Die Gartenlaube (1868)/Heft 33
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No. 33. | 1868. | |
„Meine theure Annette!“ sagte Demoiselle Merling, als sie die jasminduftende, schattig versteckte Laube in der Ecke des kleinen Gärtchens erreicht hatten, faßte Annettens beide Hände, sah ihr mit pathetischer Rührung in die Augen und schloß sie dann, ohne ein Wort hinzuzusetzen, in ihre Arme. Sie küßte sie auf die Stirn, auf die Wangen und auf den Mund.
Das Mädchen ließ Alles in wachsender Verwirrung über sich ergehen, endlich aber löste es sich sanft aus den Armen, die es so feierlich umschlungen hielten, und suchte auf dem Gesicht der alten Dame die Erklärung zu lesen. „Um Gotteswillen, Mademoiselle Merling!“ sagte es ängstlich, „was haben Sie? Was soll dies Alles bedeuten?“
„Ihr Glück, meine Liebe, Ihr Glück!“ erwiderte die Alte und ließ von Neuem ihre angefeuchteten Augen auf dem Mädchen ruhen. „Der Himmel meint es gut mit Ihnen, Annette. Er traut Ihnen wohl zu, ma chère enfant, daß Sie sich nicht überheben werden! – Lieber Gott, Sie sind sechszehn Jahre. Sie sollen recht früh verwöhnt werden; bleiben Sie demüthig, Annette!“
„Aber so sagen Sie mir, um des Himmels willen –“
„Der liebenswürdigste, schönste, beste, blauäugigste Jüngling in der ganzen Stadt will Sie heirathen, Annette! – – Ich hätte erst zu Ihren Eltern gehen sollen, ich komme zu früh zu Ihnen, aber ich konnt’ es nicht lassen. Ich mußte sehen, wie meine kleine ahnungslose mignonne sich dabei ausnehmen würde! Mon Dieu, wie sie roth wird! Wie roth – und wie blaß! Oho, was ist Ihnen, ma chère? War die Ueberraschung gar zu groß? Sie werden ja schneeweiß vor Schrecken. Fassen Sie sich, Annettchen! Fassen Sie sich! Setzen Sie sich auf die Bank; lassen Sie Ihr blasses Köpfchen nur ein wenig sinken, - so! Ich bin zu plötzlich damit herausgekommen, n’est-ce pas, ma chère? Sie haben sich so ein Glück nicht denken können, nicht wahr, meine alte Annette? Gott, und die Hände so kalt, – kommen Sie zu sich, mein Kind! Wenn Wilhelm Sie so sähe – er würde ja ganz außer Fassung kommen! Er würde Wunder glauben, was ich Ihnen zu Leide gethan hätte! Und ich habe Ihnen doch weiter nichts gesagt, ma petite folle, als daß Sie das glücklichste Mädchen werden sollen und bald eine kleine Frau – und eine Frau, die tausend Andere beneiden!“
„Ich danke Ihnen,“ sagte Annette endlich mit schwacher Stimme, indem sie ihr immer noch entfärbtes Gesicht auszurichten versuchte. „Sie reden von Monsieur Wilhelm?“
„Von wem sonst, liebes Kind? – – Sie denken doch nicht etwa – –“ Der Mund blieb ihr plötzlich halb offen stehen, und sie starrte das blasse Mädchen ganz erschrocken an. Erst nach einer Pause fand sie wieder Worte und sagte mühsam: „Hatten Sie etwa einen andern Gedanken, Annette?“
„Ich weiß es nicht,“ sagte das arme Geschöpf und suchte die Mundwinkel, in deren Zittern sich die Thränen ankündigten, stille zu halten. „Mademoiselle, – verzeihen Sie mir. Ich kann, ich kann Monsieur Wilhelm nicht heirathen.“
„Sie können nicht? Warum können Sie nicht, Annette?“ Die alte Dame stand auf und forschte in der größten Aufregung in Annettens Gesicht. „Wie kommen Sie dazu, mir zu sagen, mein Kind, daß Sie nicht können?“
Annette schwieg und sah in der tiefsten Beklemmung vor sich hin.
„Soll ich etwa glauben, mein Kind,“ fuhr Demoiselle Merling mit schärferer Stimme fort, „daß Sie sich Rechnung auf – auf Wilhelm’s Bruder gemacht haben? Warum schütteln Sie den Kopf? Warum belügen Sie mich? Was könnte es sonst sein, daß Sie die ausgezeichnetste Partie im ganzen Lande so sans façon ausschlagen?“
„O Mademoiselle,“ sagte das Mädchen und sah ihr mit einem Blick, der um Mitleid bat, in’s Gesicht, „ich kann nicht – ich weiß nicht – ich kann es Ihnen nicht sagen.“
Die Alte faßte Annette bei der Schulter, und es sah aus, wie wenn sie sie vor Aufregung schütteln wollte, aber sie besann sich, glättete ihr gerunzeltes Gesicht, zog ihr heftig vorgeschobenes Kinn wieder zurück und setzte sich, so sanft es ihr möglich war, neben dem Mädchen hin. Ma pauvre petite!“ sagte sie mit ihrer freundlichsten Stimme, indem sie ihren Arm um die zierliche Gestalt legte, die bei dieser Berührung leise zu zittern anfing. „Ich habe Sie sehr erschreckt, Sie sind so ein zartnerviges Kind. Sie wissen ja, die alte Merling hat Sie von Herzen lieb und will Ihnen nichts Böses. Contenance, meine alte Annette! Hat Ihnen unser Charles irgend ein leichtsinniges Wort von Liebe gesprochen?“
Annette schüttelte den Kopf und sah sie unruhig an.
„Nun, also Sie ihm auch nicht! Was ist Ihnen denn? Haben Sie etwas gegen meinen Wilhelm einzuwenden?“ Sie schüttelte wieder den Kopf.
[514] „Oder, unglückliches Kind, glauben Sie ein Gefühl, eine Neigung für – den Andern zu haben?“
Das Mädchen schwieg und blickte, ohne sich zu rühren, auf die Erde. Die Alte fuhr wieder auf. „Mon dieu, es ist richtig! Dieser tolle, emancipirte Mensch hat ihr den Kopf verdreht! Mit seinem souverainen Wesen, mit seinen Mailiedern, mit seiner Freigeisterei hat er’s ihr beigebracht! Und da sitzt sie und will den Menschen nicht nehmen, um dessen Liebe hundert junge Mädchen sie gerne vergiften würden!“
„Lassen Sie mich, lassen Sie mich, Mademoiselle Merling!“ rief Annette plötzlich in ihrer Bangigkeit aus, indem sie aufsprang und unwillkürlich ihre Hände erhob. „Lassen Sie mich gehen!“
„Nein, nein, ich lasse Sie nicht,“ erwiderte die alte Dame mit feierlichem Nachdruck und faßte Annettens Aermel, wie um sie festzuhalten. „Ich bin da, um Ihnen Vernunft beizubringen, liebes Kind. Sie wollen ja mit offenen Augen in Ihr Verderben rennen, wie die Fliege in’s Licht! Setzen Sie sich, Annette, und hören Sie, was ich sage.“
„Was wollen Sie noch sagen?“ fragte das Mädchen und blieb in hülfloser Unruhe stehen.
„Setzen, setzen Sie sich! Was ich noch sagen will? Daß Sie ein rechtes Kind sind, liebe Annette! Seit wann kennen Sie Charles?“
Annette schwieg.
„Seit vorgestern Abend, wenn ich’s Ihnen sagen muß! Und heute bilden Sie sich ein, ihn schon zu lieben! Mon enfant, mon enfant! Sind das die Empfindungen eines wohlerzogenen, gesitteten Mädchens?“
Annette warf ihr einen hastigen Blick zu und preßte die Lippen zusammen.
„Was würden Ihre vortrefflichen Eltern sagen, Annette, wenn ich ihnen von diesem unglaublichen Zustand Ihres Gemüths erzählen würde? wenn ich ihnen sagte, daß ihre Tochter das größte Glück, das ihr auf Erden begegnen kann, ablehnt, daß sie es verschmäht, sich und ihre ganze Familie – und ihre ganze Familie, mein Kind! – glücklich zu machen, weil sie einen andern jungen Menschen seit gestern angenehm findet?“
Annette schwieg beharrlich, aber ihre Augen füllten sich mit Thränen.
„Was würden Ihre armen Eltern sagen,“ fuhr Demoiselle Merling immer eifriger fort, „wenn sie je erführen, daß ihrer Tochter so etwas begegnen konnte? und daß dieses Kind, das sie mit so viel Schmerzen und Sorgen und Liebe aufgezogen haben, sie jetzt lieber in Noth und Elend läßt – in Noth und Elend! – als daß es dem romantischen Vergnügen entsagt, vierzehn Tage für einen Freigeist zu schwärmen?“
„Lassen Sie mir Bedenkzeit, Mademoiselle Merling!“ sagte das Mädchen mit der flehendsten Stimme, und die ersten Thränen liefen ihm die Wangen hinunter.
„Das werde ich nicht thun, mon enfant, das werde ich nicht thun. Etwa so lange, bis Sie ausgeschwärmt haben? Und so lange soll mein armer Wilhelm sich krümmen wie ein Wurm und sich den Verstand aus dem Kopfe denken? Als wenn er dazu auf der Welt wäre, nach so einem kleinen eigensinnigen Mädchen in aller Demuth zu schmachten –“
„Mademoiselle Merling, haben Sie Mitleid mit mir,“ sagte Annette unter tiefem Erröthen und faßte ihre Hand. „Wollen Sie mich unglücklich machen? Wenn nun der Andere – wenn Monsieur Karl mich lieb hätte – –“ Sie schlug die Augen in der rührendsten Verwirrung nieder und schloß wieder die Lippen.
„Ah, ich verstehe,“ sagte die Alte mit einem bösen Lächeln, „und wenn dann Monsieur Charles käme und uns heirathen wollte, so hätten wir ja nicht umsonst gewartet! Schlagen Sie sich diesen Gedanken aus dem Kopf, Annette. Charles wird Sie niemals heirathen, niemals. Er denkt nicht daran. Er hat noch nie daran gedacht. Er läßt Sie seinem älteren Bruder. Er wird eine Andere nehmen.“
Das Mädchen starrte sie an. „Woher wissen Sie das?“ stammelte sie nach einer Weile, blaß wie ihr weißes Tuch.
„Woher ich das weiß?“ erwiderte die Alte und suchte ihre plötzliche Verlegenheit hinter einem harten Ton zu verbergen. „Glauben Sie etwa, daß ich Ihnen Unwahrheiten berichte? Er denkt nicht daran: Er ist ein wenig passionirt für Sie, wie er es schon für hundert Andere gewesen ist. Er hat – er hat Sie lieb wie eine zukünftige Schwester; verstehen Sie mich jetzt?“
Annette zuckte kläglich zusammen. Die Arme sanken ihr an den Seiten nieder und ihre ganze zarte Gestalt schien das Leben zu verlieren. „Weiß er davon?“ hauchte sie mit vieler Mühe hervor. „Weiß er, daß sein Bruder – ?“
Sie konnte nicht weiter sprechen. Demoiselle Merling stand einen Augenblick in Verwirrung da, sie hatte nicht den Muth es zu bejahen. „Warum soll er es schon wissen, liebes Kind?“ sagte sie endlich mit einer gewissen Rührung; „das glaube ich nicht. Das weiß ich nicht zu sagen. Fassen Sie sich. Vielleicht, ja, vielleicht, daß der gute Wilhelm es ihm schon gesagt hatte, – daß Charles eben darum so galant, so herzlich gegen Sie war. Wie konnten Sie das nur so mißverstehen, ma pauvre Annette! Er dachte an weiter nichts. Nie wird er das Mädchen heirathen wollen, das sein älterer Bruder liebt. So schlimm ist er nicht! Er wird sich recht herzlich freuen, wenn Sie seinem theuren Wilhelm Ihre Hand geben; er wird Sie lieb haben wie eine Schwester, und Sie ihn wie einen Bruder; enfin. eines Tages werden Sie darüber lachen, daß Sie einmal die kleine Närrin waren, Ihre und seine Gefühle so romantisch zu verwechseln.“
„Nun, liebes Kind, was sagen Sie?“ fuhr die Alte nach einer Weile fort, da das Mädchen noch immer wie betäubt in der Laube stand und seine Thränen eine der anderen nachflossen. „Was soll ich Ihren Eltern sagen, wenn ich jetzt zu ihnen hineingehe?“
„O Mademoiselle Merling!“ sagte Annette mit Thränen in der Stimme und suchte sie mit ihren ausgestreckten Armen aufzuhalten.
„Ich gehe nicht zu Ihrem armen Vater, Annette; was soll ich ihm sagen? Soll ich ihm mittheilen, daß man keine Lust hat, ihm aus seinem Bankerott endlich herauszuhelfen? daß sich zwar ein unbedeutender junger Mensch gefunden hat, der dazu bereit wäre –“
„Wie können Sie so unbarmherzig sein, Mademoiselle Merling!“ rief das Mädchen ans, das vor Thränen ganz zerfließen zu wollen schien, „wie können Sie mich so martern!“
„Die Vernunft ist oft eine Marter, liebes Kind,“ sagte die Alte mit etwas strengem Gesicht, „wenn man sie nicht annehmen will. Sie werden die Alte eines Tages segnen, heute finden Sie sie natürlich unbarmherzig. Ich gehe jetzt zu Ihrem armen Vater hinein, und wenn er sich zufälliger Weise über diesen unbedeutenden Schwiegersohn freuen sollte –und wenn Ihre gute Mutter, die so viel um Sie gelitten hat, ebenso denken sollte – dann werde ich sie Beide herausschicken, Annette, damit sie von ihrer eigenen Tochter hören, weshalb es ihr unmöglich ist, ihre Eltern glücklich zu machen.“
„Bleiben Sie, bleiben Sie!“ rief Annette außer sich ihr nach. „Sie wollen mich tödten!“
„Ich will Sie tödten, allerdings,“ erwiderte die Alle und blieb stehen, „ich will Ihnen einen armen, häßlichen, alten, abscheulichen Menschen aufdrängen! Quelle horreur! – Soll ich jetzt gehen oder nicht? Haben Sie sich gefaßt, Annette?“
Das Mädchen antwortete nicht mehr; es war auf die Bank gesunken, hatte die Arme auf den Tisch gelegt und sein Gesicht drüber hin. Ein fast unhörbares Schluchzen war das einzige Zeichen des Lebens in der hülflosen Gestalt. Die alte Dame blieb noch einige Augenblicke, mit einer Regung des Mitleids kämpfend, stehen, dann ermannte sie sich, zog ihren letzten Blick von dem verstockten Kinde ab und wandte sich zur Thür. „Sie können sich noch nicht besinnen, Annette,“ sagte sie streng. „Ich sehe, es ist hohe Zeit, Sie zu retten. Ich werde thun, was ich Ihnen und meinem Liebling schuldig bin, und es wird dann die Sache Ihrer armen Eltern sein, Ihre Vernunft zu erwecken.“
Damit rauschte sie über den Kiesweg zwischen den Beeten davon, dem Hause zu und ließ Annette mit ihren Thränen allein.
Am Abend des nächsten Tages ritt Karl, seinen Bedienten hinter sich, Caro zur Seite, dem Sonnenschein entgegen, der von Thurm und Dach der Marienkirche auf’s Feld hinaus strahlte, und dachte an den weiten Weg, den er so hastig zurückgelegt, an die endlosen Tage, die nun überstanden waren, und an das kleine Haus neben jener Kirche, dem er zusteuerte. Er hatte seine Geschäfte und Obliegenheiten als Gutsherr so viel wie möglich gekürzt, [515] seine Gedanken nur an Eins geheftet und erfüllte sich nun ganz mit dem Gefühl, daß ihm die ernsteste Entscheidung seines Lebens bevorstehe. Er glaubte in seinem Innersten seine Bestimmung, sein Verhängniß zu spüren. Er dachte wohl auch an Wilhelm’s Schwärmerei in jener Nacht, aber nur, um über diese flüchtigen Wallungen zu lächeln und in der Ueberzeugung, daß er die Flamme völlig ausgebrannt wiederfinden werde. Seine Seele war ohne Sorge, denn er hatte sich ohnehin gelobt, sich nicht eher zu entscheiden, als bis die laute, jugendliche Stimme seiner Brust durch den gelasseneren Ausspruch der Vernunft bestätigt worden sei. Wie ungeduldig hatte er zwar unterwegs zu hundert Malen den beschäumten Hals seines Pferdes geklopft, wie ungestüm den Augenblick des Wiedersehens und den der Wahl in einen vermischt und alles Zuwarten als unerträglich verworfen; aber nach seiner alten Gewohnheit bezwang er sich dennoch und wiederholte immer wieder seinen Entschluß, bei dieser größten Probe der Männlichkeit sich auch als Mann zu bewähren. So ritt er endlich in das Stadtthor hinein, durch die engen und krummen Straßen zum Marktplatz hinaus und auf die Kirche zu, die allein noch im abendlichen Licht erglänzte. Vor Annettens Hause hielt er still, nahm sein ungeberdiges Herz zusammen, und indem er mit scheinbar gleichgültigem Gesicht vorn Pferde stieg, gab er es dem Diener zu halten und schärfte ihm ein, es auf dem Marktplatz, wo nicht der Kirchen-Zugwind blase, langsam umherzuführen und nach dem scharfen Ritt sich abkühlen zu lassen. Dann trat er in’s Haus hinein, fühlte nun erst die ungekühlte Gluth, die ihn selber durchwogte, und blieb eine Weile tief aufathmend stehen, um die Fassung, die er vor der kleinen Thür des Zimmers zu verlieren schien, erst zurückzugewinnen.
Nach einem kurzen Klopfen trat er ein; in einer der Fensternischen saß Annette, die das Geräusch überhört hatte, hielt ein kleines Buch vor sich aufgeschlagen und las bei dem letzten Tagesschein, welcher durch die Gardinen und zwischen den hohen Topfgewächsen auf die weißen Blätter hereinfiel. Ein dunkles Tuch war um ihren Kopf geschlungen, ihre Löckchen spielten in nachlässigster Verwilderung um die schmerzlich gedankenvolle Stirn. Eine schwermüthige Blässe lag auf dem Gesicht, oder das bleiche Licht schien sie so zu färben. Er betrachtete sie still und glaubte zu erkennen, daß sie nur mit den Augen las und mit der Seele hinaus irrte. Das kleine Buch däuchte ihn so wohlbekannt, er meinte, es im Wald auf ihrem Schooß gesehen zu haben. Von der melancholischen Lieblichkeit ihres Anblicks bewegt, blieb er eine Weile lautlos stehen, wo er stand; endlich sagte er mit gefüllter Stimme: „Mademoiselle Annette!“ Das Mädchen fuhr in die Höhe, schlug das Buch zusammen und erschrak heftig, als es ihn erkannte.
„Komm’ ich zur unrechten Zeit?“ fragte er sanft. „Ich wollte so dreist sein, Ihrer freundlichen Einladung zu gehorchen und mich Ihren werthen Eltern zu zeigen. Nicht, weil ich mir gern danken lassen möchte – denn hier ist nichts zu danken – sondern weil es mir eine herzliche Freude wäre, die Eltern von Demoiselle Annette kennen zu lernen.“
Während er noch sprach, bemerkte er, daß eine Aufregung in ihr arbeitete, die sie vergebens bekämpfte und die, da er sich ihr allein gegenüber sah, ihn selber ergriff. Ihre Pulse flogen, ihre Farbe begann hastig zu wechseln, und die etwas gerötheten Augen suchten seinen Blicken auszuweichen. Sie deutete, während sie ein bewillkommnendes Lächeln erzwang, auf einen Stuhl, wie wenn er sich setzen solle, stammelte mit vieler Mühe, daß es ihr leid thue – daß ihre Eltern nicht zu Hause seien und ob er nicht einstweilen hier warten wolle. Karl starrte sie in wachsender Verwunderung und Unruhe an, er wußte nicht, wie er sich diesen Empfang zu deuten hätte. Indem er es mit einer Handgeberde ablehnte, Platz zu nehmen, erwiderte er, daß sie das offenbar nur aus Höflichkeit sage; also sollte er lieber gehen. „Ich kann ja auch,“ setzte er hinzu, „an einem der folgenden Tage wiederkommen!“
„Freilich können Sie das,“ erwiderte Annette und suchte wieder zu lächeln, aber auf eine so unwahrscheinliche und fast schmerzliche Weise, daß er erschrak. Er trat endlich, um seiner bangen Unruhe ein Ende zu machen, näher auf sie zu und fragte mit lebhafter Stimme:
„Was ist Ihnen, Mademoiselle? Hab’ ich Sie so sehr zur Unzeit gestört? Leiden Sie, Annette?“
„Ich leide nicht,“ antwortete sie matt. „Ich habe wohl ein wenig Schmerzen hier oben,“ und damit deutete sie auf ihren Kopf und das dunkle Tuch, „aber das thut ja nichts. Ich bin ja dennoch – so glücklich. Sie kommen, um mir zu sagen –“ hier verstummte sie wieder und schien mit dumpfer Ergebung zu erwarten, was er zu sagen habe.
Eine tiefe Stille entstand, und Karl sah sie mit neuer Befremdung an. „Ich habe Ihnen nichts Besonderes zu sagen, Mademoiselle Annette,“ gab er endlich zur Antwort; „ich kam nur um Sie wiederzusehen – um Ihre werthen Eltern zu begrüßen. Ich höre mit Kummer, daß Sie wieder leiden. Mein erster Gang war zu Ihnen, liebe Mademoiselle,“ fuhr er herzlicher fort; „ich komme in diesem Augenblick hier an, ich habe noch Niemand gesehen. Es war mir ein Bedürfniß, zu hören, ob jenes kleine Sturzbad im Wald keine Folgen zurückgelassen.“
Sie schüttelte den Kopf, und ihre Verwirrung wuchs. „Sie haben noch Niemand gesehen?“ stammelte sie. „Aber Sie wissen doch –?“
„Was soll ich wissen?“ fragte Karl verwundert.
„Mein Gott, Sie wissen es nicht!“ Das Mädchen erblaßte wie die weiße Tünche an der Wand und verlor alle Fassung. Es schien, als ob sie sich nicht aufrecht halten würde; der erschrockene Karl sprang hinzu, um ihr beizustehen, um sie in seine Arme aufzufangen. Aber die erste Berührung seiner Hand gab ihr auf einmal alle Besinnung zurück. Sie wehrte ihn mit einer hastigen Bewegung ab, that einen Schritt nach rückwärts und sah ihn mit seltsam entschlossenen Augen an. „Lassen Sie mich, es ist nichts,“ sagte sie in fast herbem Ton. „Es war nur – ein Anfall. Dorette!“ rief sie hinaus, den Blick auf die halb offene Thür des Nebenzimmers gerichtet, „bringen Sie das Licht! Sie sehen, es wird dunkel! – Ich bitte, setzen Sie sich, setzen Sie sich;“ und ihre aufgeregt glänzenden Augen kehrten zu Karl zurück. „Sie wollten ja meine Eltern begrüßen. Es wird ihnen lieb sein, wenn Sie sie erwarten.“
„O nein, Mademoiselle, ich will gehen,“ erwiderte Karl, der mit steigender Beklommenheit ihrem rätselhaften Gebahren gegenüberstand. „Ich bin Ihnen zur Last. Es muß etwas vorgefallen sein, was ich nicht verstehe. Ich bitte Sie, Mademoiselle Annette, haben Sie die Güte, es mir zu sagen und mich von einer unerträglichen Unruhe zu befreien, oder gestatten Sie, daß ich mich entferne.“
Annette sah ihn an, aber schien ihn nicht zu hören. Ihre ganze Seele war aus den Augen zurückgewichen und mit dem Kampf in ihrem Busen beschäftigt; alle Kindlichkeit aus ihren Zügen ausgelöscht. Sie athmete schwer. Endlich kam das Mädchen mit dem Licht und setzte es auf den Tisch, der mitten im Zimmer stand. Annette fuhr aus ihren Gedanken auf, die Helligkeit schien sie zu erschrecken. Mit einer Anstrengung, welche die lieblichen Lippen verzog, rief sie die ganze lächelnde Verschlossenheit ihrer Züge zurück. „Sie sollen es nun endlich hören,“ sagte sie und blickte mit unruhiger Heiterkeit zu ihm hinüber. „Ich habe eine große wunderbare Ueberraschung für Sie! Errathen Sie’s nicht?“ Karl schüttelte ungeduldig den Kopf. Das Mädchen war still hinausgegangen; sie waren wieder allein. Der Tisch mit der Kerze stand zwischen ihnen, mit Büchern und Blättern und Schreibheften der Kinder bedeckt. Annette setzte sich hin; „nehmen Sie den Stuhl!“ wiederholte sie fast mit Heftigkeit.
„Was soll ich hören?“ fragte Karl verstört und setzte sich ihr gegenüber.
„Ich hoffe, es wird Sie freuen,“ sagte sie, und ihre Stimme fing an, leise zu zittern. „Ich dachte, Sie wüßten es –“ Sie hielt wieder inne; die Angst überkam sie, daß sie nicht gelassen endigen, daß ihre Kraft sie verlassen werde. Mit einer plötzlichen Bewegung ergriff sie ein Blatt, das auf dem Tisch lag, das eines der Kleinen mit Figuren, Häusern und Bäumen bekritzelt halte, und nahm einen Stift in die Hand. „Ich will es Ihnen aufschreiben,“ sagte sie mit wilder Heiterkeit, ohne ihn anzusehen. „Sie sollen es mit den Augen hören!“ Sie schrieb ein paar Worte in hastig ungleicher Schrift, dann schob sie dieselbe ihm mit einem zitternden Lächeln hinüber.
Karl nahm das Blatt mit beiden Händen und las. „Ich habe mich mit Ihrem Bruder verlobt,“ las er und las es von Neuem. Sie starrte in sein Gesicht; sie sah sein Entsetzen, sein langsames, unheimliches Erbleichen, wie wenn er den Sinn der [516] Worte erst allmählich begriffe. Ihr Lächeln verwandelte sich, eine namenlose Angst ergriff alle ihre Züge. Sie stand auf.
„Annette!“ rief er mit halberstickter Stimme. „Annette!“ Das Blatt noch immer in der Hand, fuhr er in die Höhe und stierte sie an.
„Um Gotteswillen, was ist Ihnen?“ sagte sie ohne Besinnung. „Erschreckt Sie das?“
Er sah über sie weg und griff nach seinem Hut. „Nichts, nichts,“ stammelte er; „nur daß ich fort muß – daß ich Sie verlasse. Leben Sie wohl!“ wollte er hinzusetzen und brach mitten drin ab und trat auf die Schwelle, keines Wortes mehr mächtig.
„Mein Gott – wo wollen Sie hin?“ rief Annette ihm nach.
Aber er schien sie nicht mehr zu hören; er hatte die Thür schon aufgerissen und trat hinaus. Von ihrer Angst getrieben, eilte sie ihm nach, die Thür flog in’s Schloß, und sie stand da und hörte draußen seine hastigen Schritte.
Sie eilte an’s Fenster zurück; mit fliegenden Blicken sah sie ihn vorüberstürmen, dem Marktplatz zu. Ihre Sinne wollten sie verlassen. An der Ecke hielt sein Diener mit den beiden Pferden; sie sah Karl einen Augenblick stille stehen und nach ihrem Fenster zurückblicken, dann wieder weiter eilen, bis er die Pferde erreichte. Im Scheine der Laterne, die dort an der Ecke hing, schwang er sich vor ihren Augen in den Sattel hinauf, schien dem Diener zu winken, und in derselben Richtung, in der er gekommen war, sahen ihre sich umflorenden Blicke ihn verschwinden.
Seit diesem unglückseligen Abend war etwa eine Woche vergangen; die schönen Maitage waren dahin, der Juni hatte kalten Weststurm und rauhen Regen gebracht, und die ganze Melancholie, die über einer weiten, starren Fläche unter einem sonnenlosen Himmel liegen kann, lag über der hügeligen Ebene vor Karl’s einsamen Augen ausgebreitet. Er saß in seinem ländlichen Herrenhaus am Fenster und starrte in die graue Luft hinaus und zu den fernen, niedrigen, von Pappeln umstellten Gebäuden auf dem Landsitz seines Bruders hinüber. Der treue Caro kauerte zu seinen Füßen und schien mit sorgenvoller Befremdung zu ihm hinaufzusehen. Der Tisch, neben dem er saß, war unter Büchern und Papieren begraben, die Stühle um ihn her mit Folianten bedeckt, alte vergilbte Hefte und Actenstöße lagen auf der Erde. Die Gutsrechnungen der früheren Jahre, die Wirthschaftsbücher, Pläne und Zeichnungen hatte er in diesen Tagen, wo er nur ging und stand, in dem großen Zimmer ausgebreitet und umhergestreut, wie wenn ein[WS 1] ganzes Collegium hier gearbeitet hätte. Aber müde, wie er der ewigen Arbeit war, und von seinen schmerzlichen Empfindungen übermannt, hielt er die Augen, die sich über den Papieren bei Tag und Nacht abgemattet hatten, nun einzig auf jene Häuser in der Ferne gerichtet und auf den Rauch, der dort aufstieg. Er sagte sich, daß nun bald Annette dort als junge Herrin einziehen werde. Er rief sich in’s Gedächtniß zurück, wie seine unseligen Gefühle für das Mädchen in ihm entstanden seien, wie sie so schnell, so übermächtig hätten wachsen können und wie es nur möglich gewesen, daß er sich über ihre Empfindungen getäuscht hätte. „Sie zeigte dir Güte und Vertrauen,“ sagte er sich mit kummervoller Seele, „aber ihn liebte sie! Wie eine Schwester kam sie dir entgegen –und nun ist sie dir geworden, was sie dir werden wollte! Dich ließ sie in ihren früh erwachten Geist ein wenig hineinblicken – ihm gab sie ihr Herz!“
Indem er das dachte, stieg wider seinen Willen die ganze Bitterkeit in ihm auf, die ihn diese Tage in Traum und Wachen verfolgt, gegen die er umsonst gerungen hatte. Er erinnerte sich jenes Abends, wo ihn Wilhelm auf der Bank unter dem Sternenhimmel aufgesucht und ihm in Tönen, die nur vom flüchtigsten Rausch zu zeugen schienen, den ersten Hymnus auf Annette vorgesungen. Alle die schwärmerischen Ausbrüche des Bruders, über die er damals gelächelt hatte, fielen ihm nun in unglückseliger Wörtlichkeit wieder ein: wie acut er sich verliebt habe, wie viel sie mit einander gelacht hätten, wie bereit er sei, sie auf dem Fleck zu heirathen. „Und in dieser trunkenen Wallung,“ sagte er sich, „ging ihr Wilhelm entgegen, und während ich in meiner stillen Seligkeit, mit all’ meinen Hoffnungen und ahnungsvollen Gefühlen, durch die Mondnacht dahindämmerte, entschloß er sich wie im Kartenspiel, sie zu gewinnen – und kam, sah und siegte! Und ich, der ich auf ihre holdseligen Augen vertraute – – O Karl! Karl!“ rief er sich selber an und fuhr sich über die glühend heiße Stirn, wie wenn er ihr helfen müßte, diese unaussprechliche Täuschung zu begreifen. „Sie dachte nicht mehr an dich. Sie sah ihn an und sah, daß er sehr schön war und daß er so warme, verliebte Augen hatte, und der Bund war geschlossen! Und ich Ahnungsloser mußte nun kommen und ihr mein Gefühl verrathen – –“
Sein ganzer Stolz wallte auf, sein Mund schloß sich in wilder Herbigkeit, er erhob sich, um sich leichteren Athem zu verschaffen, und ging im Zimmer umher.
Er glaubte ihr sein Herz wie ein Knabe preisgegeben zu haben. Er wiederholte sich zu seiner Genugthuung Wort für Wort den Brief, den er am nächsten Morgen an Annette geschrieben; wie er ihn sich in diesen Tagen schon hundert Mal wiederholt hatte. Als wenn sie vor ihm dasäße und er zu ihr spräche, sagte er Alles von Neuem an sie hin: daß er sie an jenem Abend durch seine Bestürzung ohne Zweifel befremdet habe; daß er bei der Nachricht von ihrer Verlobung aus einem Grunde erschrocken sei, den er ihr nicht anvertrauen dürfe; daß es sich dabei um einen Freund gehandelt habe, der ihm am Herzen liege; daß er über diesen ersten Schreck, in einer Unhöflichkeit, die er selber unbegreiflich finde, so ganz vergessen habe, ihr seine eigene Freude über das glückliche Ereigniß und seine brüderlichen Gefühle auszusprechen; daß er um jenes Freundes willen sie bitte, von diesem aufklärenden Brief und von seinem seltsamen Benehmen am Abend zuvor, ja von dieser Begegnung überhaupt, auch gegen Wilhelm, zu schweigen, und daß er das Gleiche thun werde. Jedes Wort dieses Briefs, mit bitterer, künstlicher Berechnung ausgedacht, klang in seiner gequälten Seele wieder, aber es gab ihm nicht die Erleichterung, die er hoffte.
Er ging nun unruhiger im Zimmer umher; die Lüge beschämte ihn, mit tiefer Beklemmung sah er sich in ein gemeines Gewebe von Unwahrheiten verstrickt und fühlte, daß er es nie mehr werde zerreißen können. „So beginnt nun,“ dachte er, „dieser neue Bund! Vor Annetten mußt du dein Herz verhüllen, gegen Wilhelm giebt es für dich keine Offenheit mehr – Verstellung i ist von nun an deine einzige Rettung! – Fort von hier, fort! Fort aus ihrer Nähe! bis ich das Aergste überstanden, bis ich mich abgetödtet, bis ich diese grauenhafte Ruhelosigkeit verwunden habe! bis es mir möglich ist, ohne beständige Lüge mit diesen Menschen zu leben! Warum hatte ich noch nicht den Muth, zu fliehen? Warum saß und saß ich hier Tag für Tag, als könnte etwas Plötzliches mich überraschen, mich befreien, als könnte es widerrufen werden, als könnte irgend ein unerwarteter Zufall noch dazwischentreten? Es ist keiner gekommen – und noch immer geh’ ich hier umher und hoffe auf irgend ein Wunder! O Kind! o Kind!“ – Er legte sich die geballten Fäuste vor die Stirn, er fuhr sich in’s braune Haar und zog daran, als müsse er das ganze Gehirn mit ihnen herauszerren. Alle Leidenschaft war auf einmal in ihm erwacht. Er hatte gehofft, sich zur Ruhe zu sprechen, sein Blut wallte statt dessen fieberhaft, seine Schläfen zitterten und schmerzten; er warf sich in einen hohen Sessel, über Bücher und Papiere hin und begrub sein Gesicht in beide Hände.
Einer vom „jungen Deutschland“.
Wer in den ersten Nachmittagsstunden die Hauptallee des Wiener Praters besucht, der kann sicher sein, dort einem Manne von mittlerer Größe und gedrungenem Körperbau zu begegnen, welcher tagtäglich in dieser herrlichen Anlage der Donauinsel spazieren geht. Mag die Sonne noch so glühenden Brand versenden, mag der Sturm die Wipfel der alten Kastanienbäume schütteln oder der Regen in Güssen herniederströmen, keines Wetters Ungemach hindert den Mann, der dicken Atmosphäre der großen Residenz [517] auf einige Stunden zu entfliehen und seinen Lungen frische Luft zuzuführen. Treten wir ihm näher, so sagt uns wohl der gelblich-braune Fleischton seines Gesichts – das Kennzeichen von Leberleiden – das Warum dieser zähen Wanderungen. Auch die Vermuthung lassen wir fallen, die zuerst in uns aufstieg, als wir zwei englische Vorstehhunde in der Begleitung des Mannes erblickten, die Vermuthung, einen Forstmann des großen Praterreviers vor uns zu haben. Denn der Blick in dieses Antlitz zeigt uns auf der Stelle den Mann des Denkens, der geistigen Arbeit. Ein nicht schöner, aber interessanter, geistig ausgearbeiteter Kopf thront auf dem gedrungenen Rumpfe. Eine mächtige Stirn, der Wohnsitz des geistigen Vermögens, wölbt sich über der etwas platten, doch in den Nüstern kräftig geschwungenen Nase, das blaue Auge glänzt geistvoll und mit gutem Ausdruck unter buschiger Braue hervor, der von kräftigem, leicht angegrautem Schnurr- und Kinnbart umrahmte Mund hat die volle, nach vorn gewölbte Unterlippe, in welcher wir das äußere Merkzeichen der beredten Seele sehen. Das kräftige Knochengerüst der Wange und des Kinns deutet auf energischen Willen und männliche Festigkeit.
Der Mann ist populär in Wien, alle Welt kennt ihn, das sehen wir an dem achtungsvollen Gruß der Begegnenden, und so wird es uns leicht, von einem Spaziergänger seinen Namen zu erfahren. Der Mann heißt Heinrich Laube und ist der abgesetzte Director des altberühmten Hofburgtheaters in Wien und hoffentlich demnächst der artistische Leiter der Leipziger Stadtbühne.
Der abgesetzte Director? Wörtlich genommen ist Laube eigentlich nicht abgesetzt worden. Er hat seine Entlassung gegeben, weil man ihm die Vollmachten beschränken wollte, welche er als Leiter dieses deutschen Mustertheaters durch achtzehn Jahre besessen hatte.
Das Burgtheater war immer eine Specialität in dem Wiener Leben, es war während der vergangenen achtzehn Jahre eine Specialität im österreichischen Staatswesen. Auf die Reaction war dieses Staatswesen gestellt, auf die gründlichste Reaction durch Adels-, Priester- und Soldatenwirthschaft. Und neben dieser Reaction, nein, mitten darin, umtost von ihren Wogen, stand das Burgtheater kräftig und blühend aufrecht, eine Burg des freien deutschen Geistes in Oesterreich, die einzige öffentliche Anstalt, welcher die Leidensjahre der Reaction in ihrem Kern und Wesen keine Todeswunde versetzen konnten. Während die öffentliche Meinung von All’ und Jedem abfiel, was mit dem Staat und seiner Regierung zusammenhing, war das Burgtheater geehrt und geliebt von Alt und Jung. Das dankte man der Umsicht, der Energie seines Directors Heinrich Laube, der immer bestrebt war, die geistige Fühlung zu erhalten mit den freiheitlichen Strebungen der Zeit, der das Burgtheater immer gehütet hat als Pflegstätte deutschen Wesens in Oesterreich. Es wäre undankbar, wenn wir bei diesem Lobe vergäßen, daß ihm das nur ermöglicht wurde durch die allgemeine Beistimmung der gebildeten und geistig erhobenen Elemente in der Wiener Gesellschaft und durch die Geradheit seines unmittelbaren Chefs, des Oberstkämmerers Grafen Lançkoronzki. Wenn auch ein stolzer und starrer Aristokrat, war dieser Pole doch ein echter Edelmann, der nie den Wirkungskreis zu schmälern trachtete, welchen er dem artistischen Director angewiesen hatte, der das Andenken seines Schwagers, des liberalen [518] Grafen Stadion, unter dessen Ministerium Laube eingesetzt war, nicht vergaß, der, eifersüchtig auf die Erhaltung seiner eigenen Machtsphäre, seinen Director mehr als einmal gegen die Angriffe der feindlichen Staats- oder Kirchengewalt aufrecht erhielt und vertheidigte.
Aber man hat es dem Director des Burgtheaters nicht vergessen, daß er einer der Wortführer des jungen Deutschland war. Das Gedächtniß der Dunkelmänner ist zäh und rachsüchtig. Zudem hat Heinrich Laube sie in den letzten Jahren neu gereizt durch seinen Roman „der deutsche Krieg“ und durch Zulassung und Aufführung von eigenen und fremden Stücken, welche, wie sein „Statthalter von Bengalen“, die politischen Gesinnungen oder, wie Bauernfeld’s „Aus der Gesellschaft“, die Vorurtheile der Kasten schwer beleidigten. Er ist gefallen ein Opfer seiner freien Ueberzeugungen, seiner liberalen Schriften. In Wien und in ganz Deutschland hat sein Ansehen dadurch nur gewonnen.
Heinrich Laube, geboren am 19. September des Jahres 1806 in dem Städtchen Sprottau in Schlesien, der Sohn wackerer, geachteter Bürgersleute, erhielt seine erste Schulbildung in seiner Vaterstadt und bezog 1826 die Universität Halle, um Theologie zu studiren. Während der zwei Jahre seines Halleschen Aufenthaltes gehörte er der verpönten Burschenschaft an. Er erlangte in dieser alle deutschen Hochschulen umfassenden Studentenverbindung die höchsten Ehren. Dann ging er an die Universität seiner heimathlichen Provinz, nach Breslau. Es war, als habe er des heimathlichen Bodens bedurft, der heimathlichen Luft, um das schaffende Vermögen zu wecken, welches bis dahin in ihm geschlummert hatte. Die Romantiker herrschten damals noch auf dem deutschen Parnaß mit ihrem Hang nach fremdländischer Dichtung, mit ihrer Vorliebe für romanische Literatur und ihre Formen, mit ihrem Eifer für Einbürgerung derselben in Deutschland. Eine spanische Romanze – sie ruht vergessen bei Tausenden ihrer Schwestern – war Laube’s erste Bethätigung auf literarischem Felde. Karl Schall, der Lustspieldichter, damals Redacteur der Breslauer Zeitung, führte den jungen Poeten ein. Diese Verbindung mit Schall vermittelte sehr bald Laube’s Bekanntschaft mit dem Theater. Man übertrug ihm das Recensentenamt über das Breslauer Stadttheater in der Breslauer Zeitung. Diese kritische Thätigkeit leitete auch seine Production auf das dramatische Feld, auf dem er später so Tüchtiges schaffen sollte. Seine ersten Arbeiten nahmen gleich Besitz von dem ganzen Reich dramatischer Formen, sie bebauten die äußersten Grenzen dieses Reichs. Eine große Tragödie und – eine Posse erblickten damals das Licht der Lampen. Die Tragödie hieß „Gustav Adolph“, und der zu jener Zeit in deutschen Landen hochgefeierte Schauspieler Wilhelm Kunst stellte den Helden derselben bei einem Gastspiele in Breslau dar. Die Posse nannte sich „Zaganini“. Sie führte den dämonischen König der Geiger, Nicolo Paganini, in einer Parodie als Helden vor, und ein gewandter Schauspieler, Wilhelm Just, reiste als falscher Paganini jahrelang damit in Deutschland umher.
Indeß meldete sich bald das Leben mit seinen praktischen Forderungen. Der Beruf trat in den Vordergrund. Du sollst ja Theologe werden, riefen sein Gewissen und seine Familie. Das Berufsstudium nahm jetzt Laube’s Fleiß in Anspruch. Um sich für die höhere Candidatenprüfung in Sammlung vorzubereiten, nahm er jetzt eine Hauslehrerstelle an. An zwei verschiedenen Orten in der Umgebung von Breslau waltete er dieses Amts. Aber sein eigentlicher, sein wahrer Beruf opponirte dem erzwungenen Berufe, und als das Jahr 1832 herankam, hatte er den ersten Theil des „neuen Jahrhunderts“ geschrieben und in die Welt gesandt. Dieses Buch entschied seine fernere Laufbahn. Es war ein durchschlagendes Debüt in der Literatur. Auf dem Hintergrunde des eben Geschehenen, des neuesten polnischen Aufstandes, spielte sich die Erzählung ab. Ein kräftiges, männlich-starkes Naturell sprang aus dem Buche mit siegreicher Macht dem deutschen Publicum entgegen, eine feurige Seele voll gesunden Realismus, voll kühner Freiheitsbegeisterung. Ein Sprecher der neuen Zeit hatte sich hören lassen, und man hatte ihm gern und mit begeisterter Theilnahme zugehört.
Eine neue Zeit war in der That damals angebrochen für unser deutsches Vaterland. Die Forderungen der Nation, Freiheit und Einheit, zurückgedrängt und zum Schweigen verurtheilt seit dem Ende der französischen Kriege durch die reactionären Regierungen – sie wurden jetzt von Neuem laut, recht sehr laut, seitdem die Julirevolution den Thron der Bourbonen in Frankreich umgeworfen und den bürgerfreundlichen Orleans als König Louis Philipp ausgerufen hatte. Die Bewegung, welche auch Deutschland und Polen ergriff, wurde zwar materiell unterdrückt durch die Gewalt der Waffen, in den Geistern aber war sie lebendig geworden und konnte nicht mehr getödtet werden, wenn auch noch Jahrzehnte vergingen, ehe sie das Vaterland real umgestalteten. Laube war mit seinem ersten Buche in die vorderste Reihe der Vorfechter dieser nationalen Forderungen getreten, und die deutsche Jugend empfing ihn auf der Arena mit freudiger Zustimmung und begeisterter Theilnahme.
Der Erfolg seines Buches hatte Laube auch materielle Hülfsmittel zugeführt. Er wollte sie benutzen, um nach Paris zu gehen, um dort den St. Simonismus zu studiren, der ihn, wie das ganze junge Deutschland damals lebhaft interessirte. Im Beginn dieser Reise berührte er Leipzig und verweilte dort einige Zeit im Verkehr mit den Vertretern der Literatur und Kunst. Einige Recensionen, welche er über das dortige Theater hatte drucken lassen, veranlaßten den Buchhändler Voß, den Eigenthümer der „Zeitung für die elegante Welt“, Laube einen Antrag zu machen für die Redaction dieses Blattes. Nach kurzem Zögern nahm Laube an; die Pariser Reise unterblieb, er siedelte nach Leipzig über.
Die „Zeitung für die elegante Welt“ wurde bald unter Laube’s Redaction ein wichtiges Organ für die neuen literarischen Bestrebungen; alle jüngeren Autoren von Bedeutung betheiligten sich daran, Laube selbst trat in der Literatur mit der zweiten Abtheilung des „neuen Jahrhunderts“ auf, dem bald darauf das „junge Europa“ und die „Reisenovellen“ folgten, Bücher, welche sein Ansehen festigten und erhöhten.
Da ward er plötzlich seinem literarischen Schaffen brutal entrissen. Seine Schriften hatten den Zorn der politischen Behörden erweckt, und man sagte ihm eines Tages, daß er auf Requisition des preußischen Ministeriums die Stadt Leipzig verlassen müsse. Er wurde ausgewiesen.
Laube hatte auf der Universität fechten lernen, er hatte den Ruf eines der besten Schläger in Breslau erworben. Er fuhr dem brüsken Angriff schneidig in die Parade. Augenblicklich setzte er sich auf und fuhr nach Berlin. Zu welchem Zweck? Er wollte den Stier bei den Hörnern fassen. Er stellte sich zur Vertheidigung. „Hier bin ich, verhaftet mich, ich werde mich wehren,“ sagte er den Machthabern. Indeß – merkwürdig genug –, er erreichte seinen Zweck nicht, man verhaftete ihn nicht. Die Ausweisungs-Requisition war nur ein kleines Plänkeln, ein neckendes Vorpostengefecht gewesen – man war zur eigentlichen Action in Berlin noch nicht gerüstet. So ging Laube nach Gräfenberg in österreichisch Schlesien. Nach einiger Zeit trat der alte Prießnitz an ihn heran und sagte ihm: „Doctor, Sie müssen ja ein verteufelt gefährliches Menschenkind sein. Hier stehen Sie, wie ich weiß, unter polizeilicher Aufsicht, und bei Ihrem Eintritt nach Preußen sollen Sie, wie ich höre, verhaftet werden.“ Reizende Lage eines deutschen Schriftstellers! In Oesterreich polizeilich vigilirt, in Preußen der Verhaftung ausgesetzt, aus Sachsen ausgewiesen – glückliche Existenz eines deutschen Staatsbürgers! Es war recht behaglich damals eingerichtet im Vaterlande. Was thun? Laube nahm Wagen und Pferde und reiste – die ersten preußischen Städtchen vermied er, als Fußgänger sie besorgt umwandelnd – nach Dresden. Hier nahm er Audienz beim Minister von Carlowitz. Eine Andeutung, die dieser ihm machte: „Bleiben Sie vorläufig in Dresden,“ verstand er nicht oder wollte er nicht verstehen. Wahrscheinlich hatte die Ausweisungs-Requisition wörtlich nur auf Leipzig gelautet, und Carlowitz meinte, wenn Laube in Dresden bleibe, sei ihm eigentlich nicht viel geschehen und der preußischen Requisition sei doch Genüge gethan. Wie gesagt, Laube kümmerte sich nicht um diesen Rath, er wollte arbeiten im gewohnten Gange in seiner heimathlichen Umgebung, in der übernommenen Stellung – er ging nach Leipzig. Man ließ ihn nicht lange in Ruhe. Eine zweite Ausweisung erfolgte, eine zweite Reise nach Berlin. Und diesmal zog er das treffende Loos. Man verhaftete ihn; er wurde in die Hausvogtei gesperrt und wegen unsittlicher und glaubensfeindlicher Schriften in Untersuchung gezogen. Bald darauf kam der kleine Tzschoppe, der große Demagogen-Spürhund, darauf, daß Laube in Halle der Burschenschaft angehört hatte. Man sperrte ihn jetzt [519] in die Stadtvogtei und dehnte die Untersuchung auf aufrührerische und hochverrätherische Bestrebungen aus.
Neun Monate dauerte seine Haft. Das Schreiben war ihm verboten, zum Lesen erhielt er nur unschuldige Geistesnahrung, alte Jahrgänge der Vossischen Zeitung und dergleichen. Nach neun Monaten nahm man seine juratorische Caution an, mittels welcher er an Eidesstatt gelobte, sich dem Gerichte nicht entziehen zu wollen, und confinirte ihn nach Naumburg und Kösen. Man hatte damals in Berlin soviel mit demagogischen Umtrieben und burschenschaftlichen Verfolgungen zu thun, daß die Angeschuldigten jahrelang auf ihr Urtheil harren mußten.
In seinem Exil beschäftigte sich Laube wieder fleißig mit literarischen Arbeiten. Eine Anzahl kleiner Novellen und Erzählungen wurden hier vollendet, wie die „Liebesbriefe“, die „Schauspielerin“, das „Glück“. Auch eines seiner liebenswürdigsten und talentvollsten Werke entstand zu jener Zeit, die „modernen Charakteristiken“, in denen er sich als ein Portraitmaler von scharfer Auffassung, plastischer Gestaltungskraft und glänzender Farbengebung bewies.
Bald aber störte ihn die Gewalt wieder auf aus seinem künstlerischen Schaffen. „Die Schriften des jungen Deutschland“ sind verboten, hieß es eines Tages, die schon vorhandenen und die zukünftigen! Laube war einer der Hauptschriftsteller dieses jungen Deutschlands. Die Maßregel empörte ihn. Das hieß dem Schriftsteller das Messer an die Kehle setzen. Es war ein politisches „la bourse ou la vie“! Einem Schriftsteller verbieten zu schreiben! Wahnsinn oder brutale Gewalt – was ist größer in diesem Verbot? Das Organ, durch welches ich mit der Welt zusammenhänge, durch welches ich auf sie wirke, das Mittel, durch welches ich geistig lebe und leiblich existire, es wird mir mit räuberischer Rohheit und in Form des Gesetzes entzogen! Gott hat zu mir gesagt: lebe, rede und schaffe! und die Gewalt sagt: stirb, schweige und ruhe! Das war schlimmer als spanische Inquisition, schlimmer als Herodes! Es hieß das noch Ungeborne tödten, es hieß: ihr jungdeutschen Schriftsteller seid in Acht und Aberacht, ihr seid vogelfrei für jetzt und für alle Zukunft!
Laube stürmte nach Berlin. Zum Minister, zum allmächtigen Minister von Rochow ging sein Weg. Man ließ ihn lange nicht vor. Endlich gelang es ihm, vorzukommen. „Was machen Sie hier? Sie haben kein Recht hier zu sein!“ fuhr ihn der Gewaltige an, und in brausenden Strömen ergoß sich die Fluth des ministeriellen Zornes über ihn. Es ist charakteristisch für Laube’s Art, wie er sich jetzt benahm. Er ließ den Minister austoben. Als dieser geendet, verbeugte er sich kurz und schritt zur Thür. Da stutzte der Zornige, er fing an, sich zu schämen, er rief den beleidigten Schriftsteller zurück, er bat ihn, wenn auch nicht in Worten, doch in der That um Verzeihung; eine ruhigere Discussion folgte, und das Ende war, daß Laube in Berlin unangefochten blieb, um das Endurtheil seines noch immer schwebenden Processes abzuwarten.
Ehe dies Urtheil erfolgte, ehe der Kerker von Neuem für ihn geöffnet wurde, fesselte er sich selbst in lebenslange Bande. Er schloß den Ehebund mit einer anmuthigen und geistig hohen Frau, die er in Leipzig kennen und lieben gelernt, die für den geistvollen Schriftsteller sich interessirt hatte und die nun dem Verfolgten für immer angehören wollte.
Als das Urtheil erfolgte, lautete es auf sieben Jahre Festung. Ein Jahr wurde ihm wegen seiner Schriften zuerkannt, sechs Jahre wegen seiner Betheiligung an der Burschenschaft. Wie bei allen verurtheilten Burschenschaftern wurden die zuerkannten Jahre in eben so viele Haft-Monate verwandelt. Laube hatte also anderthalb Jahre Festung zu verbüßen. Aber die Festungen waren damals überfüllt im preußischen Lande von politischen Häftlingen, und man wandelte die Festungshaft vielfach in Internirung um. Auch mit Laube geschah dies. Auf Verwendung der Fürstin Pückler, einer Tochter des Staatskanzlers von Hardenberg, der Gattin des berühmten „Verstorbenen“, welche sich lebhaft für Laube’s Schriften interessirte, durfte er als Internirter in Muskau in der Lausitz seine Haft verbüßen. Dort verbrachte er nun achtzehn Monate. Aus jener Zeit stammt Laube’s Vorliebe für Gartencultur und Waldleben, seine Anhänglichkeit an das edle Waidwerk. Fürst Pückler, bekanntlich der größte Künstler in der Anlage von Gärten und Parks, verpflanzte seinen Eifer und seine schöpferische Lust auch in Laube’s Seele, und die Wälder der Herrschaft boten der frohen Jagdlust weiten Raum. Auch eine literarische Frucht keimte damals empor, das „Jagdbrevier“, ein liebenswürdig Büchlein, das bei allen Jägern Laube’s Namen populär gemacht. Liest man es doch im Palaste des Fürsten so gut wie in der einsamen Jagdhütte auf den höchsten Bergen der Alpen.
Die Amerikaner sind uns in vielen Stücken, besonders was die Bequemlichkeit des Reisens betrifft, weit voraus, und das zeigt sich namentlich an ihren ganz vortrefflichen Schlafwaggons auf den Eisenbahnen, einer der wohlthätigsten Erfindungen der Neuzeit, zumal für die ungeheueren Strecken, welche die Züge dort durchfliegen. Doch selbst für uns wäre es angenehm und nützlich, wenn diese Schlafwagen eingeführt würden, und da ich mir wenigstens, ehe ich sie selber benutzte, nie ein rechtes Bild von ihnen machen konnte, so glaube ich, daß es den Leser vielleicht interessiren wird, eine kurze Beschreibung von denselben zu erhalten. Ich muß vorausschicken, daß sämmtliche Waggons auf den amerikanischen Bahnen ziemlich genau so eingerichtet sind, wie wir sie auf den würtembergischen Zügen finden, d. h. mit Doppelsitzen an beiden Seiten, während ein offener Gang zwischen diesen hinläuft und es den Reisenden ermöglicht, von einem Wagen in den andern hinüberzugehen und Freunde oder Bekannte aufzusuchen. Jeder Waggon hat dabei sein Cabinet.
Das non plus ultra aller Bequemlichkeit sind aber die Schlafwagen; dabei sind sie mit großer Eleganz, als Salonwagen, gebaut. Sowie man die Absicht hat, die Nacht durch zu fahren und einen solchen Waggon zu benützen, der fast immer hinten angehangen und schon von außen leicht kenntlich, auch mit der gehörigen Devise versehen ist, so steigt man gleich in denselben ein und nimmt sich einen Sitz. Der Schlafwagen ist höher als die übrigen, reich mit Farben und Gold bemalt, oben mit Fenstern ausgestattet und mit gewissermaßen etwas gewölbten Seitenwänden. Die Sitze sind weich und elegant gepolstert und vorn ist ebenfalls noch ein kleines Waschcabinet, mit einem großen Blechgefäß und Hahn daran und darunter ein Marmorwaschbecken, neben welchem Seife, Kamm und Bürste liegen, während reine Handtücher ebenfalls dabei hängen; rechts in der Ecke steht ein anderer Behälter mit Wasser zum beliebigen Gebrauch.
Ueber Tag verräth übrigens nichts weiter den Schlafwagen; man sieht keine Spur von Betten oder Vorhängen und begreift eigentlich nicht recht, wie man sich hier bequem ausstrecken können und ein wirkliches Bett hergestellt bekommen soll. Indessen fragt ein für diesen Wagen eigens bestimmter Beamter bei den Reisenden an, ob sie für die Nacht ein „bunk“ oder Bett benutzen wollen. Wer das verneint, kann in den Fall kommen, daß man ihn – besonders wenn der Schlafwaggon sehr besetzt ist – höflich ersucht, seinen Sitz in einem der übrigen Wagen erster Classe zu nehmen. Ist der Waggon nicht sehr gefüllt, so wird man ihn unbelästigt lassen, denn es geschieht nur, um später Verwirrung zu vermeiden.
Solche, die ein Bett wünschen, erhalten eine Marke oder ein besonderes Billet und zahlen dafür, wenn sie ein Doppel- oder zweischläfriges Bett benutzen wollen, anderthalb Dollar Papiergeld. Sind zwei Bekannte zusammen, die sich wegen Ueberfüllung des Wagens für die Nacht zusammenbetten wollen, so zahlen sie ebenfalls nicht mehr, also nur drei Viertel Dollar die Person. Auf dem Billet steht die Nummer des erworbenen Lagers, und die mit diesen Fahrten Vertrauten suchen sich stets gleich beim Eintritt in den Waggon einen Platz zu sichern, damit sie ein unteres Bett erhalten. Die oberen sind allerdings ebenso [520] bequem zum Schlafen, aber man kommt nicht bequem hinein, und Damen können sie überhaupt nicht benutzen.
Jetzt bricht der Abend an, der Salonbeamte meldet, daß der Zug alsbald auf zwanzig Minuten an der nächsten Station halten werde, um den Reisenden Gelegenheit zu geben, dort ihr Abendbrod zu verzehren. Jetzt pfeift die Locomotive, die Wagen werden eingebremst, und gleich darauf erhebt sich dicht davor ein Heidenlärm. Es befinden sich dort nämlich zwei Oppositions-Restaurationen dicht nebeneinander, und während der Besitzer der einen einen großen chinesischen Gong aus Leibeskräften bearbeitet, daß die ganze Luft von den Schlägen dröhnt, bläst sein Nachbar mit kaum geringerer Kraft ein altes Horn, welche Musik dann andeuten soll, daß eine vortreffliche Mahlzeit in den geöffneten und erleuchteten Räumen für die Reisenden bereit steht.
Hat man nun, gewöhnlich ziemlich mittelmäßig und je nach der Gegend, in der man sich befindet, manchmal für drei Viertel, manchmal bis fünf Viertel Dollar, zu Nacht gegessen, so steht der Wirth an der Thür, kleine Papierscheine zum Wechseln schon in der Hand, und Jeder, der das Zimmer verläßt, muß seine Mahlzeit zahlen. Wie viel oder wie wenig er von den auf dem Tisch befindlichen Speisen benutzt, wie viel Tassen Kaffee er dazu getrunken hat, bleibt sich völlig gleich.
Sowie wir aber den Waggon wieder besteigen, sehen wir schon, daß indessen eine Aenderung damit vorgegangen ist. Der Aufseher ist allerdings ebenfalls drüben zum Essen gewesen, allein er macht das sehr rasch ab, denn er benutzt gern die Zeit, wo sich die Passagiere entfernt haben, um wenigstens einige Betten herzurichten und so einen Anfang damit zu haben. Die Besitzer derselben bekommt er jedenfalls aus dem Wege.
Jetzt enthüllen sich uns auch die Geheimnisse des Schlafwagens, und ich muß gestehen, daß es kaum etwas Einfacheres und doch diesem Zweck besser Entsprechendes auf der Welt geben kann.
Die gewöhnlichen sich gegenüber stehenden Sitze, die so weit von einander entfernt angebracht sind, daß sich ein ziemlich großer Mann bequem zwischen ihnen ausstrecken kann, werden emporgehoben, einige Stützen ausgeschoben und dann andere ähnliche Sitzkissen derart dazwischen geschoben, daß sie jetzt eine vollständige Matratze bilden. Aber das ist nur die Unterlage. Nun öffnet der Mann oben über den Sitzen das, was wir für die schräg zulaufende Wand hielten und was sich jetzt als ein großer, wenigstens langer Bettschrank zeigt, der breite Matratzen, Kopfkissen, Decken und frisches Leinenzeug für zwei große Doppelbetten enthält. Diese werden zuerst auf das untere Bett gelegt, und die Klappe schließt sich dann wieder; zugleich entwickeln sich aus der Seitenwand bis dahin vollkommen verdeckte Stützen, die das obere Bett halten sollen, eine kurze Brettwand wird vorgezogen – man begreift gar nicht recht, woher sie kommt – damit die Fuß an Fuß stehenden Betten ebenfalls von einander geschieden werden, und jetzt sind im Handumdrehen zwei so bequeme und reinlich überzogene Lagerstätten hergerichtet, wie sie sich selbst der verwöhnteste Mensch nur wünschen kann.
Das genügt aber noch nicht. Der Waggon, der eine ganze Menge geheimer Schubfächer haben muß, denn er ist völlig unabhängig von den übrigen, bringt auch noch große Messingstangen mit schweren rothwollenen und eleganten Gardinen zum Vorschein, die so geschickt geordnet werden, daß sie immer eine Abtheilung, oberes und unteres Belt, von den anderen scheiden und dadurch einen verhangenen Gang in der Mitte herstellen, von dem man weder nach rechts noch links in eines der Betten hineinsehen kann.
Amerikanische Ladies sind gewöhnlich etwas überprüde, und es mag vielleicht auch anfangs Mühe gekostet haben, sie in einen solchen doch immer allgemeinen Schlafsalon zu bringen. Es ist aber hier wahrlich jede Rücksicht genommen, die sich in dem engen Raume eines Eisenbahnwaggons nur möglicherweise nehmen läßt, und nach und nach scheinen sie sich doch der Nothwendigkeit gefügt zu haben, denn jetzt benutzen sie diese große Annehmlichkeit für eine längere Tour fast so zahlreich, wie die Herren selber.
Diese Betten bleiben aufgeschlagen, bis die Passagiere Morgens zum Frühstück gehen, was gewöhnlich etwa zwischen sechs und sieben Uhr geschieht; dann wird rasch Alles wieder fortgepackt.
Reisenden in einem solchen Waggon möchte ich aber die wohlmeinende Warnung geben, daß sie sich, ehe sie Morgens den Waggon verlassen, genau erkundigen, ob der Schlafwagen mitgeht oder an der Frühstückstation abgehangen wird. Gewöhnlich ist das Letztere der Fall, und dann kann es geschehen daß die Reisenden, wenn sie, vom Frühstück wieder herauskommen, den Schlafwaggon weit ab vom Zug geschoben und noch dazu verschlossen finden, so daß sie ihr Handgepäck gar nicht bekommen können, während der Aufseher des Waggons, der in dem Falle mit dem Zug nicht weiter geht, irgendwo hinaus in die Stadt, vielleicht zu seiner eigenen Wohnung geschlendert ist und den Schlüssel natürlich mitgenommen hat. Er ist ja für das Inventar verantwortlich. Sehr häufig kommt es vor, daß Reisende in einem solchen Fall, wenn sie nicht Handgepäck zurücklassen wollen, den gleich darauf ohne den Schlafwagen abgehenden Zug versäumen müssen.
Einen sehr komischen Zwischenfall hatte ich in einem solchen Waggon. Da ich die Bahn von früh Morgens benutzt, sicherte ich mir gleich eines der unteren Betten und konnte nun mit Ruhe zusehen, wie sich der Salonwagen allmählich füllte. Unmittelbar nach dem Abendessen, wo der Zug an einem kleinen Städtchen gehalten, kam aber der Conducteur oder mayor domo, wie er, glaub’ ich, genannt wird, zu mir und bat mich, ob ich nicht mein unteres Bett einer Lady abtreten wolle, die eben mit ihrem Gemahl und einem kleinen Kind „an Bord“ gekommen sei. Ich könne ja dann das obere nehmen, das letzte, was unbesetzt war.
Gern that ich’s nicht, aber was wollte ich machen? In das obere konnte eine Dame allerdings nicht gut hineinklettern, und so gab ich achselzuckend meine Einwilligung und trat dann noch etwa eine Stunde hinaus auf den Vorbau des Waggons, um dort in freier Luft – im Inneren war es natürlich nicht gestattet – eine Cigarre oder auch zwei zu rauchen, denn der scharfe Luftzug bläst sie zu schnell weg.
Es mochte halb zehn Uhr sein, als ich endlich zu Bett ging; der Raum war durch verschiedene Lampen genügend erhellt, und ich suchte auch so wenig als möglich den unteren Theil der Gardinen zu öffnen, obgleich dies mit einiger Schwierigkeit verbunden war, da ich oben dazwischen durch mußte.
Meine Einquartierung, die ich aber noch gar nicht zu Gesicht bekommen, hatte es sich schon bequem gemacht. Oben an der Messingquerstange, vor meinem Bett, hing erstlich ein grauer, niedriger Männerhut, ein Kinderhut mit einem ganzen Gewächshaus darauf und ein runder, einfacher Damenstrohhut, nur mit einer einzelnen rothen Rose und zwei sehr langen, blauseidenen Bändern geschmückt, die gerade an der Coje herunterhingen.
Da war nicht viel zu machen; ich arbeitete mich, so gut es gehen wollte, an dem Hutlager vorüber, auf meinen Platz und war nur froh, daß der mayor domo die oberen Fenster geöffnet und dadurch eine angenehme und frische Zugluft erzeugt hatte, ich würde es sonst in der Hitze gar nicht ausgehalten haben. Ich schlief auch bald sanft und süß ein. Da wurde ich plötzlich – wie ich später erfuhr, schon dicht vor Tagesanbruch, wie ich aber damals glaubte, noch mitten in der Nacht – geweckt, und als ich erstaunt aufsah – denn ich war natürlich noch halb im Schlaf – erblickte ich bei der ziemlich hellen Beleuchtung der uns nächsten Lampe einen wildfremden Menschen, der mit den Augen gerade über den Bettrand guckte, und eine tiefe Stimme frug mich:
„Wissen Sie nicht, wo meiner Frau ihr Hut ist?“
„Meiner Frau ihr Hut –?“ Ich muß ein furchtbar dummes Gesicht gemacht haben, denn der Mann wartete einen Augenblick, und als er keine Antwort bekam, änderte er seine Frage und sagte:
„Haben Sie hier, als Sie zu Bett gingen, keinen Damenhut hängen sehen?“
Ich erinnerte mich jetzt, denn ich wußte im ersten Moment gar nicht, wo ich war, noch viel weniger, was man von mir wolle.
„Ja wohl,“ sagte ich, „ich glaube, es hing einer da draußen mit langen blauen Bändern.“
„Aber er hängt nicht mehr hier –“
Ich wurde jetzt ordentlich wach und damit ärgerlich. Was zum Henker ging mich denn der Hut an, daß ich deshalb aus dem besten Schlaf geweckt wurde?
„Mir hat Niemand ’was zum Aufheben gegeben, er wird hinunter gefallen sein,“ sagte ich mürrisch.
Der Mann hatte bis dahin gerade bis zur Nasenspitze an das Bettbrett gereicht. Jetzt hob er sich plötzlich mit den Händen höher empor und rief entsetzt aus:
[521] „Herr du meine Güte,“ oder im Englischen: „Lord Almighty! Sie liegen ja drauf!“
Ich drehte mich rasch auf die Seite und konnte die Thatsache nicht leugnen – die blauen Bänder verriethen das Unglück. Ob sie die Schuld trugen, ob sie durch den Luftzug hineingeweht waren und der Hut ihnen so nach und nach folgen mußte, ich weiß es nicht, aber da war er, an der ungünstigsten Stelle, die ein Damenhut möglicher Weise einnehmen kann, und dabei so flach, wie ein Pfannenkuchen.
„Oh good gracious!“ hörte ich die Dame ausrufen, als ihr Gatte den Verunglückten bei den Bändern an die freie Luft zog und den mißhandelten Kopfputz in die Höhe hob. In dem Moment aber pfiff glücklicherweise der Zug – es war die Station, auf welcher die Familie aussteigen mußte. Das Kind machte ihnen überhaupt Umstände, und sie durften nicht zögern. Das Letzte, was ich von ihnen sah, war, daß die unglückliche Frau, indem sie meiner Gardine noch einen Wuthblick zuwarf (das die Dankbarkeit, daß ich ihr das untere Bett überlassen!), im bloßen Kopf ausstieg, während ihr Mann, das Kind auf dem linken Arm, den mißhandelten Hut in der rechten Hand hoch an den Bändern haltend, folgte. Kaum zwei Minuten später rasselte der Zug wieder in die Nacht hinaus, und ich war gerettet.
Ein neuer Götze.
Mehr als dreihundert Jahre ist es her, daß der edle Ritter Ulrich von Hutten gegen die Ketzergerichte in Köln seine Briefe schrieb und jene Dunkelmänner für immer der Lächerlichkeit preisgab. Mehr als hundert Jahre sind verflossen, seitdem der bekannte Pastor Götze, von orthodoxem Glaubenseifer erfüllt, seine Bannstrahlen gegen den Herausgeber
der Wolfenbüttler Fragmente schleuderte und dafür von dem unsterblichen Lessing die gerechte Züchtigung erhielt. Und wieder ist der alte Streit entbrannt zwischen der finsteren Nacht und dem hellen Licht, zwischen geistlicher Engherzigkeit und wissenschaftlicher Aufklärung, zwischen pfäffischer Unduldsamkeit und den Forderungen des fortgeschrittenen Zeitgeistes. Der Schauplatz dieses neuen Kampfes ist Berlin, die Metropole der Intelligenz, wo Friedrich der Große herrschte, Lessing lebte, Schleiermacher predigte, Fichte und Hegel lehrten. Nicht zum ersten Male erhebt hier die Orthodoxie ihr Haupt, um alle Errungenschaften der Bildung, alle Schätze des Wissens in Frage zu stellen und einen inquisitorischen Glaubenszwang über die Gemüther auszuüben. Schon unter Friedrich Wilhelm dem Zweiten erließ der berüchtigte Minister von Wöllner sein verrufenes Glaubens-Edict und suchte die von ihm unterstützte fromme Clique, wenn auch vergebens, durch Verfolgungen aller Art die Lehrfreiheit zu unterdrücken, die Geister zu fesseln, das Volk zu verdummen. Auch unter Friedrich Wilhelm dem Vierten gelang es der orthodoxen Partei, einen verderblichen Einfluß zu gewinnen. Die Uebergriffe, mit welchen sie die Freiheit des Gewissens bedrohte, steigerten nur die vorhandene politische Unzufriedenheit und wurden zu einem mächtigen Hebel für die liberale Bewegung, welche die Revolution des Jahres 1848 und den Sturz des Eichhorn’schen Systems herbeiführte.
Durch die nachfolgenden Ereignisse zwar beseitigt, aber durchaus nicht besiegt, hat die Orthodoxie keineswegs ihre Bestrebungen aufgegeben, sondern zuerst heimlich und bald wieder offen die verlorene Herrschaft durch alle ihm zu Gebote stehenden Mittel zurück zu erlangen gesucht. Eine Anzahl orthodoxer Theologen, an deren Spitze der viel genannte Pastor Knak steht, wiederholte im neunzehnten Jahrhundert dasselbe Schauspiel, welches im sechszehnten Jahrhundert die Kölner Ketzerrichter, im achtzehnten Ehren-Pastor Götze und sein Anhang boten. Der hochwichtige Streit, dessen Bedeutung und Tragweite sich noch nicht absehen lassen, entstand im Lager der Theologie selbst in Folge eines Jahresberichts der Friedrichswerder’schen Synode, den der freisinnige Prediger an der Neuen Kirche, Licentiat Lisco, über die Zustände des sittlichen und kirchlichen Lebens in Berlin abstattete. Unter anderen beherzigenswerthen Worten sagte er darin: „Und wie steht es mit der christlichen Erkenntniß? Jene einheitliche religiöse Weltanschauung, die, auf der festen Grundlage orthodoxer protestantischer Theologie ruhend, die Gemüther unserer Väter so tief befriedigte, wenn sie sie im Spiegel der Klopstock’schen Dichtung betrachteten, sie ist dahin; ein gewaltiger Culturproceß hat sie aufgelöst, hat sie auch denen unwiederbringlich zerstört, die sich selbst Orthodoxe nennen zu dürfen glauben. Die Naturwissenschaften haben das Weltbild der biblischen Schriftsteller durch ein anderes ersetzt, in welchem für das die Weltgesetze durchbrechende Wunder keine Stelle blieb; die Geisteswissenschaften haben mit einer alle Demuth der Theologie weit übertreffenden Bescheidung die Unzulänglichkeit des menschlichen Erkennens zur adäquaten Erfassung des Ewigen und Unendlichen zum Bewußtsein gebracht, sie haben erkennen gelehrt, daß Alles, was über Gott ausgesagt werden kann, nur Bild ist und Gleichniß einer mit Wort und Gedanke nie zu umspannenden Wirklichkeit, sie haben damit jedem Fanatismus die Wurzel abgegraben; Kritik und Geschichte haben die religiöse Entwickelung der Menschheit, die biblischen Thatsachen, die Bedeutung der religiösen Begabung des Einzelnen in einem neuen Lichte schauen gelehrt: das deutsche Volk erwartet mit heiterem Muthe den Riesen, der diesen Strom der Wissenschaften umzukehren nöthigen wird.“
Diesen Bericht veröffentlichte Prediger Lisco zuerst in der Protestantischen Kirchenzeitung, später, als er dazu von verschiedenen Seiten aufgefordert wurde, in Form einer besonderen Broschüre. Darüber ergrimmten seine orthodoxen Amtsbrüder dermaßen, daß sie auf der nächsten Synode eine feierliche Verwahrung gegen die „zweideutigen Ausdrücke“ des Berichtes, „für den Glauben der evangelischen Kirche und ihr Bekenntniß, insbesondere für den Glauben an Wunder, Weissagung und Gebetserhörung“ einlegen zu müssen glaubten. Vor Allen ereiferte sich Pastor Knak, der den Ausdruck „zweideutig“ viel zu gelinde fand und ausdrücklich an Lisco die Frage richtete: „Ob auch er (Knak selbst) zu den Orthodoxen gehöre, in denen jene einheitliche religiöse Weltanschauung zerstört sei?“
Hierauf vertheidigte sich Lisco gegen die ihm gemachten Beschuldigungen, indem er zum Schluße seiner Rede sich an seinen Gegner mit folgenden Worten wendete: „Ihnen, hochverehrter Herr Prediger Knak, schulde ich noch eine Antwort. Sie haben mich gefragt, ob auch Sie zu den von nur bezeichneten Orthodoxen gehören, in denen jene einheitliche religiöse Weltanschauung zerstört ist? Mit Ihrer gütigen Erlaubniß: Ja! Denn Sie mögen es wissen oder nicht wissen so haben auch Sie ohne Zweifel eine Menge von Elementen in Ihr geistiges Leben aufgenommen, die jene Weltanschauung zerstören. Sie werden z. B., um nur Eines zu erwähnen, schwerlich mit der Bibel das Feststehen der Erde und die Bewegung der Sonne um dieselbe behaupten.“ Mit errötheten Wangen erwiderte [522] Knak: „Ja, das thue ich, ich kenne nur die Weltanschauung der heiligen Schrift!“ Die fanatischen, alle Wahrheit menschlicher Wissenschaft leugnenden Worte verbreiteten sich mit Blitzesschnelle und gaben das Signal zu dem bekannten Streit, der mit jedem Tage eine größere Bedeutung gewinnt. Die hier aufeinanderstoßenden Richtungen der modernen Theologie erscheinen gleichsam verkörpert in den beiden Männern, die sich gegenüberstehen.
Der Vertreter der geistigen Freiheit auf religiösem Gebiete, Emil Gustav Lisco, ist im Jahre 1819 zu Berlin geboren, wo sein Vater als Prediger an der St. Gertraudenkirche lebte und sich auch als theologischer Schriftsteller bekannt gemacht hat. Der Sohn erhielt von ihm eine strenge, fromme Erziehung und bezog 1836 die Universität Bonn, später Berlin, wo er sich durch sein Streben nach allseitiger philosophischer Bildung unter Hegel und Schleiermacher vor den meisten seiner Studiengenossen auszeichnete. Nach abgelegtem Examen machte er 1845 eine größere Reise durch Oesterreich, Italien und die Schweiz, welche wesentlich seinen Horizont erweiterte. Bald nach seiner Rückkehr wurde er vom Berliner Magistrat zum Prediger der Marienkirche erwählt. In dieser Eigenschaft schloß er sich mit den gleichgesinnten Jonas, Sydow, Krause, Müller etc. dem Berliner Unions-Verein an. Muthig kämpfte er in Wort und Schrift gegen die kirchliche Reaction. Im Jahre 1859 zuerst zur Hülfe und später als Nachfolger des ehrwürdigen Marot an Sydow’s Seite berufen, entfaltete er eine segensreiche Thätigkeit innerhalb der Gemeinde, die mit großer Liebe an ihm hängt.
Lisco ist ein durch und durch gebildeter Mann, genährt von dem Geiste eines Lessing und Goethe, empfänglich für alles wahrhaft Schöne, ein Schüler Schleiermacher’s, der ihn gelehrt hat, die Religion nicht in todten Dogmen, sondern in der innersten Gesinnung zu suchen. Der christliche Glaube ist ihm nicht ein Fürwahrhalten von Satzungen, sondern die lebendige Hingabe des Menschen an Gott, wie ihn uns Christus offenbart hat als vollkommene Liebe, als die absolute Vollkommenheit. Auch im wissenschaftlichen Streben erkennt er den Hauch der Gottheit, empfindet und verfolgt er mit Freude die Resultate derselben, fern von der Furcht, daß eines derselben die christliche Religion gefährde. Daher stammt seine durch keine Vorurtheile getrübte Wahrheitsliebe, sein empfänglicher Sinn für jeden menschen Fortschritt. Wie sein Lehrer Schleiermacher findet er den Geist Jesu nicht in dem Pochen auf Satzungen, sondern in dem sich selbst verleugnenden Streben nach dem Ideal, in der Wahrheitsliebe des Forschend, in der Gerechtigkeitsliebe des Bürgers, in dem Muthe des Mannes. Er verehrt jedes ehrliche Streben und ist ein Anhänger von Schulze-Delitzsch auf socialem Gebiete, während er in der Politik wegen seiner liberalen Gesinnung manche Anfechtung erduldet hat. Trotz des Vorurtheils, das im Volke gegen unsere Geistlichkeit herrscht, ist er in den Wahlen mehrfach zum Wahlmann gewählt worden. Als solcher hat er sich stets bemüht, freisinnige Abgeordnete durchzubringen, von denen er vor Allem die Durchführung des hochwichtigen Artikels 15 unserer Verfassung fordert. Namentlich aber ist er der treueste Seelsorger seiner Gemeinde, der Trost und die Stütze der Kranken, Armen und Hilfsbedürftigen, für die er keinen Gang, keine Mühe scheut, erfüllt von dem Geiste der wahren Liebe.
Sein Gegner, der Prediger Knak an der böhmischen Kirche, ist dagegen ein angehender Sechsziger und ebenfalls in Berlin geboren, wo sein Vater als Registrator angestellt war. Auch er besuchte die Universität seiner Vaterstadt und zählte in seiner Jugend zu den Schülern des berühmten freisinnigen Schleiermacher. Noch als Student verfaßte er in Verbindung mit einem gleichgesinnten Freunde eine Sammlung von Homilien, welche unter dem Titel „Simon-Johanna“ erschien. Von lustigen Commilitonen wurde deshalb und weil die beiden Freunde sich schon damals durch ihr separatistisches Wesen bemerkbar machten, ihnen der Spitzname „Simon-Johanna“ beigelegt. Später kam Knak als Candidat nach der Neumark, wo er sich den daselbst auftauchenden pietistischen Kreisen anschloß. Hier soll er, wie von glaubwürdiger Seite berichtet wird, damals schon als Teufelsbanner bei einem besessenen Mädchen aufgetreten sein. Nach der Volkssage, deren Wahrheit wir nicht verbürgen können, soll der von ihm beschworene Teufel ihm tapfer Widerstand geleistet haben. Als Knak mit Gebeten und Händeauflegen dem bösen Geiste zusetzte, nannte ihn dieser öffentlich einen – Dieb. Zerknirscht bekannte der junge Teufelsbanner, daß er in der That als Knabe von einem Feld eine Rübe gestohlen, aber von Reue ergriffen dafür einen Sechser hingelegt habe. „Ach was!“ erwiderte darauf der boshafte Teufel, „gestohlen ist gestohlen!“
Einige Jahre darauf wurde Knak bei der böhmischen Kirche in Berlin angestellt. Seine Gemeinde, die Abkömmlinge der lutherischen Böhmen, die der Verfolgungen wegen sich im Jahre 1732 hier ansiedelten, besteht meist aus armen, in beschränkten Verhältnissen lebenden Leuten, welche sich durch ihre strenge Orthodoxie auszeichnen und an ihrem pietistischen Prediger mit großer Liebe hängen. Zu ihrer Charakterisirung genügt, daß es die einzige Gemeinde ist, welche das „Berliner Gesangbuch“ nicht eingeführt hat. Bald machte sich Knak durch seinen Eifer, seine geistliche Ueberhebung und seine auffällige Erscheinung bemerkbar. Er geht auch auf der Straße nur im langen Priesterrock mit hochstehendem Kragen und einer Reihe von Knöpfen. Auf dem charakteristischen Kopf, dessen Züge eine fanatische Asketik verrathen, sitzt die eigenthümliche Mütze in Form eines geistlichen Barets. In seinem Wesen und seinen Reden thut sich stets eine fromme Salbung kund. Er ist consequent orthodox und hält sich berufen, überall „Zeugniß“ abzulegen, zur Zeit und Unzeit, und schroff jeder abweichenden Meinung entgegenzutreten, wobei er sich auf seine unumstößliche Autorität als Priester des Herrn beruft. Auf der Synode von 1867 sagte er wörtlich: „Der Heiland sprach: ,Wer Euch höret, der höret mich’, wenn daher Jemand meinen (d. h. Knak’s) Worten nicht folgt, so versündigt er sich an Christo.“
Knak ist durch und durch Fanatiker und Anhänger der geistlosesten Orthodoxie, die er mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln vertheidigt und ohne jede Rücksicht offen bekennt. Seine Beschränktheit verleitet ihn häufig zu Aeußerungen, welche selbst von seinen eigenen, lebensklügeren Gesinnungsgenossen nicht gut geheißen werden, weshalb er für das enfant terrible der orthodoxen Partei gilt, welche im Stillen über sein anstößiges Gebahren die Achseln zuckt und bedenklich die Köpfe schüttelt. Mit diesem starren Fanatismus geht wunderbarer Weise eine unmännliche Weichheit Hand in Hand. Er weint häufig auf der Kanzel und vergießt buchstäblich Thränen über den „Unglauben seiner Zeit“, wie er sich in seinen Reden ausdrückt.
Zum ersten Male wurde der Name Knak’s auch in weiteren Kreisen bekannt, als er im Sommer 1865 dem König eine Adresse überreichte, in welcher er in Folge des damals bestehenden Conflictes gegen das preußische Abgeordnetenhaus die schwersten Beschuldigungen wegen Uebertretung des vierten Gebotes (!) erhob. Wenn er auch nicht geradezu zur Aufhebung der Verfassung aufforderte, so ließ er doch diesen Gedanken durchschimmern, so daß er in der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung von einem freisinnigen Geistlichen offen angeklagt wurde, dem Könige den Bruch der Verfassung und die Verletzung des beschworenen Eides angerathen zu haben, wogegen Knak, welcher die Adresse verfaßt hatte, sich nur schwach vertheidigte. Hieran reihte sich sein bekanntes Benehmen auf der am 29. April dieses Jahres abgehaltenen Synode, wo er die Bewegung der Erde um die Sonne trotz aller wissenschaftlichen Beweise mit einer kaum glaublichen Hartnäckigkeit leugnete und die Veranlassung zu jenem folgenschweren Streite mit Lisco gab.
So sehr aber auch Knak bei dieser Gelegenheit als lebendiger Anachronismus erscheinen mag, so läßt sich doch nicht leugnen, daß er im Gegensatz zu so manchem seiner orthodoxen Parteigenossen ein ehrlicher, wahrhaft frommer und muthiger Fanatiker ist, der seiner Ueberzeugung unter allen Verhältnissen treu geblieben ist, wofür sein Benehmen vielfache Beweise liefert. Als Graf Bismarck in der denkwürdigen Session des Jahres 1865 sich von dem Abgeordneten Virchow persönlich beleidigt hielt und diesen zum Duell fordern ließ, eilte Knak unaufgefordert zu dem Ministerpräsidenten, um ihm mit eindringlichen Worten die Gottlosigkeit eines solchen Zweikampfs vorzustellen und ihn davon abzumahnen. Ebenso zeigte er in andern Fällen einen allerdings bis zu Halsstarrigkeit und Eigensinn gehenden Muth der Meinung. Auch sein Privatleben ist frei von jedem Tadel und reich an Zügen großer Opferfähigkeit, obgleich auch hier seine Reizbarkeit und theologische Herrschsucht zuweilen unangenehm hervortreten, wie seine ungerechtfertigte Forderung an das Polizeipräsidium beweist, einem in seiner Nachbarschaft wohnenden Bierwirth die von diesem veranstalteten Gartenconcerte zu verbieten, weil sich Knak in seinen Studien durch sie gestört fand.
[523] So bilden Lisco und Knak die ausgesprochensten Gegensätze der modernen Theologie: der Eine voll universeller, humaner und wissenschaftlicher Bildung, der Andere orthodox beschränkt und jede weltliche Bildung verachtend; so weitherzig der Eine, so engherzig der Andere; Lisco voll christlicher Liebe, Knak voll fanatischer Unduldsamkeit; jener ein Zeuge für die befreiende und welterlösende Macht des Christenthums, dieser ein finsterer Priester der streitsüchtigen, verfolgungslustigen Kirche, welche mit ihrem Eifer alle Bildung, den Fortschritt und die höchsten Schätze der Menschheit von Neuem bedroht.
Zum Glück sind gerade solche Charaktere und Vorgänge dazu angethan, um auch den Blinden die Augen über das Treiben, die Absichten und Ziele der orthodoxen Partei zu öffnen, eine wohlthuende, unausbleibliche Bewegung des deutschen Volkes gegen die Herrschaft unduldsamer Geistlicher hervorzurufen und eine neue, immer tiefer eingreifende Reformation auf geistlichem Gebiete herbeizuführen, aus der das deutsche Volk eben so siegreich hervorgehen wird, wie einst aus dem Kampfe gegen den Gewissenszwang und die Mißbräuche des päpstlichen Stuhls.
Aus der schwimmenden Wasserwelt.
Erlauben Sie mir, daß ich in den nachstehenden Aufzeichnungen ein Thema berühre, welches, meines Wissens, in der Gartenlaube noch nicht zur Sprache gekommen ist. Ich will Sie heute einmal von den – „stummen“ Fischen unterhalten und zwar von dem geistigen Leben derselben, wie es sich in ihrem Kriege gegeneinander oder gegen andere Thiere, in ihren Vertheidigungs- und Angriffsmethoden, in ihren Wunder- und Wanderzügen, in ihrer elterlichen oder richtiger väterlichen Liebe zu ihren Jungen und endlich in den Kunstleistungen äußert, welche sie, erstaunlicher Maßen, namentlich auf dem Gebiete der Musik entfalten.
Zahlreich und mannigfach sind die geistigen Waffen, die Listen und Geschicklichkeiten, mit denen die Fische ihre Verfolger abzuwehren oder ihre Beute zu überrumpeln verstehen. Bisweilen bringen sie ihrem Räuber, selbst wenn sie von diesem bereits gefangen sind, noch den Tod. Ein Beispiel dieser Art erzählt Bloch. Von unseren einheimischen Fischen ist der Barsch wohl der gefräßigste. Er schont eben so wenig wie der Hecht seine eigene Gattung, ist aber beim Raub nicht so vorsichtig wie jener. Der Hecht hascht nur aus Mangel an anderer Nahrung und in höchster Noth den Barsch und Kaulbarsch, weil er sich vor ihren Stacheln fürchtet; an dem Stichling aber vergreift er sich nie. Der gierige Barsch hingegen, der nach Allem schnappt, was er bezwingen kann, muß zuweilen diese Raubbegierde mit dem Leben büßen. Denn der Stichling, der, sobald er sich gefangen sieht, sich heftig sträubt, weiß seine Stacheln geschickt in den Mund des Barsches zu bringen. Dieser hakt darin ein, kann den Mund nicht mehr verschließen und muß so, einem Tantalus gleich, mit der Beute vor Augen und im Munde verhungern.
Der Mausfalke sucht zuweilen seinen Hunger durch den Genuß des Bleyes zu stillen. Stößt er aber auf einen großen Bley, so fährt dieser beim Gefühl der eingeschlagenen Krallen sofort in den Grund. Wenn nun der Vogel blos das Fleisch des Fisches gefaßt hat, so bleibt, indem jener sich dem Zuge des Bleyes nach unten durch das Sträuben der ausgebreiteten Flügel auf dem Wasser widersetzt, das angepackte Stück in seinen Krallen sitzen, hat er aber mit seinen Klauen das Rückgrat mit gefaßt, so zieht der Fisch seinen Räuber ohne Gnade mit in den Grund.
Von besonders merkwürdigen Vertheidigungsmitteln, durch welche angegriffene Fische der drohenden Gefahr zu entgehen wissen, will ich nur zwei Beispiele anführen. Die sogenannten Kugelfische, deren Haut mit beweglichen Stacheln versehen ist, blasen sich sofort, wenn sie angegriffen werden, durch Einpumpen von Luft in ihren Schlundsack zu einem kugelförmigen Ballon auf und strecken die Stacheln ihren Angreifern entgegen. Diese rollen nun die Kugel auf dem Wasser umher, ohne sie fassen zu können, und verlassen sie gar bald, wenn sie sich die Schnauze blutig gestochen haben.
Die sogenannten fliegenden Fische schnellen sich, wenn sie verfolgt werden, mit einem kräftigen Schlage oft zehn bis zwölf Fuß hoch in die Luft und lassen sich dann mittels ihrer ausgespannten großen und von kräftigen Muskeln bewegten Brustflossen, die wie ein Fallschirm wirken, in sehr schräger Richtung in das Wasser zurückfallen. Sie sollen auf diese Weise einen halben Büchsenschuß weit und darüber fliegen können.
Nicht minder interessant sind oft die Mittel, wie sich die Fische ihre Beute zu verschaffen wissen. Der bekannte Wels, der größte unserer Süßwasserfische, würde bei der ihm in hohem Maße eigenen Trägheit sehr leicht in Gefahr kommen zu verhungern, wenn er sich nicht auf schlaue Weise zu helfen verstände. Er benutzt nämlich die langen Bartfäden, mit denen er zu beiden Seiten des Maules versehen ist, dazu, mit denselben nach allen Seiten hin willkürlich wurmförmige Bewegungen zu machen. Die kleineren Fische, welche darauf losschießen, um die scheinbaren Würmer zu verschlucken, werden bei dieser Gelegenheit auf die bequemste Manier eine Beute des ruhig im Schlamme liegenden Welses.
Eine andere List wenden gewisse Fische an, welche man von der Art, wie sie ihre Beute fangen, Betrüger genannt hat. Sie können nämlich ihre Schnauze schnell in eine häutige Röhre verschieben, welche länger wird als der Kopf selbst, und damit, ohne sich von der Stelle zu rühren, kleine Fische plötzlich wegschnappen. Auf die merkwürdigste Weise aber wissen die sogenannten Spritzfische oder Schützen, die in Ostindien zu Hause sind, sich ihre Nahrung zu verschaffen. Sobald sie eine Fliege oder ein anderes kleines Insect an einer über dem Wasser hängenden oder daraus sich erhebenden Pflanze wahrnehmen, kommen sie vorsichtig und leise herangeschwommen und schießen aus ihrer röhrenförmigen Schnauze mit einem nie fehlenden Wasserstrahl das Thierchen herab, um es zu verschlingen. Hommel, Spitaldirector zu Batavia, hat dieses Schauspiel zuerst beschrieben. Er setzte einige dieser Fische in ein Faß mit Meerwasser, spießte eine Fliege an eine Nadel, steckte sie an einen dünnen Stock und diesen in die Seitenwand des Fasses. Jetzt sah er täglich mit Vergnügen, wie sich alle seine Fische um die Wette bestrebten, die Fliege zu fällen, und ohne Unterlaß, mit ungemeiner Schnelligkeit und ohne jemals ihr Ziel zu verfehlen, einzelne Wassertropfen darauf abschossen. – Von einem merkwürdigen Triebe vieler Fische, den sie mit den höheren Wirbelthieren gemeinsam haben, geben uns ihre regelmäßig zu bestimmten Zeiten im Jahre erfolgenden Wanderungen Kunde, die sich indeß nicht, wie man glauben sollte, auf das flüssige Element beschränken, sondern auch nicht selten geradezu über Land hin stattfinden. Von diesen hochinteressanten Landwanderungen kann ich hier nur die der Labyrinthfische in Asien erwähnen, ferner der karpfenähnlichen Fische in den Südstaaten von Nordamerika, welche, wie der Naturforscher Bosc bemerkt, wenn sie gefangen und auf die Erde gelegt werden, immer nach der Richtung des nächsten Wassers hinkriechen, auch wenn dasselbe so weit entfernt ist, daß sie es unmöglich sehen können. Ein anderer neuerer Beobachter bestätigt durch seine Berichte die ältere Angabe, daß verschiedene Welsarten in Afrika auf ihren Landwanderungen während der trockenen Jahreszeit in solchen Schaaren angetroffen werden, daß die Neger ganze Körbe damit voll füllen.
Von ganz besonderem Interesse sind aber für uns die Wanderungen allgemein bekannter Fische, von denen ich ausführlicher hier nur die der Lachse und Aale erwähnen will. Der Lachs steigt bekanntlich, um zu laichen, wie die Störe, Sterlete, Maifische u. a., im Frühjahr aus dem Meere in die zunächst liegenden Flußmündungen auf. Von einer solchen Stromaufwanderung des Lachses erzählt Bloch: „Wenn der Lachs sich in die Ströme begiebt, so [524] geschieht solches gewöhnlich haufenweise und zwar in zwei Reihen in folgender Ordnung: in der Regel geht der größte, welches ein Rogener zu sein pflegt, voran; auf diesen folgen in einer Entfernung von einer Elle zwei andere, und in dieser Ordnung geht der Zug weiter fort, so daß, wenn er z. B. aus einunddreißig Stück bestände, sich auf jeder Seite fünfzehn befinden würden. Wenn diese Ordnung durch einen Wasserfall, eine Holzflöße oder auch nur durch ein Geräusch unterbrochen wird, so stellen sie die Ordnung, nachdem die Hindernisse aus dem Wege geräumt sind, wieder her; stoßen sie aber auf ein Netz, so machen sie sämmtlich Halt. Einige suchen dann einen Weg unterhalb oder an den Seiten dem Netze vorbei, und sobald einer die Bahn gefunden hat, folgen die übrigen nach und setzen die Reise in der erwähnten Ordnung fort. Diese Züge sind zuweilen so stark, daß sie durch vereinte Kräfte das aufgestellte Netz zerreißen und dann weitergehen. Stellt sich dem Lachs auf seinem Zuge ein Zaun entgegen, so springt er, nachdem er sich vorher ausgeruht hat, über denselben hinweg. Das aber macht er so: er beißt sich in den Schwanz[1] und bildet auf diese Weise einen Cirkel. Dann schnellt er plötzlich den Körper gewaltsam wieder in seine gerade Lage zurück und indem er mit großer Gewalt auf das Wasser schlägt, prallt er dergestalt davon ab, daß er fünf bis sechs Fuß hoch in die Höhe springt. Auch kleine Wasserfälle überspringt er auf diese Weise und ist er oben angekommen, so schlägt er mit dem Schwanz gleichsam zum Zeichen seines Vergnügens und geht dann weiter. Es trägt sich manchmal zu, daß er bei einem hohen Wasserfall wieder zurückfällt, jedoch wiederholt er nach einer kurzen Ruhepause sein Glück auf’s Neue bis er entweder seinen Endzweck erreicht hat, oder die Unmöglichkeit herüberzukommen einsieht und alsdann zurückgeht. Ist der Sprung dem Anführer geglückt, so folgen alle übrigen nach und alle Zeit fallen sie auf die Seite, indem sie den Kopf, um ihn zu schonen, in die Höhe halten.“ Auch von der mit dem Lachs zu derselben Familie gehörenden Forelle wird berichtet, daß sie mit unbegreiflicher Geschicklichkeit bei ihrer Stromaufwanderung die stärksten Stromschnellen und Stürze überwindet; ein Beobachter sah, wie dieser Fisch über ein stehendes Mühlrad von Schaufel zu Schaufel emporsprang und endlich hinauf in’s hohe Wasser kam.
Noch weil eigenthümlicher und wunderbarer aber sind die Wanderungen der Aale. Unser Flußaal, dieser allgemein bekannte Fisch, der allein in Berlin z. B. tagtäglich zu Tausenden auf den Markt kommt, ist seit Aristoteles bis auf den heutigen Tag für den Naturforscher noch in vieler Beziehung ein Räthsel geblieben. Interessant ist, was wir von ihm wissen, und noch merkwürdiger, was wir von ihm nicht wissen. Wir wissen noch heute nicht, woher er kommt und wohin er geht; man hat erst ein einziges Mal einen weiblichen Aal mit wohlentwickeltem Rogen gefunden und noch nie einen männlichen Aal entdeckt. Der Streit über die Entwickelungsgeschichte der Aale zieht sich mit allen daran geknüpften Fabeln, von denen die durch Aristoteles selbst angeregte, daß der Aal durch Urzeugung aus dem Schlamm entstünde, die bekannteste ist, wie eine Seeschlange durch die ganze Geschichte der Zoologie bis in die neueste Zeit hinein. Erst seit dem Jahre 1838 wissen wir durch die Untersuchungen von Heinrich Rathke[2] wenigstens so viel, daß die Aale gleich den übrigen Fischen wirklich Eierstöcke besitzen, aus denen sie ihre Brut erzeugen. Wie dies aber geschieht und wie das gänzliche Fehlen der Männchen damit in Einklang zu bringen ist, liegt für uns noch völlig im Dunkeln.
Was wir sonst von der Lebensgeschichte des Aales wissen, hängt mit seinen Wanderungen zusammen und ist kurz Folgendes: Während uns von sehr vielen Fischen bekannt ist, daß sie, um zu laichen, aus dem Meere die Flüsse hinaufgehen und daß alsdann später ihre junge Brut die Flüsse wieder hinab in’s Meer steigt, findet beim Aal gerade das Umgekehrte statt. Zur Herbsteszeit sieht man nämlich an den Mündungen der Ströme die großen ausgewachsenen Aale in oft ungeheuren Schaaren aus den Flüssen in’s Meer hinauswandern. Es findet diese Wanderung gewöhnlich nur bei stürmischer regnerischer Witterung und des Nachts statt; am Tage halten sich die Aale auf dem Grunde im Schlamme verborgen. Diese Auswanderung der erwachsenen Aale, von den Italienern die „Calata“ genannt, wird, da sie den Fischern bereits seit Jahrhunderten bekannt ist, überall an den Strommündungen unter besonderen Vorkehrungen zum Aalfang benutzt. Spallanzani, ein berühmter italienischer Naturforscher des vorigen Jahrhunderts, erzählt, daß in den Lagunen von Comaccio während einer einzigen solchen Wandernacht mehrere hundert Centner Aale gefangen wurden. Von demselben Beobachter wurde an dem genannten Orte während dreier aufeinander folgender Jahre diese „Calata“ benutzt, um sich über die Geschlechtsverhältnisse der Aale näheren Aufschluß zu verschaffen, ohne daß es ihm indeß gelungen wäre, den berühmten Streit über die Fortpflanzungsweise der Aale auch nur um einen Schritt der Entscheidung näher zu bringen.
Daß die so in’s Meer gewanderten Aale wirklich im Meere laichen, darüber kann kein Zweifel sein, da ihr Fortpflanzungsproduct, die junge Aalbrut, in dem darauf folgenden Frühjahr zu Milliarden aus dem Meere hinaus- und in die Mündungen der süßen Gewässer eintritt. Diese Wanderung der jungen Aale nun, deren Größe um diese Zeit etwa der eines zwei Zoll langen dünnen Bindfadens gleichkommt, die Flüsse hinauf, bis in die vom Meere oft Hunderte von Meilen entfernten Bäche, Seen und Teiche hinein, bildet eine der wunderbarsten Erscheinungen, die man in dem Leben der Fische und der Thiere überhaupt kennt.
Karl Vogt erzählt, daß in Frankreich diese jungen Aale bei ihrer Wanderung in den Flüssen oft compacte Massen bilden, die man mit Sieben und Bottichen ausschöpft und gewöhnlich, so wie sie sind, mit Eiern als Pfannkuchen gebacken verspeist. Ein französischer Beobachter berichtet, daß ein solcher Zug oft fünfzehn Tage lang, ohne eine Unterbrechung zu zeigen, die Rhone hinaufgezogen sei. Diese kleinen unscheinbaren Thierchen überwinden bei dieser Wanderung die erstaunlichsten Hindernisse. Der Engländer Davy meldet von einer in Irland beobachteten Aalbrutwanderung Folgendes: „Ich befand mich gegen Ende Juli zu Ballyshannon an der Mündung des Flusses, der die ganzen vorigen Monate her hohes Wasser gehabt hatte. Da, wo er seinen Fall macht, war er ganz schwarz von Millionen kleiner, etwa fingerlanger Aale, die fortwährend den nassen Felsen an den Ufern des Wasserfalls zu erklimmen suchten. Sie kamen dabei zu Tausenden um, aber die feuchten, schlüpfrigen Körper der Todten dienten den übrigen gleichsam zur Leiter, um ihren Weg fortzusetzen; ich sah sie sogar senkrechte Felsen erklimmen; sie wanden sich durch das feuchte Moos oder hielten sich an die Körper anderer an, die bei dem Versuche ihren Tod gefunden hatten. Ihre Ausdauer war so groß, daß sie in ungeheuren Mengen ihren Weg bis zum Loch Erne erzwangen.“
Bemerken wir zu diesem wunderbaren Wanderungstrieb noch, daß auf dieselbe Weise diese jungen Aale bei ihrer Flußaufwanderung sogar den mächtigen Rheinfall bei Schaffhausen zu überwinden vermögen und so in den Bodensee gelangen; ferner, daß die alten in’s Meer gewanderten Aale niemals in die Flüsse zurückkehren und es gleichwohl noch nicht gelungen ist, einen derselben im Meere wieder aufzufangen, so daß wir gar nicht wissen, was aus ihnen wird, und fügen wir endlich noch die Thatsache hinzu, daß in dem ganzen Gebiet der Donau mit allen ihren Nebenflüssen kein einziger Aal angetroffen wird,[3] während in allen, oft ganz dicht benachbarten Seen und Flüssen, die mit den Strömen der Nord- und Ostsee in Verbindung stehen, Aale zu Tausenden gefangen werden: so sind das gewiß eine solche Menge von Räthseln in der Lebensgeschichte eines einzigen und noch dazu so bekannten Thieres, daß ihre endgültige Lösung mehr als einen Naturforscher glücklich machen könnte.
[525]
Nach einer kurzen Pause fuhr der Präsident von Römer in seiner Erzählung fort: „Franziska ging, um ihre Promenade zu machen, aber als sie kaum fort war, überfiel mich eine unbeschreibliche Unruhe. Ich konnte nicht mehr arbeiten, es litt auch mich nicht mehr im Hause. Ich kleidete mich also an und folgte ihr, denn ich hatte eine Vermuthung, wohin sie gegangen sein könne. An die Stadtpromenade schließt sich fast unmittelbar die sogenannte Sebastiansschlucht an, eine enge dunkle, aber durch ihre vielen romantischen Partien anziehende Felsenschlucht. Ich wußte, daß Franziska schon einige Male mit einer Jugendfreundin, die sie hier wieder fand, da gewesen war, und bei ihrer Aufregung und bei ihrem Wunsche, allein zu sein, dachte ich mir, ja hielt ich es für unzweifelhaft, daß sie ihren Weg zu der finsteren, einsamen, romantischen Schlucht genommen habe. Ich wandte mich also zu der Gegend der Promenade, in welcher an diese die Schlucht stößt. In der Stadt konnte ich Niemanden nach ihr fragen, auf der Promenade jedoch traf ich einen Bekannten, den Regierungsrath Amberg, den ich fragte, ob er meine Frau nicht gesehen habe. Er antwortete mir, sie habe vor etwa zehn Minuten den Weg nach der Sebastiansschlucht eingeschlagen. Ich wollte Franziska und mich nicht compromittiren, indem ich daher Herrn von Amberg dankte, setzte ich hinzu, ich sei also auf dem richtigen Wege, meine Frau erwarte mich in der Schlucht, und ich eilte in diese. Jetzt hatte ich die Gewißheit, Franzika nicht zu verfehlen. Um so schwerer fiel die Ahnung eines Unglücks auf mich; sie sollte zur Gewißheit werden, ich sollte zu spät kommen, das Unglück geschehen sein, bevor ich ankam, es sollte in entsetzlicher, in gräßlicher Weise sich fast vor meinen Augen zutragen!
Ich schritt in die Schlucht, und es war schon Abend geworden, als ich die Mitte derselben erreicht hatte; in dem engen tiefen Einschnitt des Gebirgs herrschte völliges Dunkel. Niemand war mir begegnet, ich hatte keinen Laut vernommen, der mir die Gegenwart eines Menschen außer mir angezeigt hätte. So kam ich zu einer Stelle, wo die Schlucht sich erweitert, namentlich wo auf der rechten Seite die Felsen weiter zurücktreten, aber zugleich auch höher und schroffer werden. In demselben Augenblicke gewahre ich oben auf einer scharf vorspringenden Felsenkante eine dunkle Gestalt und glaube ein menschliches Wesen zu erkennen. Franziska! will ich rufen, das Wort erstirbt mir auf den Lippen. Die Gestalt da oben schwankt, beugt sich vor, stürzt nieder, verschwindet in dem Dunkel der Schlucht. Aber entsetzliche Laute dringen in mein Ohr. Der Fels hat vorspringende Spitzen und Zacken, auf jede Spitze, auf jede Zacke höre ich einen Körper fallen, rasch, mit reißender Schnelle, und doch schwer, dumpf, bis unten in die Tiefe hinunter, und bei jedem Fall höre ich ein unterdrücktes Wimmern, das Wimmern einer Frau. Es war zehn, fünfzehn Schritte vor mir. Ich stürze hin. Franziska! kann ich jetzt rufen. Ich bekomme keine Antwort. Ich erreiche die Stelle, wo der niedergestürzte Körper liegen muß. Ich sehe keine Bewegung; ich vernehme keinen Laut. Aber Franziska lag da, meine arme, unglückliche Frau, mit furchtbar zerschmettertem Körper, mit gräßlich entstelltem Gesicht. Sie war todt. Es war ein Glück für sie. Soll, kann ich Ihnen meinen Schmerz schildern, Vater? Dann meine Angst bei dem Gedanken an meine armen Kinder, welche die Mutter vermissen, ihren Tod erfahren mußten? Erlassen Sie mir das Weitere.“
Der Präsident schwieg.
„Denken Sie an einen Zufall oder an einen Selbstmord, Herr Sohn?“ mußte der Geheimrath dennoch fragen.
„Wie könnte ich an einen Selbstmord glauben?“ rief der Präsident. „Was könnte sie zu einem solchen veranlaßt haben?“
Der Wagen war an dem Hause des Präsidenten angelangt. Schwiegervater und Schwiegersohn stiegen aus.
„Sie entschuldigen mich auf eine Stunde, Herr Vater,“ sagte der Präsident. „Sehr wichtige Amtsgeschäfte nehmen mich auch heute in Anspruch, und die Kinder sehnen sich so sehr nach dem Großvater, von dem sie in jeder Stunde seit der Trennung von ihm sprechen.“
Damit ging der Präsident in sein Arbeitszimmer. Der Geheimrath begab sich in das Wohnzimmer, in dem seine Enkel auf ihn warteten; wie Herr von Römer zu dem buckeligen Advocaten gesagt hatte, zwei Mädchen und ein Knabe.
Die Mutter war eine brave und gewissenhafte, aber eine unglückliche Frau gewesen, der Vater ein Mann von Ehrgeiz, der jede hohe Stellung, welche er einnahm, immer nur als eine Stufe zu der höchsten im Staate und in der Gesellschaft betrachtete, der daher stets ebenso voll Bewußtsein, wie voll Rücksicht war. So hatten die Kinder eine ihr Inneres wie ihr Aeußeres sorgfältig bildende Erziehung genossen, durch welche jedoch ihre Eigenthümlichkeiten nicht verwischt waren. Mathilde, die älteste, war ein feines, sanftes, zum ernsten Nachdenken geneigtes Mädchen, Fanny, die zweite, hatte das rasche, entschlossene Wesen der Mutter. Der Knabe war still, ruhig, mehr ein beobachtendes als mittheilsames Kind; wenn er sprach, so war das kurz, entschieden, etwas derb. Sie liebten alle Drei den Großvater.
Der Präsident hatte bis zu seiner Versetzung auf seinen gegenwärtigen Posten in jener andern Provincialhauptstadt gelebt, in welcher auch der Geheimrath von Wangen angestellt war. So waren die Kinder unter den Augen des Großvaters aufgewachsen und seine kleinen Lieblinge geworden. Sie hatten ihn heute nur flüchtig gesehen, da er bald nach seiner Ankunft mit dem Vater zu dem Leichenbegängniß der Mutter hatte fahren müssen.
Die Mädchen hatten an diesem keinen Theil nehmen dürfen, erst am Abend sollten sie das Grab der Mutter besuchen, um Kränze darauf zu legen, an denen sie jetzt unter Aufsicht der Erzieherin arbeiteten.
Die Gouvernante verließ das Zimmer, als der Präsident eintrat. Sie wollte den Gefühlen, die auf beiden Seiten sich aussprechen mußten, keinen Zwang auflegen. Mathilde saß bei ihrer Arbeit mit stillen Thränen, die auf die Blumen fielen. Fanny arbeitete mit einem fast hastigen Eifer. Der Knabe reichte ihnen still die weißen Immortellen und die grünen Epheuranken zu.
Bei dem Eintreten des Großvaters standen sie auf, ihm die Hände zu reichen, die beiden Mädchen stumm. Der Knabe sagte kurz: „Guten Tag, Großvater.“ Sie mußten sich wieder an ihre Arbeit setzen, und der Großvater setzte sich zu ihnen. Alle hatten sie in ihrem Schmerz keine Worte, auch der Großvater nicht. Er küßte nur schweigend die weinende Mathilde auf die Stirn.
„Arme Kinder!“ sagte er dann leise für sich.
„Ja, Großvater,“ rief Fanny fast zornig, „und das Schlimmste ist, wir haben die Mutter nicht einmal wiedersehen dürfen!“
„Der Vater wollte uns den Schmerz ersparen,“ bemerkte beschwichtigend Mathilde. „Ihr Anblick soll ein gar zu trauriger gewesen sein.“
„Und jetzt muß ich ihn mir nur desto schrecklicher denken,“ sagte die Jüngere.
Der Geheimrath suchte von dem Gegenstande abzulenken.
„Das Unglück geschah am Dienstag Abend!“
„Und erst am Mittwoch theilte man es uns mit,“ fiel Fanny ein.
Mathilde aber sagte: „Es war ein sehr schwerer Tag für uns. Schon am Abend vorher, am Montag, war es so schrecklich. Die Mutter war am Nachmittag ausgegangen, zu einer Freundin, der Majorin von Hake. Gegen Abend ging auch der Vater aus, eine Promenade zu machen. Er kam zuerst zurück, aber ich erschrak, als ich ihn sah. Sein Gesicht war leichenblaß, und seine Augen, o Großvater, kann Dir nicht sagen, wie sie waren. Ich konnte nicht hineinblicken, mir wurde so angst. Und doch mußte ich ihn ansehen, er war so krank, so müde, und dann auf einmal wieder so schrecklich, daß es mir heiß über den ganzen Körper lief, wenn ich ihn sah. Er hatte kein Wort gesprochen, als er kam, hatte sich nur ermüdet auf das Sopha gesetzt. Ich fragte ihn, was ihm fehle. Er antwortete mir nicht. Als ich ihn nochmals fragte, winkte er mir mit der Hand, daß ich ihn verlassen möge. Eine Stunde später kam die Mutter. Der Vater hatte nicht nach ihr gefragt. Sie war fast bleicher, als der Vater, und ihre Augen waren verweint. Auch sie sprach kein Wort. Sie setzte sich in eine Ecke des Zimmers und weinte da wieder. Der Vater war in seine Stube gegangen. Ich war allein mit ihr. ,Mutter, Mutter, was fehlt Dir?’ fragte auch ich sie. Auch sie
[527] antwortete mir nicht, sie mußte nur heftiger weinen, und ich weinte mit ihr. Ich sah ihr an, daß sie so recht unglücklich war. Ich sagte ihr, auch der Vater sei so zurückgekommen. Es fiel ihr auf, und ich mußte ihr erzählen. Sie saß dann eine Zeit lang sinnend; aus einmal stand sie rasch auf und ging zu der Stube des Vaters. Wir Kinder sahen sie Beide den Abend nicht mehr. So mußten wir zu Bett gehen. Aber ich konnte nicht schlafen, und ich mußte immer nach dem Schlafgemache der Eltern hinhorchen, welches durch ein Zimmer von Fanny’s und meinem Schlafzimmer getrennt ist. Die Thüren waren verschlossen. Ich konnte dennoch hören, wie die Mutter weinte und der Vater mit ihr sprach. Erst lange nach Mitternacht hörte ich nichts mehr.“
Der kleine Fritz war während der Erzählung der Schwester aufgestanden und nahte sich geheimnißvoll dem Großvater.
„Großvater, ich kann Dir sagen, was der Vater und die Mutter sprachen; ich schlief bei ihnen in der Stube und war in der Nacht aufgewacht.“
Die beiden Schwestern sahen den Knaben verwundert an.
„Was wolltest Du gehört haben? Du hast ja kein Wort davon gesprochen“
„Ich sage es nur dem Großvater,“ erwiderte der Kleine.
„So sage es ihm.“
„Nachher, wenn ich allein mit ihm bin. Erzähle Du ihm jetzt weiter.“
Mathilde erzählte weiter:
„Am anderen Morgen mußten wir Kinder den Kaffee allein mit der Gouvernante trinken; der Vater frühstückte, wie immer, in seinem Arbeitszimmer, die Mutter aber, sagte das Fräulein, könne nicht aufstehen, sie habe Kopfschmerzen. Der Vater war dann in die Sitzung gegangen, aus der er vor Mittag nicht zurückkommen konnte, zu der Mutter mußte ich mich nachher hinschleichen; sie saß auf ihrem Bett und weinte. Sie mußte die ganze Nacht geweint haben, und ich fragte sie nochmals, was ihr fehle.
‚Ich bin unglücklich, tief unglücklich,‘ war ihre Antwort.
Ich fragte sie, was sie so unglücklich mache? Sie antwortete mir nur, sie könne es mir nicht sagen, ich verstehe das nicht.
‚Mögest Du es nie erfahren!‘ setzte sie hinzu.
Bei Tische erschien sie nicht; auch der Vater nicht, er ließ sagen, die Sitzung daure heute länger. Als er später kam, aß er allein auf seinem Zimmer. Unsere arme Mutter sahen wir gar nicht wieder, den Vater erst spät am Abend, als das Unglück geschehen war.“
Die Erzählerin wurde von der jüngeren Schwester unterbrochen.
„Aber ich hatte sie noch miteinander sprechen gehört,“ sagte die Kleine, „und ich muß es Dir sagen, Großvater.“
„Fanny!“ rief Mathilde, um sie zurückzuhalten.
Das Kind ließ sich nicht irre machen.
„Ich muß es dem Großvater erzählen; er muß Alles erfahren, und er soll es. Höre mir zu, Großvater. Der Vater und die Mutter hatten etwas miteinander gehabt; der Vater sah so schrecklich aus, wie schon Mathilde sagte, die Mutter weinte nur. Ich mußte wissen, was es war, ich paßte ihnen auf. Am Nachmittage hörte ich, wie der Vater zu der Mutter ging; er verschloß die Thür hinter sich, ich schlich ihm nach, stellte mich an die Thür und hörte den Vater sprechen, aber leise, daß ich kein Wort verstehen konnte; er redete lange und rasch, die Mutter erwiderte ihm nichts oder nur einzelne Worte, sie redete langsam und noch leiser, als er. Plötzlich sprach der Vater mit lauter Stimme, er mußte auf einmal böse geworden sein.
,Du wirst mit mir gehen!’ rief er.
Er sprach es so zornig, daß es mir durch das Herz fuhr, ich fühlte, wie mir das Herz klopfte. Ich war neugierig, was die Mutter antworten werde, ich konnte ihre Antwort verstehen, denn sie sprach auch lauter, die Worte des Vaters hatten sie wohl verdrossen.
,Ich werde nicht mit Dir gehen!’ sagte sie, und ich hörte ihr an, daß das ihr fester Wille war.
Ich hätte es auch so gesagt. Der Vater rief:
,Ich werde Dich zwingen!’
Die Mutter antwortete ruhig: ,Ich werde es erwarten.‘
Dann redeten sie wieder leise, und ich verstand kein Wort weiter. Eine Viertelstunde nachher ging die Mutter doch aus, aber allein, zehn Minuten später jedoch folgte ihr der Vater. Was ich Dir erzählt habe, Großvater, ist die volle Wahrheit.“
Der kleine Fritz war während der Mittheilung der jüngeren Schwester unruhig geworden; Niemand hatte auf ihn geachtet, desto aufmerksamer war er jedem Worte gefolgt.
„Großvater,“ hob er auf einmal an, „nun ich das von der Schwester Fanny gehört habe, können diese auch hören, was ich weiß.“
Den alten Geheimerath schien es bei diesen Worten des Kindes heiß und kalt zu überlaufen. Schon das, was er bis jetzt vernommen, hatte unzweifelhaft wenigstens Keime eines schweren Verdachts in seine Brust senken müssen, und jedes fernere Wort des Kindes mußte dem Verdachte neue Nahrung geben. Sollte er die eigenen Kinder zu Anklägern gegen ihren Vater machen? Sollte er sich selbst jener entsetzlichen, barbarischen Gewissenlosigkeit schuldig machen, als deren Träger bis zu jener Zeit nur die französischen Staatsanwälte sich gezeigt hatten? Seit neuerer Zeit, seitdem alles Schlechte, was die französische Strafrechtspflege aufzuweisen hat, auch in deutschen Gesetzen und Gerichtshöfen Boden gefunden hat, wird auch das Rechtsgefühl des deutschen Volkes oft genug verletzt und empört durch jene selbst von den rohesten Zeiten des heimlichen Inquisitionsprocesses verschmähte Verfolgungssucht, welche Kinder, selbst im Alter von sieben Jahren, zwingt, Ankläger gegen ihre Eltern zu werden.
„Du sollst es mir nachher erzählen, mein Knabe,“ sagte der Geheimerath zu dem Kinde.
„Nein, nein, jetzt!“ rief das Kind.
Und Fanny trat ihm in ihrer Heftigkeit bei: „Laß ihn! Du mußt Alles wissen, Großvater. Erzähle, Fritz, was Du gehört hast.“
Dem Knaben war nicht zu wehren.
„Ich wurde wach,“ erzählte er, „und da hörte ich den Vater zu der Mutter sagen: ,Du bist ein ehrvergessenes, ein ehrloses Weib!’ Und das ist, das war die Mutter nicht!“ setzte das Kind zornig hinzu. „Meine todte Mutter war brav; sie hat jeden Abend mit mir zu Gott gebetet, auch für den Vater –“
Der Knabe mußte laut weinen und schluchzen. Seine Schwestern weinten mit ihm.
Der Geheimerath aber sagte zu den Kindern: „Sprecht nie wieder über diese Geschichte; nie, nie wiederholt Euch die Worte, die Ihr von Euren Eltern gehört habt. Lasset die Ruhe Eurem Vater auf Erden und Eurer Mutter im Grabe. Gebt mir die Hand darauf.“
Sie gaben ihm weinend die Hände; auch der Knabe.
„Ich kann schweigen, Großvater,“ sagte er entschlossen.
Der Geheimerath entließ die Kinder; er mußte allein sein.
„Selbstmord?“ fragte er sich und grübelte lange über dem Gedanken.
„Ein ehrvergessenes, ein ehrloses Weib hat er sie genannt. Und sie hatte diese stolze Ehre! Und diesen rasch entschlossenen, leidenschaftlichen Charakter! Konnte sie den Vorwurf ertragen? Aber war sie nicht eine Schuldige, wenn sie ihn nicht ertragen konnte? Wenn sie sich unschuldig fühlte, war dann nicht eben ihre Unschuld, ihre Ehre, war ich nicht da? Und doch, sie war keine Schuldige. Was hätte sie je verbrechen können? – Und – und – er leugnete ab, mit ihr Streit gehabt zu haben. Er wollte sie nicht anklagen, wenn sie schuldig war, und wenn sie unschuldig war, nicht sich und seine ungerechten Vorwürfe gegen sie, als Veranlassung ihres Selbstmordes. Aber behauptete er nicht auch, sie habe ausgehen wollen, allein, ohne, gegen seinen Willen, sie sei aller seiner Bitten ungeachtet gegangen? Und das Kind hat gehört, deutlich vernommen, wie er von ihr verlangte, sie solle gehen, mit ihm gehen. ,Du wirst mit mir gehen!’ hat er ihr zugeherrscht. ,Ich werde dich zwingen!’ Und dann ist sie allein gegangen, und er ist ihr wenige Minuten nachher gefolgt.“
„Ein Verbrechen?“ sprach der grübelnde Vater. „Ein Mord? Ein Gattenmord?“
„Und die Kinder!“ rief er dann entsetzter. „Die drei armen, ahnungslosen Kinder! Er war immer der liebevoll zärtliche Vater gegen sie. Wenn sie auch heute ihm zureden, in dem ersten Schmerze über die todte Mutter, die er in ihren letzten Stunden ungerecht, hart behandelt, angefahren habe – der Schmerz macht ungerecht, Kinder nehmen immer Partei für die weinende, für die schwächere Mutter; sie werden vergessen, der rasch von dem Schmerze aufgeregte Zorn wird eben so rasch verschwinden; [528] es war ja auch mehr nur ein kindischer Trotz. Sie werden sich Vorwürfe über ihn machen und um so mehr den Vater wieder lieben. – Und dann sollen sie hören, der Vater habe ihre Mutter ermordet; er wird als gemeiner Mörder von ihrer Seite gerissen! Dann soll ihm der Criminalproceß gemacht werden. Er wird öffentlich hingerichtet. – Die armen, armen Kinder! Aber soll der Mörder um der Kinder willen seiner Strafe entgehen? Soll der Gerechtigkeit ihr Recht nicht werden, weil die Ehre, der Name, die Gefühle der Angehörigen des Verbrechers dadurch leiden würden? Was wäre dann die Gerechtigkeit auf dieser Erde? – Doch kann er leben, kann er die Kinder wieder ansehen, wenn er ein Mörder, wenn er der Mörder ihrer Mutter ist?“
„Aber ist er denn ihr Mörder?“ rief er dann wieder.
„Und wenn er es dennoch wäre, und wenn er mit jener Frechheit, mit jener kalten Ruhe des verdorbensten, verhärtesten Verbrechers schon gegen mich den Heuchler machen könnte! Und er sollte dennoch ohne Strafe, ein Hohn auf die Gerechtigkeit, umhergehen, frei die mit dem Kainszeichen gebrandmarkte Stirn zeigen?“
Der Greis wurde in seinen beängstigenden Gedanken unterbrochen. Der Bediente des Präsidenten meldete: „Herr Doctor Brand bittet, den Herrn Geheimenrath sprechen zu dürfen; es sei eine wichtige Angelegenheit.“
Dem Geheimenrath war der Name des Angemeldeten unbekannt, da aber von einer wichtigen Angelegenheit die Rede war, glaubte er, den Besuch nicht zurückweisen zu dürfen.
„Ich lasse den Herrn Doctor bitten, einzutreten,“ sagte er.
Der Radetzkymarsch. (S. Abbildung auf S. 525.) Die illustrirte Literatur unserer Tage darf nicht davor zurückscheuen, auch die schmerzlichen Züge des Völkerlebens darzustellen, besonders wenn aus ihnen eine ernste Mahnung geschichtlicher Gerechtigkeit aus jüngster Vergangenheit zu uns spricht. Eine solche Illustration ist die nach dem Gemälde von Harold Stanley, der im vorigen Jahre zu München starb, von uns in Holzschnitt heute mitgetheilte, und wir stehen nicht an, sie gleichsam noch im Nachhall des großen Wiener Schützenfestjubels zu veröffentlichen, weil sie das zeitgemäßeste Gegenbild desselben vorführt.
Nie hat das gesammte außeritalienische Oesterreich auf eine seiner Armeen mit allgemeinerem Stolz geblickt, als im Jahre 1849 auf die Armee Radetzky’s in Oberitalien. Trotz aller blutigen Parteikämpfe im Reich – die Nachrichten von den Heldenthaten, zu welchen der alte „Soldatenvater“ seine anfangs so zerstreuten, verlassenen und schwachen Truppen zusammenzuraffen, zu begeistern und zu führen wußte, ward über den Parteihaß Herr, der Siegesjubel ward zum Siegesrausch auch in den Bürgerköpfen. Und in der That enthält die Geschichte dieser Armee so viele einzelne Glanzstücke höchsten Muthes und äußerster Aufopferung, war das Verhältniß zwischen Mannschaft, Führern und dem Feldherrn ein bei der eisernsten Disciplin so wahrhaft treu cameradschaftliches, die Stimmung Aller eine durch die außerordentlichsten gemeinsamen Erlebnisse so gehobene, bis zum letzten Tambour veredelte, daß Radetzky’s Truppen allerdings als eine Musterarmee in Europa dastanden. Und wie diese Soldaten damals mit Recht singen konnten:
„Krowatisch, deutsch, wellisch,
Ungarisch durchanand,
Und doch red’n mar an’ Sprach’,
Gilt’s Oesterreicherland!“
so fühlten sie sich auch wirklich als die Elite, als die wahre Repräsentation der Völker des Kaiserstaates und riefen es laut hinaus: „Wo wir sind, da ist Oesterreich!“
Aber der Geist, der diese Sieger führte, war der der Unterdrückung – und selten ist es der Kunst gelungen, dies so klar und tiefergreifend in einem Bilde auszusprechen, wie es vorliegend geschieht. Die Vorhalle einer lombardischen Villa ist zur Soldatenschenke umgewandelt, und ein junges italienisches Weib, in welchem jedes Auge sofort die trauernde Wittwe erkennt, wird vom fröhlichen Uebermuth der Soldaten gezwungen, den Radetzkymarsch zu spielen, die Triumphmusik über ihr unglückliches Vaterland, für das ihr Gatte den Tod erlitt. Trotzdem können wir der Kriegertruppe deshalb nicht feind sein. Sie treibt keinen Hohn. Der Husar wichst den Schnurrbart, der Kaiserjäger jauchzt auf bei den Klängen, und der gutmüthige Kroate hätte so gern den schüchternen Knaben auf dem Schooß. Wenn wir eine bittere Satire im Bilde erkennen wollen, so ist’s die auf die ewig im Dienste der Gewalt geschmeidige, hier in dem Mönch personificirte Pfaffenschaft. Wie aber erscheint uns heute diese Wittwe? Steht sie nicht vor uns wie die trauernde „Italia“ in ihrer tiefsten Erniedrigung? Und hinter ihr lauscht, voll Angst und Wuth, das geknechtete Volk!
Das ist das treue Geschichtsbild von Oesterreich und Italien im Jahre 1849. Zehn Jahre später kam die Rache von Solferino, die Musterarmee unseres Bildes war verschwunden; aber noch ein Bluttag mußte über Oesterreich kommen, um das neueste Zeitbild zu vollenden, das beim Schützenfest der Kaiserstadt sich so klar und groß dargestellt hat, wie hier sein Gegenstück.
„Wo wir sind, da ist Oesterreich!“ So rufen heute die Volksabgeordneten des geeinigten und freien Reichs aus. Hinausgestoßen ist aus diesem Bilde das dienstwonnig herrschende Pfaffenthum. In Wien, von der Tribüne des Schützenfestes, donnert das Wort eines Ungarn: „Fort mit dem Nationalitätenschwindel! Sind wir erst freie, constitutionelle, intelligente Menschen, dann haben wir erreicht, was unser Beruf ist, wir haben geöffnet die Pforten des Tempels der menschlichen Würde! Dann wird es sehr leicht sein, uns unter uns Brüdern abzufinden. Du sprichst Slovakisch, Du Deutsch, Du Ungarisch, aber wir Alle sind Brüder!“ – Und wenn heute der Radetzkymarsch erschallt, so bedeutet sein stolzes Rauschen den Sieg eines treuen Volks und den Gruß zur Ehre freier Männer.
Ein neuer Alpenführer. Viel später als die Schweiz ist das Schwesteralpenland Tirol durch und für die Touristen entdeckt worden, ja wir können sagen, noch bis zum heutigen Tage ist diese Entdeckung nur sehr teilweise geschehen. Noch lange ist Tirol nicht durchlaufen und abgetreten bis in seine hintersten Bergschluchten und die höchsten Schneegipfel hinauf, wie die Schweiz, noch bietet es vielmehr für alle Die, welche nicht die breite Heerstraße der Reisezüge wandern wollen, denen es nicht zum nothwendigen Reiseerforderniß gehört, Natur in Glacehandschuhen, in Crinolinen und seidenen Kleidern zu kneipen und bis in die entlegensten Winkel hinein und auf die Eisspitzen hinauf großartige Hotels mit prachtvollen Speisesälen und luxuriösen Tables d’hôte zu finden, nach Land und Leuten so recht ein Feld zu erhabenem Naturgenuß und zu neuen Entdeckungen und Beobachtungen. Deshalb sollten wir eigentlich wider Alles opponiren, was dazu beiträgt, dem schönen Berglande diesen Reiz verhältnißmäßiger Ursprünglichkeit und Jungfräulichkeit zu rauben, vor Allem aber gegen die rothen Reisebücher ankämpfen, die danach trachten, auch Tirol zu einem fashionabeln Reiseziel blasirter Weltmenschen umzumodeln – allein wir sind nicht Egoisten genug, Andern zu mißgönnen, was uns selbst so manche schöne Sommerwoche hindurch zu einem Quell des reinsten, unvergeßlichsten Genusses geworden ist. Und so erachten wir es vielmehr für unsere Pflicht, jetzt, wo mit dem nahenden Hochsommer die eigentliche Saison der Alpen und der Alpenfahrer beginnt und während vielleicht so Mancher, in der Qual der Wahl, noch nicht zum Entschlusse gelangen kann, wo er in der diesjährigen Ferien- und Urlaubzeit den Actenstaub aus der Brust spülen und die am Bureau steif gesessenen Glieder recken und strecken soll, auf ein Buch empfehlend hinzuweisen, das, soeben dem Preßbengel entronnen, in der schönen Absicht geschrieben ist, die Touristeneroberung des Landes Tirol vollenden zu helfen.
Wir meinen den „Tirolerführer. Reisehandbuch für Deutschland und Wälschtirol unter Berücksichtigung der angrenzenden Gebietstheile etc. Bearbeitet von Dr. Ed. Amthor. Mit zehn Specialkarten in Lithochromie etc. (Gera).“ Wie der Verfasser, der sich durch mancherlei literarische Bestrebungen einen Namen gemacht hat, dies auf dem Titel und in der Vorrede ausspricht, ist das Werk die Frucht einer fast dreißigjährigen Reiseerfahrung, denn so lange hat er jedes Jahr Monate lang die Alpen Tirols durchstreift. Dies erweckt gewiß von vornherein ein günstiges Vorurtheil für das Buch, und in der That können wir, die wir uns rühmen dürfen, nicht das kleinste Stück des schönen Landes gesehen zu haben, mit gutem Gewissen bestätigen, daß die Absicht des Autors, dem Reisepublicum einen praktischen Führer an die Hand zu geben, soweit erreicht worden ist, wie sich dies auf den ersten Anlauf und bei der Schwierigkeit eines solchen Werkes, in dem natürlich nicht Alles auf eigene Beobachtungen basirt werden kann, sondern zum Theil aus einem von den verschiedensten Seiten und oft nur mit der größten Mühe zu sammelnden Materiale zusammengestellt werden muß, überhaupt erreichen läßt. Wer Tirol zum Ziele seines nächsten Ausflugs machen will – und unter den Hunderttausenden von Gartenlaubenlesern wird sicher so mancher sein Auge auf die Berge an Inn und Etsch, an Eisack und Passer richten – der kann keinen bessern und zuverlässigern Begleiter mitnehmen, als Amthor’s fleißiges und zugleich auch äußerlich elegantes Werk. Denn auch die Ausstattung desselben Seiten der Druckerei und des Verlags verdient volles Lob, namentlich zeichnen sich die Specialkarten durch klare und saubere Ausführung aus. Als überflüssig möchten wir dagegen die beigegebenen Eisenbahnfahrpläne betrachten, da sich dieselben ja mit jedem Halbjahr zu ändern pflegen und trotz der Vorzüglichkeit des Buches wohl nicht schon im nächsten Jahr auf eine neue Auflage zu rechnen ist, obgleich wir dem Verfasser, der zugleich der Verleger des Werkes ist, solche von ganzem Herzen wünschen.
- ↑ Diese Angabe wird von anderen Beobachtern als Erfindung verworfen. Das bloße Schnellen ihres musculösen Schwanzes, wobei die Fische sonst in ihrer Lage bleiben, muß dieselbe Wirkung hervorbringen.
- ↑ Rathke bestätigte nämlich durch seine Entdeckung die schon früher behauptete, aber nicht bewiesene Thatsache, daß die beiden manschettenförmigen Blätter, welche sich am ganzen Rücken der Leibeshöhle des Aales herabziehen, und bis dahin für bloße Fettschichten gehalten worden waren, die Eierstöcke dieses räthselhaften Fisches seien, indem es ihm gelang, zwischen den Fettzellen dieser Organe die eigentlichen Eier, obgleich von außerordentlicher Kleinheit, nachzuweisen.
- ↑ Auch der dreistachlige Stichling fehlt übrigens im Flußgebiet der Donau gänzlich.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: eine