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Die Gartenlaube (1868)/Heft 34

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 34.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Brüder.
Von Adolf Wilbrandt.
(Fortsetzung.)


Das Geräusch eines Wagens, der auf der Vorderseite des Hauses anzufahren schien, klang Karl dumpf im Ohr, ohne ihn aufzustören; nur sein Windspiel, das ihm bis an den Sessel nachgeschlichen war und wieder still zu seinen Füßen lag, hob den Kopf in die Höhe. Im Hause, auf dem Flur schien es unruhig zu werden. Caro sprang auf, näherte sich der Thür und kam dann wieder zurück, um seinen scheinbar entschlafenen Herrn durch ein leises Bellen zu wecken.

Eben richtete er sich in die Höhe und suchte für das, was seiner harren mochte, Fassung zu gewinnen, als die Thür sich schon aufthat und eine hohe, rasche Gestalt in ihr erschien. Wilhelm’s leuchtende Auge spähten neugierig herein, und sein treuherziges Lächeln folgte ihnen. Er hatte den Hut noch auf dem Kopfe, den braunen, nassen Mantel hoch herauf geknöpft, sein Haar war dennoch durchfeuchtet, und selbst aus seinen Augenbrauen schien der Regen zu tropfen.

„Muß man Dich aufsuchen, Karl!“ sagte er mit hastiger, aber nicht unfreundlicher Stimme. „Bei diesem Wetter, das zum Ofenhocken gemacht ist, muß ich selber herauskutschiren, um mir von meinem einzigen Bruder meine Glückwünsche einzufordern! Da sitzt er, wie ein Canzleidirector in der Registratur, und denkt darüber nach, wie man seine Felder und seine Finanzen verbessert.

Und während ich vor Glück nicht mehr seh’ und höre und nur immer horche und harre, ob nun nicht endlich dieser Mensch da kommen wird, damit ich mich in sein Bruderherz ausschütten kann, – währenddessen vergräbt er sich in die gleichgültigsten Schreibereien und thut, wie wenn es keine Brüder und keine glücklichen Menschen mehr gäbe!“

„Lieber Wilhelm,“ erwiderte Karl mit der herzlichsten Miene, deren er fähig war, und drückte ihm die Hand, „ich war – – Hab’ ich Dir nicht auf Deinen Verlobungsbrief meine Glückwünsche geschrieben?“

„Geschrieben! – Wenn ich dieser andere Bruder gewesen wäre, von Paris wär’ ich herbeigereist, um Dir in meiner Mitfreude um den Hals zu fallen. Aber ihr kalten, chronischen Menschen! Ihr Vernunftmenschen! Bei ,kalt’ fällt mir ein, daß heut’ ein recht schöner Wintertag ist, Karl, heut’, am dritten Juni! Ein nichtswürdiger Regen! Aber es ließ mir in der Stadt keine Ruhe mehr, ich mußte Dich sehen. Ich mußte Dir persönlich sagen, daß ich Dich für einen schlechten Menschen halte. Warum siehst Du so übel aus, Karl? Dein Verwalter behauptete eben, als ich aus dem Wagen stieg, daß Du nicht wohl seiest. Davon hast Du ja nichts geschrieben! Weißt Du denn nicht, daß ich trotz aller Bräutigamsherrlichkeit auf der Stelle herausgeritten wäre, um mich nach meinem Patienten umzusehen und ihm Gesellschaft zu leisten?“

„Ich danke Dir, Liebster,“ erwiderte Karl gerührt und gequält. „Es ist nur so ein Unwohlsein, von dem man nicht spricht; eine Erkältung, ein wenig Fieber. Aber es war mir besser, mich damit einzusperren und mit all’ den verschleppten Arbeiten etwas aufzuräumen, als – als ein paar selige Brautleute in ihrem Duett zu stören.“

„Zu stören! – Was das nun wieder ist! – Und wenn jeder Mensch auf der Welt uns stören würde, – Du doch nicht? Aber blaß bist Du, Karl. Du hast ja Ringe um die Augen wie Brillen! Nimmst Du etwas ein? Du hast Dir doch den Doctor kommen lassen? – Was ich noch sagen wollte: meine kleine Braut“ – Karl zuckte zusammen – „die ist auch nicht die Beste. Sie sieht recht jämmerlich aus; seit jenem Ballabend hat sie noch keinen guten Tag gehabt, es sind ihre alten Kopfschmerzen. O Karl, wenn wir die erst hier draußen auf dem Lande haben! Da soll sie aufleben, da soll sie alle die städtischen Nerven mit der Wurzel ausrotten!“

Er sah zum Fenster hinaus, nach seinem Landsitz hinüber, schob dann die Bücherhaufen von der nächsten Tischecke zurück und setzte sich auf den Tisch. „Ich habe schon große Pläne gemacht, Karl,“ fuhr er mit seinem herzlichsten Lächeln fort, „wie wir Drei miteinander leben wollen! Alles gemeinsam! Du sollst sehen, sie versteht sich darauf, mit uns zu leben! Wie sie sich in Alles hineinzufügen weiß, wie sanft sie ist – und wie Alle im Hause sie vergöttern! Ihr Papa will sie gar nicht hergeben, sagt er, – ein lustiger, guter, alter Herr. Annette ist sein Augapfel. Aber ich will sie glücklich machen, Karl,“ rief er mit lebhafterer Empfindung aus und sprang wieder auf. „Glaube mir, Herzenskarl, ich mache sie glücklich!“

Er hatte seines Bruders Hand ergriffen und sah ihm mit einem vollen Blick in’s Gesicht. Karl, in tiefster Pein, erwiderte den Blick mit einem mühsamen Lächeln, und um in diese treuherzigen Augen nicht länger starren zu müssen, schloß er ihn heftig in die Arme. Wilhelm umfaßte ihn gleichfalls und hielt ihn voll der freudigsten Bewegung umschlungen. „Ach, Karl!“ sagte er gerührt, „wenn meine Liebe Deinen Beifall nicht hätte, was hätte [530] ich dann? was wäre sie dann noch werth? Es soll noch schöner werden, als es war, Karl, glaube mir das. Alle Welt soll uns um unsere Dreieinigkeit beneiden. Sie sollen uns noch für ein Muster-Kleeblatt ausposaunen. Weißt Du, ich glaube, Annette ist auch mehr chronisch als acut, da wirst Du um so besser mit ihr auskommen. Ich weiß ja auch, daß Du sie lieb hast. Wenn sie eine erwachsene Schwester hätte – – Aber die zweite, Friederike, ist noch ein kleines Ding. Sie wird wohl auch einmal hübsch werden; doch allerdings, darauf kannst Du nicht warten!“ Er stand noch immer vor Karl, hielt seine linke Hand und sah ihm mit strahlender Heiterkeit in die Augen. Auf einmal ergriff er ihn an einem seiner Rockknöpfe, und indem er daran zu drehen anfing, fragte er: „Uebrigens sollst Du ja einmal in der Stadt gewesen sein; Mensch, wie verhält sich das?“

„Wer hat Dir das gesagt?“ fragte Karl zurück und sah an ihm vorbei in die Luft hinaus.

„Man will Dich zu Pferde gesehen haben, – irgendwo auf der Straße!“

„Das ist ein Irrthum,“ erwiderte Karl mit plötzlichem Erröthen und wandte sich ab, wie wenn er ein auf der Erde liegendes Blatt aufheben wollte. „Wann wollen die Leute mich gesehen haben? Ich müßte im Traum nach der Stadt geritten sein. Ich habe das Gut nicht verlassen.“

„Das dachte ich gleich, daß es ein lächerliches Mißverständniß sein mußte! Du wärst doch gewiß nicht wieder davongeritten, ohne mich zu sehen, – was die Leute nur reden! Aber jetzt, lieber Karl, jetzt mußt Du mit, jetzt rettet Dich nichts mehr. Ich habe Dich alle diese Tage stündlich erwartet, wie wenn sich das eben ganz von selbst verstünde –“

„Lieber, ich konnte nicht.“

„Nun ja, es mag wohl sein, ich will auch nicht mit Dir zanken. Aber wie ich auf Dich gewartet habe! Darum hab’ ich Dir auch gar noch nicht geschrieben, daß schon morgen die Hochzeit ist –“

Karl fühlte sich bei diesen Worten von seiner Selbstbeherrschung verlassen, er fuhr zusammen, wie durch einen Krach erschreckt, und um den Aufruhr in seinem Gesicht zu verbergen, stürzte er von Wilhelm hinweg auf das Fenster zu. Er hatte nur noch Besinnung genug, an das Verwunderliche dieses Benehmens zu denken und schnell, mit einer gewissen Hast, auf die Scheiben zu trommeln, als hätte ihn nur eine äußerliche Unruhe angewandelt. Wilhelm kam ihm nach. „Ist es Dir nicht recht, Karl,“ sagte er herzlich, „daß ich so eilig heirathe? Ich weiß, Du hast schon damals, bei der Tante Merling, dagegen gepredigt. Du fandest es unrecht, daß unser Vater das von uns verlangte. Aber laß es gut sein, Karl, ich thu’s ja freiwillig. Bei Gott, ich bin sehr froh, daß ich mich gegen ihre Eltern auf dieses Testament berufen kann! Ich denke in diesem Punkte ganz wie unser Vater, – nicht nur in der Praxis, Karl, auch in der Theorie! Es hat seine großen Vorzüge, frischweg zu Hochzeiten, – wie unser alter Doctor sagte – weißt Du noch? – daß der Brautstand nichts sei, als ein nothwendiges Uebel. Aber jetzt komm, liebster Menschlich lasse Dir nun keine Ruhe mehr, Du mußt nun alle die häßlichen Arbeiten da stehen und liegen lassen und sogleich in den Wagen! Unser Zweisitziger, mit dem großen Familienschirm, hält vor der Thür, neue Pferde sind vorgespannt, Deinem Inspector hab’ ich’s schon angekündigt, und es giebt keine Ausrede.“

„Weißt Du,“ sagte Karl und versuchte in all’ seinen Qualen wieder zu lächeln, „ist es nicht genug, wenn ich morgen zur Hochzeit komme?“

„Ich traue Dir nicht mehr,“ erwiderte Wilhelm und sah dem Bruder mit einem arglos scheltenden Blick in die glühenden Augen. „Mit Deinen Arbeiten hat’s auch keine Eile, Du willst vor der Zeit ein Pedant werden, pfui! Deine Hochzeitskleider sind in der Stadt; also kannst Du so mitfahren, wie Du dastehst. Was soll unsere neue Familie denken, wenn Dir das Wetter zu schlecht ist, um sie auch nur einen Tag vor der Hochzeit zu begrüßen! Ein Wort an Deinen Inspector, und Alles ist abgemacht. Wir hüllen Dich tüchtig ein, mit einer Flasche Wein heizen wir nach, die Pferde lassen wir laufen, was sie können – und es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich Dich nicht gesünder, als Du bist, in dem kleinen Haus an der Marienkirche ablieferte.“

Er hatte den rechten Arm um Karl’s Schulter geschlungen und zog ihn mit sanftem, liebkosendem Druck der Finger zur Thür hinaus; es war kein Widerstand möglich. Mit Gefühlen, die sich nicht beschreiben lassen, ergab sich der Unglückliche in sein Schicksal, und während er in seinem zerrissenen Innern beschloß, sogleich nach der Hochzeitsfeier das Land zu verlassen und nach Frankreich zu gehen, ertheilte er im Haus mit gewohnheitsmäßiger Ruhe die letzten Befehle, ließ den Auftrag zurück, in seinem Zimmer völlig aufzuräumen, stahl sich noch einmal hinweg, um aus seinem Geldschrank Alles zu sich zu stecken, was er vorräthig hatte, und trieb dann selber zur Abfahrt. Der graue, triefende Himmel, der sie draußen empfing, die kühle, nasse Luft that seinen Empfindungen wohl. Die schmutzige, oft abgrundtiefe Landstraße, nachdem sie den Gutshof verlassen hatten, das zitternde Laub der vom Wind geschüttelten Pappeln über ihm, die sich am Wege hinzogen, die endlose Oede der verregneten Welt gaben ihm den Eindruck einer trübseligen Harmonie, an die er sich festsog. Aller Vogelgesang nah und fern war verstummt, nur die schwarzen Krähen bewegten sich mit schwerem Flügelschlag durch die graue Luft, und einzelne Goldammern flatterten unlustig über die Schmutzlachen der Straße. Auf den Feldern rechts und links war kein Arbeiter, kein Gespann zu sehen, die Kirchthürme der nächsten Dörfer verschwammen im Regendunst; eine einzige Sonntagsglocke hallte melancholisch über den Waldstreifen, an dem sie dahinfuhren, herüber. Karl mußte jenes Maiabends gedenken, an dem er sich im glühenden Sonnenschein berauscht, sich in Liebeshoffnungen gewiegt hatte, und der unaussprechliche Gegensatz erstickte ihm fast die Brust. Er war unfähig, ein Wort der Liebe zu seinem Bruder zu sprechen, der in den Regen hinein fröhliche Lieder sang und seine Glücksgefühle in ahnungsloser Beredsamkeit ausströmte. Verzweiflung an Allem legte sich ihm dumpfer und dumpfer auf’s Gehirn; alles Blut drängte sich um sein Herz, er fragte sich, ob er nicht zum Wagen hinausstürzen, ob er nicht Wilhelm’s Hand ergreifen solle und ihm mit der Stimme der Verzweiflung zurufen, daß er Annetten liebe. Aber dann leuchteten ihn wieder die Augen des Bruders an, und er sagte sich unter unerträglichen Empfindungen: sie liebt ihn! sie liebt ihn! und dieser eine Gedanke machte ihn wieder stumm. Regungslos ließ er den Bruder weiter schwärmen. Er faßte nicht den Muth, ihm zu sagen, daß er fort, daß er ihn verlassen wolle. Das Geheimniß umschnürte ihn wie ein Netz, sein Stolz, seine Treue, seine Bitterkeit verschlossen ihm die Lippen, er gelobte sich, diesen Kelch zu leeren, ohne sich zu verrathen.

So kamen sie, in der Zeit der Dämmerung, nach der Stadt zurück, und wie im Traum stieg Karl der hohen Marienkirche gegenüber aus, um in dasselbe Haus zu treten, aus dem er vor einer Woche so stürmisch geflohen war. Die Kinder empfingen das Brüderpaar schon auf dem Flur, im Zimmer kamen ihnen sogleich die Eltern entgegen. Sie nahmen Karl in zutraulichster Freude bei der Hand, sprachen ihm ihr Entzücken aus, in dem Bruder ihres zukünftigen Schwiegersohns zugleich den Lebensretter ihrer Tochter zu begrüßen. Karl blickte sie an, ohne sie zu sehen, nickte zu ihren halbverstandenen Reden, und starrte zu Annetten hinüber, die mit mehreren Freundinnen um den Tisch saß, an dem er damals sein Schicksal erfahren hatte, und ihren Hochzeitsschmuck mit ihnen zurüsten half. Sie war ihm entgegengetreten ihn zu begrüßen, hatte dem Bruder ihre Hand zum Kuß gereicht, und kehrte dann hastig zu den Freundinnen zurück. Ihre blassen Wangen fingen an sich zu röthen, sie bewegte sich lebhafter, gerieth in eine fieberhafte, unruhige Heiterkeit, von Zeit zu Zeit hörte man ihr gewaltsames Auflachen. Sie setzte den noch unfertigen Kranz, der für sie bestimmt war, einem der Mädchen auf’s Haupt, führte es vor den Spiegel, beleuchtete es, neckte es ausgelassen, während sie es mit hastigen Bewegungen vermied, den Blicken Karl’s zu begegnen. Ihre weiche Stimme wurde lauter und heller, ihre Augen glänzten und flackerten umher. Endlich nahm sie wahr, daß Wilhelm, der neben der Mutter stand, sie verwundert betrachtete, sie gerieth darüber in Verwirrung, wandte sich ab, flüsterte einer der Freundinnen etwas in’s Ohr und zog sie eilig hinaus.

Karl sah ihr mit Gefühlen nach, die sich aus Erleichterung und Erschütterung mischten. Er fühlte einen neuen Krampf in seiner Brust; es schien ihm unmöglich, ihre Rückkehr zu erwarten und diese unsichtbare Folter noch Stunden lang zu ertragen. Indem er seine wachsende Blässe fühlte und im Spiegel gegenüber sah, nahm er sie zum Vorwand, sich zu entfernen, faßte Wilhelm’s [531] Hand, sagte ihm hastig, daß sein Unwohlsein mehr, als erlaubt sei, zunehme, und bat ihn, sich in’ nichts dadurch stören zu lassen, daß er sich zurückziehe. Der erschrockene Wilhelm folgte ihm hinaus. Er erklärte ihm, trotz allen Sträubens, daß er ihn unter diesen Umständen nicht verlassen werde. Er klagte sich an, daß er ihn so rücksichtslos aus seiner nothwendigen Ruhe aufgeschreckt habe, führte ihn den ganzen Weg bis an ihr Haus, schickte den Diener zum Arzt und gab sich nicht eher zufrieden, als bis sich Karl wie ein Kranker in’s Bett gelegt hatte. Dann saß er neben ihm und sah ihn zuweilen mit dem Blick einer Wärterin an und sagte kein Wort. Karl’s tiefe Beklemmung wuchs. Endlich, nachdem der Arzt erschienen war, ein leichtes Fieber erkannt und eine Kleinigkeit verordnet hatte, richtete der Tiefgequälte sich auf und betheuerte dem Bruder, daß er allein zu sein wünsche; daß er von ihm verlange, zu seinen Schwiegereltern – er brachte Annettens Namen nicht über die Zunge – auf der Stelle zurückzugehen und unterdessen ihn sich gesund schlafen zu lassen. Wilhelm nahm seine Hand und fragte, indem er ihn zärtlich ansah, ob er die Hochzeit aufschieben solle? dann, da der Andere heftig den Kopf schüttelte: ob er ihm wenigstens versprechen wolle, bis zur Trauung ganz stille zu bleiben, wo er sei, und sich allen ceremoniellen Pflichten zu entziehen, außer der einen, ihn am Nachmittag zur Kirche zu geleiten? Karl nickte mit einem flüchtigen Blick und drückte ihm die Hand, und Wilhelm, nachdem er den Bedienten in’s Nebenzimmer gesetzt hatte, winkte noch einmal liebevoll zurück und ging davon.

Die Nacht verwachte der Einsame in wirklichen Fieberschauern und trostlosen Gedanken. Er hielt die Augen geschlossen, als der Bruder zurückkam, that wie wenn er schliefe, und während er laut und wie in tiefen Träumen athmete, kämpfte er mit den mörderischsten Wünschen und wiederholte sich den einzigen Trost, daß er wenigstens fliehen könne und die Welt weit sei. Gegen Morgen fand er endlich Schlaf, und erst die Mittagssonne, die durch’s Fenster hereindrang und auf sein Bette schien, weckte ihn auf. Der Bediente kam, um ihm zu sagen, daß es nun Zeit sei, sich für den Gang zur Kirche anzukleiden, wenn er sich wohl genug fühle. Er nickte ihm zu, stand auf und warf sich in die goldgeschmückten, glitzernden Festkleider, die man ihm zurechtgelegt hatte und die ihn unnatürlich zu verhöhnen schienen. Seine Empfindung indessen war betäubt; er ging in einer gewissen dumpfen Erstarrung – der Diener hinter ihm drein - dem Haus an der Kirche zu, das man mit Maien und Blumengebinden geschmückt hatte und das eine Volksmenge neugierig umstand. Die Sonne schimmerte etwas feucht durch das Gewölk, der Regen hatte aufgehört, die Luft begann sich wieder zu erwärmen. Er empfand es mit einer Art von stumpfem Behagen, und dachte an weiter nichts, als er im Haus über die Schwelle trat. Ihm war, als schliefen die Gedanken hinter seiner Stirn und als müsse er sich nur hüten, sie zu erwecken. Indessen die lebhaften Stimmen durcheinander, die er in den vorderen Zimmern summen und lachen hörte, rissen ihn plötzlich ans seiner Versunkenheit auf. Er erkannte die hellen Töne der Demoiselle Merling, ein widriges Gefühl flog über ihn hin, und um nicht alle Fassung auf einmal zu verlieren, ging er hastig an den Thüren vorbei, trat auf den Hof hinaus, und ließ die erwärmten, weichen, stillen Luftwellen beruhigend um sich fließen.

Hinter dem sah er den Garten offen, das Grün lockte ihn an, er ging die wenigen Schritte weiter, um sich in jener stillen Ecke in die verhängnißvolle Laube zu setzen. Der Geist Annettens kam hier über ihn, seine Augen füllten sich mit den ersten Thränen, die er um sie weinte. Er glaubte sie zwischen diesen duftenden Beeten als zierliche Gärtnerin auf und nieder schweben zu sehen, als die feinste aller dieser Blüthen; er dachte sie sich wieder in jenem ersten Kleid, wie eine weiße Rose unter diesen feurigen Nelken und den absterbenden Tausendschönchen, – und Alles, was in seiner Seele weich war, warf sich ihm mit der ganzen Ueberschwänglichkeit des Schmerzes in die überfließenden Augen. So mochte er schon eine Weile dagesessen haben, gegen den Tisch gelehnt und die nassen Wimpern in tiefer Schwermuth geschlossen, als über den Kiesweg her rasche Schritte herankamen und seine Besinnung erwachte. Er fuhr sich mit der Hand über die Lider und Wangen, um sie hastig zu trocknen, und sah dann mit einem halben Blick der Gestalt, die sich näherte, entgegen.

Die Schönheit dieser Gestalt überraschte ihn. Es war sein Bruder, – heute zum ersten Mal in anderer Kleidung als er, in blauem Sammet und silbergestickter Weste; dazu in der ganzen freien, selbstgewissen Haltung, die ihn so unwiderstehlich machte und die dieser Tag noch erhöhte; die Haare an den Seiten zierlich gelockt und nach hinten gebunden, die blauen Augen voll Feuer, die vollen Lippen wie von Lebensfreude geschwellt und wie Blutnelken glühend. Er trat auf Karl zu, ohne ihn in’s Auge zu fassen, mit dem Gang eines Prinzen, der zur Thronfolge berufen wird, und indem er vor dem Jasminbusch neben der Laube stehen blieb, um einen Zweig voll eben aufgesprungener Blüthen abzupflücken, sagte er hastig: „Hier find’ ich Dich, Karl? Ich suchte Dich im ganzen Hause; hat Dir noch Niemand gesagt, daß wir in zwei Minuten zur Kirche gehen?“

„Ich werde kommen,“ erwiderte Karl tonlos und stand auf.

Wilhelm betrachtete den blühenden Zweig mit glücklichen Augen, versuchte, ob er ihn in’s Knopfloch stecken könne, und sagte dann hinaushorchend: „Ich glaube, sie ordnen sich schon! – Karl, Du kannst Dir mit all Deiner Phantasie nicht vorstellen, was dies für ein Augenblick ist! So unmittelbar an der Thür zu stehen, durch die man in’s größte Lebensglück hineintritt – es macht schwindlig, Karl. Es überstürzt Einen so! Es ist ganz unaussprechlich!“ – Er hielt den Jasminzweig noch immer in der Hand, da die großen Regentropfen noch an ihm hingen, und schüttelte ihn, um ihn abzutropfen, sah dabei zu Karl hinüber und erschrak. „Mein Gott, was ist Dir?“ sagte er. „Du siehst so elend, – was ist Dir geschehen?“

„Mir? Was sollte nur geschehen sein? – Komm, laß uns gehen,“ setzte Karl hinzu und versuchte ein scherzhaftes Gesicht zu machen, „damit der Bräutigam nicht die Trauung versäumt!“

„Du hast geweint, Karl!“ rief Wilhelm aus und blieb wie angenagelt vor ihm stehen.

„Meine Farbe, meine angegriffenen Augen täuschen Dich, Lieber. Was denkst Du? Ich habe einen schlechten Kopf, das ist Alles. Komm’, laß uns gehen!“

„Du, Karl, willst mich täuschen! Warum steckst Du hier so allein? Was macht Dich so melancholisch? – Seit Du unwohl bist, erkenn’ ich Dich gar nicht mehr; Du hast so traurige Augen, Du bist so gedrückt – Karl, Karl, was sollen wir mit Dir thun?“ – Er trat an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter: „Warte nur, warte! Sobald die Hochzeitfeier vorüber ist, nehm’ ich Dich mit hinaus; ich erkläre Dich für meinen Patienten, wir überwachen Dich, Annette soll Dich pflegen, und ich gebe Dich nicht eher heraus, als bis Du wieder helle Augen und ein leichteres Blut hast!“

Er suchte dabei den Bruder zärtlich an sich zu ziehen; aber Karl, unfähig, ihm auf diese liebreiche Drohung in’s Gesicht zu blicken, machte sich unwillkürlich von ihm los und wandte sich ab. „Lieber Thor!“ sagte er nach einer Weile mit gekünstelter Heiterkeit, indem er an dem Gezweig der Laube herumpflückte. „Ich denke nicht daran, Eure Flitterwochen zu stören. Das war wieder einer Deiner drolligen Einfälle! – Ich wollte Dir übrigens schon sagen, mein Alter,“ fuhr er mit zitternd scherzender Stimme fort, „daß ich verreise.“

„Was – ?“ fragte Wilhelm und starrte ihn an, wie wenn er nicht richtig gehört hätte. „Was wolltest Du, Karl?“

„Nach Paris,“ erwiderte Karl noch immer abgewandt, „sagte ich es Dir noch nicht? Es ist ein alter Gedanke –“

„Karl!“ rief Wilhelm außer sich ihn an, „wann wolltest Du fort?“

„Du wirst ja so stürmisch,“ sagte Karl und fing an zu erschrecken. „Es ist wahr, ich hätte es Dir schon früher schreiben sollen –“

„Wann willst Du fort?“

„Ich denke, bald,“ sagte Karl in plötzlicher Angst und riß ein paar Blätter vom Gerank herunter. „Warum fragst Du so? Nach Deiner Hochzeit, Liebster morgen –“

„Morgen!“ wiederholte Wilhelm tonlos und ließ seinen Jasminzweig zur Erde fallen. „Und das sagst Du mir – –“

Die Stimme gehorchte ihm nicht mehr, er brach ab und drehte sich um.

Karl faßte endlich den Muth, ihn mit seinen Blicken aufzusuchen; da sah er, wie Wilhelm sich mit großen Schritten entfernte.

„Wilhelm!“ rief er ihm nach.

„Schon gut, schon gut!“ rief dieser aus und sah mit einem [532] wilden Lächeln nach der Laube zurück. Er riß die Gartenthür auf und schwankte hinweg. Die unseligste Ahnung schien ihn zu durchfahren. Mit einem Gesicht, in dem auf einmal alle Lebensfarbe ausgelöscht war, taumelte er hastig über den Hof und trat in das Haus, ohne den Bruder zu erwarten, der fassungslos hinter ihm herlief.

Auf dem Flur hatte sich schon ein Theil der Gäste aufgestellt, die lebhaftesten Wohlgerüche schwammen ihm entgegen. Annette trat eben mit der Demoiselle Merling aus dem Zimmer hervor.

Ihr weißes Atlaskleid, der Kranz mit den weißen Blüthen in ihrem Haar hob noch ihre Blässe. Sie schien viel geweint zu haben, aber die matten Augen gaben sich nun alle Mühe, zu lächeln. Mit aufgeregter Freudigkeit kam sie auf ihn zu, indem sie die Alte stehen ließ. Jetzt bemerkte sie seine Verstörtheit und fragte: „Was fehlt Ihnen, Wilhelm?“

„Annette,“ sagte er außer sich, „wissen Sie schon, daß Karl uns verlassen will? daß er morgen davongeht?“

„Will er das?“ antwortete sie und suchte nach dem Ton, in dem sie diese Mittheilung bedauern müßte. „Das ist traurig!“ setzte sie nach einigem Stocken hinzu und wandte sich hastig ab. Der plötzliche Schreck drohte ihr in die Kniee zu fahren, ihr Blick sie zu verrathen. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, und als hätte sie sich nur nach ihrer Mutter umgewandt, die eben den Flur heraufkam, eilte sie auf sie zu und legte ihre beiden Arme um deren Nacken. „Karl will uns verlassen!“ stieß sie hervor, mit einem Ausdruck der Ueberraschung, der ihr Gefühl verbarg.

Die gute Mutter wiegte bedauernd den Kopf. „Was bedeutet das?“ fragte sie arglos. Der verstörte Wilhelm starrte vor sich hin.

In diesem Augenblick erschien der Vater, mit ungeduldiger Miene und Geberde, um daran zu erinnern, daß Alles bereit sei, daß der Geistliche warte. Und damit nahm er den Arm seiner Tochter und ging mit ihr voran, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Wilhelm blickte nach dem Hof zurück; er sah seinen Bruder oben auf der Schwelle erscheinen. Unfähig wie er war, ihn anzusehen, wandte er sich wieder um und schritt langsam hinter Annette her, unter den Blumengewinden der Hausthür hindurch, in die Sonne hinaus, dem hohen Portal der Marienkirche entgegen. Er fühlte, wie die Blicke der Menschenmenge, Kopf an Köpf, auf ihm ruhten; ihm war, als ginge er auf dem letzten Gange und als sähe sie es ihm an. Nur an dem Schatten, der an seiner Seite erschien und sich langsam bewegte, erkannte er, daß sein Bruder neben ihm ging; er blickte auf diesen Schatten und hob die Augen nicht auf. Auf einmal stand er vor dem Altar, Annette in ihrem weißen Kleide neben ihm, das große, röthliche Gesicht des Pfarrers ihm gegenüber, dahinter die Kerzen auf den Silberleuchtern, das hohe Bild mit der Kreuztragung; in seinem Rücken hörte er die Zuschauer hüsteln, die Kleider rauschen, und wie wenn er sich aus einem Traum erwecken müßte, sagte er sich: Das Alles gilt dir! Das da ist deine Braut! In einer Viertelstunde wird dieser Mensch euch vermählen! Und hinter dir steht dein Bruder, den du unglücklich gemacht hast, und läßt sich das Herz zerreißen und sehnt sich hinweg – um dich nicht wiederzusehen! Ein grausamer Schmerz, ein unbestimmtes Bangen feuchtete ihm die Stirn; die feierliche Rede des Geistlichen begann, er verstand kein Wort, er suchte nur in athemloser Hast sich das ganze Unglück, das über sie Beide hereinbrach, auszudenken. Du hast sie ihm weggenommen, dachte er, und da steht er nun hinter dir! Hast du dein Gelübde gehalten, keinen Herzensbund ohne sein Ja und Amen zu schließen? Bist du nicht an Allem schuld, – du, du allein? – Eine plötzliche Angst überfiel ihn, er sah mit einem halben Blick zur Seite nach Annetten, die lautlos wie eine Bildsäule dastand, und fragte sich ganz verwirrt: Und bist du so gewiß, daß sie dich liebt? Ist sie dir freiwillig um den Hals gefallen, um dir zu sagen, daß sie ohne dich nicht leben kann? Hat sie ihr ganzes Herz vor dir ausgeschüttet? Mein Gott – woher weißt du, daß ihr euch heirathen müßt – daß sie – daß Karl – Die Angst schlug ihm plötzlich über dem Kopfe zusammen; ihm war einen Augenblick, als müßte er, da nun der Pfarrer seine Stimme hob und den Blick auf ihn richtete, ausrufen: Halt ein, halt ein! Die Frage kommt noch zu früh – hier stehen drei Menschen, die sich erst vor Gottes Angesicht entschließen müssen! Aber jetzt hörte er seinen Namen, und die Frage: willst du diese Jungfrau zum Weibe nehmen? – und mit einem Schmerz, in den kein Jubel sich mischen wollte, sagte er sich, daß Alles entschieden sei, und hörte ein deutliches, tönendes Ja seinen Lippen entquellen. Er hörte Annetten das gleiche Wort fast unvernehmlich hervorhauchen; er sah sie an, als er den Ring mit ihr wechselte, er kniete neben ihr nieder, um den priesterlichen Segen zu empfangen, – eine feierliche Bewußtlosigkeit senkte sich über ihn, er nahm es hin, als müßt’ es eben so sein. Die Füße trugen ihn endlich mechanisch wieder hinaus, er trat in die Sonne. Er kam in Annettens Haus zurück, legte seinen Mund auf ihre Lippen, umarmte ihre Eltern, nahm die Glückwünsche und Umarmungen der Anverwandten hin, ließ Alles mit sich geschehen. Er suchte endlich mit den Augen seinen Bruder, um auch ihn zu umfassen. Aber Karl war verschwunden. Bei dieser Entdeckung erst wachte der ganze Jammer in seiner Brust wieder auf; der Schmerz, den er dem Bruder angethan, trat ihm in voller Größe vor die Seele, und mit schwerster Anstrengung ging er auf die Hochzeitstafel zu, um hier, in den verworrensten Gefühlen, obenan neben seiner Neuvermählten zu sitzen.

(Fortsetzung folgt.)




Deutschlands Herrlichkeit in seinen Baudenkmälern.

Nr. 3. Das Münster zu Ulm.

Es war im wunderschönen Monat Mai, als mich der Schnellzug von Stuttgart nach Ulm trug. Nach dreistündiger Fahrt brauste die Wagenreihe unter den riesigen Schutzherren des letzteren, den Bastionen, hindurch, dann ein freier Blick: im Vordergründe eine freundlich gelegene Caserne, aus rothen Backsteinen ausgeführt, darüber hinweg Dächer, Thürme und Thürmchen, Alles aber hoch überragend, wie eine kolossale Steinblume – das Münster. Welch ein Bau! Aus der imposanten, gedrungenen Steinmasse glänzt hie und da ein schmales Luftlicht, welches sich durch die schlanken Schallfenster des Glockenhauses stiehlt und die imposante Silhouette unterbricht. Gleich einem Riesentorso steigt dieses unvollendete Prachtwerk mittelalterlicher Baukunst zum Himmel empor. Die Ausdehnung dieses größten Domes der protestantischen Christenheit wetteifert mit den kolossalen Dimensionen des Kölner Münsters, und bis zum völligen Ausbau dieser Kirche war das Münster in Ulm thatsächlich die größte Deutschlands.

Die Ulmer scheuten sich nicht vor dem kühnen Unternehmen, mit ihrem Münster ein „Futteral für den Straßburger Dom“ zu bauen, und ließen es an Beiträgen dazu nicht fehlen. Rührend ist die Opferfreudigkeit, mit der Hoch und Niedrig die Gaben zum Bau des Münsters herbeibrachten. Der ansehnliche Theil der aus jener Zeit noch heute erhaltenen Münsterrechnungen belehrt uns über die verschiedenen Arten der Beiträge. Beim Acte der Grundsteinlegung ging der Bürgermeister Kraft mit einhundert Goldgulden, die er auf den Stein legte, voran, Andere folgten ihm mit Geldbeiträgen, dann kamen Schenkungen an Kleidungsstücken,

[533]

Das Münster zu Ulm in seiner Vollendung.
Nach der Natur und mit Benutzung des alten Originalplans gezeichnet von Robert Aßmus.

[534] Möbeln, Karten mit Würfeln, Brettspiele („Schachzagel“), ja selbst „von den gefangenen cliten im elend“ (Criminalverbrechern) gingen vier Schilling, gelöst „um einen Kappenzipfel und einen Filzhut“, ein.

Ein frisch-patriotischer, frommer Sinn trug vor Allem dazu bei, diesen großartigen Bau zu ermöglichen. Im Gegensatze zu dem Straßburger und zu anderen Münstern sollte der Dom aus eigenen Mitteln der Ulmer aufgeführt werden. Der Reichthum der Ulmer war in jener Zeit sprichwörtlich geworden:

„Venediger Macht,
Augsburger Pracht,
Straßburger Geschütz,
Nürnberger Witz
Und Ulmer Geld.
Regiert die Welt.“

Allein die Blüthezeit der damals dicht bevölkerten freien Reichsstadt ging vorüber, die Beiträge blieben nach und nach ganz aus, und heute noch ragen die herrlichen Formen des Münsters, verunziert mit einem Nothdache, als ein unvollendeter Bau zum Himmel empor.

Jenes bunte, schillernde, lebendige Treiben der Reichsstadt, wie es Hauff in seinem unvergänglichen Werke, dem „Lichtenstein“, schildert, ist längst erstorben. Die Stadt mit ihren ernst blickenden, hochgiebeligen Patricierhäusern, hinter deren gewaltigen Mauern die leichtfertigen Bauten unserer modernen Miethscasernen sich verstecken können, das altertümliche Rathhaus, die großen und kleinen Kunstbrunnen, die riesigen Wachtthürme mit den breiten Thoren: Alles zeugt von dem ehemaligen Wohlstand der freien Reichsstadt. Aber es ist nur eine sichtbare Tradition; wie Licht vom Schatten unterscheidet sich jenes willensstarke, stolze Ulm vom heutigen.

Aus dem Straßennetze ragt in steter Wiederkehr das Münster empor, wodurch der Fremde sich schnell zurecht findet. Eine kleine schmale Straße zu unserer Linken, „Auf der Dolle“, versperrt uns noch den vollen Blick, dann befinden wir uns auf dem Domplatz, vor dem Münster.

Es ist schwer, den Eindruck zu beschreiben, den dieser großartige Dom hervorruft. Ein solcher Reichthum künstlerischer Phantasie, eine solche Zierlichkeit der Formen gegenüber der wuchtigen Masse, die kühn und gewaltig als ein Riesendenkmal vollendeter Kunst emporsteigt, muß auf Jedermann, und sei es auch der unempfindlichste Beschauer, nachhaltig und ergreifend wirken. Am Thurme mit seiner verschwenderischen Ornamentik scheint sich die Phantasie des Baukünstlers erschöpft zu haben. Auffallend dagegen ist eine gewisse Monotonie, welche in den Seitenfacaden, ja selbst im Chöre herrscht, auf dessen reiche Gliederung die Baumeister sonst so bedeutendes Gewicht legen.

Die Aufnahme des Münsters in mein Skizzenbuch beschäftigte mich bis zum Abend. Die Donaunebel senkten sich auf die Stadt herab, wie hinter einem grauen Schleier ragten die Häuser empor, während hoch oben vom Dome ein einsames Licht aus dem Wärterstübchen herabschimmerte, dessen Bewohner die Feuer- und Wettersignale zu telegraphiren hat.

Für den nächsten Tag hatte ich mir die Besichtigung des Inneren und die Besteigung des Münsters aufgespart.

Es war Sonntag. Die Glocken hielten noch ihren Morgenschlummer, als ich vor der „Bauhütte“ neben dem Dome schellte, um den dort wohnenden Werkmeister, Herrn Seebold, zu bitten, mich in das Münster und in dessen oberen Labyrinthen hinauf bis in das enge Wärterstübchen zu führen. Eigentlich ist dies Sache des Küsters. Ich erwartete deshalb auch kein gerade freundliches Gesicht; trotzdem war Herr Seebold die Gefälligkeit selbst und um so bereitwilliger, als er erfuhr, daß ich speciell im Auftrage der Gartenlaube nach Ulm gereist sei, um über das Münster zu berichten.

„Die Geschichte des Münsters ist alt,“ erzählte mir mein Begleiter. „Der Bau wurde im Jahre 1377 begonnen. Der Sage nach hat[WS 1] man beim Beginn des Baues einen förmlichen Wald von Ulmen in das Fundament gerammt, welcher auf dem sumpfigen Boden den mächtigen Mauerwänden des Münsters als Rost zu dienen hatte. Bis zum Jahre 1507 bauten sechszehn Baumeister an dem Dome. Der bekannteste unter ihnen ist Matthäus Böblinger[WS 2] von Eßlingen, der im Jahre 1494 durch das Herabstürzen des Schlußsteins aus einem Gewölbe des Münsters während des Gottesdienstes flüchten mußte, um dem Zorne der Ulmer zu entgehen.“

Der alte, auf Pergament gezeichnete Originalplan, den ich Tags zuvor durch die Freundlichkeit des Herrn Professors Beesenmeyer auf der Ulmer Stadtbibliothek sah, enthält am Thurme die Randbemerkung: „Da hat angefangen zu machen an dem durm zu ulm mathes Döblinger.“ Ungeachtet seiner gewaltigen Verhältnisse sollte das Gebäude sich von den Kathedralen unterscheiden und den Charakter einer Pfarrkirche behalten, man gab ihm daher nur einen, nicht zwei Thürme an der Facade, beabsichtigte dagegen die Anlegung zweier kleiner Thürme neben dem Chöre, im Osten der Seitenschiffe, welche die halbe Höhe des Hauptthurmes einnehmen sollten. Der Grundplan war im Wesentlichen derselbe, wie er damals in den Pfarrkirchen vorkam: drei Schiffe von fast gleicher Weite und unmittelbar daran, ohne Kreuzschiff, ein fünfseitig angelegter Chorraum von der Breite des Mittelschiffes.

Wir schritten zunächst durch das imposante Hauptportal, welches von den beiden beinahe gleich hohen Seitenportalen flankirt wird. Das Thürbogenfeld enthält eine Fülle von Steinsculpturen, die ihren archäologischen Werth durch das hohe Alter haben. Dieselben sollen aus dem ältesten Gotteshause Ulms, der ehemaligen Allerheiligenkirche, herrühren und geben in ihrer Einfachheit der Darstellung ein treffendes Bild jener alten, schlichten Zeit und ihrer Kunstbestrebungen. – Ein kühler Luftzug wehte uns aus den hohen Hallen entgegen, als wir das gewaltige, Innere betraten, dessen Gesammtbreite von einhundert fünfundfünfzig Fuß diejenige des Kölner Domes, abgesehen von dessen Querschiff, übertrifft, während die Höhe des Mittelschiffs dem Kölner Dome ähnlich und zwar auf einhundert dreiunddreißig Fuß bestimmt ist. Wir staunen über die großartigen Verhältnisse! Das Innere überdeckt einen Raum von fünfundachtzigtausend siebenhundert und siebenzig Quadratfuß, nach Abzug aller Pfeiler, Säulen etc., so daß, wenn man zwei Quadratfuß Raum für einen Menschen rechnet, die Kirche, gedrängt gefüllt, die enorme Summe von achtundzwanzigtausend siebenhundert fünfundneunzig Menschen faßt. In dem Säulenwalde, welcher im Hauptschiff Kreuzgewölbe, in den zwei getheilten Seitenschiffen – das Innere ist seit dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts fünfschiffig – Sterngewölbe trägt, fällt uns nicht allein an den Säulenschäften, sondern auch an der Ausstattung des ganzen Inneren eine bis an’s Dürftige grenzende Schmucklosigkeit auf, welche mit dem verschwenderischen Reichthume der Ornamentik des Thurmes im schärfsten Contraste steht. Wahrscheinlich lag den Meistern dieses Riesenbaues an strenger Solidität der Ausführung.

Ueber dem Haupteingange befindet sich im Inneren die vom Orgelbauer Walker in Ludwigsburg erbaute berühmte Orgel, deren Gehäuse nach der Zeichnung des Dombaumeisters Thrän angefertigt wurde. Auf der linken Seite, am zweiten Pfeiler des Hauptschiffes, erhebt sich die Kanzel, mit ihrem überaus zierlichen, von Jörg Syrlin im Jahre 1510 aus Lindenholz geschnitzten gothischen Deckel. Wie diese ein wahres Kleinod mittelalterlicher Holzschnitzkunst ist und unser volles Interesse in Anspruch nimmt, ebenso fällt uns das reizende Sacramentshäuschen als ein Meisterwerk der Steinsculptur auf, welches hinsichtlich des Kunstwerthes mit dem in der Lorenzkirche zu Nürnberg befindlichen Tabernakel dreist in die Schranken treten kann. Früher nahm man allgemein an, daß Adam Kraft, der Meister des Nürnberger Sacramentshäuschens, auch das Ulmer geschaffen habe, bis Professor Haßler in Ulm, ein unermüdlicher Forscher der mittelalterlichen Kunst in Schwaben, vor dreißig Jahren zufällig auf dem Trödelmarkte eine alte geschriebene Privatrechnung des Patricier Haus Neidhardt fand, aus der hervorgeht, daß ein „Maister von Wingarten“ (Weingarten bei Ravensburg) der Verfertiger des Sacramentshäuschens ist.

Jörg Syrlin, den wir bereits als Schöpfer der prächtigen Kanzel kennen, hat für das Münster außerdem den nicht minder kunstvollen Taufstein und den Weihwasserkessel geliefert; sein bedeutendstes Werk aber sind die Chorstühle, welche in der Holzschnitzkunst unerreicht dastehen. Ein durchlaufender, reichgeschnitzter Baldachin, je nach der Anordnung wieder mit vorspringenden Ecken unterbrochen, bildet gleichsam den Kanzeldeckel der darunter angebrachten Brustbilder. Ueber diesen Baldachinen erheben sich hohe durchbrochene Pyramiden. Der Reichthum der Ideen giebt Zeugniß von der lebendigen Phantasie des Erbauers, welche sich sowohl in der Conception des Ganzen, wie in der überraschenden Ausführung des Einzelnen ausspricht. Sein Portrait, einen geistvoll [535] aussehenden Kopf, sowie dasjenige seiner Frau, hat der Meister an einem der Chorstühle verewigt.

Eine kleine, links vom Hauptportale gelegene Thür führt zum Thurm. Wir hatten auf der engen Wendeltreppe lange zu steigen, dann traten wir durch ein ganz kleines Thürchen am sogenannten „Umgange“ heraus auf das freie Gerüst, um die Restaurationsarbeiten in Augenschein zu nehmen.

„Wir sind hier auf der hohen, luftigen Werkstätte der Steinmetzen angelangt, wo die einzelnen Werksteine zum Ganzen gefügt werden,“ sagte Seebold. Dann setzte er hinzu, während wir da oben auf einer Breite von drei Brettern außerhalb des Domes entlang gingen: „Nehmen Sie sich in Acht und sehen Sie stets auf’s Dach, nicht nach unten auf den Domplatz, wenn Sie nicht schwindelfrei sind!“ Mir war einen Augenblick in der sehr respectabeln Höhe neben der Dachtraufe allerdings nicht ganz behaglich zu Muthe, zumal auf dem freien Gerüste von einem Geländer keine Spur zu sehen war. Bald hatte ich jedoch den soliden, steinernen Bau des Umgangs unter den Füßen; ein steinernes Geländer, mit reizenden gothischen Rosetten (Pässen) geschmückt, schützte außerdem vor dem Herabstürzen, und so wuchs denn auch meine Neugierde, die Restaurationsarbeiten in unmittelbarer Nähe zu sehen. Der von der Sonne hell beleuchtete Neckarkeupersandstein, welcher bei der Restauration verwandt wird, glänzte wie weißer Marmor. Dicht unter uns reckte ein kolossaler, steingehauener Bär als Wasserspeier den Kopf mit den beiden Vordertatzen in die Luft. Sehr treu und charakteristisch gemeißelt sieht er aus, als ob er aus dem Atelier des besten Bildhauers hervorgegangen wäre. Er soll die nordwärts fliehende Urcultur, der weiter befindliche Adler die siegende Kirche etc. andeuten. Mächtige Strebebögen von siebenundsechszig Fuß Spannweite, die größten der Welt, jeder Stütze spottend, spannen sich als kühne Arcaden über uns. Mit einem Male hörte die Passage auf.

„Wir brechen hier in der nächsten Woche die Wände und Pfeiler durch, um den Bau des Umgangs weiter fortzusetzen,“ sagte mein Cicerone. „Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir jetzt unter dem Dache über dem Hauptschiffe der Kirche nach dem Chore.“

Eine schmale Luke führte uns in den halbdunkeln, großen Raum. In unendlich langer Perspective zog sich über uns das Sparrwerk mit den Balkenlagen des Dachstuhls. Hier besonders fällt einem die eminente Ausdehnung des Münsters auf. An halbfertigen Werksteinen, Fragmenten von Dachziegeln, Schutthaufen vorbei, gelangten wir im Dämmerlicht durch eine Thür hinaus auf das Chor, welches von zwei Capellen flankirt wird, die jedoch später zwei Thürmen Platz machen sollen, deren Höhe die gegenwärtige des Hauptthurmes erreichen wird. In dem verwitterten Gestein des Chores haben die Dohlen ihre Nester aufgeschlagen und unterhalten dort Tags ein sehr lebhaftes Zwiegespräch.

Ich fragte Seebold, wo ich den Ulmer Spatz, dieses alte historische Wahrzeichen der Stadt, sehen könne.

„Den will ich Ihnen zeigen, sobald wir uns im Glockenhause befinden. Kennen Sie die humoristische Sage?“

Da ich in Schwaben schon öfters den „Ulmer Spatz“ zwar hatte nennen hören, mir aber noch nie ausführlich darüber erzählt wurde, bat ich ihn, mir Näheres mitzutheilen. Lächelnd berichtete er mir nun ungefähr Folgendes:

„Die Werkleute (Zimmerleute) Ulms wollten im grauen Alterthume einen langen Balken zum Thor hineinfahren. Sie hatten ihn aber überzwerch (quer) auf den Wagen gelegt und konnten so begreiflicherweise zum Thore nicht hinein. Sie überlegten, was da wohl zu thun sei, kamen jedoch zu keinem rechten Entschluß. Da flog ein Spatz, der einen Strohhalm im Schnabel hatte, diesen aber auch überzwerch hielt, zu seinem im Thore befindlichen Neste. Er flatterte hin und her, brachte jedoch den Strohhalm ebenso wenig in’s Nest, wie die Werkleute ihren Balken in’s Thor. Endlich faßte er den Strohhalm der Länge nach und trug ihn auf diese Weise glücklich in’s Nest. Die Werkleute aber sahen dies und nahmen sich ein Exempel daran. – Vor zehn Jahren wurde in Ulm während der Stadtverordneten Versammlung die Frage aufgeworfen, ob man dem Ulmer Spatz wieder seinen Platz auf dem Dachfirst des Münsters geben, oder ob man ihn nicht lieber fortlassen solle. Hitzige Debatten fielen hüben und drüben. Die eine Partei wollte nicht, daß durch Erneuerung dieses Denkmals kommenden Generationen Gelegenheit zum Spott auf die Ulmer geboten würde, während die andere Partei die Sache freisinniger auffaßte. Endlich entschlossen sich die Väter der Stadt, einen neuen Spatz an Stelle des alten, schadhaft gewordenen auf den Dachfirst, nahe dem Thurme, zu setzen, der denn auch jetzt seine Flügel vergnügt über Ulm ausbreitet.“

Vom Glockenhause ans sah ich den steingehauenen Spatz, der eine Höhe von ungefähr drei Fuß hat, von unten aber trotzdem klein erscheint.

Als wir uns unter den großen und kleinen Glocken des Münsters befanden, machte mich Seebold auf das „Zehn-Uhr-Glöckle“ aufmerksam, welches allabendlich den im Wirthshaus befindlichen Ulmern das Zeichen zum Heimkehren geben soll. Ich glaube aber – und die werthen Ulmer wollen mir das zu gute halten – daß die ehemaligen Reichsstädter dieses Läuten eher als ein Zeichen des Beisammenbleibens im „Hasen“ oder „Rößle“ auffassen, wenigstens fand ich nach zehn Uhr noch sehr heitere Gesellschaft, war dessen froh und – blieb auch sitzen.

Wir stiegen im „Schneckenhause“ des Thurmes die enge Wendeltreppe weiter hinauf und gelangten auf die oberste Galerie, welche das Nothdach mit dem engen Wärterstübchen umgiebt. Man hat da oben eine unendlich weite Aussicht, so entzückend schön, daß man nur schwer sich zur Rückwanderung entschließt. Noch einen Blick sandte ich dem am fernen südlichen Horizonte blitzenden Silberstreifen, dem Bodensee, mit der Alpenkette, zu und stieg dann wieder aus der luftigen Höhe hinab zum Leben und Treiben der Menschen.

Dem echten Ulmer glänzen die Augen feuriger, wenn man auf das Herzenskind zu sprechen kommt: das Münster. „Nur der Thurm, der Thurm!“ hört man da oft ausrufen. Ja, freilich, wäre der vollendet und sähe mit seinem Muttergottesbilde auf der Spitze weit, weit in die Lande, selbst über die Kreuzblumen der Thürme des Kölner Domes hinweg, dann erst würde der Ulmer mit wahrem Stolze hinausblicken zu dem hehren Denkmal seiner Vaterstadt. Und dies mit Recht! Mag man dem Inneren, den Seitenfacaden, ein absichtliches vernachlässigen des Ornamentalen, mag man einzelnen Portalen das Ausarten der Gothik vorwerfen: kein Thurm, die Thürme des Kölner Domes eingerechnet, zeigt einen solch märchenhaften Reichthum der Phantasie, eine solch’ wunderbare Ornamentik, wie derjenige des Ulmer Münsters. Es ist der Thurm der Thürme.

Und unvollendet sollte dieses imposante Kunstwerk bleiben? Ein Riesentorso der Baukunst, ohne Kopf und ohne Krone? Den prachtvollen, nur bis zur Hälfte vollendeten Thurm deckt ein unschönes Nothdach. Der noch vorhandene alte Originalplan des Baukünstlers hat die Gesammthöhe auf fünfhundert Fuß fixirt; sie würde demnach fast die Höhe der St. Peterskirche in Rom erreichen und die Thürme des Kölner Münsters überragen.

Der Dombaumeister Thrän, welcher die Restauration des Münsters leitet, wurde vor vier Jahren aufgefordert, einen Kostenanschlag über die vollständige Restauration und den Aufbau der Thürme zu machen. Die Berechnung belief sich allerdings auf zwei Millionen Gulden. Das ist viel! Sollte aber dennoch die gesammte Christenheit die Summe nicht ausbringen können? Es handelt sich hier nicht sowohl um den Ausbau des größten protestantischen Gotteshauses, als auch um eines der bedeutendsten und schönsten Denkmäler deutscher Baukunst.

Glockengeläute und Kanonensalven sind jüngst über dem Denkmale des großen Reformators verhallt; die Flammenbäche seiner Lehre zündeten in mehr als einer Zone; sollte da, wir wiederholen es, das größte protestantische Gotteshaus unvollendet bleiben?

Wir glauben es nicht!

Wie vor einigen Jahren für den Kölner Dom, ist gegenwärtig für das Ulmer Münster eine Dombaulotterie auf Anregung des Dombaumeisters Thrän eröffnet. (Das Loos kostet zehn Silbergroschen oder fünfunddreißig Kreuzer süddeutsche Währung.) Nach Abzug der Kosten und Gewinne würden, wie ich erfahre, siebenzigtausend Gulden zur Restauration des Münsters übrig bleiben. Wären die Mittel vorhanden und könnte ununterbrochen fortgearbeitet werden, so würde die Restauration in elf Jahren vollendet sein.

Wünschen wir dies nicht blos, sondern möge jeder Einzelne, sei es durch Abnahme von Loosen, sei es durch Sammlungen etc., einen Baustein zur Vollendung des Ulmer Münsters beitragen!

Robert Aßmus.



[536]

Einer vom jungen „Deutschland“.

(Schluß.)


Unter diesen Schicksalen war das Jahr 1839 herangekommen. Nach verbüßter Haft zog jetzt Laube mit seiner jungen Frau auf Reisen. Paris fesselte ihn längere Zeit. Die Freundschaft mit Heinrich Heine wurde aus einem literarischen ein persönliches Verhältniß. Dann bereiste er Frankreich – die „französischen Lustschlösser“ waren eine Frucht jener Reise – und ging bis über’s Mittelmeer nach Algerien. Das achtzehnhundertvierzigste Jahr sah ihn wieder in der Heimath, er ließ sich bleibend in Leipzig nieder. Jenes Decennium der vierziger Jahre ist bedeutungsvoll geworden für die deutsche Bühne, für unsere dramatische Literatur. Während der zwanziger und dreißiger Jahre waren die eigentlichen Träger der Literatur dem deutschen Theater fremd geblieben. Man betrachtete das Theater als eine Unterhaltungsstätte des Publicums und sprach ihm keinerlei Bedeutung zu; die hohen Maßstäbe Lessing ’s und Schiller’s schienen verloren gegangen. Jetzt wurden in der Nation alle Forderungen früherer Zeit laut, die nicht erfüllt worden waren, auch der Ruf nach einer Nationalbühne tauchte neu auf. Und die Schriftsteller der neuen Zeit begannen sich mit ihrer Production dem Theater zuzuwenden. Gutzkow und Laube gingen voran in dieser Richtung, und bald war dem deutschen Theater ein Repertoirestamm sehr werthvoller neuer Stücke zugeführt. Von Laube erschienen in rascher Aufeinanderfolge Monaldeschi, Rococo, die Bernsteinhexe, Gottsched und Geliert, Struensee, die Karlsschüler, Prinz Friedrich.

Das Leipziger Stadttheater hatte in der Mitte jener vierziger Jahre einen neuen Director erhalten, den Doctor Schmidt. Diesem kunstbegeisterten Manne stand in dem bewährten Schauspieler Heinrich Marr ein ausgezeichneter Regisseur zur Seite. Unter der Leitung dieser beiden Männer gewann das Leipziger Theater bald eine große Geltung. Ein schönes Verhältniß erblühte zwischen dem Publicum der reichen Handelsstadt und seinem Theater. Die Theilnahme an den theatralischen Darstellungen gehörte in Leipzig zum Ton guter und gebildeter Gesellschaft. Heinrich Laube, der die Leistungen der Bühne öffentlich besprach, gewann dadurch bald nähere Beziehungen zum Theater. Die Bühnenkunst literarisch fördernd, ward er selbst gefördert in technischer Kenntniß. Er lernte den Organismus eines großen Theaterwesens genau kennen, denn Schmidt und Marr besprachen mit ihm alle wichtigeren Interessen. Er wohnte den Inscenesetzungen seiner Stücke auf der Probe bei, bald leitete er diese Inscenesetzungen selbstständig. Er ward im Verkehr mit einer strebsamen und begeisterten Kunstgenossenschaft und einem erfahrenen tüchtigen Regisseur selbst ein trefflicher Regisseur. Seine Stücke fanden zum größten Theile Erfolg, und namentlich die Karlsschüler wurden begeistert aufgenommen im ganzen Vaterlande.

Der Ruf von der Trefflichkeit der Leipziger Darstellungen verbreitete sich rasch überall hin. Bald von Dresden, bald von Berlin, von Braunschweig und anderen Orten ergingen Einladungen an Laube, die Inscenesetzung seiner Stücke selbst zu leiten. Indem der Dichter diesen Einladungen folgte, lernte er in wenigen Jahren die deutschen Bühnen gründlich kennen. Ueberall wurde er freudig begrüßt; man bekannte es laut in den Kreisen der Schauspieler selbst, daß mit Laube ein neuer frischer, echter Kunstgeist einzog in jene Darstellungen, deren mise-en-scène er geleitet hatte.

Er hatte den Schauspielern imponirt nicht nur durch die geistige Ueberlegenheit eines begabten Dichters und durchgebildeten Literaten, sondern auch durch die gründliche Kenntniß ihrer Kunst, ja selbst alles Handwerks in dieser Kunst. Solch’ gründliche Fachkenntniß wirkte Wunder. Wie bereit waren die Schauspieler zu höhnischem Achselzucken über die Dichter! „Der versteht ja nichts vom Theater!“ war ein häufiger Ausdruck ihres Zunftstolzes. Laube aber verstand etwas, ja er verstand sogar recht sehr viel davon. Dadurch gewann er überall eine volle Autorität über die Kunstgenossenschaften, und es wurde allen Einsichtigen sehr bald klar, daß Laube sich in der Stille zu einem ganzen Theaterleiter entwickelt hatte. Bald auch fand sich Gelegenheit für ihn, in diese Wirksamkeit einzutreten.

Die deutsche Revolution brach aus im Frühling des Jahres 1848. Das Theater wurde von ihr nirgends mehr berührt, als in Wien. Hier hatte bisher die Censur eine unübersteigliche Mauer aufgerichtet zwischen der neuen Literatur und der Bühne. Jetzt auf einmal fiel diese Mauer in Trümmer. Man durfte fortan auf den Wiener Theatern Alles geben. Und die Theater stürzten sich mit heißer Begier auf die bisher verboten gewesenen Früchte aus dein Garten der neuen Literatur.

Natürlich dachte man jetzt auch an Laube, man nahm die Inscenesetzung seiner Karlsschüler vor. Die geistvolle Künstlerin Louise Neumann, deren schwäbisches Naturell heimathlich anklingen mochte bei dieser dramatischen Schilderung der Jugendschicksale des großen schwäbischen Dichters und welche für diese Dichtung Laube’s deshalb eine besondere Vorliebe hegte, gab brieflich dem Dichter Nachricht von der am Burgtheater gefaßten Absicht, und bei dieser Benachrichtigung floß auch eine Einladung ein, nach Wien zu kommen und die Inscenesetzung am Burgtheater zu leiten. Laube folgte dem Winke und traf im April des Jahres 1848 in Wien ein zur Leitung der Proben. Ein überfülltes Haus harrte der ersten Darstellung der Karlsschüler entgegen, und auch die Hofloge war dichtbesetzt von kunstfreundlichen Gliedern des Kaiserhauses. Das Stück erlebte eine wohl selten dagewesene glänzende Aufnahme. Die donnerndsten Acclamationen begleiteten die begeisterten Reden Friedrich Schiller’s und der für sein Schicksal eintretenden Frauen, die junge Wiener Freiheit berauschte sich in jubelnder Beistimmung zu den schwungvollen Tendenzen des Werks, und zahllose Hervorrufe forderten den Autor an die Rampe der Bühne, um den Dank des entzückten Publicums zu empfangen.

Da ereignete sich ein kleiner Zwischenfall, der für die Wendung in Laube’s Lebensschicksal bedeutungsvoll wurde. Im Wiener Hofburgtheater herrschte das Gesetz, und es herrscht noch heute, nach welchem es den Schauspielern verboten ist, sich auf den Ruf des Publicums bei aufgezogenem Vorhang zu zeigen. Dies ist eine segenvolle Verfügung. Sie hält einen ganzen Wust von Unzukömmlichkeiten von der Bühne fern. Das Unwesen der Claque ist nie lebendig geworden im Wiener Hofburgtheater, die Schauspieler werden nicht eifersüchtig auf die größere Zahl von Hervorrufen, die dem Genossen geworden, kein persönliches Parteigezänk verdirbt den harmonischen Eindruck der Darstellungen, die Aufmerksamkeit gilt hier immer dem Kunstganzen und nicht den um Beifall buhlenden Helden der Bretterwelt. Der Darstellungsstil hat sich rein erhalten von provocatorischer Declamationsmusik, und die künstlerische Andacht wird nicht gestört durch jenes widersinnige Auf und Nieder des Vorhangs nach den Actschlüssen. Man sieht in dem Schauspieler, so lange das Schauspiel währt, nur den dargestellten Charakter und zerstört sich nicht diese künstlerische Illusion dadurch, daß man ihn zwingt, als Herr X. vor den Gründlingen des Parterre hochachtungsvolle Verbeugungen zu exerciren.

An all’ das dachte aber das aufgeregte Publicum jener Revolutionszeit nicht, welches vor Laube’s Karlsschülern im Burgtheater zu Wien saß. „Das ist Zopf, und jeder Zopf muß abgeschnitten werden.“ „Fichtner! Fichtner!“ rauschte es im Beifallsorcan durch das Haus. Karl Fichtner, der Darsteller Schiller’s, sollte durchaus an der Rampe erscheinen. Laube verlor in aller Aufregung nicht seine Ruhe. Er sann darauf, die gute Sitte zu erhalten. Dem Ruf nach dem Darsteller folgte der Dichter, und an die Rampe tretend nahm er ausdrücklich für den Schauspieler den Dank des Publicums entgegen. Feinfühlig, wie das Wiener Publicum es immer ist, verstand es die leise Mahnung und belohnte die Geistesgegenwart des Dichters mit lautem Beifall.

Dieser Beweis von kaltem Blut und ruhiger Fassung in stürmischer Lage soll einer Dame des Kaiserhauses, deren Einfluß damals für allgewaltig galt und deren Theilnahme für die Kunst sich trotz aller Schläge, die ihr Herz getroffen, bis heute erhalten hat, besonders Wohlgefallen haben. Man erzählt, daß sie in jenem Augenblicke, wo Laube dem leidenschaftlichen Verlangen eines erregten Publicums energisch opponirte, zu ihrer Umgebung gesagt habe: „Das wäre ein Director für’s Burgtheater.“

Wirklich unterhandelte auch der damalige Oberstkämmerer Graf Dietrichstein mit Laube wegen Uebernahme dieses Amtes. Man wurde einig, und nur die Frage, auf welche Casse der Gehalt des neuen Directors übernommen werden sollte, blieb in [537] Schwebe und verzögerte den definitiven Abschluß. Graf Dietrichstein wollte die Theatercasse nicht belasten, und ebenso verweigerte das Hofzahlamt die Uebernahme des Postens. Während man noch darüber stritt, trat die Mairevolution ein, und in den politischen Wirren ging die Theaterfrage unter. Laube verließ Wien, ohne Director geworden zu sein, aber er hinterließ den Eindruck, daß er der richtige Director sei und daß man werde auf ihn in ruhigerer Zeit zurückkommen müssen.

Laube war dann als Abgeordneter eines deutsch-böhmischen Wahlbezirks Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung. Er pflegte seit einem Decennium alljährlich nach Karlsbad zu gehen, so war er den politischen Kreisen jener Gegend bekannt geworden. Der Kreis Elbogen gab ihm sein Mandat. In Frankfurt war er Mitglied des Augsburger Hofes, eines Clubs des linken Centrums. Als die österreichischen Abgeordneten die Paulskirche verließen, hielt er es für seine Pflicht, sein Mandat niederzulegen. Der Herbst 1849 entschied seine Anstellung in Wien. Hof, Publicum und Schauspieler empfanden gleichmäßig, daß es mit dem alten pedantischen Director v. Holbein nicht mehr gehe, daß eine neue, frische Kraft von geistiger Bedeutung eintreten müsse, sollte das Burgtheater nicht in handwerksmäßiger Routine zu Grunde gehen. Das Repertoire bedurfte systematische Zufuhr dauernder, neuer Erwerbungen, das Personal der Auffrischung durch jüngere Kräfte. Da kam man auf Laube zurück. Holbein kannte die Gefahr, die seiner Stellung in diesem Prätendenten drohte. Er wollte sie abwenden und verfiel auf ein kühnes Mittel. Er setzte Alles auf eine Karte. Man war daran, Laube’s Struensee einzustudiren. Das Stück ist bekanntlich die Darstellung einer dänischen Revolution, in welcher der deutsche Bürger Struensee der Coalition deutschen und dänischen Adels als Opfer erliegt. „Gebe ich dies Stück ungestrichen mit allen freiheitlichen Tiraden und demokratischen Tendenzen, dann ist der Autor als Director in Wien unmöglich.“ So dachte Holbein. Laube’s Freunde unterrichteten ihn von dieser Lage. Auf ihre Einladung kam er neuerdings nach Wien. Die ihm wohlwollenden Schauspieler riethen ihm, alles Bedenkliche zu streichen, um Anstoß zu vermeiden. „Nein,“ sagte Laube, „erregt das Stück, wie ich es geschrieben, Anstoß, dann bin ich als Director unmöglich, dann nehme ich die Direction so wie so nicht an. Wir spielen den Struensee ungestrichen.“

Holbein jubelte innerlich über die Verblendung und saß, dieses Jubels voll, den Abend über neben dem Dichter, den er in seine Loge geladen. Jede Beifallssalve, die bei Struensee’s Reden erscholl, traf in seinen Augen den Directionsaspiranten in’s Herz. Er hatte sich getäuscht. Gerade in den Hofkreisen hatte man das Stück am unbefangensten gewürdigt. Man hatte ein rein objectives, künstlerisches Interesse daran genommen und zeigte sich ebenso erbaut von der würdigen Haltung des Königthums im Stücke, wie von den volksthümlichen Tendenzen des Bürger-Ministers. Dabei hatte man die meisterhafte mise-en-scène vollkommen anerkannt und rühmte die Trefflichkeit der Darstellung auf das Wärmste. Statt ein Nagel zu dem Sarge seiner Hoffnungen zu werden, wurde Struensee eine Stufe, auf der Laube zum Directionsstuhle emporstieg. Die Unterhandlungen wurden energisch betrieben und gelangten bald zum Abschluß. Mit Beginn des Jahres 1850 trat er sein neues Amt an.

Im Feuilleton der „Neuen freien Presse“ veröffentlicht Laube eine Geschichte seiner Direction, gewissermaßen eine moralische Rechnungsablegung über die Verwaltung des ihm anvertraut gewesenen Kunstwesens. Wir verweisen auf diese Artikel, die bald im Buchhandel gesammelt erscheinen werden. Sie sind offene und ehrliche Confessionen, eine lehrreiche Schule für Schauspieler, Dichter und Theaterleiter.

Laube hat den alten Glanz des Burgtheaters erneut und erhöht. Es war in den abgelaufenen zwei Jahrzehnten eine Musterbühne. Die Entwickelung der Schauspielkunst und der dramatischen Literatur wurden gleichmäßig in’s Auge gefaßt, und bedeutende Darsteller wie Dichter sind Laube’s Förderung zu warmem Dank verpflichtet. Er pflegte das Burgtheater als eine Pflanzstätte edelster geistiger Genüsse, als ein in der Zeit wurzelndes und mit ihr fortschreitendes lebendiges Organ des geistigen Nationallebens. Wie schwer war das in Wien in der Zeit der Reaction und der Concordats-Wirthschaft! Das hohe Verdienst, welches sich Laube erworben durch energische Vertretung der künstlerischen Interessen, der berechtigten liberalen Strömung in der Literatur, wird ihm die Kunst- und Literaturgeschichte zum höchsten Ruhme anrechnen müssen.

Literarisch schuf er während seines Wiener Aufenthalts die Trauerspiele „Graf Essex“ und „Montrose“ und das Schauspiel „Der Statthalter von Bengalen“, welches eine der Ursachen seines Sturzes war. Ein neues Schauspiel „Böse Zungen“ hat seinen Rundgang über die deutschen Bühnen begonnen.

Auf dem Gebiete des Romans, welches er schon in Leipzig mit Erfolg angebaut hatte – „Die Gräfin Chateaubriand“ gewann den Beifall des ganzen Lesepublicums – entstand in Wien sein großer historischer Roman „Der deutsche Krieg“, ein Hauptwerk dieser literarischen Gattung in Deutschland. Es steht durch die künstlerische Gestaltung ebenso hoch wie durch die echtdeutsche kernfreie Gesinnung, aus welcher es herausgeboren ist.

Laube’s physische und geistige Kraft ist noch frisch und verspricht noch vielfache Bethätigung auf dem Felde der Production. Der Kampf hat seine Nerven nur gestählt. Mögen wir seiner herbfrischen und gesunden Individualität recht bald in der Literatur wie in der Bühnenleitung wieder begegnen!




Der Teufel.
(Fortsetzung.)


Herr Sebastian Brand trat zu dem Geheimerath in das Zimmer, das kleine Männchen mit dem großen Buckel, den listigen, stechenden und blitzenden Augen. War jener schon überrascht durch die Erscheinung, so sollte er es noch mehr durch die Worte des kleinen Mannes werden.

„Herr Geheimerath, ich bin Advocat hier,“ begann der Eintretende.

Der Geheimerath verbeugte sich schweigend.

„Ich bin ein Bekannter Ihres Herrn Schwiegersohnes, schon von der Universität her,“ fuhr der Buckelige fort.

Der Geheimerath konnte auch darauf nur schweigen.

„Ich komme in einer Angelegenheit, die ihn betrifft,“ sprach der Advocat weiter.

„Darf ich fragen, was es ist?“ sagte der Geheimerath, der ungeduldig zu werden schien.

„Der Tod Ihrer Frau Tochter,“ antwortete Herr Sebastian Brand.

Der Geheimerath mußte unwillkürlich den kleinen, buckeligen Mann sich genauer ansehen. Er glaubte, in den grauen, stechenden Augen Bosheit zu lesen und doch wieder den Ausdruck der Wahrheit und Ehrlichkeit zu finden.

„Theilen Sie mir mit, was Sie mir zu sagen haben,“ bat er.

Der Kleine sah sich darauf auch den Geheimerath an. „Herr Geheimerath,“ sagte er dann, „der plötzliche und schreckliche Tod Ihrer Tochter hat Sie hart getroffen; was ich Ihnen mitzutheilen habe, wird Sie noch schwerer treffen, könnte Sie niederwerfen. Erlauben Sie, daß wir uns setzen; im Sitzen kann der Mensch mehr aushalten, als im Stehen.“

Der Geheimerath hatte seinen Besuch bisher zum Sitzen noch nicht eingeladen, er schien nicht recht gewußt zu haben, was er an dem sich allerdings etwas sonderbar einführenden Manne mit dem seltsamen Aussehen habe. Jetzt bot er dem Advocaten einen Stuhl an und setzte sich selbst.

„Herr Geheimerath,“ fuhr Brand fort, „die Ehe Ihrer Tochter war keine glückliche, Sie wissen es, Sie wissen auch den Grund. Ihr Herz gehörte einem Anderen, einem braven, einem muthigen, hochherzigen, edlen Manne; sie mußte ihre Hand einem elenden, heuchlerischen Schurken schenken, der –“

„Mein Herr,“ rief der Präsident, „Sie vergessen, wo und mit wem Sie sprechen.“

Der Buckelige blieb ruhig.

[538] „Im Gegentheil, Herr Geheimerath ich bin mir dessen vollkommen bewußt. Dieser Schurke, von dem ich sprach und spreche, hatte die Hand des treuen Herzens nur dadurch gewinnen können, daß er dieses Herz auf das Niederträchtigste betrog. Sie wissen es, Herr Geheimerath, wollen Sie es bestreiten?“

„Wenn ich es wüßte,“ erwiderte der Geheimerath, „warum soll ich es noch aus Ihrem Munde hören?“

„Sie werden es erfahren, wenn Sie mir ferneres Gehör schenken,“ sagte der Kleine und fuhr ohne Weiteres fort: „Die Unglückliche erfuhr, wie und von wem sie betrogen war. Ihr Herz war zerrissen, aber dieses Herz war edel und ihr Charakter war fest, eisern. Nie hat sie ihrem Manne nur ahnen lassen, daß sie seine Schurkerei kannte. Sie litt still, litt erhaben, vierzehn volle, lange Jahre. Da wurde ihr Mann vor wenigen Wochen hierher versetzt. Er fand hier einen hohen Posten, eine glänzende Stellung, sie eine vertraute Jugendfreundin wieder, die Majorin von Hake, und den Geliebten ihrer Jugend –“

„Den Lieutenant Hille?“ rief der Geheimerath.

„Ihn, Herr Geheimerath, und es ist Ihnen nicht entgangen, daß heute auf dem Kirchhofe zwei offene Gräber auf ihre Beute warteten und sie aufnahmen. Die zweite Leiche war die des Lieutenants Hille.“

Der Geheimerath mußte sich an die Lehne seines Stuhles zurücklegen.

„Ah, mein verehrter Herr Geheimerath,“ sagte der Buckelige, „es war doch besser, daß wir uns setzten.“

„Der Lieutenant Hille,“ erzählte der Buckelige ruhig weiter, „fand Ihre Frau Tochter indeß erst am vorigen Montage wieder. Ich bitte Sie, Herr Geheimerath, genau auf den Tag zu achten. Am vorigen Montage sah sie ihn zum ersten Male wieder, erfuhr sie überhaupt zuerst, daß er hier sei. Am Tage darauf, am Dienstag, fand die Arme ihren Tod. Lieutenant Hille war mein alter Freund; er war junger Officier, ich junger Referendarius, als wir uns kennen lernten. Er kam zu mir, als er nach jener Katastrophe seinen Abschied nahm, und wir trennten uns nicht wieder. Ich besitze hier, nicht weit von der Stadt, ein kleines Landhaus, das ich ihm einräumte. Er war menschenscheu geworden, er ging ungern in die Stadt. Dort hinten in der Sebastiansschlucht –“

Der Geheimerath fuhr bei dem Namen zusammen.

„Fällt das Wort Ihnen auf?“ fragte der Buckelige.

„Ich bitte, erzählen Sie weiter.“

„In der stillen, einsamen Schlucht,“ setzte der Advocat seine Mittheilungen fort, „lebte er ruhig, zufrieden. Er sah nur mich, und am Tage, am Abende, in der Stunde seines Todes die edle Geliebte, die –“

„Franziska?“ rief entsetzt der Geheimerath.

„Sie! Sein Herz hatte ihr immer seine Liebe bewahrt, auch als er noch nicht wußte, wie sie betrogen war. Daß man sie betrogen habe, hatte er geahnt. Er erhielt die Gewißheit von mir; ich hatte sie durch die Frau von Hake erfahren, die ich kenne, seitdem sie hier ist. In den Zeitungen las er dann, daß Herr von Römer hierher versetzt sei. Er sprach nichts darüber, denn er war schon krank. Seine Wunden – unter ihnen ist ein Schuß durch die Brust –, die frühen Kriegsstrapazen des fast noch knabenhaften Körpers, die späteren Seelenleiden des Mannes zehrten an seinen Körperkräften; ein schleichendes Fieber warf ihn auf das Krankenlager. Am Montag fühlte er das Herannahen seines Todes. Bis zum Abend könne er noch leben, hatte mir der Arzt gesagt. Da kam auf einmal ein wilder Gedanke über mich. Mein armer Freund mußte in den besten Jahren des Mannes ein Opfer des Todes werden, gemordet durch einen niederträchtigen Betrug. Und der Betrüger, der Mörder blieb straflos! Ich kannte das schlechte, feige Innere dieses Elenden, welcher zu jenen Menschen gehört, die zu eigentlichen, wirklichen Mördern prädestinirt sind; er durfte seinem Schicksale nicht entgehen.

‚Ich sterbe heute, ich fühle es,‘ hatte der Kranke zu mir gesagt.

‚Wir kennen,‘ erwiderte ich ihm, ,nicht den Willen des Himmels, nicht die geheimen Gesetze der Natur. Sagt Dir aber eine Stimme in Deinem Innern, daß dieser Tag Dein letzter sein werde, so bitte ich Dich, an ihm noch eine heilige Pflicht zu erfüllen. Laß Franziska von Deinen Lippen vernehmen, daß Du ihr verzeihest, daß Du ihr immer verziehen, ihr keinen Augenblick gegrollt hast.‘

Der Gedanke überraschte ihn, ergriff ihn dann.

,Sie weiß das, sie muß das wissen,‘ sagte er im ersten Augenblicke. Dann wurde er unruhig. ‚Freilich, sie hat mich nie wiedergesehen, vielleicht nicht einmal wieder etwas von mir erfahren. Aber würde sie zu mir kommen wollen? Hierher?‘

,Dafür werde ich sorgen,‘ erwiderte ich ihm.

,In welcher Weise?‘

,Laß mich machen.‘

Ich sah die helle Freude in seinem blassen, abgemagerten Gesicht glänzen und schrieb drei Zeilen an Frau von Hake. Gegen Abend kamen die beiden Damen tief verschleiert in der Sebastiansschlucht an. Ich war bei dem Kranken, der auf dem Sopha lag, sah durch das Fenster sie kommen und sagte es ihm.

,Sie wird mir die Augen zudrücken,‘ rief er. ,Welche Seligkeit des Himmels wird mir noch auf Erden!‘

Ich verließ ihn, um Franziska zu ihm eintreten zu lassen. Ich führte sie nicht zu ihm hinein. Die Beiden mußten ganz allein sein; es war ja eine heilige Stunde für sie Beide, die heiligste ihres Lebens. Da durfte kein Mensch in der Welt sie stören. Die Frau von Hake bat ich, in einem anderen Zimmer zu warten, und meinem alten Diener trug ich auf, die beiden Damen, wenn sie zurückkehren wollten, zur Stadt zu begleiten. Dann ging ich, Ihren Herrn Schwiegersohn herbeizuholen.“

Der Geheimerath unterbrach den Advocaten; er hatte ihm zuletzt nur mit einem Unwillen zuhören können, dem er endlich Worte geben mußte.

„Mein Herr, wie konnten Sie in solcher Weise die Ehre meiner Tochter compromittiren?“

„Die Ehre Ihrer Frau Tochter,“ erwiderte der Buckelige ruhig, „war nicht im Mindesten compromittirt, konnte gar nicht compromittirt werden. Nur drei Menschen wußten von der Sache, die Frau von Hake, die treueste Freundin Ihrer Tochter, mein alter Diener, der verschwiegener ist, als das Grab sein kann, und ich, dessen Lippen sich nur Ihnen und keinem Dritten gegenüber öffnen werden, wenn Sie, mein Herr Geheimerath, nicht selbst etwas Anderes von mir verlangen sollten.“

„Aber, mein Herr,“ rief der Geheimerath, „sind Sie nicht der Mörder meiner armen Tochter geworden? Mußten Sie sich nicht vorher sagen, daß der Schritt, zu dem Sie die Unglückliche verleiteten, von den unheilvollsten Folgen für sie sein müsse?“

Der buckelige Advocat blieb unerschütterlich ruhig.

„Mein Herr Geheimerath,“ antwortete er, „Ihr Herr Schwiegersohn durfte seinem Schicksale nicht entgehen, so hatte ich schon vorhin die Ehre, Ihnen zu sagen.“

„Mensch,“ fuhr der Greis auf, „Sie opferten mit vollem Bewußtsein, mit Absicht mein Kind? Um einen solchen Zweck zu erreichen? Vielleicht, um eine alte Rache zu befriedigen?“

„Alle Wetter,“ sagte der Advocat, „Sie kommen da nahe an eine Wahrheit heran. Aber verschieben Sie Ihr Urtheil, bis Sie mich zu Ende gehört haben.“

Der Geheimerath schwieg. Der Buckelige erzählte weiter:

„Ich verließ das Haus und ging auf die benachbarte Stadtpromenade. Ihr Schwiegersohn besuchte sie täglich zu einer bestimmten Stunde, die jetzt eben gekommen war. Ich traf ihn an der Stelle, an der ich ihn erwartet hatte, und führte ihn in die Sebastiansschlucht, zu meinem Landhause. Es war dunkel, als wir es erreichten. Das Zimmer, in dem der Kranke lag, war zu ebener Erde; es brannte ein Licht darin. Ich führte ihn an das Fenster. Auf dem Wege hatte ich ihm seine Geschichte erzählt, seine volle Niederträchtigkeit ihm vorgehalten. Ich hatte dazu das Recht und die Gewalt über ihn. Sie hatten soeben nicht Unrecht, ich hatte noch eine alte Angelegenheit mit ihm abzumachen. So hatte ich ihn bis an das Fenster geführt und forderte ihn nun auf, in das Zimmer zu blicken. Der Schein des Lichtes zeigte ihm wohl Alles, was sich darin befand und was sich darin begab. Mein armer Freund war nicht mehr unter den Lebenden; er mußte wenige Augenblicke vorher gestorben sein.

Franziska kniete vor ihm. Sie drückte ihm die Augen zu und hielt dann seine Hände, bis sie in den ihrigen erkalteten. Nachdem sie einen Kuß auf die todten Lippen gedrückt, erhob sie sich und verließ mit Frau von Hake und meinem alten Diener das Gemach, das Haus, die Schlucht. Als sie fort waren, ging ich in das Haus, bei dem todten Freunde Wache zu halten; Herrn von Römer ließ ich mit seinen Gedanken und Plänen [539] des Mordes zurück. Ich kümmerte mich nicht ferner um ihn, denn ich hatte das Meinige gethan, und er mußte das Weitere thun, um sein Schicksal zu vollenden.

Die arme Franziska war durch das erschütternde Ereigniß krankhaft aufgeregt. Sie war ja nicht mehr gesund gewesen seit jenem anderen Ereignisse in dem Garten des Gasthofs zum Bären, da sie, halb schon betrogen, ganz sich selbst betrog. Ihr Nervensystem war seitdem unheilbar zerrüttet; die Scene in der Sebastiansschlucht führte nur früher eine Krisis herbei, die unausbleiblich war, und verkürzte somit die Leiden der Unglücklichen.“

„Sie wollen,“ bemerkte der Geheimerath, „auf solche Weise Ihr Gewissen beschwichtigen?“

„Hm,“ versetzte der buckelige Advocat, „wenn ich ein Gewissen hätte, es bedürfte solcher Beruhigungsmittel nicht. Ich hatte mich indeß unrichtig ausgedrückt. Nicht so sehr das Ereigniß in der Schlucht selbst hatte die Krisis herbeigeführt, als vielmehr deren unmittelbare Folge. Herr von Römer, in der Wuth seiner Eifersucht, seines tödtlich gekränkten Hochmuths, seines elenden, schwachen Charakters, hatte seine Frau, als sie nach Hause zurückkehrte, brutal empfangen, gemein behandelt; in welcher Art, kann ich Ihnen nicht sagen, sie selbst hat sich nicht überwinden können, es Frau von Hake mitzutheilen. Aber die arme Frau muß eine furchtbare Nacht durchlebt haben, die ihr den Todesstoß gab, geben mußte!“

„Hatten Sie nicht auch die ihr bereitet?“ fragte der Geheimerath.

„Lassen Sie mich fortfahren, Herr Geheimerath. Am anderen Morgen ging sie zu ihrer Freundin. Frau von Hake entsetzte sich über ihren Anblick. Leichenblaß, ermüdet zum Umsinken, mit fliegenden Haaren, mit keuchendem Athem, mit fast irrem Geiste, hatte sie nur einen Gedanken, nur eine Bitte: die Freundin solle am Abend wieder mit ihr in die Sebastiansschlucht gehen; sie wolle dort auf den Sarg des Todten einen Lorbeerkranz legen, sie selbst, sie müsse es; sie müsse noch einmal Abschied nehmen von dem Manne ihres Herzens, ihrer Liebe. Die Freundin suchte es ihr auszureden. Die Unglückliche hatte ihr zugleich erzählt, daß ihr Mann bereits Verdacht gehabt habe, ihr schon am gestrigen Abende nachgegangen und Zeuge ihres letzten Beisammenseins mit dem Todten geworden, daß die fürchterliche Nacht darauf gefolgt sei. Die Frau von Hake stellte ihr vor, wie ihr Mann auch heute Abend, wenn er sie vermisse, ihr von Neuem folgen werde, wie dann nothwendig ein Unglück entstehen müsse, zu welchem sie in keiner Weise in irgend eine Beziehung treten könne. Sie redete vergebens.

,Ich habe lange genug meinen Mann gefürchtet,‘ entgegnete ihr Frau von Römer, ,jetzt habe ich nur noch Verachtung für ihn.‘

Frau von Hake erinnerte sie an das Urtheil der Welt, an ihre Kinder.

Krank an Körper, krank an Geist, war die Arme für keine Vorstellungen, für keine Bitten empfänglich.

,Ich muß hin. Begleitest Du mich nicht, so gehe ich allein.‘

Frau von Hake blieb fest; sie war es der Freundin wie ihrer eigenen Ehre schuldig. So trennten sie sich. Franziska hatte von der Stunde gesprochen, in der sie gehen werde. Als die Stunde kam, wurde es der Freundin doch angst. Sie kannte den festen Willen Franziska’s, der jetzt zudem krankhaft zähe war, und es schien ihr unrecht, die Unglückliche auf ihrem schweren Gange allein, ohne Schutz gegen einen etwaigen Unfall oder gar Ueberfall zu lassen. Berathen konnte sie sich mit Niemanden, da ihr Mann verreist war. Sie schwankte lange; zuletzt entschloß sie sich zu gehen. Freilich zu spät, denn Franziska war früher gegangen, als sie gesagt hatte.

Als Frau von Hake die Mitte der Schlucht erreicht hatte, hörte sie durch die Stille des Abends leises Sprechen einer gewaltsam unterdrückten Stimme. Es war vor ihr, oben an einer der Wände, welche die Schlucht einschließen. Sie beschleunigte ihre Schritte. Auf einer vorspringenden Felsenplatte sah sie zwei menschliche Gestalten, einen Mann und eine Frau, wie sie meinte; sie konnte sie in der Dunkelheit nicht näher unterscheiden. Eine Ahnung, ein Schreck durchfuhr sie. In dem nächsten Augenblicke vernimmt sie die unterdrückte Stimme des Herrn von Römer.

‚Elende!‘ ruft er.

In dem nämlichen Momente hört sie einen Angstschrei der Frau von Römer und zugleich sieht sie die Unglückliche oben von der Platte des zackigen Felsen niederstürzen, von Zacke zu Zacke. Der Frau von Hake vergehen die Sinne. Als sie wieder zu sich kommt, vernimmt sie unten an dem Felsen eine Bewegung; sie überzeugt sich, daß Herr von Römer dort ist. Sprechen hört sie nicht. Der Präsident muß bei der Leiche seiner Frau sein. Sie entflieht mit unhörbarem Schritt.

Ich bin mit meiner Erzählung zu Ende, Herr Geheimrath, und Sie haben die Wahl: Zufall, Selbstmord, Mord? Sie haben die Wahl! Doch bevor Sie diese treffen, noch Eins. Herr von Römer war seiner Frau nachgegangen. Auf dem Wege war ihm ein glaubhafter Mann begegnet, der Regierungsrath Amberg. Dem Mann war aufgefallen, daß der Präsident ihm anfangs hatte aus dem Wege gehen wollen, dann aber, als er sich erkannt gesehen, auf ihn zugetreten war und ihn gefragt hatte, ob er nicht seine Frau gesehen. Herr von Amberg hatte ihm gesagt, die Frau Präsidentin sei nach der Sebastiansschlucht zu gegangen. Jetzt, mein Herr Geheimrath, entscheiden Sie.“

Der alte Geheimrath versenkte sich in tiefes, schweres Nachdenken.

„Was es auch sei,“ sagte er dann, „Sie, mein Herr, tragen die schwerste Mitschuld, Sie sind der erste Schuldige. Sie wollten Herrn von Römer zum Mörder machen.“

„So denunciren Sie mich,“ rief der Buckelige. „Ja, ich wollte ihn zum Mörder machen. Es war sein Schicksal, er hatte es verdient; es mußte sich erfüllen.“

„Sie sind ein fürchterlicher Mensch!“

„Bah! Ich war nur ein Stück Repräsentation der göttlichen Gerechtigkeit hier auf Erden.“

„Durch einen Mord an meiner unschuldigen Tochter?“

„Zum –! Herr Geheimrath, macht es die göttliche Gerechtigkeit anders, besser? Werden denn nur Verbrecher gemordet? Und glauben Sie nicht an eine göttliche Vorsehung, ohne deren Willen kein Haar von unserem Haupte fallen kann? – Aber sprechen wir ernsthaft. Entschieden haben Sie sich. An einem Morde können Sie nicht mehr zweifeln, zweifeln Sie nicht mehr. Wozu haben Sie sich entschlossen?“

Der Geheimrath hatte keine Antwort.

(Fortsetzung folgt.)



Die Arbeiter der ersten deutschen Nordpolexpedition.
Von Otto Ule.

Vor einigen Wochen ging dem deutschen Volke ein Gruß vom hohen Norden mitten aus dem Eise des Grönländischen Meeres zu. Er kam von den heldenmüthigen Führern der ersten deutschen Nordpolexpedition, die im Kampfe mit den mächtigen Eismassen, durch welche sie sich Bahn zur Ostküste Grönlands zu brechen suchen, unter der hohen Breite von dreiundsiebenzig Grad durch einen englischen Walfischfänger Gelegenheit erhielten, eine Kunde an ihre Landsleute gelangen zu lassen. Es ist ein kleines, gebrechliches Fahrzeug, das diese Männer trägt, weit eher geeignet, an die Fahrzeuge zu erinnern, welche die Entdecker des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts trugen, als an die stahlgegürteten Riesenschiffe der heutigen Marinen. Und es ist eine große, eine gewaltige Aufgabe, welche dieses Fahrzeug lösen soll, wenn auch nicht geradezu den Weg zum Pole zu finden, so doch in jenes innerste Heiligthum des arktischen Nordens einzudringen, das bisher nur der ahnungsvollen Phantasie freies Spiel gewährte, in jenes geheimnißvolle Meeresbecken, welches noch immer krystallenen Mauern die wichtigsten naturwissenschaftlichen Räthsel umschließt, den astronomischen und den magnetischen Pol, die Pole der Winde und der Kälte, die Grenzen des menschlichen, thierischen und pflanzlichen Lebens.

Als dieses kleine Schiff am 24. Mai bei Bergen die Anker lichtete, da folgte wohl mancher sorgenvolle Blick seinem Kiele, und noch Mancher sieht heute in banger Spannung dem Ausgange dieses kühnen Unternehmens entgegen, dessen kleine Mittel so gar nicht im Verhältniß zur Größe seiner Aufgabe zu stehen scheinen. Die Wenigsten konnten

[540] der hochherzigen That ihre Theilnahme versagen, aber vereinzelt regte sich auch der Spott. Man zuckte die Achseln über eine Abenteuerlichkeit, die wohl den Zeiten eines Columbus anstand, die man auch heute allenfalls den Amerikanern verzeihen könnte, aber nicht vernünftigen, besonnenen Deutschen. Man spottete über das Ziel, das man hinreichend lächerlich zu machen dachte, wenn man es als den Pol, einen mathematischen Punkt bezeichnete. Man lachte über die Kärglichkeit der Mittel und vergaß, daß es nur die Schuld der deutschen Nation ist, wenn Größeres nicht zu Stande kam. Wir wollen diesen Spöttern verzeihen, die gewiß nichts gegen ein solches Unternehmen hätten, wenn noch eine Aussicht vorhanden wäre, über den Pol hin einen Seeweg nach Ostindien zu finden oder Gold und Handelswaaren zu erbeuten, die aber den Werth wissenschaftlicher Eroberungen nicht zu schätzen wissen. Deutschland wird einst stolz sein auf diese erste nationale That zur See, mit der es seinen lange vergessenen Beruf als seefahrende Nation wieder aufnimmt und in seiner neugewonnenen Größe in eine Jahrhunderte lange ruhmvolle Geschichte eintritt, welche England vor Allem groß gemacht hat.

Ein Unternehmen wie dieses sieht sich recht hübsch und wohl gar romantisch an, wenn es einmal in’s Werk gesetzt ist, wenn man das Schiff in See, den reisenden Forscher in seiner Wildniß weiß. Man sieht ihm dann die Mühe nicht an, die es kostete, die Schwierigkeiten, welche zu überwinden waren, um es möglich zu machen. Aber die Vorgeschichte ist oft nicht minder interessant, als das Unternehmen selbst, und es gehört häufig ein größerer Muth und eine heldenmüthigere Ausdauer dazu, die geistigen Kämpfe zu bestehen, welche sich den Anfängen des Unternehmens entgegenstellen, als nachher in der Ausführung die physischen Kämpfe mit den wilden Schrecknissen der Natur erfordern. Auch die deutsche Nordpolexpedition hat eine solche Vorgeschichte, und der Ruhm des Mannes, der sie in’s Werk setzte, ist nicht minder groß, als der den muthigen Führern dieser Expedition winkt.

Noch ist wohl Jedem die fieberhafte Aufregung in Erinnerung, in welcher ein ganzes Jahrzehnt hindurch die Gebildeten aller Nationen durch das furchtbare Schicksal der Franklin’schen Expedition und die Anstrengungen zu ihrer Rettung erhalten wurden. Eine der hoffnungsreichsten Expeditionen, von den bewährtesten Seehelden geführt, mit seltener Umsicht und Freigebigkeit ausgestattet, war durch eine entsetzliche Katastrophe vernichtet, hundertachtunddreißig tapfere Briten waren den arktischen Naturmächten zum Opfer gefallen. Es konnte nicht fehlen, daß eine solche Erfahrung vor weiteren Unternehmungen dieser Art zurückschreckte, daß man fast allgemein das große Buch arktischer Forschungen auf immer für geschlossen hielt. Aber schon damals, als M’Clintock von dem Schauplatz jener entsetzlichen Katastrophe zurückkehrte und in ihren Reliquien die unzweideutigsten Beweise des Untergangs der Franklin’schen Expedition vorlegte, schon damals sprach bei Gelegenheit eines Bankets, welches die zahlreichen Theilnehmer der Franklin-Expeditionen zu Ehren dieser letzten am 5. October 1859 veranstalteten, ein Deutscher, Berthold Seemann, der einzige Deutsche, der an jenen kühnen Rettungsfahrten Theil genommen, in prophetischen Worten die feste Zuversicht aus, daß das arktische Forschungswerk nicht aufgegeben, sondern zu glorreichem Ende geführt werden würde. Freilich ahnte er nicht, daß es gerade die deutsche Nation sein sollte, die das große Forschungswerk wieder aufnahm.

Wie groß die Entmuthigung und Einschüchterung in Folge jenes traurigen Ereignisses war, das zeigte sich am besten in Amerika, dessen, abenteuerlichen Charakter man so gern hervorhebt, das in der That in jener Zeit der Franklin Expeditionen die abenteuerlichsten Fahrten geliefert hatte und dem überdies Dr. Kane durch seine erfolgreiche Fahrt bis zum einundachtzigsten Breitengrade und seinen vielverheißenden Bericht von einem offenen Meere im Norden des Smithsundes die weitere Verfolgung dieses Weges gleichsam als Erbschaft hinterlassen hatte. Als Dr. Hayes, der Begleiter Kane’s, diese Erbschaft antreten wollte, fand er nur taube Ohren. Er selbst erzählt, welche jahrelangen Anstrengungen es ihn kostete, die öffentliche Meinung für sein Werk zu gewinnen, wie er von Ort zu Ort reiste und durch das ganze Land Curse populärer Vorlesungen einrichtete, wie er die Presse und die wissenschaftlichen Vereine zu gewinnen suchte, wie er selbst das Ausland in Anspruch nahm, um das Inland von der Bedeutung seines Unternehmens zu überzeugen. Schließlich sah er sich doch genöthigt, sein Unternehmen auf das Aeußerste zu beschränken, um es nur überhaupt ausführen zu können, und mit einem kleinen Segelfahrzeug von einhundert dreiunddreißig Tonnen, mit nur vierzehn Gefährten und kaum genügender Ausrüstung sein kühnes Wagniß in’s Werk zu setzen.

Die geringen Erfolge dieser Expedition sind bekannt. Wenn auch ihre Forschungen für unsere Kenntniß der arktischen Natur von außerordentlicher Bedeutung geworden sind, so gelang es ihr doch nur, wenige Meilen über das schon von Kane erreichte Ziel vorzudringen. Man kann sich darum auch nicht wundern, daß Sherard Osborn, als er im Jahre 1865 England zu einer neuen Expedition durch den Smithsund als die am sichersten zum Pole führende Gasse aufforderte, keinen rechten Anklang bei seinen Landsleuten fand und daß die Ausführung seines Planes trotz der warmen Empfehlung von Seiten der ersten wissenschaftlichen Körperschaften Englands von der Admiralität entschieden abgelehnt wurde. Um so mehr muß man erstaunen, daß ein deutscher Geograph es wagte, nicht nur diesem Osborn’schen Plane einen anderen nicht minder kühnen entgegenzustellen, sondern auch, als sich für die Ausführung desselben in England wenig Aussicht zeigte, seine Verwirklichung von der deutschen Nation zu verlangen. Dieser deutsche Geograph war der bekannte Dr. August Petermann in Gotha, dem die Stellung, die er in der geographischen Wissenschaft einnimmt, und der gute Klang, zu welchem er dem deutschen Namen auch auf diesem Felde verhelfen hatte, ein Recht dazu gab.

Mit der arktischen Frage war Petermann schon durch die berühmten Franklin Expeditionen in nähere Berührung gekommen. Für diese hatte er in London in anregendster Weise gewirkt und zur Wahl der geeigneten Wege zur Rettung der Vermißten Manches beigetragen, mehr als ein Mal sogar den sinkenden Muth Englands durch seine eindringenden Mahnungen neu belebt. Seitdem hat er diese Frage nie ganz aus dem Auge verloren, vielmehr durch gründliches Studium älterer Reiseberichte und der Aussagen erfahrener Walfischfänger sich eine genaue Kenntniß der Natur, insbesondere der Strömungen und Eisverhältnisse des hohen Nordens zu verschaffen gesucht. So hatte er sich ein Recht erworben, ein entscheidendes Wort zu sprechen, als durch Osborn die arktische Forschung auf’s Neue in Anregung gebracht wurde. Es war keine Ueberhebung, wenn er die Behauptung aufstellte, daß der von Kane und Hayes gewählte Weg niemals zum Pole führen werde, daß man überhaupt keinen unglücklicheren Ausgangspunkt für ein solches Forschungsunternehmen wählen könne, als jenes Labyrinth eiserfüllter Canäle, wie sie die arktische Inselwelt im Norden des amerikanischen Continents darbietet. Nur auf zwei Wegen glaubte Petermann ein glückliches Vordringen gegen den Nordpol in Aussicht stellen zu können; der eine war das Meer im Norden der Behringsstraße, der andere der breite Eingang durch das grönländisch-spitzbergische Meer. Jener Weg ist denn auch seitdem in Frankreich durch Gustav Lambert in Vorschlag gebracht worden, und es ist Aussicht vorhanden, daß öffentliche Subscriptionen die Mittel gewähren werden, ihn zu beschreiten. Für Petermann konnte er schon deshalb nicht in Betracht kommen, da die Weite des Weges bis zum eigentlichen Ausgangspunkte des Unternehmens eine Kostenhöhe bedingt, welche zu der Opferfähigkeit des deutschen Volkes in keinem Verhältniß steht. So blieb nur der Weg durch den nördlichen atlantischen Ocean übrig, sei es längs der Ostküste Grönlands, wo schon Hudson im Jahre 1707, wie man annimmt, bis zum zweiundachtigsten Breitegrade vordrang, sei es im Norden Spitzbergens, wo Parry im Jahre 1827 in einer Breite von zweiundachtzig Grad fünfundvierzig Minuten, der höchsten bisher überhaupt erreichten Breite, sich durch den Anblick eines offenen Meeres auf seiner berühmten Schlittenreise gehemmt sah.

Dieser letztere Weg war es, den Petermann zunächst für eine deutsche Nordpolexpedition in’s Auge faßte und so lange festhielt, als er die Hoffnung hegen konnte, daß deutsche Regierungen seinen Plan zur Ausführung bringen und eiserne Schraubendampfer dabei zur Verwendung kommen würden. In der That schien es eine Zeitlang, als ob diese Hoffnung sich erfüllen sollte. Petermann war es gelungen, die preußische Regierung lebhaft für seinen Plan zu interessiren, und schon glaubte man Schiffe und Führer der beabsichtigten Expedition mit einiger Sicherheit bezeichnen zu können. Da zerstörte der Ausbruch des deutschen Krieges im Jahre 1866 diese Hoffnung. Vielleicht hatten auch die leitenden Persönlichkeiten [541] inzwischen ihre Meinung geändert; kurzum, die preußische Regierung lehnte am Ende des Jahres 1866 die Ausführung des Unternehmens für die nächste Zeit entschieden ab.

Die Matrosen der deutschen Nordpol-Expedition in ihrer Winterkleidung.
Nach einer Photographie.
Johann Werdelmann (aus Neufahr bei Vegesack), Schiffszimmermann.
Camp Wagener (Norden, Ostfriesland), Matrose.
Friedrich Rössing (Emden), Matrose.
Paul Tilly, (Preuß. Minden), Matrose.
Daniel Heinrich Büttner (Bremen), Matrose.
Peter Iversen (Apenrade?), Matrose.
Gerhard de Wall (Delfyl, Holland), Matrose.

Aber noch einmal schien die Hoffnung zu leuchten. Der hochherzige Schiffseigenthümer Rosenthal zu Bremerhaven stellte im Sommer des Jahres 1867 seinen neuerbauten, für die Eisschifffahrt eingerichteten Schraubendampfer unentgeltlich für den Dienst einer Nordpolexpedition zur Verfügung. Petermann mußte nun allerdings die Grenzen seines Unternehmens etwas enger ziehen. Nur dieser eine Dampfer konnte zur Verwendung kommen. Dieser aber sollte einen Theil der Gesellschaft an der Ostküste Grönlands aussetzen, um auf Booten den noch völlig unbekannten Verlauf dieser Küste nach Norden verfolgen zu lassen, während der andere Theil mit Hülfe der Dampfkraft versuchen sollte, das Eis im Norden Spitzbergens zu durchbrechen. Nur etwa noch sechszigtausend Thaler waren für die Ausführung dieses Unternehmens erforderlich, und gerade über eine ähnliche Summe, die aus den einst vom deutschen Volke gesammelten Flottengeldern herrührte, hatte in Kurzem der in Auflösung begriffene Nationalverein zu verfügen. Aber die Generalversammlung des Nationalvereins beschloß am 12. November 1867, diese Gelder nicht dem ersten deutschen Unternehmen zur See, sondern einer Invalidenstiftung zu überweisen.

Für eine deutsche Nordpolfahrt in großartigerem Maßstabe war jetzt jede Hoffnung geschwunden. Petermann aber verlor den Muth nicht. Statt wieder geduldig zu warten und abermals sein Unternehmen den Wellen des Zufalls anzuvertrauen, beschränkte er seinen Plan auf das äußerste Maß und entschloß sich, ungesäumt auf eigene Gefahr hin zur Ausführung zu schreiten. Bald waren die geeigneten Führer gefunden, bald war auch ein Schiff angekauft, freilich ein kleines norwegisches Segelschiff von nur achtzig Tonnen Gehalt, aber stark und fest, wie es der Kühnheit des Unternehmens entsprach. Das Schiff wurde ausgezimmert und verstärkt, die Mannschaft wurde geworben, Ballast, Proviant und Wasser eingenommen. Erst dann, als die Expedition gesichert, das Schiff zum Auslaufen bereit war, wandte sich Petermann an die deutsche Nation mit der Aufforderung, ihm die erforderlichen Mittel zu gewähren. Sein Vertrauen hat ihn nicht getäuscht. Reiche Beiträge sind gespendet worden, in erster Linie die Ehrengabe König Wilhelm’s und nicht in letzter die Opfer der deutschen Studenten. Reichere Gaben werden folgen. Jetzt schwankt die „Germania“ – so hat man das Schiff getauft, das die erste deutsche Expedition trägt – auf den Wogen des rauhen Polarmeeres; schon ist eine flüchtige Kunde von seinen ersten wilden Kämpfen zu uns gelangt. Das Eis ist schwierig, so lautet jene Kunde vom 16. Juni.

[542] Bis zum sechsundsiebenzigsten Breitengrad schon war das Schiff gegen die gewaltigen Eismassen vorgedrungen, aber der übermächtige Feind hatte es wieder um drei Grade südwärts zurückgedrängt. Allein ungebeugten Muthes haben die Helden den Kampf auf’s Neue begonnen. Doch wenn sie nun wirklich jene furchtbare Schranke durchbrechen, – wenn sie wirklich zur ersehnten Küste gelangen sollten – was dann? Werden sie dort das freie Fahrwasser finden, auf dessen Vorhandensein der ganze kühne Plan gestützt ist? Die Ostküste Grönlands zu erreichen – so lautet ja jener Plan – da, wo Sabina einst die nach ihm benannte Insel entdeckte und von wo ab uns jede genauere Kenntniß der grönländischen Küste fehlt, längs dieser Küste so weit wie möglich nach Norden vorzudringen und entweder das Nordende dieser großen Insel festzustellen oder der weiteren Landbildung gegen den Pol hin zu folgen. Nur in zweiter Linie ist die Expedition angewiesen, das spitzbergische Meer und das noch ziemlich unbekannte Gillis-Land im Osten Spitzbergens zum Gegenstand ihrer Forschung zu machen. Das hohe Meer also ist der Expedition untersagt; dort können nur vom Wind unabhängige Dampfschiffe den ernsten Kampf aufzunehmen wagen; kleine Segelschiffe, wie die „Germania“, sind auf das sicherere Fahrwasser im Schutze der Küsten angewiesen. Aber wird sich ein solches Fahrwasser an der grönländischen Ostküste finden, die eine sehr verbreitete Ansicht von ewigem Eise umlagert sein läßt? Die Erfahrungen früherer Expeditionen und zahlreicher Walfischfahrer lassen es erwarten.

Alle Kenner der Polarmeere unterscheiden streng zwischen dem festen „Landeis“ und dem „Packeis“. Letzteres besteht aus treibenden Eisflarden, die an Größe von Fußen bis zu Meilen und an Dicke von Zollen bis zu Klaftern wechseln, die bald dicht zusammengedrängt, bald weit von einander getrennt sind und von Winden und Strömungen abhängen. Dieses Packeis zu durchbrechen, erfordert oft Wochen und Monate und ist häufig erst im August möglich, wenn die Sonne oben und das Wasser unten daran gezehrt haben. In diesem Packeis gefangen zu werden, ist die größte Gefahr des Polarfahrers. Ganz anders verhält es sich mit dem festen Landeise, von dem ein schmaler Streifen gewöhnlich selbst bis zum Ende der Sommerzeit zurückbleibt. An ihn klammern sich die Walfischfänger, und die Schiffe der Forschungsreisenden sind gewöhnlich ihrem Beispiel gefolgt. Sie benutzen den letzten Riß, der sich gebildet hat, oder, wie sie es nennen, den Durchgang zum Ufer. Hier finden sie Sicherheit, wenn der Wind das Packeis gegen sie herabtreibt; denn sie können für ihre Schiffe eine Docke in das feste Eis sägen oder eine Bucht finden, um darin das Fahrzeug vor Anker zu legen. Sie können überdies, wenn das Eis locker und kein Wind ist, das Fahrzeug durch die Mannschaft mittels des Taues am Rande desselben hinschleppen lassen. In dieses Fahrwasser zwischen dem Landeis und dem gefürchteten Treibeisgürtel einzudringen, darauf beruht die Hoffnung unserer deutschen Nordpolexpedition.

Ohne hier näher eingehen zu können aus eine Darlegung des Planes und die speciellen Aufgaben der Expedition,[1] wollen wir über die letzteren nur bemerken, daß eine große Anzahl nicht blos für den Geographen, sondern für die Naturwissenschaft im Allgemeinen hochinteressanter Fragen zu lösen sind. Die Grenze des Eises, die Verbreitung von Meeresströmungen, das Gebiet des Treibeises will man feststellen, magnetische meteorologische Beobachtungen ausführen, die Tiefe der See messen und die Temperatur der letzteren in verschiedenen Tiefen erforschen. Außerdem richtet man seine Aufmerksamkeit auf das pflanzliche und thierische Leben der arktischen Region, denn diese entbehrt desselben durchaus nicht in der Weise, wie man zu glauben geneigt ist. Vorzüglich will man sich auch über den merkwürdigen Volksstamm der Eskimos näher unterrichten, der in seiner Ursprünglichkeit für die Ethnographie, zumal für die Kenntniß der sogenannten Pfahlbauperiode von außerordentlicher Wichtigkeit ist. Die Kosten der Expedition hat man auf etwa fünfzehn- bis sechszehntausend Thaler berechnet.

Es erübrigt uns jetzt nur noch ein kurzes Wort über die heldenmüthigen Führer der Expedition. Wie Petermann der geistiges Leiter, so sind die beiden Obersteuerleute Karl Koldewey und Rudolph Hildebrandt die praktische Seele des Unternehmens. Die Portraits dieser drei Männer behalten wir uns für eine spätere Nummer vor. Koldewey ist am 26. October 1837 zu Bücken bei Hoya im Hannöverschen geboren, auf dem Gymnasium zu Clausthal und später auf der Obersteuermannsschule in Bremen gebildet und in den letzten Jahren durch die polytechnische Schule in Hannover und die Universität Göttingen auch für die höheren wissenschaftlichen Arbeiten einer solchen Expedition vorbereitet. Er ist einer der ausgezeichnetsten Schüler Dr. Breusing’s und von dem Astronomen Klinkerfues wegen seiner ungewöhnlichen Begabung für astronomische Arbeiten gerühmt. Er ist begeistert für seine Aufgabe und entschlossen, wenn es sein muß, sein Leben für den Ruhm des deutschen Namens zu opfern. Rudolph Hildebrandt ist der Sohn des Predigers Hildebrandt in Magdeburg, gleichfalls unter Dr. Breusing’s Leitung auf der Obersteuermannsschule in Bremen ausgebildet und ein Mann von seltener Energie und Thatkraft. Mit ihnen bilden neun bewährte deutsche Seeleute und zwei mit der grönländischen Schifffahrt vertraute norwegische Matrosen die Bemannung des kleinen Schiffes. Unser Bild stellt die sieben bewährtesten Seeleute der Expedition in ihrem Eismeercostüm vor. Ganz besonders rühmt Koldewey in seinem Berichte die drei Bremenser Wagner, Iversen und de Wall als ausgezeichnete Matrosen und als „kräftige entschlossene Männer, die sich nicht fürchten würden, selbst dem Teufel in der Hölle einen Besuch abzustatten.“

Das sind die Arbeiter der ersten deutschen Nordpolexpedition, das sind die Männer, die im Kampf mit den Wogen des Eismeeres der deutschen Wissenschaft ein Gebiet erobern wollen, um das Jahrhunderte lang die ersten Seemächte der Erde gerungen haben! Das sind die Helden, und das ist die That, um die uns das Ausland beneidet! Der deutschen Expedition den Rang abzulaufen, sendet soeben Schweden eines seiner besten Dampfschiffe in das spitzbergische Meer hinaus, verdoppelt Frankreich seine Anstrengungen zur Aufbringung der Mittel für seine Expedition durch die Behringsstraße, rüstet Nordamerika bereits und sinnt selbst England auf Rüstungen. Was auch die „Germania“ uns bringen möge, wenn sie im Spätherbst dieses Jahres in den deutschen Hafen zurückkehrt, hoffen wir, daß diese erste That zur See für Deutschland eine ähnliche Bedeutung haben werde, wie einst Franz Drake’s kühne Weltumsegelung für England, daß sie das Wiedererwachen der deutschen Seemacht bezeichne!




Blätter und Blüthen.


Ueberseeische Briefe. Es ist eine merkwürdige Thatsache, daß unter hundert Briefen, die aus überseeischen Ländern zurück in die Heimath geschrieben werden, neunzig einen trüben, schwermüthigen, oft melancholischen Charakter haben und nicht selten sogar mit Klagen angefüllt sind, was nachher Freunde und Verwandte beunruhigt und sie um die Ausgewanderten besorgt macht.

Durch mein oftmaliges Wechseln der Welttheile bin ich nun verschiedene Male – oft sogar dringend von den Eltern dazu aufgefordert – mit solchen Unglücklichen da drüben zusammen getroffen, von denen man hier fürchtete, daß sie entweder eine gefährliche Krankheit, oder kaum genug hätten, ihre Existenz zu fristen. Aber in allen Fällen fand ich diese Befürchtungen nicht allein nicht bestätigt, sondern die jungen Herren wohl und gesund, mit reichlichem Auskommen und stets in bester Laune, ja oft übermüthig in einer sorgenfreien, unabhängigen Existenz.

Woher kommen nun diese trübseligen Briefe, die so oft schon ein armes Mutterherz sehr unnöthiger Weise betrübt und geängstigt haben?

Ich glaube, ich kann eine Antwort darauf geben, denn wenn ich auch nicht im Stande bin, anderen Menschen in’s Herz zu sehen, so weiß ich doch aus eigener Erfahrung gut genug, wie Jemandem zu Muthe ist, der sich fern von der Heimath und seinen Lieben in einem fernen Lande herumtreibt, und habe mich außerdem selber bei solchen Briefen ertappt, zu denen ich nicht die geringste Ursache hatte.

So lange wir uns da draußen befinden und dem Leben mit unserem Kopf oder unseren Fäusten eine Existenz abringen, oder auch eine lohnende oder uns angenehme Beschäftigung haben, die unsere Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, quälen wir uns wahrlich nicht mit Sorgen oder trüben Ideen. Wir denken wohl an die Heimath und malen uns dieselbe mit freundlichen Bildern aus, aber wir lassen deshalb wahrhaftig [543] den Kopf nicht hängen und Leute mit nur einiger Spannkraft verlieren auch nicht gleich denn Muth, wenn einmal wirklich nicht Alles so nach Wunsch geht, und würden noch weit weniger daran denken, den Ihrigen daheim durch vollkommen nutzloses Klagen die Herzen schwer zu machen. Helfen konnte ihnen ja doch Niemand da draußen, das mußten sie sich selber besorgen – was hätte es ihnen also genützt?

Und trotzdem und alledem schreiben sie schwermüthige Briefe und sind schwermüthig – aber nur so lange als sie vor ihrem Tintenfaß mit der Feder in der Hand sitzen.

Da plötzlich kommt ihnen der Gedanke: dies Blatt fliegt hinüber zu den Deinen – sie sehen im Geist, wie der Briefträger mit Jubel empfangen wird, wie die Zeilen von Hand zu Hand gehen, und auf einmal ist der Schreibende nicht mehr in irgend einem fremden Welttheil, wo er bis dahin gesteckt, sei das nun Amerika oder Australien, Indien oder Afrika – nein, er sieht sich plötzlich zu Hause – er durchwandert die alten, fast vergessenen und doch so lieben Räume; er hört das fröhliche Plaudern der Kinder, schaut in die guten und sorgenden, aber jetzt freundlich erregten Züge der Eltern und Geschwister, und während er schreibt, zieht, ohne daß er es weiß oder auch nur ahnt, das Heimweh ein in seine Seele und wirft, während die Heimath dort drüben im vollen Sonnenschein vor seinem inneren Auge liegt, seinen düsteren Schatten über das eigene Herz – die eigene Umgebung.

Nicht aus der Erinnerung schreibt er dabei, nein, aus der unmittelbaren Gegenwart, wie es ihm gerade in dem Moment selber zu Muthe ist – die dunkeln Farben schildernd, die er um sich sieht, und ist der Brief dann endlich fertig, in ein Couvert gesteckt, zugeklebt und adressirt, dann – ja, dann geht er sehr selbstzufrieden, daß er wieder einmal einen etwas versäumten Brief nach Hause fertig hat – und wahrscheinlich auch vergnügt in irgend eine Restauration oder in eine Gesellschaft, spielt dort seine Partie oder tanzt auch wohl gar mit den jungen Damen, kurz amüsirt sich vortrefflich und denkt gar nicht daran, daß die eben geschriebenen und fortgeschickten Zeilen noch nach Wochen oder selbst Monaten immer und Sorge in treue Herzen tragen werden.

Er weiß auch in der That gar nicht, was er geschrieben hat, denn von Privatbriefen werden keine Copien genommen. Es war nur eben eine augenblickliche Stimmung, in der er sich befand und der er Worte gab, weiter nichts – er hatte ja nicht daran gedacht, in irgend einer Weise zu klagen. Ueber was auch? es ging ihm ja ganz vortrefflich und er fühlte sich so gesund und wohl wie nur je, kann auch nachher, wenn eine Rückantwort kommt, nicht begreifen, weshalb die Seinen immer so in Sorge sind. Er brächte sich schon durch die Welt – sie sollten sich um Gottes willen nicht seinetwegen ängstigen.

Deshalb möchte ich denn alle Solche, welche Söhne oder Verwandte draußen in der Fremde haben – und welche Familie hat in jetziger Zeit keinen Verwandten in irgend einem Welttheil! – wohlmeinend bitten, sich um Gottes willen nicht zu ängstigen, wenn sie einen derartigen schwermüthigen Brief erhalten. Die ganze Geschichte ist nicht wahr, und wenn sie in dem nämlichen Augenblick, in welchem sie den Brief lesen, den armen „Einsamen“ und „Bedauerten“ nur in Wirklichkeit sehen könnten, so würden sie finden, daß sie in der That nicht den geringsten Grund zu irgend welcher Bekümmerniß haben.

Melden jene in ihrem Brief eine wirklich gefährliche Krankheit, die sie erfaßt hat, und machen sie dieselbe namhaft, oder einen thatsächlichen Unglücksfall mit genauer Angabe, der sie betroffen, dann mag Grund vorliegen, sich darum zu sorgen, aber alle derartige Andeutungen, die nur ahnen lassen, ohne auf irgend etwas Positives einzugehen, sind nichts als ein „fliegendes Heimweh“, das sie beim Briefschreiben selber erfaßt und das in demselben Moment wieder schwindet, wo die Post jenes Papier zur Besorgung überkommt.

Fr. Gerstäcker.


Die Beredsamkeit auf den Pariser Straßen. In einer Weltstadt wie Paris ist es viel leichter, irgend ein Talent zu besitzen, als es geltend zu machen. Niemand wird hier aufgesucht; Jeder muß sich hier mehr oder minder aufdrängen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken suchen. Wer das nicht kann, erreicht sehr selten sein Ziel. Man sieht das so recht an den Leuten, die auf den Pariser Straßen ihre Waaren feil bieten. Wer von ihnen dieselben am geschicktesten anzupreisen versteht, wird sie auch am geschwindesten los. Ohne ein gewisses Talent der Beredsamkeit kann aber Niemand seine Waare los werden. Die Pariser Straßenberedsamkeit hat manchen Demosthenes, manchen Cicero aufzuweisen. Bleiben wir einen Augenblick vor einem jungen Manne stehen, der verstohlen einige Worte mit einem andern jungen Manne wechselt. Jener hat einen schwarzen Rock an und trägt einen Cylinder auf dem Kopfe; dieser trägt eine Blouse und eine lebensmüde Mütze, die auf Krakehl sitzt. Nach dem geheimnißvollen Wortwechsel entfernt sich der Blousenmann, während der Andere ein Stück schwarzer Kreide aus der Tasche zieht, und auf dem Asphalt des Trottoirs eine Gruppe phantastischer Fische mit vieler Fertigkeit zeichnet. „Meine Herren und Damen, oder vielmehr meine Damen und Herren,“ beginnt er, „dem menschlichen Geiste bleibt nichts verborgen. Die Fische, die ich die Ehre habe, naturgetreu vor Ihnen zu zeichnen, hatten sich alle Mühe gegeben, vor den menschlichen Augen sich zu verstecken, wahrscheinlich weil sie wußten, daß sie höchst interessant und sehr schmackhaft sind, und nicht in irgend einem Aquarium, oder auf den Speisekarten im Café Anglais figuriren wollten. Darin hatten sie so unrecht nicht; denn Niemand liebt es, die Freiheit zu verlieren, oder gar gegessen zu werden. Allein was half es ihnen? Sie wurden endlich doch in den Gewässern von Siam entdeckt. Wer aber war der Entdecker? Ein Franzose, meine Herren und Damen! Gloire à la France! Ich bin stolz darauf, daß es einer meiner Landsleute war, der die wunderbare Entdeckung gemacht hat. Ja, ich bin stolz darauf, denn unter dieser schlechten Weste (mit einer theatralischen Geberde) schlägt ein, patriotisches Herz.“

Indessen haben sich etwa fünfzig Personen um ihn versammelt, und er beginnt wieder, indem er einige kleine Paketchen aus der Tasche zieht und sie der Gruppe vorzeigt. „Was enthalten diese Paketchen? Diese Frage lese ich in Ihren Zügen und sie ist natürlich. Nun, ich will sie beantworten. Schenken Sie mir Ihr wohlwollendes Gehör. Ich bilde mir nicht ein, ein großes Genie zu sein. Ich bin weder ein großer Poet, noch ein großer Maler; ich bin auch kein großer Feldherr und am allerwenigsten ein großer Finanzmann. Ach, nicht Jedermann kann ein Victor Hugo oder Horace Vernet, ein Napoleon oder ein Herr von Rothschild sein. Ich bin auch, wie Sie sich in diesem Augenblick überzeugen, kein großer Redner, und es fällt mir auch nicht ein, mich mit Herrn Jules Favre, oder gar mit Herrn Berryer messen zu wollen. Aber ich kenne meinen Werth, und das ist kein Verbrechen. Nun, vor etwa vierzehn Tagen, als ich hier auf derselben Stelle stehe, umgeben von einem zahlreichen Publicum und hochgebildet wie dasjenige, das mich in diesem Augenblick durch die gespannteste Aufmerksamkeit ehrt, sehe ich einen hagern, blassen, schwarz gekleideten Mann, dessen Blicke jeder meiner Bewegungen folgen, dessen Ohr an meinem Munde hängt. Ich bot damals – beiläufig gesagt – dem Publicum die von mir erfundenen Gesundheitsuhrketten an. Die Waare ist, wie es sich von selbst versteht, schnell verkauft. Ich entferne mich; das Publicum zerstreut sich. Ich eile von dannen; der geheimnißvolle Mann eilt mir nach. Endlich erreicht er mich in der Rue Valois vor dem Restaurant Richard, legt mir freundlich die Hand auf die Schulter und sagt: ‚Junger Mann, Sie haben Talent! Sie wissen die Menge anzuziehen und zu fesseln. Ich habe Sie daher vor vielen Andern ausgewählt. Nehmen Sie dies (auf die blauen Paketchen zeigend). Betrachten Sie es genau. Ihr Glück ist gemacht!‘ Er verschwand. Wer war der Mann? Das ist mein Geheimniß, und man wird mir’s nicht verargen, wenn ich in dieser Beziehung ein tiefes Schweigen beobachte. Dringen Sie nicht in mich, ich kann und darf ihn nicht nennen. Aber diese Pakete, was enthalten sie? Diese Frage will ich gern beantworten. Nun, meine Herren und Damen, oder vielmehr meine Herren – denn an diese wende ich mich jetzt ausschließlich – meine Herren, Sie verstehen mich; Sie haben Scharfsinn genug mich zu errathen. Treten Sie näher, kaufen Sie und – ich sehe einen Polizeidiener. Greifen Sie rasch zu, denn meines Bleibens ist nicht länger.“

Einige Männer nähern sich, kaufen verstohlen die Pakete und – sind angeführt. Sie glaubten nämlich, Karten gekauft zu haben, die, gegen das Licht gehalten, zweideutige Bilder zeigen. Sie haben aber nur ganz gewöhnliche Karten gekauft.

Die Leute, die mit einem höheren oder geringeren Grade von Beredsamkeit auf den Trottoirs ihre Waare feil bieten, nennt man „Camelots“, die Waare selbst wird „Camelotte“ genannt, ein Wort, das sich am besten mit Schund übersetzen läßt. Ein Camelot ist niemals allein, sondern stets von einem Genossen begleitet, der in einiger Entfernung Wache steht und, wenn sich ein Polizeidiener blicken läßt, sogleich das Signal zum Aufbrechen giebt. Es ist nämlich verboten, auf den Trottoirs Waaren auszukramen, oder Leute um sich zu versammeln, da dies die Circulation hemmt. Die Polizei sieht übrigens den Camelots ziemlich durch die Finger. Der scharfsinnige Leser wird nicht erst fragen, warum der Camelot, von dem eben die Rede war, die Fische auf den Asphalt gezeichnet. Er wollte durch seine Fertigkeit im Zeichnen ein Publicum herbeilocken. Die marktschreierischen Reden, durch welche die Camelots oder sonst Leute, die aus öffentlicher Straße ihren Trödel anbieten oder Kunststückchen zeigen, die Vorübergehenden anzuziehen suchen, werden „Boniment“ genannt. Dieses Wort hat zwar keine Aufnahme in’s Dictionnaire der französischen Akademie gefunden, es wird aber darum nicht minder von allen Schichten der Gesellschaft und sogar von den Akademikern in der täglichen Unterhaltung gebraucht.

Kalisch.


Instinct oder Ueberlegung? Seit einer ziemlichen Reihe von Jahren Abonnent und Leser der Gartenlaube, habe ich dieser Zeitschrift immer mit Interesse die Notizen über den Instinct, oder richtiger das Vermögen der Thiere, aus den einzelnen vorkommenden abnormen Verhältnissen Schlüsse zu ziehen, die man beinahe Verstand zu nennen berechtigt ist, entnommen, und ich bin in der Lage, diese Sammlung von auffallenden Begabungen der Thiere um eine Thatsache zu vermehren, deren volle Richtigkeit nur durch die glaubwürdigsten Persönlichkeiten übereinstimmend verbürgt ist.

Bei dem großen verheerenden Brande am 27. Juni d. J., der in dem kurzen Zeitraum von halb elf Uhr früh bis drei Uhr Nachmittags über einhundertundacht Wohnhäuser und einhundertsiebenunddreißig Nebengebäude in Asche und Schutt legte und dadurch die Hälfte des Städtchens Auerbach in der Oberpfalz vernichtete, waren die Hitze und das durch die Schindeldachungen der Nebengebäude hervorgebrachte Flugfeuer so groß, daß Porcellan, Steingut und Glas in den Häusern die sechs großen Glocken von etwa einhundertundfünfzig Centner Gewicht im Pfarrkirchenthurm schmolzen und ungefähr vierhundertundfünfzig Schritt vom Hauptheerd des Feuers entfernte Ställe und Wohnhäuser im Nu sich entzündeten und in Trümmer sanken. Ganz in der Nähe des größten Feuers, keine zwanzig Schritt entfernt, und gerade in der Richtung des zur Zeit des Brandes herrschenden Windes, liegt nun ein gegen achtzig Fuß hoher Stadtmauerthurm, der, ganz massiv mit Ziegeln eingedeckt, seit einer langen Reihe von Jahren auf der Spitze des Daches ein Storchennest beherbergt – deshalb auch unter dem Namen Storchenthurm bekannt ist. Im Neste befanden sich während des Schadenfeuers drei Junge, die, noch nicht flügge, von den Alten geätzt wurden, wie dies heute noch geschieht. Da, wie bekannt, die Nester der Störche aus Reisig, Stroh und andern leicht feuerfangenden Theilen bestehen, die seit Monat Mai herrschende enorme Hitze aber diese Stoffe noch mehr ausgedörrt hatte, so war die Gefahr der Entzündung des Nestes und mit demselben die des Thurmes bei den Tausenden von Funken und brennenden Theilen, welche die Wucht des Feuers in die Höhe riß und nach allen Seiten streute, eine ganz außerordentlich große, und die armen Thiere müssen nicht wenig von der intensiven Gluth und Hitze zu leiden gehabt [544] haben. Trotzdem verließ das Storchenpaar die Jungen nicht; eines um das andere der Alten flog dem in der Nähe des Thurmes außerhalb der Stadt befindlichen Weiher zu, tauchte sich und füllte den Kropf mit Wasser, das sie scheunigst, unbekümmert um den Rauch und die aufzüngelnden Flammen nach dem Nest zurückkehrend, über die den Schnabel weit aufreißenden Jungen ausgossen, während sie diese und das Nest mit dem auseinandergespreizten nassen Gefieder zu bedecken suchten. So wechselten die Alten in ihrem Feuerwehrdienste, bis spät Abends die Gefahr für die Jungen und das Nest ein Ende hatte. Wie oben erwähnt, steht heute noch der so gefährdete Thurm mit dem bewohnten Storchenneste inmitten der Brandruinen – ein beredtes Zeugniß der Eintracht, der Jungenliebe und des an Verstand streifenden Instinctes dieser Thiere.

Ein alter Glaube läßt Gebäude, auf welchem Störche nisten, vom Feuer verschont bleiben; im erzählten Falle hat der Glaube, den ich oft als Aberglaube verlachte, zufällig seine volle Bewahrheitung gefunden.

G. Ziebland.


Der Chignon-Pilz, welcher vor einiger Zeit (Gartenlaube 1867, Nr. 5) den haarbeuteltragenden Damen so großen Schreck eingejagt hat, ist durch den unermüdlichen und entdeckungsreichen Pilzforscher Professor Hallier in Jena auf einfache Weise enträthselt worden. Dr. Hallier erhielt die davon befallenen Haare aus der ersten Quelle, von dem Dr. Beigel in London, dem zu Ehren diese an den Chignonhaaren haftenden kleinen Knötchen von Naturforschern den Namen „Pleurococcus Beigelii“ erhalten haben. Er cultivirte diese Haare in den von ihm zu solchen Zwecken erfundenen Isolir- und Culturapparaten und erzog daraus – unsern gemeinsten Schimmel, den bläulichen Pinselschimmel (das Penicillium), dessen zahlreiche Ungebührlichkeiten wir schon in dem Hexenartikel (Gartenlaube 1866, Nr. 44, S. 687) erwähnt haben. Als Controle und Gegenversuch säete Dr. Hallier auf gesunde Haare einen anderen leicht erkennbaren Schimmelpilz, den Weihwedel-Schimmel (Aspergillus), und erzog daraus in denselben Culturapparaten ganz ähnliche Knötchen, aus denen der echte Aspergillus hervorwuchs. Die Entstehung dieser Gebilde in den Chignons ist ganz einfach erklärbar. Allenthalben in der Luft schweben Pilzsamen (Sporen) als sogenannte Sonnenstäubchen umher, am massenhaftesten in Wohnzimmern. Wir athmen sie in Menge ein, so daß sie sich im Munde festsetzen und keimend zu dem Schleim auswachsen, den wir an unseren Zähnen finden; von da aus bohren sie den Zahn an und erzeugen den Zahnbrand, die sogenannten hohlen Zähne, welche daher (nebst Zahnbelegen) bei Stubenmenschen und Stubenhunden am häufigsten vorkommen. (Hierüber haben neuerdings Leber und Rottenstein in Berlin eine sehr interessante Brochüre veröffentlicht.) In gleicher Weise setzen sich die schwärmenden Pilzsporen in die Haare, sowohl in die lebenden (wo sie dann verschiedene Formen der Kopfausschläge nach sich ziehen), als auch in die todten. In den Chignons, wo sie durch Kämmen Und Reinigen nicht gestört werden und sich aus dem Schweißdunst, gelegentlich auch wohl aus atmosphärischer Feuchtigkeit (Nebel, Regen etc.) nähren können, wachsen sie mit dichtgedrängten Sporen zu dichten Knötchen (sogenannten Sklerotien) aus. In ganz ähnlicher Weise wachsen und gedeihen verschiedene Schimmelformen in den so sorgfältig vor Kamm und Bürste gehüteten Wichtelzöpfen (fälschlich Weichselzöpfe genannt) der Polen.

Es ist charakteristisch, daß man ganz ähnliche Knötchen in den Haaren der aus Amerika in die Museen gelangten Faulthiere findet! Also, meine Damen, eine Unreinlichkeit ist der Chignonpilz jedenfalls, und er kann auch Kopf-, Gesichts- und Nackenausschläge erzeugen. Und so lange Sie kein Mittel haben, den Chignon ebenso zu kämmen und zu bürsten, wie Sie es hoffentlich alle Tage mit Ihrem eigenen wallenden Haupthaar zu thun pflegen, so lange wäre es wohl hübscher, wenn Sie sich bloß mit dem letzteren begnügten.

Prof. Richter.


Zeitungs-Jungen in Nordamerika. Der speculirende Charakter des Nordamerikaners entwickelt sich bei ihm schon in frühester Jugend, und ein vortrefflicher Beweis dafür sind die Zeitungs-Jungen in der ganzen Union, die bei der ungeheuern Verbreitung der Straßen-Literatur eine gar nicht etwa so unbedeutende Rolle spielen und bei Aufständen oder sonstigen Unruhen selbst eine Macht bilden. Bei dem Neger-Crawall in New-Orleans, der vor einigen Jahren stattfand, hielten sie sogar einmal eine ganze Zeit die Levee oder Dampfboot-Landung besetzt, und wehe dem unglücklichen Schwarzen oder sonstigen coloured gentlemen, der sich in Steinwurfsnähe blicken ließ. Wirklich interessant ist die Geschicklichkeit, mit der sie überhaupt manövriren, um die Exemplare der ihnen anvertrauten Zeitungen oder Flugblätter an den Mann zu bringen, und mit besonderer Geschicklichkeit benutzen sie dabei die Pferdeeisenbahnen der Stadt, auf denen allen sie freien und ungehinderten Zutritt haben.

An irgend einer Ecke springt ein Junge, den Arm voll Zeitungen, auf und ruft aus, welches Blatt oder welche Blätter er gerade colportirt. Eins setzt er auch gewöhnlich ab, denn man sieht ebenso wenig einen deutschen Staatsbürger ohne Regenschirm wie einen richtigen Yankee ohne mindestens ein Zeitungsblatt in der Hand, daß er denn auf Omnibus, Fährboot oder Straßeneisenbahn durchstudirt. Ist ihr Geschäft nun in diesem Waggon beendet, so springen sie ab und in den nächsten ihnen begegnenden hinein, ohne daß der Kutscher je die geringste Notiz von ihnen nähme. Bemerken sie aber Jemanden auf der Straße, der stehen bleibt und etwas sucht, denn ohne Zweck bleibt eben Niemand stehen, so sind sie auch im Nu an seiner Seite und verfehlen selten ihren Zweck. Man findet sie überall – beim Ein- und Aussteigen aus den Fährbooten, an Dampfboot- und Eisenbahnstationen, auf den Straßen, an den Kirchthüren, in den Restaurationen, an der Börse, an den Bankhäusern, selbst an den Theatern, kurz man ist nicht im Stande, ihnen zu entgehen. Aber sie sind auch lebendige Zeugen des steten, nie gestörten Interesses, das alle Welt dort nicht allein an dem Geschäftsgange, sondern auch an politischen Fragen nimmt. Der Amerikaner sitzt nicht stundenlang in Bierhäusern und politisirt, wobei er ungesunde Ideen in sich aufnimmt und verbreitet – leider ein allzu gewöhnliches Uebel bei uns – er liest und sieht selber und bildet sich dabei sein eigenes Urtheil, dem er treu bleibt – ausgenommen es lohnte sich vielleicht, anderer Meinung zu sein.

Höchst interessant ist es manchmal, diesen Zeitungs-Jungen zuzusehen, wie sie ihre Waare anbringen, und treffen sie Jemanden in ruhiger Zeit – denn sonst bekümmern sie sich um keinen Einzelnen –, der noch in Zweifel ist, ob er sich eine Zeitung kaufen soll oder nicht, so entscheiden sie das bald zu ihren Gunsten.

Ich saß eines Morgens in St. Louis am Fenster und schrieb, wobei ich die Aussicht auf die Straße hatte. Unten an der gegenüberliegenden Ecke, gerade neben einem neuen im Bau begriffenen Hause, stand ein Zeitungs-Junge, seine Blätter über dem Arme und schaute, die rechte Hand in der Tasche, mit einem ziemlich mißmuthigen Gesicht bald die, bald jene Straße hinunter. Aber es war vor der Hand schlechte Aussicht auf Absatz, noch dazu an einem Sonntagsmorgen, unter der Kirche und bei fast ganz menschenleeren Straßen. Wenn erst die Kirchen aus waren, kam mehr Leben in die Stadt.

Der Junge klopfte ungeduldig mit dem Fuß den Boden, denn die Streetcar. die eben vorbeikam, war gleichfalls leer oder hatte nur einige Damen-Passagiere. Da kam ein alter Neger die Straße herab und schien unschlüssig, ob er sich links oder rechts wenden sollte. Der Junge trat an ihn hinan, aber der Neger schüttelte mit dem Kopf. Er konnte keinenfalls lesen, was sollte er da mit einer Zeitung thun? Das half ihm aber nichts; der Junge hatte darin schon sicher Erfahrung. Ich konnte allerdings nicht hören. was er zu ihm sagte, aber ich sah, wie er ihn am Arme nahm und festhielt und ihm dabei aus der geöffneten Zeitung eine Stelle vorlas, die den Neger jedenfalls interessiren mußte. Er hörte eine kleine Weile zu, und als der junge Bursch plötzlich abbrach und die Zeitung wieder zusammenfaltete, griff er in die Tasche und kaufte sie, – er mußte das, wovon er eben den Anfang gehört, jedenfalls weiter erfahren. Der Junge verkaufte in der nächsten Viertelstunde sieben oder acht Blätter, bis eine volle Streetcar vorbeikam, auf der er noch keinen Concurrenten bemerkte. Mit wenigen Sätzen war er drüben und rollte dann mit ihr die Straße hinunter.

Fr. Gerstäcker.


Wieder ein neuer Curir-Schwindel. In einem rothen zugeklebten Couvert, auf dessen Außenseite gedruckt steht:

Der Keim des Todes oder des Menschen Lebensdauer, nach seiner körperlichen und geistigen Beschaffenheit beurtheilt auf Grund 30jähriger Beobachtungen, Forschungen und Erfahrungen von einem Natur- und Menschenfreunde. Preis 5 Ngr. Dresden, Commissions-Verlag der Expedition des Colporteur.“

werden zwei Blätter versendet, von denen das eine Vorbemerkungen enthält, unter welchen jedenfalls die für den Verfasser wichtigste die ist, daß das zweite Blatt, das aus einem Fragezettel besteht, ausgefüllt, frankirt und unter Beifügung Eines Thalers an die Expedition des Colporteur in Dresden einzusenden ist. Die vorgelegten Fragen betreffen: Geschlecht, Alter, Verheirathung, Beschäftigung, etwaige Gebrechen, Statur, Sprache, Haar, Gesichtsfarbe, Nase, Mund, Augen, Stirn, Ohren, Kinn, Hände, Verdauung. Husten, Athem (übelriechend), Zähne, Gesichtsform, Temperament und geistige Function. – Hat man nun diese Fragen beantwortet und ist so dumm gewesen, einen Thaler eingeschickt zu haben, so erhält man in einigen Tagen einen mit „Anthropologus“ unterzeichneten kurzen Schreibebrief, welcher einige wenige diätetische, mehr oder weniger passende und unpassende Verordnungen enthält. Der Beantworter obiger Fragen scheint ein Kaltwasserquacksalber zu sein, denn Einhüllungen des Unterleibes mit nassen Tüchern und das Trinken frischen, guten Wassers spielen bei seiner Verordnung eine große Rolle. Wer der Thaler zu viele hat, kann sich übrigens ohne Nachtheil das kindliche Vergnügen machen und den in und aus dem Dunkeln curirenden Anthropologus um Rath fragen, aber ja nicht etwa ihm trauen und folgen.

Bock.



Nachträglicher Dank.

Von den verschiedenen Hülfs-Comités zur Linderung des Nothstandes in Ostpreußen aufgefordert, in unserem Blatte den edlen Spendern ihren aufrichtigen Dank für die durch uns gesammelten reichen Beiträge auszudrücken, kommen wir mit wahrer Freude dieser Aufforderung hierdurch nach, in den Worten, welche eines der erwähnten Hülfs- Comités an uns richtet: „Der herzlichste Dank gebührt dem großen Leserkreise der Gartenlaube, welcher so bereitwillig Ihrem Aufrufe entsprochen und Sie dadurch in den Stand gesetzt hat, unserer darbenden Bevölkerung so reiche Gaben zuzuführen. Sie würden uns sehr verbinden, wenn Sie den hochherzigen Menschenfreunden Kenntniß von unseren dankbaren Gesinnungen geben wollten.“ D. Red.


Inhalt: Die Brüder. Novelle von Adolf Wilbrandt. (Fortsetzung.) – Deutschlands Herrlichkeit in seinen Baudenkmälern. Nr. 3. Das Münster zu Ulm. Von Robert Aßmus. Mit Abbildung. – Einer vom „jungen Deutschland“. (Schluß.) – Der Teufel. Novelle. (Fortsetzung.) – Die Arbeiter der ersten deutschen Nordpolexpedition. Von Otto Ule. Mit Portraits. – Blätter und Blüthen: Ueberseeische Briefe. Von Fr. Gerstäcker. – Die Beredsamkeit auf den Pariser Straßen. Von Kalisch. – Instinct oder Ueberlegung? Von G. Ziebland. – Der Chignon-Pilz. Von Prof. Richter. – Zeitungs-Jungen in Nordamerika. Von Fr. Gerstäcker. – Wieder ein neuer Curir-Schwindel. Von Bock. – Nachträglicher Dank.


  1. Ausführliche Auskunft über den Plan und die Aufgaben der Expedition. wie über die Geschichte der Nordpolfahrten von Cabot bis auf Kane und Hayes findet der Leser in der kleinen bei Quandt und Händel in Leipzig erschienenen illustrirten Schrift: Die erste deutsche Nordpolexpedition von Dr. Otto Ule. (Preis 5 Ngr.) D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sah
  2. Vorlage: Döblinger; vergl. Berichtigung in Heft 36