gottes und seiner Kirche zu sein, heranzubilden. Ihr kehrt zurück, um neuer Segnungen theilhaftig zu werden, um durch die heiligen Exercitien Euren Geist zu sammeln, Eure Seele zu Gott zu erheben, kurz, um dem Herrn allein zu leben. Eurem Wunsche soll jetzt Rechnung getragen werden. Unser gnädigster Herr Erzbischof sandte den ehrwürdigen Pater L. aus der Gesellschaft Jesu, und schon heute wird dieser voll heiligen Eifers die geistliche Uebung beginnen. Hütet Euch daher in diesen Heilstagen vor Augenlust, Fleischeslust, Hoffahrt, haltet Eure Zunge im Zaum, meidet unheilige Worte, sammelt Euren Geist, auf daß er in sich gehe, seine Sünden bereue und gute Vorsätze für’s ganze Leben fasse. Um mich kurz zu fassen, meine Freunde: wachet und betet, betet und arbeitet, arbeitet für den Weinberg des Herrn, arbeitet für Eure eigene Seele, daß Ihr nicht an dem Tage, da Rechenschaft abgelegt wird, auch zu den Schaaren zur Linken gezählt werdet, zu denen der Herr spricht: weichet von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln, daß Ihr vielmehr zur Rechten des Herrn gestellt werdet, zu denen, die das himmlische Reich erben, in dem sie mit Engeln und Heiligen den Herrn von Angesicht zu Angesicht sehen werden und ihm lobsingen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Der Präses räusperte sich mit Salbung, verdrehte seine mattwasserblauen Augen, gleichsam als wolle er die Seligkeiten des Himmels erspähen, nach dem Zimmerbalken und machte ein so fürchterlich selig verzücktes Gesicht, daß ich mich der Idee nicht verschließen konnte, er stehe mit dem Jenseits in innigster, directester Verbindung. Ob mit der Hölle oder dem Himmel, konnte ich freilich nicht wissen; jedenfalls mit letzterem, – er war ja ein sehr, sehr frommer Mann! Darauf ergriff der Herr Präses Hochehrwürden ein Papier, entfaltete es und dictirte seinen noch andachtsschauernden Zöglingen den Inhalt desselben in die Feder. Die Seminaristen schrieben Folgendes nach:

Tagesordnung während der Exercitien.
5 Uhr Aufstehen.
51/4 51/2 " Morgengebet in der Capelle.
51/2 61/4 " Betrachtungen.
61/4 61/2 " Nachdenken über die Betrachtungen.
61/2 70 " Freie Zeit.
70 71/2 " Heilige Messe.
71/2 81/4 " Kaffeetrinken und Freie Zeit.
81/4 83/4 " Gemeinschaftliche Lesung.
83/4 90 " Freie Zeit.
90 93/4 " Betrachtungen.
93/4 100 " Nachdenken über die Betrachtungen.
100 101/2 " Frühstück und freie Zeit.
101/2 110 " Nachdenken über den Gewissenszustand.
110 111/6 " Gemeinschaftliches Gebet.
111/6 111/2 " Freie Zeit.
111/2 113/4 " Lesung aus Thomas a Kempis.
113/4 120 " Gewissenserforschung.
120 11/2 " Essen und Erholung im Stillen.
11/2 20 " Rosenkranzandacht in der Capelle.
20 23/4 " Unterricht.
23/4 30 " Freie Zeit.
30 31/2 " Geistliche Lesung.
31/2 40 " Nachdenken über den Gewissenszustand.
40 50 " Kaffeetrinken und freie Zeit.
50 53/4 " Betrachtungen.
53/4 60 " Nachdenken über die Betrachtungen.
60 61/2 " Miserere.
61/2 70 " Freie Zeit.
70 80 " Essen und freie Zeit.
80 90 " Gewissenserforschung, Litanei und Abendgebet.
90 " Hinlegen.


Nachdem er diesen trockenen Tagesplan mit sehr hoher, vernehmlicher Stimme und vielem unnöthigen Pathos verlesen hatte, faltete er das Papier mit der unnachahmlichen Würde eines katholischen Geistlichen zusammen, räusperte sich im Gefühle seiner Größe unterschiedliche Male mit Kraft und verließ, nachdem er mit Späherblicken seine Opfer gemustert, mit gravitätischen, ernst abgemessenen Schritten das Zimmer.

Schweigend und wohl theilweise von dem Inhalte der Tagesordnung niedergedonnert, verharrten die zurückbleibenden Seminaristen in Ergebenheit, und jeder machte sich mit stiller Resignation daran, sein Bücherpult zu durchmustern. Der eine zog ein Exemplar der vom Jesuiten Schuster geschriebenen Medulla pietatis, der andere des gottseligen Thomas a Kempis Büchlein von der Nachfolge Christi hervor, ein dritter vertiefte sich in des Pater Cochem „Paradiesgärtlein für christkatholische Jünglinge und Jungfrauen“, einige ebenso gelehrte wie fromme ältere Alumnen beschäftigten sich sogar mit der civitas Dei des heiligen Augustinus, - kurz, Jeder griff nach einem geistlichen Trost- und Erbauungsbuche, in welchem dann mit Eifer studirt wurde. Die jüngeren, noch nicht geläuterten Alumnen schauten sich dabei bisweilen neugierig nach mir als Neuangekommenem um, um im Voraus zu erspähen, weß Geistes Kind ich wohl sei. Ich stand meinerseits da, wie Butter an der Sonne, mit einer Miene, die jedenfalls deutlich verrieth, wie wenig ich jetzt von der Wahrheit des Ben Akiba’schen „Alles schon dagewesen“ überzeugt war. Nichtsdestoweniger holte ich aus meinem Reisekoffer in Ermangelung eines Gebetbuches, eine alte Ausgabe der Vitae von Cornelius Nepos hervor, deren ehrwürdiges schweinsledernes Aeußere recht wohl eine Verwechslung mit dem schweren Einbande eines alten Familiengebetbuchs zuließ, und begann mit einem Eifer über das fatale non dubito fore plerosque nachzudenken, der mich die Außenwelt ganz vergessen ließ. Erst nach geraumer Zeit weckte mich ein leises Oeffnen der Saalthür aus meinen philologischen Träumereien.

Ein langer, hagerer, schwarzgekleideter Mann mit scharf markirten Zügen trat, nach allen Seiten sich verneigend, in das Zimmer und an den nächsten unbesetzten Tisch, an dem er [220] ohne weitere Vorrede Platz nahm. Dann fixirte er mit scharfem Blicke die Anwesenden. In dem Saale entstand eine unheimliche, geraume Zeit andauernde Stille. In der Meinung, eine Rolle in Tausend und einer Nacht mitzuspielen, klappte ich mit innerem Beben meinen Nepos zu und wartete gespannt der Dinge, die da kommen würden. Der Pater L., denn Niemand anders war der eben Eingetretene, öffnete endlich ein kleines Gebetbuch mit reichem Goldschnitt und begann mit hohler Stimme ein höchst erbauliches, fünf bis sechs Seiten langes Gebet zum Heiligen Geiste vorzulesen, an dem die Anderen mit gefalteten Händen still theilzunehmen schienen. Nach Beendigung des Gebets verstattete der Jesuit seinen Zuhörern eine angemessene Pause zu ordnungsmäßiger innerer Verarbeitung des Vorgelesenen. Nachdem er dann kurz die Seminaristen begrüßt und einige einleitende Worte über die hohe Bedeutung und die segensreiche Wirksamkeit der Exercitien gesprochen hatte, begann er seinen ersten Vortrag: „Ueber das Ziel unseres Daseins“.

Durch die dreitheilige Rede wurde dargethan, daß der Mensch nur Gott leben solle, und daß wir die wahre Glückseligkeit nur in Gott und nicht in den werthlosen Gütern dieser Welt finden können. Er redete dabei trotz seiner harten, unheimlichen Stimme mit einer fast kindlichen Unbefangenheit, ja Naivetät, die nur zuweilen bei Androhung ewiger Strafen und beim Hinweis auf’s letzte Gericht in asketische Strenge überging, mit einer eigenthümlich gekünstelten Einfachheit, die auf den harmlosen Zuhörer einen tiefen Eindruck zu machen im Stande war. Dabei behielt er seine Schüler immer im Auge, verfolgte mit Aufmerksamkeit die Eindrücke seines Vortrages, wußte, wenn er zu viel gesagt zu haben schien, einzulenken, wenn er zu milde gesprochen hatte, das Höllenfeuer wieder zur hellen lichten Flamme anzufachen.

Pater L. war eben Jesuit, gehörte jenem Orden an, dessen erstes Ziel es ist, der Menschen Herzen zu ergründen, ihnen ihre schwachen Seiten abzusehen, sich ihnen unentbehrlich zu machen und sie dann zu sich hinüberzuziehen, um sie zum Besten der Gesellschaft Jesu ad majorem Dei gloriam zu verwerthen. –

Daraus entstanden der große Einfluß und die hohe Bedeutsamkeit des Jesuitenordens.

Auf das empfängliche Gemüth der meisten in streng katholischen Gegenden geborenen und theilweise von ultramontan gesinnten Eltern erzogenen Alumnen machte dieser Vortrag, wie jeder folgende, einen tiefen Eindruck, und als der Pater nach vollendetem Vortrag sich entfernte, blieb jeder in stillem Nachdenken auf seinem Platze sitzen, überlegte das eben Gesprochene und nahm sich, durch die plausiblen Gründe des Paters überzeugt, vor, seinen Geist von den Dingen der Welt abzulenken, Gott allein zu lieben, ihm zu dienen und dadurch die ewige Seligkeit zu erlangen. Nur ich, der ich eben erst aus einer echt protestantischen Gegend nach X. übergesiedelt und noch von freierer Weltanschauung und Duldsamkeit in Religionssachen angeleckt war, vermochte mich nicht recht in den asketischen Vortrag des Jesuiten zu finden, und da ich mir überhaupt bisher über religiöse Dinge nie viel den Kopf zerbrochen hatte, so weilten meine Gedanken bald wieder, statt bei Gott, in der kurz verlassenen Heimath.

Die Tagesordnung wurde genau befolgt. Der Pater hielt außer dem vorher erwähnten noch zwei Vorträge an diesem ersten Tage der Exercitien, von denen der eine über die Seele, der andere von der Abscheulichkeit der Sünde, nach der Vernunft betrachtet, handelte. Dazwischen wurden Gebete und Stücke aus Thomas a Kempis vorgelesen, es wurden Rosenkranzandachten gehalten, es wurde Miserere gesungen und das Gewissen erforscht. Letzteres Geschäft war in seiner Art das komischeste. Man versah sich mit einem sogenannten Beichtspiegel, in dem alle nur erdenklichen Sünden gegen Gottes- und Kirchengebote sorgfältig verzeichnet waren. Alle Fehltritte, die der Mensch in seiner Sündhaftigkeit nur begehen kann, sind von frommen katholischen Geistlichen, wahrscheinlich mit gesträubtem Haar, darin gesammelt und einem sündigenden Publico zur geneigten Benutzung beim Beichten zur Verfügung gestellt worden. In diese Sündenregister vertieften sich nun während der drei Heilstage die Seminaristen, und kamen sie an eine Sünde, der auch sie durch ihre menschliche Schwäche erlegen waren, so notirten sie dieselbe genau, mit Angabe aller be- und entlastenden Nebenumstände, sowie der Anzahl der etwaigen Wiederholungen. Der Eine schrieb zitternd nieder: „ich habe an einem Sonntag den Tanzboden besucht“ und für sein Seelenheil besorgt in Parenthese dahinter: „Gott verzeihe mir die Sünde!“ – ein Anderer: „ich bin öfters während der Predigt unaufmerksam gewesen“, und so sammelte sich bei Manchem ein mit Sünden eng beschriebener halber Bogen an, so daß man sich unwillkürlich versucht fühlte, dem Beichtkinde zu rathen, lieber gleich den ganzen gedruckten Beichtspiegel in den Beichtstuhl mitzunehmen. Auch ich schrieb mir so ziemlich den ganzen Beichtspiegel ab, mit Ausnahme der Capitel, die von Mord, Todtschlag, Räuberei, Diebstahl, Brandstiftung, Meineid, Ehebruch, Polygamie und andern Sünden handelten, zu deren Begehung dem schlichten Seminaristen sowohl die nöthigen Mittel, als auch die Gelegenheit und die höhere Intelligenz fehlten.

Es sollte nach Beendigung der Exercitien nämlich eine Generalbeichte abgelegt werden, d. h. die Beichtenden sollten sich noch einmal aller ihrer seit der Geburt oder der letzten Generalbeichte gethanen Sünden entledigen. Wenn man bedenkt, daß der Gerechteste im Tage sieben Mal fällt, ferner, daß junge Leute von vierzehn bis zwanzig Jahren nicht gerade zu den Gerechtesten zu zählen pflegen, so wird man leicht beurtheilen können, welche Unmassen von Sünden an diesen Tagen von den im Seminar befindlichen dreißig Zöglingen zu Papier gebracht und nachher gebeichtet wurden. Auch kann man sich nicht wundern, wenn mancher der Sünder am dritten Tage der Exercitien von irgend einem asketischen Geistlichen anderthalb bis zwei Stunden im Beichtstuhl aufgehalten und ihm eine Levitenpredigt gehalten wurde, in der ihm der Priester die meisten seiner Fehltritte als abscheuliche, die Hölle oder im besten Falle nur eine erkleckliche Reihe von Jahren Fegefeuer nach sich ziehende Frevelthaten darstellte. Ebenso wird die Freude erklärlich sein, welche um sich griff, als die Beichtprocedur zu Ende geführt und jeder seine Sünden los geworden war. Natürlich gab man diese Freude für eine christliche, durch die endliche, gründliche Reinigung der Seele herbeigeführte aus, wenn sie auch bei Manchem, vielleicht bei Allen, in dem endlichen Schluß des Exercitiums und dem glücklich vollbrachten Beichtbekenntnisse begründet war.

Doch ich greife vor. –

Der zweite und dritte Heilstag verlief genau wie der erste. Immer von Neuem rollten die Perlen der Rosenkranzschnuren durch die Finger der Alumnen, von Neuem ertönte des Abends der einförmige Misereregesang, begleitet von dem nervenbetäubenden Gequiek eines in der Capelle aufgestellten Unicums von Musikinstrument, das – wohl nur aus Ironie – Orgel genannt wurde, aber nur ein zweifelhaftes und noch dazu defectes Halbgebilde von Harmonium und Leierkasten war. Wieder nahm ein rothhaariger, heimtückischer, dabei aber sehr frommer älterer Alumne, der zugleich Küster und Factotum in der Anstalt sowie der Urtypus eines rechten Seminaristen war, ein altes, abgegriffenes Exemplar des Thomas a Kempis oder die Philothea des heiligen Franz von Sales zur Hand und las mit langweiliger, eintöniger Stimme Abschnitte daraus vor, wobei die übrigen, die Hände über den Schooß gefaltet, mit gesenktem Blicke dasaßen und meistentheils die bekannte blitzschnelle Umdrehung der beiden Daumen um einander übten, ein Manöver, welches dem Nachdenken sehr förderlich sein soll.

Während der Zeit, welche nach der Tagesordnung zum „Nachdenken über den Gewissenszustand“ angewandt werden sollte, setzte man sich an sein Pult, stützte das Haupt gedankenschwer auf beide Hände, sah erst die Wand, dann die Zimmerdecke, darauf die Stiefeln, resp. Hausschuhe genau an, kaute dann an den Nägeln und ließ zur Abwechslung, vielleicht von drei zu drei Minuten, einen vernehmlichen Seufzer hören. Welchen Ausdruck tiefster Frömmigkeit kann man nicht in einen einzigen Seufzer legen! Der Herr Präses Hochehrwürden verstand es, besonders schön und fromm zu seufzen. – Die „freie Zeit“ wurde, da man während der drei Exercitientage nicht sprechen durfte, mit Lesung irgend eines frommen Buches ausgefüllt.

Pater L. hielt an den beiden letzten Tagen noch sieben Vorträge und zwar folgende:

Von der Abscheulichkeit der Sünde nach den historischen Strafen,
Von den Qualen der Hölle,
Betrachtung über den Tod,
Betrachtung über das Gericht,
Von der Barmherzigkeit Gottes,

[221] 

Die Harmonie im Schnee. Originalzeichnung von H. Lüders.

[222]

Von der Nachfolge Christi und
Von den Gesinnungen beim Empfange der heiligen Communion.

Unter diesen Vorträgen waren die Betrachtungen über die Qualen der Hölle und über den Tod besonders erbaulich.

„Hölle,“ begann der fromme Mann seinen Höllenvortrag in voller Ekstase, „Hölle, welch’ ein Wort! Welcher gute Katholik sollte nicht betend ein Kreuz schlagen, sollte sich nicht zur Buße und Reue wenden, wenn ihm dieses Wort genannt wird? Wer sollte nicht zittern vor den Qualen, vor dem Heulen und Zähneklappern jenes grauenvollen Ortes, der dem Teufel und seinem Anhang bereitet ist, jenes Ortes, in dem der Auswurf der Menschheit für seine Laster, für seine Frevelthaten schreckliche Strafen erleidet? Die Hölle, ja, sie ist ein fürchterlicher Aufenthaltsort, und fürchterlicher noch ist die Erfahrung, daß der Mensch in seinem Hange zum Irdischen, in seiner Neigung zu den verbotenen Freuden der Welt nur zu leicht auf dem schlüpfrigen Pfade des Lasters zu jenem Orte des Grauens gelangt. Woher kommt es, daß die Gottesleugner, d. h. Religionsspötter, zuerst den Glauben an die Hölle und den Teufel fallen lassen? Sie thun es, um ihr Gewissen zu beschwichtigen, um die in ihrem Innern wache Stimme, die ihnen zuruft: ‚Es giebt ein Jenseits, es giebt eine Vergeltung im Jenseit, es giebt einen Ort der Strafe‘, zu tödten und verstummen zu machen. Blicket hin in die heilige Schrift, und auf jeder Seite werdet Ihr einen Beweis für das Dasein der Hölle finden. Die Hölle ist also ein sicheres Uebel. Sie ist aber auch ein schreckliches Uebel.

Nimmer ist ein Ende oder eine Milderung abzusehen; immer treiben und quälen den Verdammten die Furien seiner Leidenschaften, die er aber nicht befriedigen kann, immer werden die Verführer von den Verführten verflucht, ein schreckliches Geheul und Wehklagen, heftige Wuthausbrüche gegen Religion und Gott werden ausgestoßen. Und diese Qual endet nimmer; sie dauert fort in alle Ewigkeit. Welche Zeit aber wird von der Ewigkeit gefaßt? Wäre die Erde ein demantener Ball und alle tausend Jahre käme ein Vöglein, um nur wenige Minuten an ihr zu picken, – welche ungeheure Zeit würde es wohl nöthig haben, um diesen Koloß in Staub zu verwandeln? Aber selbst diese Ewigkeit würde nur einen winzigen Theil der Ewigkeit der Höllenleiden ausmachen. Wenn von hundert zu hundert Jahren eine Ameise über den größten, den härtesten Felsen unseres Planeten einmal hinliefe und Gott den Verdammten der Hölle ein Aufhören ihrer Qual verhieße, sobald der ganze Felsen von den Füßen des Thierchens zertreten wäre, ja – dann würde ein großes Frohlocken entstehen, sie würden ihre Leiden im Hinblick auf die einstige Erlösung mit Freuden ertragen. Aber sie enden nie, die Qualen der Hölle. Das ewige Ticktack der Höllenuhr lautet: ‚Immer, nimmer‘ – immer Qual, nimmer Errettung. – – –“

Ein feuriger Schluß endete die qualvolle Rede des Jesuiten, und die Zuhörer, die das Höllenfeuer an den Gliedern zu fühlen vermeinten, starrten entsetzt vor sich nieder, während der Pater sich still und mit gemessenem Schritt entfernte, erfreut über die Wirkungen seiner furchtbaren Höllenbeschreibung.

Auch mir neuem Seminaristen gab diese Rede vielen Stoff zum Nachdenken, und da ich sah, daß sich die anderen den Inhalt der Rede aufzeichneten, so that ich ein Gleiches, um hierbei die Aeußerungen des Jesuiten einer genaueren Prüfung unterwerfen zu können. Aber mein Geist, der nicht wie der der Anderen durch eine asketische Erziehung verkümmert war, erholte sich bald von dem niederschmetternden Eindruck des Vortrages. Ich hielt der strafenden Gerechtigkeit Gottes die Milde und Allbarmherzigkeit des Vaters aller Menschen entgegen, dem an der Errettung eines Verlorenen mehr gelegen ist, als an neunundneunzig Gerechten, der als frommer Hirt nicht Dunkelheit, nicht Mühe und Arbeit scheut, um ein verirrtes Schaf zur Heerde zurückzuführen, und auf diese Weise versüßte ich bald die von dem Pater in mein Herz geträufelten Wermuthstropfen.

In dem Tagebuche eines Seminaristen fand ich zu diesem Vortrag später folgende Bemerkung:

„Diese letzte Betrachtung von den Qualen der Hölle hat auf mich den tiefsten Eindruck gemacht. Ich wurde durch den Ernst und die tiefe Wahrheit derselben, durch die Gewißheit des Todes und Gerichtes und der damit verbundenen Gefahren sehr aufgeregt, und es ist mein fester Entschluß, durch religiösen Eifer und Verharren im Gebet mich des Himmels und seiner Seligkeiten würdig zu machen.“

Obgleich solche fromme Floskeln von Seminaristen öfter in ihr Tagebuch eingestreut wurden, damit sich der Präses, wenn er, wie häufig, die Pulte durchstöberte und in den Büchern der Alumnen las, von ihren frommen Gesinnungen überzeugen solle: so ist es dennoch möglich, daß gerade in diesem Falle der Commentator den wahren Eindruck der Rede niedergeschrieben hatte, und das um so mehr, als es der Jesuit verstand, durch lebhafte Darstellung der Belohnungen und Strafen im Jenseits das jugendliche Gemüth eines Seminaristen in eine derartige Aufregung zu versetzen, daß eine förmliche Furcht die Zuhörer zu guten, freilich wohl nicht nachhaltigen Vorsätzen antrieb.

Nachdem die Herzen der Alumnen drei Tage lang auf diese Weise bearbeitet worden waren, fand, wie schon oben erwähnt wurde, am Nachniittag des dritten Tages die Generalbeichte statt. Ich hatte das Glück, einen gutmüthigen westphälischen Geistlichen zum Beichtvater zu bekommen, welcher, ermüdet vom anstrengenden Beichtehören, mich sehr glimpflich abfertigte und schließlich noch belobte, weil ich mein Gewissen so sorgfältig erforscht habe. (Meine Sünden bedeckten nämlich einen vollen halben Bogen.) Aber wehe denen, die in thörichter Vermessenheit es wagten, einem ultramontanen, hyperorthodoxen Pfaffen oder gar dem Pater L. selber, der auch Beichte hörte, ihre Sünden zu gefälliger Inaugenscheinnahme, Beurtheilung und Absolution vorzulegen; – die frommen Männer zwickten die unglücklichen Sünder mit feurigen Zangen und, für ihr Seelenheil besorgt, gaben sie den Seelen derselben eine urkräftige Arznei, bestehend aus der Allerheiligenlitanei, fünf Paternostern, fünf Ave Marias und dreimaliger Erweckung von Glaube, Hoffnung und Liebe, – eine Arznei, die trotz ihrer Schärfe vom Seelenkranken dreimal des Tags genommen werden mußte und dies drei Wochen lang ohne Pausen!

Nachdem um sechs Uhr Abends alle Seminaristen ihrer Sünden bar und ledig geworden waren, begaben sie sich fröhlich auf den Arbeitssaal, wo es viel zu erzählen gab. Das dreitägige Schweigen hatte jeden Gedankenaustausch, die fortwährende Beschäftigung mit geistlichen Dingen jede Erzählung der Ferienerlebnisse verhindert, und jetzt war es Jedem Bedürfniß, sein Herz auszuschütten und dafür von Anderen Mittheilungen entgegenzunehmen. Erst jetzt wünschten sich die Seminaristen ein fröhliches neues Jahr, denn den meisten war es wohl bis jetzt nicht eingefallen, an die Vollendung des vergangenen Jahres zu denken.

Jetzt erst fragt ein neugieriger Alumne den andern, ob die Weihnachtsbescheernug bei ihm recht reichlich ausgefallen sei – kurz, Jeder hatte etwas Neues vorzubringen. Nur ich verhielt mich dabei, da ich fast Niemanden unter den Anwesenden näher kannte, ziemlich passiv, und es war mir daher lieb, als eine Glocke die Seminaristen endlich zum Abendessen rief.

Nach den außerordentlichen geistigen oder geistlichen Anstrengungen des Tages gab es heute ein ausnahmsweise sehr feines Souper, bestehend in nicht zu starkem Kaffee und einem dicken, kuchenartigen, mit Syrup überschmierten Gebäck, welches ein Lieblingsgericht der Seminaristen zu sein schien. Auch der Herr Präses Hochehrwürden nahm am Abendessen Theil und gab den Seminaristen eine Statistik des erfreulichen Aufblühens der katholischen Kirche in England zum Besten, welche natürlich mit großem Beifall aufgenommen wurde.

So endeten die geistlichen Exercitien. –

Als ich des Abends müde mein Lager suchte und die Erlebnisse der vorhergehenden Tage Revue passiren ließ, da kamen mir die Exercitien mit ihren Höllenvorträgen, ihren Tod- und Teufelsbetrachtungen, ihrem Schweigen und ihren unaufhörlichen Andachtsübungen wie ein schwerer Traum oder ein seltsames Märchen vor, und ich bewunderte den erfinderischen Geist der Leute, deren Frömmigkeit und deren Sorge um das geistliche Wohl der sündigen Menschheit die Exercitien, dieser raffinirte, aber fromme Zeittodtschlag, ihren Ursprung verdanken.




[223]
Blätter und Blüthen.

Drei Granden. Grandezza und Revolution sind allbekanntlich Dinge, die nicht sehr zusammen passen. Wie sollte das Vorrecht mit der Freiheit, die steife Form mit der Ungebundenheit, das alte Familien-Wappen mit der rothen Fahne gehen? Als die „Freiwilligen der Freiheit“ die Hauptfigur des spanischen Lebens wurden, da zogen die Granden des Landes über die Grenzen in großen Abtheilungen. Was sollten sie in Madrid? Gab es doch keinen Hof mehr, in dessen privilegirter Luft sie noch etwas galten, war doch die letzte Zufluchtsstätte ihrer socialen Erhabenheit mit einem Male dahin. Der Schatten ihrer selbst ist die spanische Grandezza ohnehin schon seit vielen Jahren geworden. Das, was sie einst ihre politischen Vorrechte nennen konnte, der ganze Privilegienwust, mit dem sie die Habsburg’schen Könige umgaben, war nacheinander im Sturm der Zeiten mit der Größe des Reiches zugleich in Verlust gerathen. Was von all’ der Herrlichkeit übrig blieb, waren die Sonderfreiheiten der Grandezza bei Hof und die Capitalien, um diese oft sehr kostspieligen Vorrechte bezahlen zu können. Die politische Bedeutung der spanischen Grandezza war schon unter dem schwachsinnigen Carl dem Vierten und Ferdinand dem Siebenten im Absterben: dem fallenden Königthum voraus fielen die Granden von Spanien von ihren goldenen Stühlen. Sie sanken zur äußerlichen Decoration des Hoflebens herab, zu lebendigen Versatzstücken, die bei Processionen, königlichen Kindtaufen, Corteseröfgnungsfeierlichkeiten, Handkuß und mehreren anderen öffentlichen und Palastaufzügcu in Verwendung kamen.

Dennoch gefielen sie sich auch noch selbst in diesem Ueberbleibsel von Herrlichkeit, diese Granden von Spanien.

Wenn ihnen die Revolution von Cadix auch diese letzten Freuden des Lebens mit dem Königthum zugleich genommen – was blieb ihnen? Trauernd verließen sie das Land, das ihrer Stellung nichts mehr zu bieten hatte, und sie versprachen sich, erst dann wiederzukehren, wenn das Königthum, oder vielmehr ein Königthum (denn die Granden steifen sich nicht gerade auf die Bourbonen) neu aufgerichtet sei.

Nur drei Granden des Reiches waren im Lande geblieben, die Revolution hatte sie nicht verscheucht, und man zeigte sie mir oft. Jeder von diesen drei Granden ist für sich eine Merkwürdigkeit, zu einander sind sie eben so merkwürdige Contraste.

Da ist zuerst der Duque de Hijar. Er bewohnt einen prachtvollen Palazzo, prachtvoll nach innen; nach außen merkt man, wie bei allen spanischen Grandenpalästen, die in ihrer Façade mit einer gewissen einfachen Vornehmheit auftreten, von dieser Pracht sehr wenig. Aber all’ der blendende Reichthum, der sich in der Ausstattung der hohen Marmorsäle äußert, all’ das Gold und Silber der monumentalen Decoration seiner Appartements sind nicht der Stolz des Herzogs von Hijar. Sie sind in spanischen Palästen nichts Seltenes, und seine Collegen in der Grandezza und einige neuaristokratische Creaturen, wie z. B. der Herzog von Salamanca, seines ersten Zeichens Banquier, haben das Alles auch in ihren Häusern, Salamanca sogar noch üppiger, überladener, geschmackloser. Aber des Duque del Hijar Palazzo hat eine Rarität, einen Saal, in dem man nichts sieht, als seine Schränke mit Glasthüren versehen. Für den ersten Augenblick glaubt man in diesem Saal sich in den Salon eines großen Pariser Maskenverleihers versetzt. Aus den Glasthüren glänzen einem buntfarbige, in den feinsten Stoffen, in Sammet, Seide, Damast gearbeitete Costüme, alle verschiedener Größe, verschiedenen Schnittes, verschiedener Moden entgegen. Ist der Duque de Hijar ein Costümnarr? fragt man sich bei diesem Anblick sonderbarer Natur. Sammelt er Kleider wie andere Leute Münzen, Pfeifenköpfe, Stöcke u. d. m.? Ist das blos eine herzogliche Passion? Nun, das nicht, aber diese Costüme sind der Stolz des Herzogs, wie sie der Stolz seiner Vorgänger in diesem Hause waren.

Die Herzoge von Hijar sind Abkömmlinge der Grafen von Rivadeo. Einer der ältesten dieser Rivadeos hatte einst die Ehre, dem Don Jayme dem Zweiten, der das Königreich Aragonien beherrschte, durch einen einfachen Kleiderwechsel, den er mit seinem Könige vornahm, das Leben, das in Feindes Händen und bereits verloren war, zu erhalten. Der als Conde de Rivadeo gekleidete König Jayme der Zweite entkam glücklich aus der Gewalt seiner Feinde, und zum Andenken an jenen unbezahlbaren Freundschaftsdienst – denn auch Don Jayme lebte lieber als er starb! – verordnete der König von Aragonien, daß alle Grafen von Rivadeo und ihre Nachkommen das Recht hätten, sich am Tage Drei König zu ihrem König zu Tisch zu setzen, auch ungeladen, und nachdem sie sich nach Bedarf und Lust gütlich gethan, dem königlichen Hausherrn auch noch Alles abzuverlangen, was er von Kleidern auf dem Leibe habe. Die Grafen von Rivadeo machten nun nach einander von diesem Rechte, ihren König am Dreikönigstag bis auf’s Hemd auszuziehen, Gebrauch, und da es seit Don Jayme’s Regierung (ich weiß wirklich nicht, ob sie „glorreich“ war und kann es daher nicht sagen) etwas lange her und seitdem ein paar Jahrhunderte und einige Moden in’s Land Spanien gekommen sind, so ist es kein Wunder, daß es in dem Salon der „Königskleider“ mir wie in einer Maskenleihanstalt vorkam. Trotzdem nun viele Schränke von den französischen Generalen während der Napoleon’schen Invasion ausgeraubt worden sind, kann man dieser wunderlichen, reichen, oft mit Edelsteinen besetzten Königscostüme hier im Hause des Herzogs von Hijar noch immer genug bewundern. Die alten Grafen von Rivadeo nahmen ihr Recht sehr ernst, denn sonst hätten sie der Königin Johanna, der Mutter des vierten Carl, wenigstens den Brustlatz gelassen, der uns gezeigt wurde. Allein zehn Schränke füllen die Kleider der jetzt weggejagten Königin Isabella, welcher der Herzog von Hijar seit dem Jahre 1847 alljährlich am Dreikönigstag nach der Hoftafel die königlichen Gewänder wegnahm.

Die gute Königin hat dem Abkömmling der alten Rivadeos einige Jahre hindurch, zum Aergerniß der ganzen Grandezza, ihre Kleider vorenthalten und so die herrliche Sammlung beeinträchtigt. Sie hat das sehr schlau angestellt. Alle Jahre am Dreikönigstage, wenn der Herzog in den Palast sich zur Tafel melden kam, wurde ihm einfach gemeldet: „Die Königin ißt heute nicht.“ Da der Herzog nun wohl ein Recht auf die Gewänder hat, aber nur auf jene, welche die Königin bei der Tafel, an der er selbst theilnimmt, trägt, so konnte er doch nur sein Recht geltend machen, wenn die Königin ißt. Zum Essen sie aber an jenem Tage zu zwingen, besaß er keine Macht. Der alte Don Jayme hatte für diesen Fall in seinem Privilegiumsgesetz nichts vorgesehen, und Isabel von Bourbon ärgerte so Jahr für Jahr den Herzog von Hijar. Erst im Jahre 1847 ließ Isabel den Abkömmling der Rivadeos am Dreikönigstage zu sich zu Tisch und sandte ihm am anderen Tage in feierlicher Weise die Gewänder, die sie angehabt, in seinen Palast.

Aerger noch als Isabel behandelte ihre Mutter Christine den Grafen von Rivadeo. Sie setzte sich am Dreikönigstage in ihren schlechtesten Kleidern zu Tisch, auf daß sie der alte Spaß nicht so viel koste. Die Gewänder, die von ihr zu sehen sind in dem „Salon der Königskleider“, sind wahre alte Königsfetzen zu nennen und geben allein schon Zeugniß von der Knickerei und dem schmutzigen Geiz der Königin Christine. Der Bourbonenkleider hat der Herzog von Hijar nachgerade nun wohl genug, und er glaubt nun selbst diese Abtheilung der Sammlung schließen zu können. Für die Bosheiten Isabel’s hat er sich glänzend gerächt. Zum Dreikönigstag 1869 ließ ihn Isabel von Bourbon nach – Paris zu Tisch laden, da er sich selbst nicht mehr eingeladen. Sie wollte mit dieser Einladung sich nur dem Granden gegenüber als Königin noch geriren. Der stolze Abkömmling der Rivadeos aber schreibt ihr kurz zurück: „Ich habe keinen Platz mehr für Deine Kleider!“ Der Herzog von Hijar hofft, seine Sammlung von spanischen Königscostümen werde Dreikönig 1869 nicht so leer ausgehen, wie anno 1868. Er will die Zeit in Madrid abwarten.

Ein zweiter Grande, den ein Privilegium, ein altes Recht seines Hauses, auch jetzt noch, in der nachisabellinischen Zeit, in Madrid festhält, ist der Duque de Medina-Celi. Ich habe den kleinen, etwas mißgewachsenen Granden gar oft in der italienischen Oper neben seiner schönen Frau gesehen und mir dabei immer gedacht: was plagen so eine arme Menschenseele oft für eigenthümliche Grillen!

Dieser Mann sieht nicht aus, als ob er andere Wünsche hätte, als sein imposantes Palais am Ende der Hieronymusstraße, am Eingang des Prado, dann seine schöne Frau und seine Reichthümer zu genießen und von Anderen bewundern zu lassen, und doch muß er, der Tradition der Grandezza seines Hauses zu Liebe, den Narren spielen, und so oft ein neuer König den Thron besteigt, sein – uraltes Erbrecht geltend machen und sich als Thronprätendenten präsentiren! Die Posse ist alt und wird regelmäßig wiederholt. Der Duque de Medina-Celi protestirt gegen die Thronbesteigung in aller Form und wird in aller Form von dem obersten Tribunal zur Zahlung von so und so viel Tausend Duros (Thaler) verurtheilt. Sobald dies geschehen und seine privilegirten Erbansprüche gerichtlich niedergeschlagen, ist der Herzog wieder allergetreuster Unterthan Seiner spanischen Majestät, nur hat er die Genugthuung, der Königin das Hochzeitskleid schenken zu dürfen, für welche kostspielige Ausgabe er Alles, was an Tellern, Schüsseln etc. bei der königlichen Hochzeitstafel in Brauch gekommen, rechtmäßig zu verlangen hat. Fürwahr, diese aragonischen Könige müssen wenig Sorgen gehabt haben, wenn sie mit den Granden solche Späße aufführten!

Der jetzige Herzog von Medina-Celi wartet nun ab, was in Madrid mit dem Thron geschehen wird. Sobald ein König gewählt sein wird – wenn die Republik den Herzog nicht aller Bemühungen überheben sollte – wird er sein altes Recht geltend und sich gleich seinen edlen Vorfahren lächerlich machen müssen. Die Grandezza will es so. Es ist noch gut, daß er nicht in allem Ernst als Prätendent auftritt, denn bei dem vielen Geld, in dem er steckt, könnte er in Spanien, gleich dem Montpensier, noch eine Partei aufbringen. –

Und nun der Contrast zu diesen beiden Granden, ein Grand, wie es auch keinen zweiten in Spanien giebt, ein Grand, der für sich kein anderes Vorrecht in Anspruch nimmt, als das, ein – Volksmann zu sein, ein Grand von Spanien, der das Königthum in jeder Person bekämpft, ein Grand von Spanien, der das merkwürdig seltene Schauspiel bietet, ein – Republikaner der reinsten Farbe zu sein. Und dieser republikanische Grand von Spanien ist der Marquis Orense de Albaida, ein Charakter von antikem Gepräge. In allen Verfassungskämpfen seit Ferdinand dem Siebenten hat er die Partei des Volkes genommen, in den Cortes zu wiederholten Malen gegen die Bourbonenwirthschaft, gegen die Attentate auf die Rechte des Landes, die Ehre der Nation, gegen die Pfaffenränke und die königliche Sittenlosigkeit laut und entschieden protestirt, und 1854 war er Einer von den Dreiundzwanzig, die Isabel von Bourbon weggejagt und die Republik errichtet sehen wollten. Dieser seiner ganz beispiellos grandezzalosen Gesinnung verdankt er ein oftmaliges Exil, aus dem er immer von Neuem, ungebessert in seinem Republikanismus, zurückkehrte. Einer der ältesten Bekämpfer des Königthums hat er heute die Genugthuung, noch in seinen alten Tagen die Bourbonen endlich aus dem Lande vertrieben zu sehen. Ob er die Republik in Spanien noch festwurzeln und gedeihen sehen wird? Unbekümmert darum gehört all’ sein Wirken, all’ seine Thätigkeit diesem seinem Ideale. Gleich Fernando Garrido hat er in den eben abgelaufenen Wochen vor den Corteswahlen das Land bereist und republikanische Saat ausgestreut, wo er nur immer konnte. Diese Saat wird zuversichtlich einmal aufgehen und Spanien zu dem machen, wozu es Männer wie Garrido, Castellar und Orense schou jetzt machen wollen. Dann aber wird die Nation des alten Granden von Spanien, der der ersten Republikaner einer war, gewiß nicht vergessen, des Mannes, der in seiner Charakterknorrigkeit, seiner Einfachheit, seinem Rechtssinn, seiner Unbeugsamkeit das Bild des Bürgers eines Freistaates ist, wie es nicht anders gedacht werden kann, des Mannes, der es vorzog, anstatt Theil [224] zu haben an dem erborgten und erstohlenen Glanze des Thrones, seines Volkes zu gedenken und der Idee der Wiedergeburt Spaniens immer und immer zu leben, des alten Orense, der das Symbol der spanischen Republik genannt werden kann.




Robinson’s Insel – eine deutsche Ansiedelung. Kaum drei Tagereisen von Valparaiso in Chili entfernt und fast auf gleicher Breite mit diesem Haupthafen der Westküste von Südamerika liegt die Insel Juan Fernandez, wo einst Alexander Selkirk in vierjähriger Verbannung die Materialien zu Defoe’s „Robinson Crusoe“ sammelte. Dieses Eiland, welchem von den handelseifrigen Bewohnern des chilenischen Küstenlandes nur wenig Beachtung gezollt wird, obschon es sowohl durch seine Geschichte, wie durch seine Bedeutung, große Beachtung verdient, hat in neuerer Zeit, für uns Deutsche namentlich, dadurch wieder ein allgemeineres Interesse gewonnen, daß es im December des vorletzten Jahres in den pachtweisen Besitz des bekannten sächsischen Ingenieurs Robert Wehrhan übergegangen ist.

Dieser, welcher vor elf Jahren Deutschland verließ, lebte zunächst mehrere Jahre in England, war später im großen amerikanischen Secessionskriege Hauptmann im Unionsheere und nach Beendigung des Kampfes Ingenieur der Cerro-Pasco-Eisenbahn in Südamerika. Er selbst erzählt der Gartenlaube seine Besitznahme der merkwürdigen Insel, wie folgt:

Meiner Erwerbung der Insel durch Regierungsdecret vom 6. December 1867 war die Bildung einer Compagnie gefolgt, welche sich die Ausbeutung der Insel zur Aufgabe stellte. Dieselbe rüstete ohne Zeitverlust den Juan Fernandez aus, ein Fahrzeug von etwa sechszig Tonnen Last, und bereits vor Weihnachten brach der erste Colonistenschwarm, bestehend aus ungefähr sechszig Seelen, mit den nöthigen Geräthschaften und Lebensmitteln nach der Insel auf. Zum Fischfang und zur Seehundsjagd an den steilen Küsten hatten wir uns mit drei Walfischfängerbooten versehen, deren Bauart sie besonders geschickt macht, dem Meere zu trotzen; mehrere unserer Familien hatten Juan Fernandez schon früher periodisch bewohnt, und um die Uebergabe in aller Form des Gesetzes auszuführen, ließ uns die chilenische Regierung von einem Commissär begleiten, welcher eine kleine bewaffnete Abtheilung befehligte.

Die Insel, welche schroff aus den Wellen aufsteigt, wurde schon auf große Entfernung gesichtet, doch verstrichen zwei lange Tage, ehe es uns gelang, das Ziel unserer Reise zu erreichen. Daß während dessen manch’ neugieriger Blick nach dem Gestade sich richtete, wird mir der Leser gern glauben, denn es lag ein eigener Reiz, eine besondere Poesie in dem Gedanken, daß wir im Begriff stünden, dasselbe Ufer zu betreten, welches wir fast alle so oft im jugendlichen Traume durchwandert hatten. Was uns so lange als recht fern erschienen, lag vor Augen; was die männliche Vernunft schon vor Jahren als eine leere Dichtung bei Seite gelegt, war wieder Wirklichkeit geworden! – Der Anblick des Eilandes ist schon von Weitem ein imposanter. Seine grauen Wände, welche meist bis zu siebenhundert Fuß senkrecht emporstreben, werden überragt von einem weithin sichtbaren Tafelberg, welchen die Spanier höchst treffend den Junque (Ambos) genannt haben. Derselbe erreicht eine[WS 1] Höhe von mehr als dreitausend Fuß und ist rings von dichtbewaldeten Bergspitzen umgeben. Unten zieht sich die weiß aufkochende Brandung wie ein schneeiger Saum um das Gestade, und ein theilweiser Einblick in’s Thal von Juan Bautista läßt die Ueppigkeit ahnen, welche das Innere kennzeichnet.

Es war später Abend geworden, ehe unser Schooner, von den Booten bugsirt, im Hafen anlangte, aber mit dem Grauen des nächsten Tages schon war Alles auf den Beinen und die Geschäfte der Landung waren kaum beendigt, als wir uns dem Gebirge zuwandten, von seinem Rücken aus einen Ueberblick über unser Königreich zu gewinnen. Den schäumenden Bach zum Führer nehmend, stiegen wir ein anfangs sanft sich hebendes grasreiches Thal hinauf, vorüber an zahlreichen Gruppen europäischer Fruchtbäume und Blumen, und betraten sodann schattige kühle Waldungen von Myrthen und anderen immergrünen Bäumen, unter deren Gipfeln großblätterige tropische Pflanzen und baumartige Farnkräuter wucherten. Neugierig umschwirrte uns der funkelnde Kolibri, die Waldtaube hielt überrascht in ihrem Girren inne und die moosigen Bärte der uralten Waldbäume schienen uns ein Willkommen zuzuwinken. Eine Stunde rüstigen Steigens, während welcher uns das kalte, krystallhelle Wasser des Baches mehr als ein Mal erquickt hatte, brachte uns auf den Rücken des Höhenzuges, welcher die Insel in ihrer ganzen, drei Meilen langen Ausdehnung von Ost nach West durchstreicht, und von hier genossen wir eines umfassenden Ueberblicks über beide Seiten des Eilandes. Die Nordosthälfte ist von dichten Wäldern bedeckt, aus denen die schlanke Chontapalme ihren Gipfel mit königlicher Würde hebt; im Südwesten liegt kahles, zerklüftetes Gestein zu Tage, um dessen Klippen Tausende von Seevögeln kreischend ihr Spiel treiben, während sich nach Süden hin grüne Halden zum Meer herabsenken. Uns ganz nahe saß, als ob er sich nichts Böses bewußt wäre, ein einsamer Habicht, während weit unten im tiefsten Frieden eine Ziegenheerde weidete. Längs der Südküste liegen mächtige Felsblöcke wie Inselchen im Meere zerstreut, von denen der größte, auch von Ziegen bewohnt, als „Isla de Santa Clara“ bekannt ist.

Juan Fernandez hat so zu sagen seine eigene Schöpfung. Mehrere seiner Bäume (z. B. die schon erwähnte Chonta), Vögel und Seehundsarten finden sich in keinem andern Theile der Welt vor. Einheimische vierfüßige Thiere scheint es nie gegeben zu haben. Ziege, Hund und Katze sind augenscheinlich nur verwildert, und die Ratte, die größte Plage der Insel, ist wahrscheinlich durch Schiffe eingeschleppt worden. Zur Zeit meiner Besitznahme fand ich etwa dreißig halbwilde Pferde und die doppelte Anzahl von Eseln vor, welche letztere sich als höchst scheu erwiesen. Von einem rührigen Squatter, den meine Ankunft zum Abzug bewog, kaufte ich zwei Kühe, einen Bullen, etwa dreißig Schweine und zahlreiches Geflügel, so daß mein Viehstand gleich von Anfang an nicht ganz schlecht war. –

Von europäischen Fruchtbäumen haben wir die Sauerkirsche, die Pfirsiche, die Pflaume, die Weinrebe und die Quitte vorgefunden, von Gemüsen Kohl, Kartoffeln, Mais, Zwiebeln, Salat und mehrere Arten Rüben. Die wenigen noch stehenden Häuser waren in höchst baufälligem Zustande, sind aber bereits mehr oder weniger wohnlich gemacht worden. Robinson’s Höhle besuchten wir natürlich auch. Dieselbe ist im Puerto del Ingles gelegen (wie das Thal zur Erinnerung an Selkirk noch immer genannt wird), hoch und gewölbt, aber nicht eben tief und etwa sechszig Schritte vom Meeresufer entfernt. Wird mir der Leser verzeihen, wenn ich hinzufüge, daß ich sie meinem chilenischen Schweinehirten, dem Juan Figueroa, zur Wohnung angewiesen? – Das Borstenvieh that in der Nähe der Niederlassung von Juan Bautista so viel Schaden, daß ich mich genöthigt sah, es nach diesem abgelegenen Thale zu verbannen, wo große Felder wilder Wasserrüben ihm reichliche Nahrung bieten.

Zur Zeit, da ich dies schreibe, sind wir bereits in voller Arbeit. Im Forst dröhnen Axt und Säge, der fette Kabeljau und der weiße Hummer hängen wohlgetrocknet im Speicher, und zahlreiche Felle, dem Seehunde und der Ziege abgejagt, legen Zeugniß ab, daß unter uns die waidmännische Kunst nicht betteln geht. Auch Besuch haben wir gehabt, denn die Walfischfänger mögen Juan Fernandez gern leiden, wo sie sowohl Wasser als Holz im Ueberfluß finden, und sprechen auf ihrer Fahrt nach Norden in der Regel vor. Die bärtigen, tabakkauenden Gesellen sind ein gutmüthig Volk und erzählen manch schnurrige Geschichte von fernen unbesuchten Inseln oder „the old place at home“ (der alten Stelle in der Heimath), lassen wohl auch ein Andenken in Gestalt eines Fäßchens Rum zurück. –

Und so hat denn die fruchtbare Germania abermals ein Samenkorn für die Zukunft gestreut! Klein zwar und weit entlegen, aber nicht bar einer tiefen Bedeutung und kein unwürdiger Vertreter ihres Fleißes. – Möge Gott es groß werden lassen! – R. Wehrhan.     




Aus dem Musikantenleben. (Mit Abbildung, S. 221.) Wer wäre einem solchen Trüppchen, wie es unser heutiges Bild darstellt, noch nicht begegnet? Die unentbehrlichsten und bereitwilligsten Diener der Freude und des Leids, die mit denselben Instrumenten zum Tanz und zum Grabgang aufspielen wer hätte sie, auch abseits von den Leipziger Meßstraßen, den Radien ihres einst magnetischesten Centrums, nicht einmal als ein fast immer erheiterndes Reisebild vor Augen gehabt? Sie gehören zu den rastlosesten Zugvögeln unter den Menschen, die vor jenen jedoch den Vorzug haben, daß ihnen hinsichtlich des Wachens und Schlafens Tag und Nacht völlig gleich und eine Jahreszeit wie die andere ist: denn getanzt, gefreit und gestorben wird immer.

Leider verdüstert sich das Bild nur zu oft, wenn der Schimmer vom Glanze des Reichthums und des Luxus auf die schäbigen Röcklein und mageren Faltengesichter der Leute hinter den Notenpulten auf dem Orchester droben fällt. Unten an langen, lecker duftenden Tafeln das Knallen der Champagnerpfropfe – und droben das Knurren hungriger Mägen, deren Inhaber die fröhlichsten Töne zu den Lebehochs da drunten liefern! Aber wie freudig die rauschenden Klänge begrüßt werden, zwischen den Menschen, die unten schreien, und denen, die oben blasen und spielen, ist das Tafeltuch entzwei geschnitten, führt kein Band von Seele zu Seele. Wenn all’ das harmonische Geräusch eine Drehorgel besorgte, wär’s für die vornehme Gesellschaft ziemlich dasselbe.

Viel wohler fühlt sich der Musikant auf dem Dorfe und in dorfähnlichen Landstädten. Da ist das ehrliche Volk für die Freude noch dankbar. Ohne tiefer darüber nachzudenken, ahnt es doch, wohin es längst mit dem Bischen Poesie in seinem Leben gekommen wäre, wenn es keine Musikanten gäbe. Darum verherrlicht es sie auch dafür schon in seinen ältesten Sagen. Wie langweilig wär’s auf die Dauer dem Rübezahl in seinem Riesengebirg geworden, wenn ihm nicht die böhmischen Musikanten so viel Gelegenheit zu höherem Uz gehoten hätten, und der Barbarossa wäre im Kyffhäuser längst für ewig eingeschlafen, hätten nicht die Hörner und Schalmeien Thüringens ihn immer wieder an das Leben gelockt.

Von einer so romantischen Partie kommen unsere Musikanten wohl nicht, sie haben nur gewöhnlichen Menschenkindern gestern zum Tanz aufgespielt. Deshalb ist etwas Uebernächtiges hie und da nicht zu verkennen. Namentlich muß der grimmig vermummte Waldhornist gestern einen schweren Trunk gethan haben, an welchem er jetzt an diesem düsteren Schneemorgen noch leidet. Und dafür wird er von seinen beiden Nachbarn noch belächelt; doch meint’s der zu seiner Linken, der wahrscheinlich ein Klappenhorn im Lederfutteral unterm Arm trägt, gut mit ihm, denn er bietet ihm einen erwärmenden Schluck an. Auch der Clarinettist dahinter macht ein bedenkliches Gesicht. Dagegen schreiten der alte Bassist und der Lehrbursche mit dem zweiten Waldhorn in lebhafter Unterhaltung fürbaß. Nur der Posaunist zeigt sich in all’ der ruhigen Würde, die sein alttestamentliches Instrument von Rechtswegen beansprucht.

Fahrt wohl, ihr treuen Handwerker der Tonkunst, und möge es euch beschieden sein, auf eurem musikalischen Wandel mehr Freude als Leid durch das Leben zu begleiten!




Berichtigung. Nach einer uns soeben zugehenden authentischen Zahlenzusammenstellung ist die in Nr. 11 unsres Blattes genannte Lebensversicherungsbank Teutonia in Leipzig nicht die zweitgrößte in Deutschland nach der bekannten Gothaer, sondern stand wenigstens 1868 erst in elfter Linie. Diese Berichtigung eines Irrthumes unseres Mitarbeiters geschieht übrigens mit aller Anerkennung des rüstigen Vorwärtsstrebens der genannten Leipziger Versicherungsbank.


  1. Am 17. März 1864.
  2. Zwei Ellen Rasch und ein Pfund Wolle giebt eine gute Pathenmütze.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ein