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Die Gartenlaube (1867)/Heft 24

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 24.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Wo es irgend möglich gewesen, hatte der Steinmetz das Wappen des Erbauers des Hauses, eines Ritters von Hirschsprung, angebracht. Die steinernen Thür- und Fenstereinfassungen, ja, selbst einzelne Quadern der Fußboden zeigten den majestätischen Hirsch, wie er, die Vorderläufe hoch hebend, zum grausigen Sprung über einen Abgrund ansetzte. Auf den Thürpfosten einer der großen Staatsstuben im Vorderhause befanden sich auch die Bildnisse des Erbauers und seiner Ehegesponsin, langgestreckte Gestalten in Barett und Schneppenhaube. Der ehrenfeste Ritter blickte mit unvergänglich herausforderndem Stolz in die Welt, aus der längst sein Staub und seine „für ewig“ besiegelten und verbrieften Ansprüche hinweggeweht waren.

Felicitas stand droben an der Mündung der Treppe und sah mit großen, verwunderten Augen in eine halboffene Thür, die sie nicht anders als verschlossen kannte. … Wie sehr mußte die Ausführung ihres Racheactes alles Denken der sonst so peinlich pünktlichen Hausfrau in Anspruch genommen haben, daß sie darüber Schloß und Riegel vergessen konnte! … Hinter der Thür lag ein scheinbar endloser Corridor, der über eines der Hintergebäude hinlief und in welchen verschiedene Thüren mündeten. Eine derselben stand offen und ließ in eine Rumpelkammer mit einem sehr hochliegenden Mansardenfenster sehen. Sie war vollgestopft mit altem Gerümpel und da seitwärts an einem Rococo-Armsessel lehnte auch das Bild der Frau Commercienräthin. Es war nicht einmal gegen eine schützende Wand gekehrt; Staub und Spinnen durften sich nun ungestört des Gesichts bemächtigen, das dem Maler in der stolzen Ueberzeugung gesessen hatte, es werde für Kind und Kindeskinder bis in die fernste Zeit ein Gegenstand hoher Verehrung sein.

Die großen, hervortretenden, etwas lüsternen Augen hatten, so nahe gesehen, etwas Furchterregendes für das Kind – es wandte sich ängstlich ab, aber in dem Moment fuhr es wie ein Stich durch das kleine Herz und das Blut brauste nach dem Kopfe – den mit Seehundsfell überzogenen Koffer dort am Boden kannte ja die kleine Felicitas ganz genau! … Scheu, mit angehaltenem Athem, schlug sie den Deckel zurück – da lag obenauf ein hellblaues Wollkleidchen, dessen Säume und Bündchen zierliche Stickerei zeigten. Ach ja, das hatte ihr Friederike eines Abends ausgezogen, und dann war es verschwunden, und die kleine Felicitas mußte dafür ein abscheuliches, dunkles Kleid anlegen.

Immer tiefer und heftiger wühlten die kleinen Hände – was kam da Alles zum Vorschein, und wie stürmte es in der Kinderseele bei diesem Wiedersehen! … Alle diese Gegenstände, so elegant, als sollten sie den vornehmen Körper einer kleinen Prinzessin umhüllen, hatte die todte Mutter in den Händen gehabt. Felicitas erinnerte sich mit peinlicher Schärfe des süßen Gefühls, wenn die Mama sie angekleidet und mit ihren sammetweichen zarten Fingern berührt hatte. … Ach, hier tauchte auch das buntscheckige Kätzchen auf, das einst der ganze Stolz des Kindes gewesen! Es war auf eine kleine Tasche gestickt. – Halt, da steckte auch etwas drin, aber es war kein Spielzeug, wie das Kind anfänglich meinte, es war ein hübsches Petschaft von Achat, auf dessen silberner Platte derselbe majestätische Hirsch sich bäumte, den das Mauerwerk des Hellwig’schen Hauses bis zum Ueberdruß zeigte. Unter dem Wappen stand in feinen, flüchtigen Zügen M. v. H. … Das hatte gewiß der Mama gehört, und das Kind hatte einst die räuberische, kleine Hand danach ausgestreckt. – –

Höher und höher wuchs die Fluth der Erinnerungen und auf manche fiel ein Strahl des gereiften Verständnisses. Jetzt begriff sie jene Momente, wo sie, aus dem ersten Schlaf aufschreckend, den Vater im goldblitzenden Wamms und die Mutter mit den aufgelösten blonden Locken an ihrem Bettchen stehen sah – sie waren aus der Vorstellung heimgekommen … und da war auch jedesmal auf die arme Mama geschossen worden, und das Kind hatte so ahnungslos in das todtenbleiche Gesicht gesehen; es wußte aber noch, daß es an solchen Abenden stets stürmisch, wie in athemloser Hast, an das Mutterherz emporgerissen worden war. …

Stück um Stück der neuentdeckten Schätze wurden gestreichelt und geliebkost und dann sorgsam in den Koffer zurückgelegt, und als der Deckel Alles wieder verschloß, da schlang das Kind seine Arme um den kleinen, vielgereisten Kasten und legte das Köpfchen darauf – sie waren ja alte Cameraden, Zwei, die zusammen gehörten in der weiten Welt, welche nicht so viel Heimathboden für das Spielerskind hatte, als auch nur sein kleiner Fuß bedeckte. … Jetzt sah das erst so wildtrotzige Gesichtchen mild und versöhnt aus, als es, die zarte Wange auf die von den Motten halb zerfressenen Decke des Koffers gepreßt, mit geschlossenen Augen regungslos dalag.

Durch das Fenster zog die laue Luft aus und ein und hauchte einen Strom balsamischer Düfte in den abgelegenen, stillen Bodenwinkel … wie konnte sich dies berauschende Aroma, das ganzen Resedabeeten entquellen mußte, so hoch in die Lüfte versteigen? Und was waren das für Töne, die jetzt von fern herüber mit ihm herein strömten? … Felicitas öffnete die Augen und setzte sich horchend auf. Das konnte nicht die Orgel der nahen Barfüßerkirche sein – der Gottesdienst war ja längst aus. Ein gebildeteres [370] Ohr als das des harmlosen, unwissenden Kindes würde auch eher alles Andere, als diese Harmonien mit der Orgel in Verbindung gebracht haben – die Ouverture zum Don Juan wurde meisterhaft auf dem Clavier gespielt.

Felicitas schob einen wackligen Tisch unter das Fenster und stieg hinauf. Ah, was war das! … Freilich mit der geträumten Ausschau in die weite Gotteswelt war es hier nichts; vier Dächer bildeten ein festgeschlossenes Quadrat, von denen das gegenüberliegende die anderen überragte und dem Blick jede Fernsicht verwehrte, aber gerade dies Dach-vis-à-vis war für die zwei erstaunten, weitgeöffneten Kinderaugen ein Wunder, wie es die schönsten Märchenbücher nicht wunderbarer erzählen konnten. Dort auf der hohen, doch sanft geneigten Schrägseite gab es nicht etwa Ziegel, wie sie die anderen Dächer schwarzbraun, schmutzig und bemoost zeigten – nein, es war förmlich überschüttet mit Blumen, mit Astern und Dahlien, welche ihre bunten Häupter hoch droben in den Lüften mit derselben Sicherheit wiegten, wie drunten, dicht an der starken Muttererde. So weit ein pflegender menschlicher Arm von der am unteren Rand des Daches hängenden Galerie aus reichen konnte, stiegen die Blumenreihen empor, dann aber schloß sich ihnen ein in allen Nüancen des Roth spielendes Blättergewirr an, fast wie ein Mantel, der sich um die Schultern einer glänzenden Schönheit legt – die wilde Weinrebe reckte und streckte sich bis hinauf zum First; selbst auf die Nachbardächer krochen die Ranken noch mit ihren leuchtenden, gefingerten Blättern und den schwarzblauen Trauben. Die Galerie hatte die ganze Länge des Daches und hing so luftig und leicht da, als sei sie hingeweht, und doch trug die Brüstung ihres Geländers schwere Kästen voll Erde, aus denen dicke Resedabüschel quollen und Hunderte von Monatsrosen ihre lachenden Köpfchen steckten.

Ein, weißer, ziemlich plumper Gartenstuhl neben einem runden Tischchen, auf welchem ein Porcellan-Kaffeegeschirr stand, bewies unwiderleglich, daß Geschöpfe von Fleisch und Bein hier oben hausten; gleichwohl behielt die ursprüngliche Vermuthung des Kindes etwas für sich, nach welcher dort der kleine Vorbau, den eine Glasthür von der Galerie abschloß, das Hüttchen der Blumenfee sein mußte. Man sah weder Dach noch Mauern; es war Alles überwuchert von großblätterigem, schottischem Epheu; die Capuzinerkresse rankte sich hinauf, verstreute droben über die grüne Kuppel ihre gespornten Blüthenkelche mit den feurig orangegelben Sammetblättern und hing sie muthwillig schaukelnd über die Glasthür. Diese Thür klaffte ein wenig, und aus ihr quollen die Töne, die das Kind an’s Fenster gelockt hatten.

Ein Blick hinunter in den Raum, den die vier Hintergebäude umschlossen, ließ plötzlich eine Ahnung in der kleinen Felicitas aufdämmern. Da drunten krakelte und krähte es um die Wette – es war der Geflügelhof. Felicitas hatte ihn noch nie gesehen; denn aus Furcht, daß eines der scharrenden Geschöpfe in den Vorderhof, oder wohl gar in die Hausflur dringen könne, trug Friederike den Thürschlüssel stets in der Tasche. Wie oft aber war sie mit zornigem Gesicht in die Küche gekommen und hatte zu Heinrich hinübergescholten: „die Alte da oben gießt wieder einmal ihr nichtsnutziges Gras, daß die Rinnen überlaufen!“ … Ach, das nichtsnutzige Gras waren die Tausend süßer Blumengesichtchen da drüben, und das Wesen, das sie pflegte und behütete, war – die alte Mamsell, die ja auch in diesem Augenblick wieder den Sonntagnachmittag „entheiligte durch unheilige Lieder und lustige Weisen.“

Diese Gedanken waren kaum in dem Köpfchen aufgetaucht, als auch schon die kleinen Füße auf der Fensterbrüstung standen. Die ganze Elasticität der Kinderseele, die Leid und Kummer über etwas Neuem für einen Moment völlig vergessen kann, machte sich auch hier geltend. … Das Kind konnte ja klettern wie ein Eichhörnchen, und über die Dächer hinzulaufen, war eine Kleinigkeit. Da unten auf den zwei an den Dächern hängenden Rinnen ließ es sich jedenfalls prächtig marschiren; sie sahen zwar etwas bemoost und wackelig aus, und dort in der Ecke, wo sie zusammenstießen, hingen beide schief, allein sie zerbrachen jedenfalls noch lange, lange nicht und ließen sich ja gar nicht vergleichen mit dem dünnen Seil, auf welchem Felicitas noch viel kleinere Mädchen, als sie selbst war, hatte tanzen sehen. Sie schlüpfte zum Fenster hinaus, und nach zwei Schritten über das abschüssige Dach stand sie in der Rinne. Es ächzte und knackte widerwillig unter den Füßchen, die tapfer vorwärts trippelten – rechts nicht der mindeste Halt und links eine gähnende Tiefe von vier Stockwerken – wenn das die Mutteraugen gesehen hätten! – aber es ging vortrefflich. Noch ein Hinaufklettern auf das bedeutend höhere Dach, dann ein Sprung über das Geländer, und das Kind stand mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen mitten unter den Blumen und sah über die anderen Gebäude hinaus in die weite, weite Welt, auf die ein purpurglühender Abendhimmel niederstrahlte.

Auf dem runden Tischchen lagen auch verschiedene Zeitungen, und auf einer derselben las das Kind im Vorüberschreiten lächelnd den Titel: „Die Gartenlaube“. Eine Gartenlaube, ja, die paßte freilich prächtig hierher, wo es so hell und sonnig war und wo eine so reine, frische Luft wehte!

Und nun stand das kleine Mädchen da und blickte schüchtern durch die Glasscheiben, die vielleicht noch nie ein Kindergesicht wiedergespiegelt hatten. … Wuchsen denn die Epheuzweige durch das Dach und rankten sich da drinnen in dem großen Zimmer weiter? Von der Wandbekleidung konnte man nichts sehen, sie war völlig überstrickt von Gezweig, aber in kleinen Zwischenräumen traten Postamente aus der Wand hervor, auf denen große Gipsbüsten standen – eine merkwürdige Versammlung ernster, bewegungsloser Köpfe, die sich leuchtend und geisterhaft abhoben von dem kräftigen Grün der Blätterwand. Sie ließen es sich schweigend gefallen, daß die Epheuranken Allotria trieben und sich hier quer um die Brust des Einen, und dort als Kranz um eines Anderen ernste Stirne schlangen. Die Muthwilligen machten es ja mit den Fenstern nicht besser; sie hingen wie eine grüne Wolke verdunkelnd über den Vorhängen, und doch waren diese zwei Fenster zwei prächtige Landschaftsbilder, sie ließen draußen die Straßendächer weit unter sich und faßten da drüben den herbstlich bunten Wald auf dem Bergrücken und die fahlen Streifen der Stoppelfelder in ihren Rahmen.

Unter den Fenstern stand ein Flügel. Die alte Mamsell, genau so gekleidet wie gestern, saß davor und ihre zarten Hände griffen mit gewaltiger Kraft in die Tasten. Das Gesicht sah etwas verändert aus; sie trug eine Brille, und ihre gestern so schneebleichen Wangen waren geröthet.

Die kleine Felicitas war leise eingetreten und stand in dem Bogen, welchen der Vorbau bildete. … Fühlte die alte Dame die Nähe eines menschlichen Wesens, oder hatte sie ein Geräusch gehört – sie brach plötzlich mitten in einem rauschenden Accord ab, und ihre großen Augen richteten sich sofort über die Brille hinweg auf das Kind. Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch die schwächliche Gestalt der Einsamen, ein leiser Schrei entfloh ihren Lippen; sie nahm mit der zitternden Rechten die Brille ab und erhob sich, während sie sich auf das Instrument stützte.

„Wie kommst Du hierher, mein Kind?“ fragte sie endlich mit unsicherer Stimme, die jedoch trotz des Schreckens sanft und mild blieb.

„Ueber die Dächer,“ versetzte das ängstlich gewordene kleine Mädchen beklommen und zeigte mit der Hand zurück nach dem Hof.

„Ueber die Dächer? – Das ist unmöglich. Komm’ her, zeige mir, wie Du gegangen bist.“ Sie faßte die Hand des Kindes und trat mit ihm auf die Galerie. Felicitas deutete auf das Mansardenfenster und nach den Rinnen. Die alte Dame schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht.

„Ach, erschrecken Sie ja nicht!“ sagte Felicitas mit ihrer lieblich unschuldigen Stimme. „Es ging wirklich ganz gut. Ich kann klettern wie ein Junge, und Doctor Böhm sagt immer, ich sei ein Flederwisch und hätte keine Knochen.“

Die alte Mamsell ließ die Hände vom Gesicht fallen und lächelte – es lag noch so viel Anmuth in diesem Lächeln, das zwei Reihen sehr schöner, weißer Zähne sehen ließ. Sie führte die Kleine in das Zimmer zurück und setzte sich in einen Lehnstuhl.

„Du bist die kleine Fee, gelt?“ sagte sie, indem sie Felicitas an ihre Kniee heranzog. „Ich weiß es, wenn Du auch nicht auf rosa Gazewolken zu mir hereingeflogen bist. … Dein alter Freund Heinrich hat mir heute Mittag von Dir erzählt.“

Bei Heinrich’s Namen kam die ganze Wucht des Leides wieder über das Kind. Wie heute Morgen stieg eine glühende Röthe in die Wangen, und Groll und Weh zogen jene herben Linien um den kleinen Mund, die über Nacht den Ausdruck des Kindergesichts zu einem völlig anderen gemacht hatten. … Den Augen der alten Mamsell entging diese plötzliche Veränderung nicht. Sie [371] nahm schmeichelnd das Gesicht des kleinen Mädchens zwischen ihre Hände und bog es zu sich herab.

„Siehst Du, mein Töchterchen,“ fuhr sie fort, „seit vielen Jahren kommt der Heinrich allsonntäglich herauf zu mir, um Verschiedenes für mich zu besorgen. … Er weiß, daß er nie gegen mich erwähnen darf, was sich drunten im Vorderhause ereignet, und bisher hat er auch nie dies Verbot überschritten… Wie lieb muß er die kleine Fee haben, daß er plötzlich gegen meinen so streng ausgesprochenen Wunsch handeln konnte!“

Die trotzigen Augen des Kindes schmolzen.

„Ja, er hat mich lieb – sonst Niemand,“ sagte sie und ihre Stimme brach.

„Sonst Niemand?“ wiederholte die alte Dame, während ihr unaussprechlich sanfter Blick ernst liebevoll auf dem Gesicht der Kleinen ruhte. „Weißt Du denn nicht, daß Einer da ist, der Dich immer lieb haben wird, auch wenn sich alle Menschen von Dir abwenden sollten? … Der liebe Gott –“

„O, der will mich ja gar nicht, weil ich ein Spielerskind bin!“ unterbrach Felicitas die Sprecherin mit ausbrechender Heftigkeit. „Frau Hellwig hat heute Morgen gesagt, meine Seele sei so wie so verloren, und Alle drunten im Vorderhause sagen, er habe meine arme Mama verstoßen, sie sei nicht bei ihm… Ich habe ihn aber auch nicht mehr lieb – ganz und gar nicht, und ich will auch nicht zu ihm, wenn ich gestorben bin – was soll ich denn dort, wo meine Mama nicht ist?“

„Gerechter Gott, was haben diese Grausamen mit ihrem sogenannten christlichen Glauben aus Dir gemacht, armes Kind!“

Die alte Dame erhob sich hastig und öffnete eine Seitenthür. Es war dem Kind, als umflatterten hier weiße Wölkchen des Himmels sein Haupt. Ueber das in einer Ecke stehende Bett, über Thüren und Fenster flossen weiße Mullvorhänge herab. Die blaßgrüne Wand des kleinen Gemachs tauchte nur in einzelnen schmalen Streifen zwischen dem wolkigen Gewebe auf… Welch’ ein Contrast zwischen diesem kleinen Raum, so frisch und makellos rein, wie der Gedanke, der aus einer gesunden, unbefleckten Seele kommt, und jenem düsteren Boudoir drunten im Vorderhause, in welchem Frau Hellwig während der frühen Morgenstunden auf dem Betstuhl kniete, auf jenem Betstuhl, dessen gestickte Polster wohl für die grausigen Marterwerkzeuge, nirgends aber für ein Symbol des Friedens und der Versöhnung Raum hatten.

Auf dem Nachttisch, neben dem Bett, lag eine große, vielgebrauchte Bibel. Die alte Dame schlug sie mit sicherer, kundiger Hand auf und las laut und tiefbewegt: „Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingend Schelle.“ Und sie las weiter und weiter und schloß mit dem Vers: „Die Liebe hört nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden, und die Sprachen aufhören werden und das Erkenntniß aufhören wird.“

„Und diese Liebe kommt von ihm, ja, Gott ist diese Liebe selbst,“ sagte sie und legte ihren Arm um die Schultern des Kindes. „Deine Mama ist sein Kind, wie wir Alle, und sie ist eingegangen zu ihm, denn ‚die Liebe höret nimmer auf.‘ .. Ruhe sie getrost da droben, und wenn Du Nachts aufblickst zum Himmel mit seinen Millionen wundervoller Sterne, so denke Du fest und sicher: ‚Neben einem solchen Himmel giebt es keine Hölle!‘ … Und nun hast Du ihn auch wieder lieb, gelt, recht von Herzen lieb, meine kleine Fee?“

Das Kind antwortete nicht, aber es schlang leidenschaftlich beide Arme um die milde Trösterin, und ein heißer Thränenstrom stürzte aus seinen Augen. –

Zwei Tage darauf hielt ein Wagen vor dem Hellwig’schen Hause. Die Wittwe stieg ein mit ihren zwei Söhnen, um ihnen das Geleit bis zur nächsten Stadt zu geben. Johannes ging nach Bonn, um Medicin zu studiren, zuvor aber sollte er Nathanael demselben Institut übergeben, in welchem er erzogen worden war.

Heinrich stand breitspurig und behaglich in der offenen Hausthür neben Friederike und sah dem Wagen nach, der langsam und schwerfällig über das holprige Pflaster des Marktplatzes hinschwankte. Es zog etwas wie ein leiser Pfiff über seine gespitzten Lippen – bei ihm stets das Anzeichen einer wohligen Stimmung – und beide Daumen steckten fest eingeklemmt in den gewaltigen Fäusten, was der Volksmund ohngefähr in die Worte übersetzt: „Herr, behüte uns, daß das Unheil nicht wiederkehre!“

„Da können nun so ein halb Mandel Jährchen vergehen, bis wir den Einen oder den Anderen wieder in’s Haus kriegen,“ sagte er seelenvergnügt zu Friederike, die sich pflichtschuldigst mit dem Schürzenzipfel über die Augen fuhr.

„Und das ist Dir wohl ganz recht, Du Dickkopf?“ fuhr sie ihn an. „Ein schöner Dank für das Trinkgeld, das Du vom jungen Herrn gekriegt hast!“

„Geh’ in Deine Küche – auf dem Heerde liegt das Zeug noch; ich rühr’s mit keinem Finger an! Kannst Dir meinetwegen einen rothen Rock und gelbe Schuhe zum Vogelschießen dafür kaufen.“

„Ach, Du gottheilloser Mensch! … Einen rothen Rock und gelbe Schuhe, wie Eine, die auf dem Seile tanzt!“ rief die alte Köchin erbittert. „Na, es ist nur gut, daß man weiß, warum Du so wüthend bist – der junge Herr hat Dir’s heute Morgen gut gezeigt!“

„I, was Du nicht Alles weißt!“ warf der Hausknecht gleichmüthig ein. Er steckte die Hände in die Seitentaschen seines Rockes, zog die Schultern in die Höhe und pflanzte sich noch breiter auf die Schwelle als bisher. Diese Haltung empörte Friederikens Gemüth stets bis zur Leidenschaft, denn es lag die äußerste Verachtung dessen drin, was sie sagte.

„Hat der Mensch da zwanzig Thaler Lohn und höchstens fünfzig Thaler in der Sparcasse,“ fuhr sie giftig fort, „und stellt sich vor seine reiche Herrschaft hin wie der Großmogul und spricht: ‚Geben Sie mir das fremde Kind, ich bringe es bei meiner Schwester unter, es soll Ihnen keinen Heller kosten,‘ und –“

„Und da hat der junge Herr geantwortet,“ ergänzte Heinrich, indem er das Gesicht langsam der Erzürnten zuwendete: „‚das Kind ist in den besten Händen, Heinrich; es bleibt bis zu seinem achtzehnten Lebensjahre unter allen Umständen hier im Hause, und Du wirst Dich nicht unterstehen, es je zu bestärken, wenn es widerspenstig gegen meine Mutter ist, und – solltest Du einmal wieder die alte Küchenhexe draußen beim Horchen ertappen, so nagle sie ohne Gnade am Ohrläppchen auf der Thür fest.‘ Was meinst Du denn, Friederike, wenn ich jetzt –“ er hob den Arm und die alte Köchin floh schimpfend in die Küche.


10.

Neun Jahre waren an dem stattlichen Hause auf dem Marktplatz vorübergestrichen; aber weder auf die eisenfesten Mauern, noch in das Frauenprofil am wohlbekannten Fenster des Erdgeschosses hatten sie einen Zug des Verfalles zu zeichnen vermocht. … Vielleicht sahen die Drachenköpfe hoch oben am Dach für den aufmerksamen Beschauer etwas mitgenommen aus – kein Wunder, wenn auch Drachenköpfe, weinten sie doch Jahr aus, Jahr ein mit dem Himmel und gossen seine Thränenströme auf das Pflaster; nachher kam wieder die Sonne und durchglühte sie, solcher Wechsel verändert die Physiognomie. Die Frau da drunten aber stand auf dem Boden der starren Ueberzeugung, auf dem hohen Piedestal der eigenen Unfehlbarkeit – in dieser wandellosen, eisigkalten Region giebt es keinen Zweifel, keine Kämpfe, kein inneres Ringen; daher die äußere Versteinerung, die man eine gute Conservation zu nennen pflegt.

Eine auffallende Veränderung zeigte das alte Haus aber doch: die Rouleaux in der großen Erkerstube des ersten Stockes waren seit einigen Wochen stets aufgerollt, und Blumentöpfe standen auf den Fenstersimsen. Der Blick der Vorübergehenden suchte pflichtschuldigst nach wie vor zuerst das Fenster mit dem Asklepiasstock, und Frau Hellwig konnte der ehrerbietigen Grüße stets sicher sein, aber dann huschten die Augen verstohlen hinauf nach dem Erker. Dort, inmitten der steinernen Fenstereinfassung, erschien häufig ein reizendes Frauengesicht von förmlich blendender Frische, ein Kopf voll aschblonder Locken, mit blauen Taubenaugen, die fast kinderhaft groß und rund in die Welt schauten, und dieser Kopf saß auf einem blühenden Leib vom schönsten Ebenmaß, den meist ein weißes Mullkleid umhüllte. Manchmal, freilich nicht oft, erhielt das liebliche Bild im Fensterrahmen aber auch eine entstellende Zugabe – eine Kindergestalt war dann auf einen Stuhl geklettert und sah neugierig über die Schulter der Dame hinunter auf den Marktplatz; es war ein armes, durch die Scrophelkrankheit furchtbar entstelltes Köpfchen; die Hand, welche das spärliche, weißblonde Haar so sorgfältig in zierliche Ringel kräuselte, machte sich vergebliche Mühe – unter dem künstlichen Lockenbau [372] trat die Häßlichkeit des fahlen, aufgedunsenen Gesichtchens nur um so grotesker hervor, und der stets höchst elegante Anzug war auch selten geeignet, die unförmliche Taille und die aufgetriebenen Gelenke des Kindes zu verbergen. Allein bei allem Contrast in der äußeren Erscheinung waren Beide doch Mutter und Kind, und um des letzteren willen waren sie nach Thüringen gekommen.

Innerhalb der letztverflossenen neun Jahre nämlich hatte ein Ingenieur seine Wünschelruthe ziemlich nahe dem Weichbild der Stadt X. spielen lassen; der moderne Mosesstab hatte dem Boden einen bitteren Quell entlockt, der an der Luft, wenn auch nicht zu Gold und Silber, so doch zu sehr schätzenswerthen Salzkrystallen erhärtete. Das war ein Fingerzeig für die Bewohner von X. Sie etablirten ein Soolbad, das im Verein mit dem ausgezeichneten Renommée der Thüringer Luft sehr bald Hülfesuchende aus aller Herren Länder herbeizog.

Die junge Dame war auch in die Stadt gekommen, um ihr Kind in der Salzfluth zu baden, und zwar auf Anrathen des Professors Johannes Hellwig in Bonn… Ja, die Frau da drunten hinter dem Asklepiasstock hatte viel für ihren Sohn gethan! Sie hatte es durchgesetzt, daß er frühzeitig unter das Regiment des strenggläubigen Verwandten am Rhein gekommen war; sie hatte es nie geduldet, daß er während seines siebenjährigen Fernseins auch nur ein einziges Mal auf Ferien nach Hause kommen durfte; sie hatte jeden Morgen pünktlich und regelrecht seinen Namen auf dem Betstuhl genannt und war nie müde geworden, die Zahl und Beschaffenheit seiner Hemden von der Ferne aus streng zu controliren – und da war er nun auch ein berühmter Mann geworden.

Es würde übrigens dem jungen Professor bei all’ seiner Berühmtheit und Wohlerzogenheit schwerlich gelungen sein, einen seiner Patienten in der geschonten Erkerstube seiner Mutter unterzubringen, wären nicht seine beiden Schützlinge Tochter und Enkelin jenes strenggläubigen Verwandten am Rhein gewesen, auf welchen Frau Hellwig große Stücke hielt. Nebenbei hatte auch die schöne, junge Frau den Vorzug eines hübschen Titels – sie war die Wittwe eines Regierungsrathes in Bonn. Es konnte der Welt gegenüber ganz und gar nichts schaden, wenigstens eine kleine Regierungsräthin in der Familie zu haben, da Herr Hellwig sich stets starrköpfig geweigert hatte, seine Gattin zu einer Frau Commissionsräthin oder dergleichen zu machen.

Frau Hellwig saß am Fenster auf der Estrade. Man hätte meinen können, die Zeit sei auch spurlos an dem feinen, schwarzen Wollkleide, an Kragen und Manschetten vorübergegangen; bis auf die kleine Nadel, die den Kragen unter dem Kinn zusammenhielt, war der Anzug genau derselbe, wie wir ihn am ersten Abend an der großen Frau kennen gelernt haben. Nur erschien die Büste voller; die engen Aermel umschlossen drall die starken Oberarme, und der Schneider hatte, vielleicht heimlicherweise, den Rock faltenreicher um die plumpe, sehr ungraciöse Taille gereiht… Ihre großen weißen Hände lagen mit dem Strickzeug feiernd im Schooße – sie hatte in diesem Augenblick Wichtigeres zu thun.

An der Thür, in sehr ehrerbietiger Entfernung, stand ein Mann; seine schmale Gestalt steckte in einem abgeschabten Rock, und die Hand, die er öfter beim Sprechen hob, war voller Schwielen. Er sprach leise und stockend – war es doch so unheimlich still im Zimmer; nur das Ticken der Wanduhr begleitete seinen Vortrag. Aus dem Mund der gestrengen Frau aber kam kein ermuthigendes Wort, ja, es schien, als fehle dieser regungslosen Gestalt sogar der Athemzug, als könne der starre, unbewegliche Blick stets und immer nur das eine Ziel haben – das ängstliche, blasse Gesicht des Mannes, der endlich erschöpft schwieg und sich mit seinem kattunenen Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte.

„Sie sind an die Unrechte gekommen, Meister Thienemann,“ sagte Frau Hellwig nach einer abermaligen Pause kalt. „Ich zersplittere mein Geld nicht in so kleine Capitalien.“

„Ach, Madame Hellwig, so ist’s ja auch gar nicht gemeint; ich werde doch nicht so unbescheiden sein!“ entgegnete der Mann lebhaft und trat einen Schritt näher. „Aber Sie sind bekannt als eine wohlthätige Dame, denn Sie sammeln ja Jahr aus, Jahr ein für die Armen und stehen so oft im Wochenblatt mit Lotterien und dergleichen, und da wollte ich nur bitten, mir für ein halbes Jahr gegen Zinsen das Capitälchen von fünfundzwanzig Thalern aus dem Gesammelten vorzustrecken.“

Frau Hellwig lächelte – der Mann wußte nicht, daß dies ein Todesurtheil für seine Hoffnung war.

„Ich könnte beinahe denken, es sei nicht ganz richtig bei Ihnen, Meister Thienemann – diese Zumuthung ist wirklich neu!“ sagte sie beißend. „Allein ich weiß ja, daß Sie sich um die Bestrebungen der Gläubigen für die heilige Kirche nicht kümmern, und deshalb will ich Ihnen sagen, daß von den dreihundert Thalern, die gegenwärtig disponibel in meinen Händen sind, nicht ein Heller hier in der Stadt bleibt. Ich habe es für die Mission gesammelt – es ist heiliges Geld, bestimmt zu einem Gott wohlgefälligen Werke, nicht aber, um Leute zu unterstützen, die arbeiten können.“

„Madame Hellwig, an Fleiß lass’ ich’s nicht fehlen!“ rief der Mann mit halberstickter Stimme. „Aber die Krankheit hat mich in’s Elend gebracht. … Du lieber Gott, wie noch bessere Zeiten für mich waren, da hab’ ich über Feierabend Kleinigkeiten gearbeitet und hab’ sie in Ihre Lotterien gegeben, weil ich dachte, sie kämen unseren Armen zu Gute, und nun geht das Geld hinaus in die weite Welt, und bei uns giebt’s doch auch Viele, die keinen Schuh an den Füßen und im Winter kein Scheit Holz auf dem Boden haben.“

„Ich verbitte mir alle Anzüglichkeiten! … Wir thun übrigens hier auch Gutes, aber mit Auswahl, Meister Thienemann. … Solche Männer, die im Handwerkerverein Vorträge voller Irrlehren mit anhören, bekommen natürlich nichts. Sie thäten auch besser, bei Ihrer Hobelbank zu stehen, als daß Sie in die Sterne und in die Steine gucken und behaupten, es sei da auch Vieles anders, als die heilige Schrift aussage. … Ja, ja, dergleichen gotteslästerliche Reden kommen uns schon zu Ohren und wir merken sie uns fleißig für vorkommende Fälle. … Sie kennen nun meine Ansicht und haben bei mir gar nichts zu hoffen!“

Frau Hellwig wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus.

„Lieber Gott, was muß man sich doch Alles sagen lassen, wenn man in Noth ist!“ seufzte der Mann. „Das verdanke ich meiner Frau; sie hat nicht geruht, bis ich in dies Haus gegangen bin.“

Er sah noch einmal nach dem zweiten Fenster des Zimmers, und als ihm auch von dort her weder Hülfe noch ein tröstendes Wort kam, ging er zur Thür hinaus. Der letzte Blick des armen Handwerkers hatte der Regierungsräthin gegolten, die Frau Hellwig gegenübersaß. War je eine weibliche Erscheinung geeignet, eine frohe Hoffnung in dem Herzen Hülfsbedürftiger zu erwecken, so war es jene rosige Gestalt im duftigen, fleckenlos weißen Kleide. Die weichen Linien des Profils, der[WS 1] Glorienschein der hellen Locken über der Stirn, die blauen Augen, das Alles machte den Gesammteindruck eines Engelskopfes – für den aufmerksamen Beobachter jedoch den eines gemeißelten; denn während mehr als einmal das Roth der Entrüstung über Frau Hellwig’s Stirn geflogen war, und der Bittende so beweglich in Stimme und Geberden seine sorgenvolle Angst an den Tag gelegt hatte, war von jenem lieblichen Oval auch nicht einen Augenblick der Ausdruck lächelnder Ruhe gewichen. Der schöne Busen hob und senkte sich in gleichmäßigen Athemzügen; die halbgestickte Rose unter ihren Fingern hatte sich während der kleinen Scene um ein Blatt vermehrt, und das strengste Auge würde an den sorgfältig abgezählten Kreuzstichen auch nicht den geringsten Makel entdeckt haben.

„Du hast Dich doch nicht geärgert, Tantchen?“ fragte sie aufblickend mit lieblich schmeichelnder Stimme, als der Meister das Zimmer verlassen hatte. „Mein seliger Mann stand auch mit diesen Fortschrittlern stets auf sehr gespanntem Fuß, und das Vereinswesen war ihm ein Gräuel. … Ah, sieh’ da, Caroline!“

Bei diesem Ausruf winkte sie nach der Küchenthür. Dort war schon längst, noch während der Anwesenheit des Tischlermeisters, ein junges Mädchen leise und geräuschlos eingetreten. … Wer vor vierzehn Jahren die schöne junge Frau des Taschenspielers vor den Gewehrläufen der Soldaten hatte stehen sehen, der mußte unwillkürlich erschrecken bei dieser wiedererstandenen Erscheinung. Es waren dieselben Körperformen, wenn auch zarter und mädchenhafter und hier in einen groben, dunklen Stoff gehüllt, während jenes unglückliche Weib der gleißende Schimmer theatralischen Pompes umgeben hatte. Es waren dieselben tadellosen Linien des Kopfes mit der perlmutterweißen, schmalen Stirn und den unmerklich herabgesenkten Mundwinkeln, die dem Gesicht einen hinreißenden Ausdruck leiser Schwermuth verliehen. Bei jener Unglücklichen hatte der thränenvolle Blick aus dunkelgrauen Augensternen diesen Ausdruck vollendet; das junge Mädchen dagegen hob

[373]

Bei der Dorfsibylle.
Nach der Natur aufgenommen von Herbert König.

[374] in diesem Moment die schwarzbewimperten Lider und ein Paar brauner, leuchtender Augen wurde sichtbar. Sie zeugten von einer Seele, die sich nicht überwunden gab, die sich nicht hatte beugen lassen zu widerstandsloser Duldung; es lag Kraft und Opposition in diesem Blick – rollte doch auch polnisches Blut in den Adern dieses jungen Geschöpfes, ein versprengter Tropfen jenes edlen, heißen Stromes, der sich immer wieder erhebt zu erfolglosem Kampfe gegen die Uebermacht.

Wir wissen jetzt, daß das an der Thür stehende junge Mädchen Felicitas ist, wenn sie auch nothgedrungen auf den simplen Namen Caroline hört – den „Komödiantennamen“ hatte Frau Hellwig sofort bei Beginn ihrer Selbstherrschaft „zu dem Theaterplunder in der Dachkammer geworfen“.

Felicitas näherte sich der Herrin des Hauses und legte ein bewunderungswürdig gesticktes Battisttaschentuch auf den Nähtisch derselben. Die Regierungsräthin griff hastig danach.

„Soll das auch verkauft werden zum Besten der Missionscasse, Tante?“ fragte sie, während sie das Tuch entfaltete und die Stickerei prüfte.

„Je nun, freilich,“ versetzte Frau Hellwig; „Caroline hat es ja zu diesem Zweck arbeiten müssen – sie hat lange genug damit getrödelt. Ich denke, drei Thaler wird es doch wohl werth sein.“

„Vielleicht,“ meinte die Regierungsräthin achselzuckend. „Woher haben Sie denn die Zeichnung zu den Ecken, liebes Kind?“

Ein leises Roth stieg in Felicitas’ Gesicht. „Ich habe sie selbst entworfen,“ antwortete sie mit leiser Stimme.

Die junge Wittwe sah rasch auf. Ihr blaues Auge veränderte sich für einen Moment – es schillerte fast in’s Grünliche.

„So, selbst entworfen?“ wiederholte sie langsam. „Nehmen Sie mir’s nicht übel, Kindchen, aber das ist eine Kühnheit, die ich mit dem besten Willen nicht fasse. Wie kann man nur so etwas wagen ohne die erforderlichen Kenntnisse! … Das ist echter Battist, der Tante kostet dies Stück mindestens einen Thaler – es ist verdorben durch die stümperhafte Zeichnung.“

Frau Hellwig fuhr heftig empor.

„Ach, sei nicht böse auf Caroline, liebe Tante, sie hat es gewiß nur gut gemeint,“ bat begütigend mit sanfter Stimme die junge Dame. „Vielleicht läßt es sich doch noch verwerthen… Sehen Sie, liebes Kind, ich habe mich grundsätzlich nie mit Zeichnen abgegeben, der Stift in der weiblichen Hand gefällt mir nicht, aber nichtsdestoweniger habe ich ein sehr, sehr scharfes Auge für eine fehlerhafte Zeichnung… Gott im Himmel, was ist das für ein monströses Blatt hier!“

Sie zeigte auf ein längliches Blatt, dessen Spitze umgebogen war und das sich in täuschenden Umrissen abhob von dem durchsichtigen Gewebe. Felicitas erwiderte kein Wort, doch sie preßte die zarten Lippen aufeinander und sah fest in das Gesicht der Tadlerin… Die Regierungsräthin wandte sich hastig ab und legte die Rechte über die Augen.

„Ach, liebes Kind, jetzt hatten Sie wieder einmal Ihren stechenden Blick!“ klagte sie. „Es schickt sich wirklich nicht für ein junges Mädchen in Ihren Verhältnissen, Andere so herausfordernd anzusehen. Denken Sie nur an das, was Ihnen Ihr wahrer Freund, unser guter Secretär Wellner, immer sagt; ‚Hübsch demüthig, liebe Caroline!‘ … Sehen Sie, da haben Sie nun gleich wieder einen verächtlichen Zug um den Mund – das könnte Einen beinahe ärgern! … Wollen Sie sich denn wirklich auf die Romantische spielen und das Anerbieten dieses Ehrenmannes hartnäckig zurückweisen, weil – Sie ihn nicht lieben? … Lächerlich! Da wird schließlich mein Vetter Johannes doch einen Machtspruch thun müssen!“

Wie mußte sich das junge Mädchen in der Selbstbeherrschung geübt haben! Bei den letzten Worten der Regierungsräthin fuhr sie empor; man sah, wie ihr das rebellische Blut nach dem Kopfe stürmte; das plötzlich hoch empor gerichtete Haupt erhielt für einen Augenblick etwas Dämonisches durch den Ausdruck des Hasses und der Verachtung. Dennoch sagte sie gleich darauf ruhig und kalt: „Ich werde es darauf ankommen lassen.“

„Wie oft soll ich Dich denn noch bitten, Adele, diesen widerwärtigen Handel nicht mehr zu berühren!“ sagte Frau Hellwig erbittert. „Bildest Du Dir denn ein, in wenig Wochen diesen Starrkopf, dieses Stück Holz zu brechen, nachdem ich’s neun Jahre umsonst versucht habe? Sobald Johannes kommt, wird die Sache ein Ende nehmen, und ich mache meine drei Kreuze… Jetzt geh’ und hole mir Hut und Mantille,“ herrschte sie Felicitas zu. „Ich hoffe zu Gott, daß diese Stümperei,“ sie warf das Taschentuch verächtlich bei Seite, „die letzte ist, die Du Dir in meinem Dienste hast zu Schulden kommen lassen!“

Felicitas ging schweigend hinaus. Bald darauf schritten Frau Hellwig und ihr Gast über den Marktplatz. Die schöne Frau führte ihr krankes Kind mütterlich zärtlich an der Hand. Verschiedene Köpfe fuhren aus den Fenstern und sahen der reizenden Erscheinung nach, die für Alle ein sanftes, kinderfrohes Lächeln hatte. Rosa, ihr Dienstmädchen, und Friederike folgten mit Körben am Arm; das Abendbrod sollte draußen im Garten gegessen werden, zugleich wollte man Kränze und Guirlanden binden. Morgen wurde der junge Professor nach neunjähriger Abwesenheit im Elternhause erwartet, und obgleich Frau Hellwig über die „Alfanzereien“ brummte, ließ es sich die Regierungsräthin doch nicht nehmen, das Zimmer des Ankömmlings zum Willkommen zu schmücken.


(Fortsetzung folgt.)




Die Dorfsibylle.


Ich hörte, der Winzer, bei dem ich in der Nähe Dresdens wohne, sei bei einer Somnambule gewesen, um sich Rath und Hülfe für seine kranke Frau zu holen. Ich ließ ihn herauf kommen, und er mußte mir erzählen.

„Glauben Sie denn an das Zeug, das Ihnen die Frau vorschwatzte?“ frug ich.

„Ei ja,“ erwiderte der Mann ernsthaft, „wenn man nicht dran glaubt, hilft’s auch nichts, und die Schlafende merkt auch gleich den Ungläubigen heraus.“

„Was hat sie Ihnen denn gesagt?“

„Nun, erst hielt sie eine Predigt so schön, wie sie nur der Prediger auf der Kanzel halten kann, und dann sprach sie von den Welthändeln, daß die Türken noch in diesem Jahre nach Deutschland kommen, aber an der Elbe geschlagen würden, und daß die Pferde bis an die Fesseln im Blut waten, und die Kinder an die Hausthüren genagelt würden.“

„Welche Mittel gab sie Ihnen für Ihre Frau?“

„Ja, das darf ich Niemand sagen, sonst hilft’s nichts.“

„Und wo wohnt die Wahrsagerin?“

„Sie fahren mit der Bahn bis Meißen, dann müssen Sie zu Fuße durch das T..…sch-Thal, und auf dem S……berg wohnt sie, das Haus zeigt Ihnen jedes Kind. Sonntags, Dienstags und Freitags hat sie ihre Stunden. Doch Sonntags bin ich nicht dort gewesen, dann ist es immer so voll, in der Woche ist’s besser – aber sie ist auch viel auf Reisen und wird meilenweit geholt.“ –

Die Schwindlerin fing an mich zu interessiren, und ich beschloß, ihr ebenfalls eine Visite abzustatten. Ich hatte nach einem tüchtigen Marsche das erwähnte Thal hinter mir und frug, in einem öden Dorfe angekommen, einen Jungen nach dem S……berg. „Sie wollen wohl zur Schlafenden?“ „Gewiß!“ „Dann gehen Sie nur den Leuten dort nach, die wollen auch hin.“ – Vor mir schritten fünf Männer, die ich binnen Kurzem erreichte und alsbald in ein Gespräch verwickelte. Der Eine von ihnen ging besonders bereitwillig auf meine Fragen und Bemerkungen ein, die Andern verhielten sich schweigend, wie Bauern, die sie waren, zu thun pflegen, da selbst das vorsichtigste Ausholen sie mißtrauisch macht. Aber jener Eine war vorurtheilsfreier, er schien mir seines Handwerks ein sogenanntes Pfuschergenie zu sein, das Uhren reparirt, Bäume oculirt, Fensterscheiben einzieht, in Blech und Messing arbeitet und überall aushilft, wo es an dem betreffenden sonstigen Fachmanne fehlt.

„Ja gewiß, gnädiger Herr,“ (so betitelte er mich) „das ist eine ganz besonders merkwürdige Frau,“ gab er mir zur Antwort und dabei blieb er stehen und stampfte zur Bekräftigung seinen braunpolirten Stock tief in die lehmige Erde, „ganz wunderbar merkwürdig, sage ich Ihnen! Denken Sie nicht, weil Unsereins ein gemeiner Mann [375] ist, man ließe sich so allerhand Dummheiten vormachen. Aber wenn ich Ihnen sage, daß dort in dem kleinen Hause – sehen Sie dort, das mit dem Strohdach und Backofen – schon hundert und aber hundert Menschen gewesen sind, und nicht etwa nur geringe Leute, nein, auch vornehme Stadtherren und gnädige Fräuleins, da muß man glauben, daß an der Sache was ist. Und was sie redet, mag noch gehen, aber, gnädiger Herr, die Krämpfe, wenn sie die Krämpfe und schrecklichen Anfälle kriegt und die Augen verdreht und die Fäuste ballt, da muß man sagen, daß das was Geheimes und Uebernatürliches ist. Und dabei kann sie nicht lesen und nicht schreiben und spricht wie ein Doctor, und so feierlich, daß Einem die Gänsehaut über den Buckel läuft. Na, wir werden uns wieder sprechen – jetzt muß ich meine Leute einholen.“

Nach fünf Minuten stand ich vor dem kleinen Hause mit dem Strohdache, aus dessen Innerem ein Gesumme drang, dazwischen eine laute, scharfe Stimme in abgemessenen Pausen. Das Haus an und für sich war schon merkwürdig genug, ob seiner Kleine und gänzlichen Verfallenheit. Ein Bogengang aus Weinbergspfählen und Faßreifen construirt, mit den Ueberresten vertrockneter Bohnenranken geschmückt, bildete eine Art Vorhalle. Die Thür war nur angelehnt. Ein kleines Mädchen, das Controle über die Passanten zu führen schien, war sichtlich über mein Erscheinen betreten und flüsterte mir leise zu: „Sie können nicht mehr ‘rein, ‘s ist schon zu voll.“ Sie bei Seite schiebend, und ein blankes Fünfgroschenstück, das in solchen Fällen nie die gewünschte Wirkung verfehlt, ihr in die Hand drückend, war Eins – und ich stand in der Stube.

Ich bedurfte einiger Zeit, um mich aus dem Wust von Staub, Dunst, Halbdunkel und Publicum herauszufinden, der in dem engen, die äußerste Armuth zur Schau tragenden Raume herrschte. Am Tische links saß ein dicker Junge mit großem Kopfe; er notirte von Zeit zu Zeit Einiges und schien eine Art Protokoll zu führen. Ihm gegenüber lehnte eine halb blödsinnige Frauensperson an der Wand und starrte theilnahmlos, die Hände im Schooß gefaltet, vor sich hin. Sie ward von untergeschobenen Kissen gestützt, so gebrochen war ihr Körper, und das Bettgestell, auf dem sie kniete, war aus Kisten und Kasten zusammen gebaut und mit elenden Laken überhangen. Vor diesem dürftigen Lager aber saß eine kräftige Frau von einigen fünfzig Jahren, mit derben bäurischen Zügen und krausem, ungekämmtem Haar. Es war dies die Sibylle, oder wie man sie in der Umgegend zu benennen pflegt: „die Schlafende“! Die Predigt, mit der sie ihre Vorstellungen einzuführen gewohnt ist, war bereits vorüber, und ich trat eben in dem Moment ein, als sie ihre Visionen bekam und in Zuckungen verfiel, die mir als genau einstudirte Krampfexercitien erschienen.

Der Anblick dieses Gebahrens, so widerlich er für jedes gebildete Auge sein mußte, verfehlte jedoch seine Wirkung auf die Umstehenden nicht, die allerdings nur aus armen Landleuten bestanden, von denen Einige, wie ich später hörte, einen Marsch von neun Stunden gemacht hatten, um für eine kranke Schwester, ein aufgegebenes Kind, einen seit Jahren siechen Vater oder Bruder Hülfe bei der Schlafenden zu suchen. Die Medicamente, die sie verordnete, bestanden allerdings aus den gewöhnlichsten und unschädlichsten Kräutern, wie Wegebreit, Schafgarbe und dergleichen. Der Protokollant, Gotthold geheißen, schrieb nun den Leuten die verordneten Mittel auf und bekam dann zwei, fünf und zehn Groschen, manchmal aber auch nur einen verbindlichsten Dank, den der Schreiber eben so geschäftsmäßig entgegennahm, wie die klingende Münze, während er dabei gelegentlich einen tüchtigen Biß in ein Käsebrod that. Den rathholenden Leuten sah man indeß die tiefe Ehrfurcht an, mit der sie die Sibylle und ihre Aussprüche, wie den Schreiberjungen betrachteten, und ich hätte einem Unberufenen nicht rathen wollen, hier eine unvorsichtige Bemerkung einfließen zu lassen, weshalb ich es auch sehr angezeigt fand, aus meiner reservirten Stellung nicht herauszutreten.

Nachdem die Wahrsagerin sich „ausgekrampft“ hatte, verfiel sie, nicht ohne schauspielerisches Talent, in ihren Schlaf und schnarchte zuletzt. Dann überkam sie wieder ein Zucken durch den ganzen Körper, und sie begann endlich zu dem vor ihr stehenden Mann ungefähr so: „Ich weiß, Deine Alte hat Schmerzen im Leibe, ist dies so?“

„Ja, die Kuh hat sie beim Melken gestoßen.“

„Sie hat aber auch noch was Anderes an sich, ich weiß auch das; Der da oben hat mir’s gesagt in der letzten Nacht, weil ich nicht schlafen konnte und nur an meine Mitmenschen dachte!“

„Ja, sie hat außerdem noch was Rheuma.“

„Da nimm –“ und nun nannte sie eine Menge bekannter Kräuter her, die „Gotthold“ sogleich verzeichnete und dem Clienten gegen Verabreichung eines Geldstücks das Papier über den Tisch hinschob. Der Client zog sich, wie vor den Kopf gestoßen, zurück, die Schlafende erwachte peu-à-peu, sah wildblickend um sich (Alles nicht schlecht gemacht) und ein anderes Schlachtopfer trat vor, wobei sich ziemlich genau dieselbe Procedur wiederholte.

Ich hielt es zuletzt an der Zeit mich eben so geräuschlos zu entfernen, wie ich gekommen war, und ruhte in der nächsten Mühle von den genossenen Strapazen eine halbe Stunde aus. Dem Müller, der mir ein vernünftiger Mann schien, konnte ich nicht umhin zu bekennen, wie ich verwundert sei, daß solch’ empörender Schwindel, der nur auf die Dummheit und die Börse der armen Leute speculire, in unserer Zeit und in einem so cultivirten Lande noch möglich sei; wie es den Behörden unbekannt bleiben könne, daß Hunderte armer, unwissender Leute hier um ihr Bischen Geld und Verstand zugleich kämen; wie dieses Zauberwesen nicht allein den Ort, sondern auch die Umgegend demoralisire und bei Vernünftigdenkenden in Mißcredit bringe. „Will Niemand davon Notiz nehmen,“ fügte ich etwas erregt hinzu, „nun, so ist es wenigstens Pflicht der Presse, die öffentliche Aufmerksamkeit auf derartige Krebsschäden zu lenken.“

„Der Herr sind wohl von einer Zeitung?“ frug der Müller schlau lächelnd.

„Kann sein, Freund,“ entgegnete ich, indem ich in die dargereichte Hand einschlug, und trat darauf meinen Rückweg an.

Ich schließe dieses Thema ohne alle Betrachtungen über Somnambule und Hellsehende, wozu sich unsere Sibylle unstreitig gerechnet wissen will und von den „Gläubigen“ gerechnet wird. Aber Denen gegenüber, die etwa die „überirdische Begabung“ dieser Dame nicht in Zweifel gezogen wissen wollen, wage ich die Frage aufzuwerfen: Ist es möglich, daß Jemand, der somnambul oder hellsehend ist, diesen Zustand so zu schulen und zu commandiren vermag, daß er, wie obige Frau, jeden Sonntag, Dienstag und Freitag ad libitum davon Gebrauch machen kann? Läßt sich eine krankhafte Erscheinung so dressiren? Zuletzt erfuhr ich übrigens noch, daß die Schlafende bereits mehrfach eingezogen und bestraft worden sei – aber, „was hilft’s,“ sagte bei dergleichen Fällen jener alte Gärtner, „wenn man das Ungeziefer einfängt und dann wieder laufen läßt – man muß es unschädlich machen!“




Die Biene.[1]


Du littest nicht die Biene Dir im Zimmer,
Die müßigsurrende; Du ließest sie
Hinaus zur Arbeit, zu den Ihren hin,
Und fröhlich flog sie fort! – Da war es still.

5
Surrt jetzt die Biene wieder mir im Zimmer,

Die von den blüh’nden Trauben vor dem Fenster
Sich in die grüne Dunkelheit verirrt,
Da muß sie bei mir weilen, bei mir surren!

Ich meine: Du bist sie, die Fleißige,

10
Die wiederkehrt zu wirken, zu den Ihren,

Zu mir! Ich höre selig ihr Gesurr;
Sie ruht auf meiner Hand; sie sticht mich nicht,
Und endlich laß ich weinend sie hinaus
In alle Welt, wie Dich in alle Welt,

15
Und wieder ist es still, so still im Herzen.
[376]
Die letzten Tage eines Agitators.
Von einem Augenzeugen.

Wohl auf wenige Männer der jüngsten Vergangenheit läßt sich das Wort des Dichters:[WS 2] „Von der Parteien Gunst und Haß entstellt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte!“ mit größerem Recht anwenden, als auf Ferdinand Lassalle. Von seinen Freunden und Anhängern wird er hochgepriesen, geliebt, oft fast abgöttisch verehrt, von seinen Gegnern gehaßt, verhetzt und verleumdet – es mag daher für das große Publicum sehr schwer sein, sich ein unbefangenes Urtheil über den Mann zu bilden, der wie über Nacht plötzlich am deutschen politischen Himmel emporstieg und ebenso plötzlich wieder verschwand. Wollten doch in dem Augenblick, als der Telegraph die Nachricht von seinem Tode nach Deutschland brachte, Viele die Richtigkeit dieser Nachricht bezweifeln und jetzt noch, nachdem der Frühling bereits drei Mal das stille Grab des stürmischen Agitators mit neuen Blumen bekränzte, steht der größte Theil des Volkes, stehen selbst die meisten seiner Anhänger vor jenem verhängnißvollen Duell und seinen Ursachen wie vor einem unlösbaren Räthsel. In der That ist es auch nicht so leicht, Allen eine volle Aufklärung darüber zu geben. Die Personen und Verhältnisse, welche bei jenem Ereigniß mitwirkten und es gewissermaßen zu einer Nothwendigkeit machten, sind so mannigfaltiger Natur, daß die einfachste Delicatesse und Rücksicht eine gewisse Zurückhaltung auferlegt. Wir bemühen uns, in nachfolgenden Zeilen eine möglichst objective, aber treu historische Darstellung zu geben, und hoffen dadurch zur Widerlegung weitverbreiteter Gerüchte und Irrthümer beizutragen. Eine vollständige, actenmäßige Darlegung des Sachverhalts ist schon seit dem Jahre 1864 von den näheren Freunden Lassalle’s projectirt, die Ausführung bis jetzt jedoch an ausgebrochenen Zwistigkeiten und anderen, nicht mittheilbaren Verhältnissen gescheitert und dürfte schwerlich für die nächste Zeit zu erwarten sein.

Als Ferdinand Lassalle im Sommer 1864 seine gewöhnliche Erholungsreise nach der Schweiz antrat, hatte seine Agitation ihren Höhepunkt erreicht, und nicht ohne Befürchtungen beobachtete die preußische Regierung diese Bewegung. In Preußen war der Verfassungsconflict damals in seiner schärfsten Gestaltung. Vereinigte sich die social-demokratische Partei unter Lassalle mit den Verfassungsbestrebungen der Fortschrittspartei, so war die Niederlage der Regierung zweifellos und der Kampf wäre höchst wahrscheinlich aus dem Parlamentssaal auf die Straßen und Barricaden verlegt worden, um dort ausgefochten zu werden.[2] Die Gründe, warum diese Vereinigung nicht stattfand und nicht stattfinden konnte, können hier nicht erörtert werden, genug die innerhalb der Liberalen und der Demokratie entstandene Spaltung und der Erfolg des schleswig-holsteinischen Krieges verschafften der Regierung thatsächlich den Sieg.

Der Ausgang der schleswig-holsteinischen Bewegung hatte Lassalle tief verstimmt und seine in jener Zeit gehaltenen Reden zeigen eine zunehmende Heftigkeit. Dazu kam, daß die Erwartungen, welche er auf die Arbeiterbewegung gesetzt hatte, nicht erfüllt worden waren. Er hatte auf Hunderttausend gerechnet und kaum Zehntausend waren seinem Ruf gefolgt. In den Briefen an seine engeren Freunde klagte er oft bitter darüber; er fühlte, daß die ganze Last der Agitation auf ihm ruhe, daß er mitten in seinen begeistertsten Anhängern allein stände, ohne auch nur einen Mann zu besitzen, der die Last mit ihm getheilt hätte; er mußte Alles selbst thun, selbst organisiren, selbst leiten, wo sein belebender Geist fehlte, geschah wenig oder nichts. Und da tauchten in der Brust des stürmischen Mannes, dessen großartige Lebenskraft unwillkürlich Jedem imponirte, dunkle Todesahnungen auf. Oft hatte er im engen Kreise scherzhaft geäußert: „Ich erlebe mein vierzigstes Jahr nicht!“ Dieser Gedanke stellte sich jetzt häufiger ein als je. In seiner letzten, am 22. Mai 1864 in Ronsdorf gehaltenen Rede sprach er es aus, wie es möglich sei, daß er persönlich in diesem Kampf zu Grunde gehen werde, aber wie er hoffe, daß aus seinen Gebeinen ihm ein Rächer erstehen werde. Es waren diese ahnungsvollen Worte die letzten, die er auf deutschem Boden an deutsche Arbeiter richtete.

Im Juli 1864 ging er nach der Schweiz, nach dem Rigi-Kulm. Mannigfache Entwürfe beschäftigten ihn lebhaft. Die veränderten politischen Verhältnisse, die damals bereits vollendete gänzliche Niederlage der preußischen Fortschrittspartei, die dadurch und durch den schleswig-holsteinischen Krieg vermehrte Macht der Krone bedingten eine Aenderung seiner Taktik. Er entwarf einen Agitationsplan, den er nach Berlin sandte, damit er von dort aus an die einzelnen Gemeinden geschickt werde. Vielfach beschäftigten ihn auch seine zahlreichen politischen Processe. Mehrere Gefängnißstrafen waren gegen ihn bereits in den unteren Instanzen ausgesprochen und seine Verurtheilung in letzter Instanz war mit Bestimmtheit zu erwarten. Er wurde dadurch auf Monate, vielleicht noch länger, der Agitation entzogen. Der Gedanke, für immer in der Schweiz zu bleiben, stieg deshalb wiederholt in ihm auf, aber sein Charakter sträubte sich dagegen; es war ihm unmöglich, einen Entschluß zu fassen, der ihm als Act politischer Feigheit erschien. Und mitten in diesen aufregenden Gefühlen trat ihm der Dämon nahe, der seinen Tod verschuldet.

Lassalle vereinigte in sich den Charakter eines Faust und den eines Don Juan. Jung, wohlgebildet, geistreich, in glänzenden finanziellen Verhältnissen, hatte er von seinem ersten Jünglingsalter an dem weiblichen Geschlecht stark gehuldigt und stets Erfolg bei der Damenwelt gehabt. Besaß er in hohem Grade die Macht, selbst solche Männer für sich zu gewinnen, die mit ausgesprochenen Vorurtheilen in seine Nähe kamen, so gelang es ihm in noch viel ausgedehnterem Maße, die Frauen zu fesseln, freilich ohne daß er selbst gefesselt wurde. Beständigkeit in der Liebe kannte er nicht, sein unruhiger Geist ließ ihm jedes dauernde Liebesverhältniß als eine drückende Fessel erscheinen, und so sog er als Schmetterling den Duft aus allen Blumen, mit denen er in Berührung kam. Vor längerer Zeit hatte er in Berlin durch Vermittelung seines Freundes, des Rechtsanwalt Holthof, Helene, die älteste Tochter des baierschen Legationsraths von Dönniges, kennen gelernt und ihr in seiner stürmischen Weise den Hof gemacht. Fräulein Helene nahm seine Huldigungen freundlich auf, der junge, elegante, geistreiche, damals bereits (sein Werk über Herakleitos und sein „System der erworbenen Rechte“ waren schon erschienen) gefeierte Gelehrte machte einen tiefen Eindruck auf sie, allein Lassalle unterließ es, sich ihr ernsthaft zu nähern, und bald darauf verlobte sie sich mit dem jungen walachischen Bojaren Janko von Rackowicz, der die Universität in Berlin besuchte. Trotzdem bewahrte Helene ihm ein treues Andenken; sie verfolgte mit lebhaftem Interesse seine Agitation und sprach oft und gern von ihm, ohne ihre Zuneigung zu ihm irgend zu verhehlen.

Helene von Dönniges stand 1864 in ihrem fünfundzwanzigsten Jahre. Ohne jeden Zweifel gehört sie zu den interessantesten Frauen der Gegenwart. Mehr pikant als schön, eine vollendete Meisterin in den Künsten der Toilette, geistreich und mit einer über die Sphäre des Weibes hinausgehenden Bildung versehen, besitzt sie einen etwas excentrischen, dem Ungewöhnlichen und Abenteuerlichen zugeneigten Charakter und jenes interessante Maß von Koketterie, welches anzieht, ohne das feinere Gefühl zu verletzen. Sie ist in vielen Seiten ihres Wesens Lassalle sehr ähnlich, und nicht ohne Grund rieth Holthof seinem Freunde, Helene zu heirathen, da er niemals eine mehr zu ihm passende Frau finden würde. Bald nach Lassalle’s Ankunft auf dem Rigi erfuhr Helene seine Anwesenheit dort. Alle Erinnerungen an ihn erwachten mit erneuerter Stärke. Unter dem Vorwande, eine befreundete Familie in Wabern bei Bern zu besuchen, verließ sie Genf, wo ihr Vater als bairischer Gesandter bei der schweizerischen Eidgenossenschaft wohnte, und erschien plötzlich bei Lassalle auf dem Rigi. Und nunmehr begann sich eines jener Dramen zu entwickeln, welche immer wieder den Beweis liefern, wie sehr die Wirklichkeit oft die Phantasie des Dichters und Romanschreibers übertrifft.

In Lassalle’s damaliger trüber Gemüthsstimmung mußte das Erscheinen des liebeglühenden Mädchens einen tiefen Eindruck auf ihn machen. Er fühlte wieder seine unbändige Lebenskraft und seinen ungebeugten Muth, und zum ersten Male vielleicht in seinem Leben ahnte er, daß es noch ein anderes Glück gebe, als vorübergehende Triumphe bei schönen Weibern, als das Beifalljauchzen [377] der begeisterten Menge, als das wilde Wogen der politischen Agitation, als das ernste Studium und das tiefe Grübeln über die großen Probleme der Menschheit, ja selbst als die Anerkennung bedeutender Männer; daß der Lorbeerkranz die Rosen nicht ersetzt, die das Glück der Liebe in des Mannes Leben flicht. Es steht ganz zweifellos fest, daß Lassalle damals Helene aufrichtig liebte und daß sie ihm dasselbe Gefühl vielleicht noch viel leidenschaftlicher und heißer entgegentrug.

Rasch entschlossen kamen Beide überein, ihre Verheirathung sobald als möglich zu bewerkstelligen. Lassalle benachrichtigte seine langjährige Freundin, die bekannte Gräfin Sophie von Hatzfeldt, von seiner Verlobung und begab sich mit Helene vom Rigi nach Bern. Dort faßten sie den Entschluß, nach Genf zu reisen, um die Einwilligung des Vaters, des alten Herrn von Dönniges, einzuholen. Helene reiste voraus, den Vater vorzubereiten, und Lassalle wollte ihr in einigen Tagen folgen. In Bern empfing er einen Brief der Gräfin Hatzfeldt, welche seinen Entschluß vollständig billigte und die glückliche Gemüthsstimmung, in der er sich damals befand, noch erhöhte.

Gleich darauf reiste er nach Genf. Helene hatte ihrem Vater ihre Verlobung mit Lassalle mitgetheilt und war bei diesem auf den heftigsten Widerstand gestoßen. Abgesehen von dem Herrn von Rackowicz gegebenen Wort, an welches sich Dönniges gebunden hielt, waren persönliche Vorurtheile gegen Lassalle selbst, der diametrale Gegensatz der politischen Ansichten, der Contrast der öffentlichen Stellung eines gefürchteten, gehaßten, verfolgten und verleumdeten Socialdemokraten und der eines Diplomaten und königlich bairischen Gesandten, ferner die Verschiedenheit der Religion (Lassalle war Jude und Fräulein von Dönniges Katholikin) und Aehnliches die bestimmenden Gründe dieser Weigerung.

Jeder Versuch einer persönlichen Annäherung Lassalle’s an Herrn von Dönniges scheiterte vollständig und ebenso wurde Helene auf das Strengste bewacht und ihr jede Möglichkeit einer Communication mit Lassalle abgeschnitten. Doch gelang es, eine Kammerzofe zu bestechen, und durch diese fand ein Briefwechsel zwischen Helene und Lassalle statt. In mehreren dieser kleinen Briefe klagt Helene über die Härte ihres Vaters und das Zöfchen erzählte geschwätzig furchtbare Dinge, wie Herr von Dönniges seine Tochter schlage, mit Füßen trete, an den Haaren am Boden umherschleife u. dgl. m. Es ist allerdings möglich, daß es während jener Tage zwischen Vater und Tochter zu heftigen Auftritten gekommen sein mag, aber daß ein Mann von der feinen Bildung, der Stellung und dem Charakter des Herrn von Dönniges sich irgendwie zu Brutalitäten hinreißen lassen könnte, ist auf keinen Fall anzunehmen. Dagegen steht fest, daß dasselbe Kammerzöfchen, welches eines Tages von Lassalle als Belohnung für die sichere Besorgung eines Briefs an Helene das ganz anständige Douceur von einhundertundachtzig Franken (achtundvierzig Thaler) empfing, denselben Brief für zwanzig Franken an Herrn von Dönniges verkaufte, ein Factum, welches jedenfalls die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit dieser Person in kein günstiges Licht stellt.

Lassalle fand in Genf einen Kreis zuverlässiger Freunde vor. Unter anderen waren hier die Socialdemokraten Joh. Ph. Becker und Friedrich Reusche, die ungarischen Generale Georg Klapka und Graf Bethlen Gabor, der junge Genfer Staatskanzler Elie Ducommun und der Schriftsteller Alfred Tronchin, und andere Demokraten der verschiedensten Nationalitäten. Auf Lassalle’s telegraphisch ausgesprochenen Wunsch eilte aus Zürich Wilhelm Rüstow, Garibaldi’s Freund und Brigadier, herbei; Georg Herwegh und seine Frau waren von der Sachlage benachrichtigt und bereit, wenn nöthig, jeden Augenblick zu erscheinen, außerdem waren Geldmittel und Mannschaften disponibel, um eventuell eine gewaltsame Entführung in’s Werk zu setzen. Dieser Plan, wonach die Liebenden nach Italien flüchten sollten, um dort unter dem Schutze Garibaldi’s von dessen Leibcaplan Pater Pantaleone getraut zu werden, wurde jedoch bald nach seinem Auftauchen bei Seite gelegt. Rüstow hatte dann mehrere Unterredungen mit Herrn von Dönniges, aber ebenfalls ohne Erfolg. Humoristischer Natur ist die kleine Anekdote, daß Herr von Dönniges, der Rüstow unter Anderem auf Lassalle’s Eigenschaft als Jude aufmerksam machte, den Einwurf Rüstow’s: „Aber, Herr Baron, Ihre Frau Gemahlin ist ja doch auch eine geborene Jüdin!“ mit der Bemerkung abfertigte: „Ja, das ist aber schon sehr lange her!“

Täglich fanden zwischen Lassalle und seinen Freunden lange Berathungen über die zu ergreifenden Maßregeln statt. Da stürzte eines Abends mitten in solche Versammlung Helene in höchster Aufregung. Sie warf sich auf’s Bett und in leidenschaftlichster Erregtheit brach sie in die Worte aus: „Ferdinand, ich bleibe bei Dir, ich bin Dein Weib, Deine Sache, mache mit mir, was Du willst; zu meinem Vater kehre ich nicht mehr zurück!“ Lassalle, obgleich selbst im höchsten Grade aufgeregt, suchte sie zu beruhigen, was ihm und seinen Freunden endlich auch gelang. Er setzte ihr die Unmöglichkeit auseinander, auf diese Weise von ihrem Vater sich zu entfernen. Helene’s Mutter, Frau von Dönniges, hatte inzwischen ihre Tochter vermißt, ihren Aufenthalt vermuthet und eilte herbei. Auf Lassalle’s Bitten kehrte Helene in Begleitung ihrer Mutter wieder in das väterliche Haus zurück.

Lassalle’s Gemüthsstimmung war damals eine höchst eigenthümliche. Wie tief unglücklich er sich fühlte, geht aus einer Stelle eines am 4. August 1864 an die Gräfin Hatzfeldt gerichteten Briefes hervor, in welchem er schreibt: „Ich kann nicht anders, obgleich ich seit vierundzwanzig Stunden dagegen ankämpfe, aber ich muß mich ausweinen an der Brust meines besten und einzigen Freundes. Ach, Gräfin, warum sind Sie nicht hier!!“

Auf solche Ausbrüche der Verzweiflung folgte aber wieder die Empörung seiner ganzen Thatkraft und dann kostete es seinen Freunden die äußerste Mühe und Anstrengung, ihn von unüberlegten, voreiligen und hastigen Schritten zurückzuhalten. Die Gräfin Hatzfeldt traf bald nach jenem Briefe in Genf ein. Helene hatte bereits vom Rigi und später von Bern und Genf aus an die Gräfin geschrieben und in den zärtlichsten Ausdrücken um ihre mütterliche Freundschaft gebeten. In der freundschaftlichsten Weise hatte die Gräfin ihr geantwortet und begann nunmehr auch persönlich in die Action einzugreifen, um ihren Freund dem Ziel seiner Wünsche entgegenzuführen.

Um das Hinderniß der Religionsverschiedenheit zu beseitigen, entschloß sich Lassalle, zum Katholicismus überzutreten. Die Gräfin Hatzfeldt reiste nach Mainz, um den Bischof von Ketteler zu bewegen, die Taufe an Lassalle zu vollziehen. Herr von Ketteler sagte zu, allerdings bemerkend, er wisse recht wohl, daß dieser Uebertritt nur aus äußeren Gründen erfolge, jedoch hoffe er auf die Macht der göttlichen Gnade, welche auch die innere Umwandlung bewirken werde. Lassalle selbst eilte nach München, um die Bedenken des Herrn von Dönniges betreffs seiner officiellen Stellung zu beseitigen. In einigen Conferenzen mit dem damaligen Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Herrn von Schrenk, gelang es ihm, denselben für sich zu gewinnen, so daß Schrenk einen Bevollmächtigten in Person des Advocaten Dr. Hänel mit einem Brief an Herrn von Dönniges sandte, worin Schrenk die Verbindung Lassalle’s mit Helene befürwortete.

Inzwischen war von Berlin durch Herrn von Dönniges der bisherige Verlobte Helene’s, Janko von Rackowicz, herbeigerufen, mit der Familie Dönniges im Bade Bex (im Canton Waadt) zusammengetroffen und mit derselben nach Genf gereist. Unmittelbar darauf traf Lassalle in Begleitung des Dr. Hänel und J. B. von Hofstetten aus München in Genf ein.

Einige Tage nach seiner Ankunft erschienen die Herren Dr. Arndt, ein Verwandter der Familie Dönniges, und Graf Kayserlingk, der Bräutigam von Helene’s Schwester, bei Lassalle und brachten ihm die an Helene gemachten Geschenke zurück, begleitet von einem Zettel derselben, worin sie erklärte, daß sie ihr Verhältniß zu Lassalle als gelöst betrachte; Der Grund dieser Sinnesänderung ist bis jetzt noch nicht aufgeklärt worden und dürfte es auch jemals schwerlich werden. „Das Weib ist wandelbar!“ sagt der Dichter; Lassalle gerieth in die höchste Aufregung. Er glaubte, der Vater habe seine Tochter zur Abfassung jenes Zettels gezwungen, und ließ Herrn von Dönniges auf Pistolen fordern. Herr von Dönniges nahm die Forderung natürlich nicht an, erklärte, daß seine Tochter ganz freiwillig zurücktrete, und Helene, von ihrem Vater gerufen, wiederholte Rüstow, dem Abgesandten Lassalle’s, ruhig und ausdrücklich, daß sie freiwillig, ohne jeden Zwang, aus eigenem freien Entschluß das Verhältniß löse. Herr von Rackowicz wurde nunmehr von den Freunden Lassalle’s von der Sachlage unterrichtet. Es wurden ihm sämmtliche Briefe Helenens vorgelegt und dieselben von ihm gelesen, es wurden ihm alle Details mitgetheilt, aber er erklärte, daß alles dieses für ihn kein Hinderniß sei, zurückzutreten.

In seinem ganzen Leben war Lassalle gewöhnt gewesen, seinen [378] Willen unbedingt durchzusetzen. Seine großen Talente, seine Energie, seine Thatkraft, seine äußeren Mittel ließen ihn jedes Ziel erreichen. Und so war in ihm ein unbedingtes Selbstvertrauen erwachsen, welches den wesentlichsten Factor seiner Kraft bildete. Vor keinem Hinderniß, möge es auch noch so groß gewesen sein, war er bisher zurückgeschreckt und alle hatte er besiegt; zum ersten Male trat ihm hier nun ein unbesiegbarer Widerstand entgegen. War auch seine Liebe zu Helene durch ihr Benehmen jetzt vollständig erloschen, so konnte er den Gedanken, daß er einen einmal gehegten Wunsch aufgeben, daß er gezwungen sein solle, dies zu thun, nicht fassen. Seine ganze Natur empörte sich dagegen. „Ich bin gebrochen, geistig todt, wenn ich unterliege, mein Selbstvertrauen ist meine ganze Kraft; verliere ich dieses, gehe ich zu Grunde!“ äußerte er oft.

Und andererseits war er auf das Höchste entrüstet über das Spiel, welches man mit ihm getrieben. Ein launenhaftes Mädchen hatte ihn zu ihrem Spielball gemacht, um ihn dann, seiner überdrüssig, bei Seite zu werfen. Das war eine Verletzung, die am allerwenigsten ein Mann wie Lassalle ertragen konnte. Eine wilde Rachsucht, seinem leidenschaftlichen Naturell angemessen, erwachte in ihm. In höchster Erbitterung schrieb er an Helene einen Brief, worin er ihr ganzes Benehmen ihr vorhielt und mit einigen, allerdings für sie sehr beleidigenden Ausdrücken schloß. Abschriften dieses Briefes sandte er an Herrn von Dönniges und Herrn von Rackowicz, und Letzterer ließ ihm sofort eine Forderung zum Duell auf Pistolen zugehen.

Alle Anstrengungen und Vorstellungen seiner Freunde, das Duell abzulehnen, waren vergeblich. Sie erinnerten ihn, daß sein Leben der Wissenschaft, dem Volke, den Arbeitern gehöre, sie stellten ihm die Folgen seines etwaigen Todes für sein begonnenes Werk, die Arbeiterbewegung, vor, aber vergeblich. „Ich muß Blut sehen, ich muß mich rächen!“ mit diesen Ausrufen schnitt er alle Einwendungen ab. Ein ausgezeichneter Pistolenschütze, dachte er kaum an die Möglichkeit, selbst erschossen zu werden; es stand vielmehr unwiderleglich bei ihm fest, daß er seinen Gegner tödten werde. Ja, als er bei seinen Freunden auf heftigere Opposition stieß, gerieth er in Zorn und erklärte nur den für seinen Freund, welcher seine Zwecke ihm fördern helfe. Am 27. August, unmittelbar nach einer heftigen Scene mit den das Duell mißbilligenden Freunden, verfaßte er sein Testament. Während Janko von Rackowicz sich in den dem Duell vorhergehenden letzten Tagen beständig im Pistolenschießen übte, verschmähte er dies vollständig. „Ich werde meinen Mann schon zu treffen wissen!“ sagte er.

Ein Versuch, durch die Polizei das Duell zu verhindern, scheiterte, und so fand dasselbe am Sonntag den 28. August Morgens zwischen acht bis neun Uhr in dem Wäldchen bei Lancy auf französischem Gebiet statt. Die Duell-Punctation lautete:

„Fünfzehn Schritt fester Stand. – Schuß innerhalb zwanzig Secunden, markirt durch 1, 2, 3, Anfang, Mitte und Ende. – Glatte Pistolen mit Visir und Korn. – Haltung beliebig. – Drei Kugeln pro Mann. – Versagen gilt für Schuß. – Jedes Mal ladet derselbe Secundant beide Pistolen. – Secundanten loosen um die Reihe des Ladens. – Graf Kayserlingk und Dr. Arndt besorgen den Arzt. – Rendezvous: Omnibus-Halteplatz in Carouge sieben ein halb Uhr Morgens, 28. August. – R. 1. A. 2. B. 3. – Jeder Duellant hat in Händen seiner Secundanten einen Revers, daß er sich selbst erschossen hat, für vorkommende Fälle.

Gregor, Graf Bethlen. – W. Rüstow, Oberst-Brigadier. – Graf Eugen Kayserlingk. – Dr. Wilh. Arndt.“

Außer den Unterzeichneten war noch anwesend beim Duell Herr von Hofstetten, der gegenwärtige Redacteur des „Social-Demokrat.“ Der von Lassalle ausgestellte Revers lautet wörtlich:

„Ich erkläre hiermit, daß ich es selbst bin, welcher seinem Leben ein Ende gemacht hat.

28. August 1864.
F. Lassalle.“

Lassalle, der auf einem Auge schlechter sah, als auf dem andern, stand bei dem Duell sehr seitwärts, mit der linken Schulter nach vorn. Als er eben im Begriff war zu schießen, erfolgte der Schuß von Rackowicz. Die Kugel traf ihn in den Unterleib an der linken Seite, zerriß alle edlen Theile und ging an der rechten Seite wieder hinaus. Darauf schoß er, jedoch natürlich ohne zu treffen. Von Rüstow und Hofstetten gestützt, wurde er nach der Droschke gebracht, und so fuhr man ihn nach Genf zurück in das Hotel Victoria, Rue Montblanc.

Gepflegt von seinen Freunden lag er dort bis Mittwoch, den 31. August früh, in gräßlichsten Schmerzen. Am ersten Tage hatte er noch die Besinnung, jedoch sprach er sehr wenig. Seine Freundin, die Gräfin Hatzfeldt, wich weder Tag noch Nacht von seinem Bett; entfernte sie sich auf einen Augenblick, so frug er sofort nach ihr und wenn sie am Bett saß, mußte ihre Hand in der seinigen ruhen. Die beiden berühmten Aerzte Chelius aus Heidelberg und Billroth aus Zürich, telegraphisch berufen, trafen in Genf ein, aber auch sie erklärten, wie die Genfer Aerzte, seinen Zustand für rettungslos. Es konnte die ärztliche Kunst nur durch Milderung seiner furchtbaren Schmerzen sich bethätigen. Der Schmerz war so stark, daß sein umflortes Auge weder am Montag den 29. noch Dienstag den 30. August Jemanden seiner Freunde erkannte. Im Laufe des Dienstag Nachmittag war der Schmerz am heftigsten. Schreiber dieser Zeilen reichte ihm in Zeit von drei Stunden zweiundeinhalb Gran Morphium, und doch reichte diese ungeheure Dosis nicht hin, den Schmerz zu stillen. Tiefe Seufzer und von Zeit zu Zeit leises Wimmern waren seine einzigen Lebenszeichen. Am Mittwoch, den 31. August, früh um sieben Uhr verschied er still, noch nicht neununddreißig Jahr alt. Seine Ahnung, daß er sein vierzigstes Jahr nicht überleben werde, war also eingetroffen.

Wir sind nicht im Stande, auch nur annähernd den Schmerz seiner Freunde, seiner langjährigen Freundin, seiner aus Wien herbeigeeilten hochbetagten Mutter zu schildern. Das läßt sich nicht in Worte kleiden. Was mit ihm verloren ist, wird jetzt bereits von Denen gefühlt, die seine Bedeutung kennen, die Zukunft wird es vielleicht in noch höherem Grade offenbaren.

Am 2. September fand im Temple unique zu Genf eine großartige, von viertausend Männern französischer, italienischer, russischer, polnischer, ungarischer und deutscher Nationalität veranstaltete Todtenfeier statt. Die Emigration aller Länder war vertreten; für Herzen und Mazzini erschienen zwei ihrer Freunde, Freiligrath sandte ein Telegramm aus London und Georg Herwegh war am Todestage bereits persönlich gekommen. Vor dem mit schwarzem Tuch überhangenen Katafalk sprachen, nachdem Joh. Phil. Becker die Trauerversammlung eröffnet, Elie Ducommun im Namen der französischen, Pfarrer Wagner im Namen der deutschen Schweizer, Alfred Tronchin im Namen der Franzosen, Georg Klapka im Namen der Ungarn und Friedrich Reusche im Namen der Deutschen.

Die Leiche Lassalle’s war einbalsamirt worden und wurde in einem Zinksarge, der in einer eleganten Umhüllung von Eichenholz ruht, nach der deutschen Heimath gebracht, wo sie auf dem jüdischen Friedhof in Breslau ihre letzte Ruhestätte fand. Ein Denkmal mit einer von dem großen Philologen August Böckh in Berlin verfaßten Inschrift sagt dem Besucher, daß Ferdinand Lassalle hier ruht, und die treue Sorge seiner Freundin, der Gräfin Hatzfeldt, schmückt das stille Grab mit Blumen.




Aus deutschen Gerichtssälen.
2. Ich habe ja nichts Böses thun wollen!


Die „schwarze Bank“ in W. hat diesmal ein ganz anderes Aussehen wie gewöhnlich. Die Angeklagte, welche darauf hat Platz nehmen müssen, gehört nicht zu dem Proletariat, nicht zu der Classe der „Entsittlichten“. Sie zeigt kein durch Noth und Elend oder, was noch widerlicher ist, durch Leidenschaften entstelltes Gesicht; sie zeigt weder Furcht noch Scheu, sie zeigt nicht einmal den Ernst, den der so sehr gefürchtete Ort dringend und unabweisbar fordert.

Die jugendliche, elegant gekleidete Gestalt trägt das reizend geformte Köpfchen hoch aufgerichtet. Der Blick aus den klaren, tiefdunkeln Augen ist äußerst beweglich, er schweift lachend in dem [379] großen Raume umher, auch über die Zuhörer hinweg. Nur wenn derselbe in diesem Raume eine gewisse Stelle erreicht und an dieser wie gebannt einige Momente ruhen bleibt, wird der Ausdruck plötzlich ein anderer. Es ist, als ob eine dunkle, dichte Wolke sich vor die Sonne legte und das klare und wohlthuende Licht verdeckte. Die Veranlassung zu dieser Veränderung ist nicht erkennbar; sie scheint aber Beziehung zu haben zu einer jungen Dame, welche an jener Stelle Platz gefunden hat und sich durch eine sehr sorgfältig gewählte Toilette, sowie durch keckes, herausforderndes Verhalten besonders bemerkbar macht. Die Veränderung selbst geht indeß allemal schnell vorüber. Das Auge lacht wie zuvor, wenn das Köpfchen eine Wendung macht, der Blick sich losreißt und in einer anderen Richtung eine andere Person, einen andern Gegenstand fixirt.

Die Angeklagte ist erst einige zwanzig Jahre alt und seit etwa acht Monaten die Gattin des Professors H. Die Verheirathung mit dem allgemein geachteten Gelehrten hat sie in gewisser Beziehung zum Gegenstande öffentlicher Aufmerksamkeit gemacht. Die Theilnahme an dem Ausfalle der wider sie eingeleiteten Untersuchung ist eine ungewöhnliche, eine außerordentliche, der Zuhörerraum in dem großen Sitzungssaale schon vor dem Beginn der Verhandlung bis auf den letzten Platz gefüllt.

Aber die Person der Angeklagten nicht allein, auch die Strafthat und das Auftreten des öffentlichen Anklägers erregen Interesse. Jedermann weiß, daß der Letztere mit dem Gatten der Angeklagten intim befreundet, daß die Anklage nur erst im Beschwerdewege erhoben und eine Vertretung bei dieser Verhandlung nicht zu erlangen gewesen ist. Man glaubt deshalb auch nicht an eine Verurtheilung zu Strafe, nicht einmal an eine ernst gemeinte Begründung der Anklage, man ist blos auf die Lösung gespannt.

Der Staatsanwalt trug die Anklage vor.

In dem weiten Raume ist es still wie in der Kirche, nur die eine Stimme, die des Anklägers, ist hörbar. Diese Stimme, die sonst klar, fest und entschieden die Uebertretung des Strafgesetzes behauptet, der Reihe nach die Beweisstücke aufzählt und in den Richtern die Ueberzeugung von der Schuld herbeizuführen sucht, die sich durch keine Thräne beirren läßt, die kein Erbarmen, keine Milde gelten lassen will, die zu allen Zeiten mit eiserner Strenge die Anwendung des Strafgesetzes fordert: diese Stimme ist weich und bewegt, nicht gerade zitternd, aber auch nicht sicher und fest. Der Ankläger giebt sich Mühe, die innere Bewegung zu beherrschen, er will und muß sein, wie er immer gewesen ist: kalt und unbeugsam.

Der Vortrag ist beendigt, die anklagende Stimme schweigt; es tritt eine Pause ein, die peinlich wird, weil sie, vielleicht nur zufällig, kein Ende nehmen will: es ist dies wie die Stille vor dem Ausbruche eines bösen Wetters.

Die Situation ist allseitig eine andere geworden. Von der vorherigen sorglosen Unbefangenheit ist nichts mehr wahrzunehmen. Jeder fühlt, daß die Anklage ernst gemeint, die Gesetzes-Uebertretung überzeugend dargethan ist und daß diese gesühnt werden muß.

Auch die Angeklagte ist ernst geworden. Das Köpfchen ist auf die Brust herabgesunken, der Blick starrt sinnend auf die Lehne der Bank. Sie scheint Anderes erwartet zu haben und enttäuscht zu sein, sie scheint die Zuversicht verloren zu haben und Besorgnisse zu empfinden.

Das Verhör beginnt. „Angeklagte,“ sagt der Präsident ernst und kalt, „stehen Sie auf.“

Die Angeklagte schrickt zusammen, aber sie bleibt sitzen. Sie weiß vielleicht gar nicht, daß die Forderung an sie gestellt ist und daß sie derselben folgen muß, oder sie erwartet in anderer Weise, unter Beobachtung der gesellschaftlichen Förmlichkeiten, angeredet zu werden, und übersieht, daß auf der Anklagebank jeder Standesunterschied aufhört, daß dort Namen nur dann genannt werden, wenn dies sachlich geboten ist.

„Stehen Sie auf,“ wiederholt der Präsident noch ernster als vorher, „und antworten Sie auf die Fragen, die ich Ihnen vorlegen werde.“

Der Vertheidiger flüsterte der Angeklagten leise einige Worte zu, worauf diese sich von ihrem Sitze erhob, aber zögernd, als ob sie noch immer widerstreben wolle, oder als ob ihr die Kraft fehle, sich ohne Stütze aufrecht zu halten.

„Die Anklage,“ begann der Präsident mit derselben Strenge, „wirft Ihnen vor, daß Sie den Briefträger K. vorsätzlich und widerrechtlich eingesperrt, demselben also die Freiheit geraubt haben. Bekennen Sie sich schuldig?“

„Nein, nein!“ schrie die Angeklagte krampfhaft.

„Ich bin weit entfernt, Sie zur Abgabe einer Erklärung bestimmen zu wollen; mein Amt legt mir aber die Pflicht auf, Ihnen vorzuhalten, daß ein offenes und reumüthiges Eingestehen eine milde Beurtheilung der Schuld zur Folge haben soll. An diesen Vorhalt knüpfe ich die Bemerkung, daß die beigebrachten Beweise anscheinend nicht leicht wiegen. Ich muß es Ihrer Beurtheilung überlassen, ob Sie das Gewicht dieser Beweise werden beseitigen oder abschwächen können. Verbleiben Sie bei Ihrer Erklärung?“

„Ich bin unschuldig!“

Der Präsident war mit dieser Antwort allem Anscheine nach nicht zufrieden. Die Mißbilligung war ihm von dem Gesicht abzulesen. Er schüttelte den Kopf, warf einige Blätter des vor ihm liegenden Actenstückes zurück, ohne auch nur eines derselben anzusehen, und richtete demnächst unmuthig den Blick nach der schwarzen Bank. Das, was er dort wahrnahm, mußte ihn freundlicher stimmen, er fuhr in ganz anderer Redeweise fort:

„Angeklagte, ist Ihnen der Briefträger K. persönlich bekannt?“

„Ja!“

„Haben Sie am 10. März verlangt, daß Ihnen K. einen Brief aushändigen möchte, der an Ihren Gatten adressirt war?“

„Ja!“

„Weshalb thaten Sie das? Hatten Sie ein besonderes Interesse?“

„Ich wollte – ich fürchtete –“ stammelte die Angeklagte, indem sich ihre Wangen lebhaft rötheten.

„Nun?“

„Mich drängte es, über den Absender Gewißheit zu erhalten.“

„Sie setzten wahrscheinlich voraus, daß der Brief von einer Dame herrühre. Nicht wahr, so ist es?“ fügte der Präsident lächelnd hinzu.

Die Angeklagte widersprach nicht; es mußte in Wirklichkeit so sein.

„Was haben Sie nun aber gethan, als K. Ihre Forderung ablehnte? Erzählen Sie das genau und umständlich.“

„K. wollte den Brief nur in die Hände meines Mannes geben. Er sagte, der Brief sei ein Werthstück, und fügte dann recht maliciös hinzu, er könne unterschlagen werden, wenn die Aushändigung an eine dritte Person erfolge. Das mußte mich tief verletzen. Es war eine Beschuldigung, die der Mensch mir gegenüber nicht machen durfte. Da derselbe nur mit meinem Manne verkehren wollte, so ließ ich ihn allein.“

Die Angeklagte sprach lebhaft und erregt. Die Erinnerung an die vermeintliche Kränkung hatte die Befangenheit hinweggenommen, das Auge wieder glänzend, den Blick frei gemacht. Der Präsident schien dies nicht ungern wahrzunehmen und daraus Nutzen ziehen, die Angeklagte in dieser Stimmung erhalten zu wollen.

„Sie kehrten auch nicht wieder zu ihm zurück?“ fragte er freundlich.

„Nein.“

„Sagten aber Ihrem Gatten nichts davon, daß ein Bote seiner warte?“

„Das konnte ich nicht, mein Mann war nicht zu Hause!“

„Sie mußten sich aber doch sagen, daß der Briefträger nicht warten könne, daß sein Beruf ihn weiterführe. Weshalb schlossen Sie die Thür, als Sie das Zimmer verließen?“

„Er sollte nur bis zur Rückkehr meines Mannes warten, weil er den Brief nur an diesen abgeben wollte, und bis dahin allein bleiben, weil er sich gegen mich unartig benommen hatte. Außerdem hat er mir auch gar nicht gesagt, daß er Eile habe und nicht warten könne.“

„Sie waren also sich des Verschließens der Thür bewußt; es war Ihr bestimmter Wille, daß die Thür nicht offen bleiben sollte?“

„Gewiß.“

„Ich finde das erklärlich. Durch das Verschließen der Thür war K. genöthigt, zu warten. Nicht wahr, Sie hatten nur die [380] Absicht, denselben bis zur Ankunft Ihres Gatten zurückzuhalten und dann wieder laufen zu lassen?“

„Ich wollte weiter nichts!“

„Aber,“ begann der Präsident plötzlich wieder ernst werdend, „Sie sagten mir doch, daß Sie nicht schuldig wären, und nun haben Sie unumwunden zugestanden, daß Sie den Briefträger K. vorsätzlich und mit dem Bewußtsein der Freiheitsentziehung in das Zimmer eingeschlossen haben. Wie wollen Sie das aufklären?“

Die Angeklagte schwieg.

Die Fragen waren ungeheuer rasch aufeinander gestellt worden, die Antworten unter dem Einflusse der Erregung eben so rasch gegeben. Der Vorhalt des Präsidenten schien der Angeklagten die Folgen dieser Antworten vor Augen zu führen; sie mußte mit einem Male übersehen, daß sie mit einer sorglosen Offenheit auch das zugestanden hatte, was sie nicht hatte zugestehen wollen, vielleicht auch nicht hatte zugestehen sollen, um die Strafe abzuwenden. Diese Erkenntniß versetzte sie in einen Zustand der tiefsten Niedergeschlagenheit. Ihre Festigkeit war damit zu Ende und ihr Muth plötzlich aufgezehrt durch das Schuldbewußtsein und durch die Furcht und die Angst vor der Strafe. Um sich aufrecht zu erhalten, umklammerte sie mit beiden Händen die Lehne der Bank. Dann machte sie verschiedene Versuche zu sprechen, allein erst nach unsäglicher Anstrengung gelang dies.

„Mein Gott! mein Gott! ich habe ja nichts Böses thun wollen!“ rief sie mit wahrer Seelenangst.

Dabei suchten die Hände die Lehne der Bank festzuhalten, sie umschlossen das Holz mit Aufwendung aller Kraft, aber der Druck ließ bald nach, die Finger lösten sich, die Angeklagte verlor den Halt, sie wankte und fiel zurück auf die schwarze Bank. Einen Moment blieb sie regungslos, dann schlug sie beide Hände vor das Gesicht und weinte, laut und tiefschmerzlich. –

War dies nicht Strafe genug? War dies nicht ausreichende Genugthuung für den Beleidigten? Wiegen die Thränen, die eine solche Angeklagte öffentlich weint, nicht unendlich schwer? Ist das so gefühlte Leid nicht bitterer, die so gezeigte Demüthigung nicht empfindlicher? Konnte der Richter, da Niemand an Leib oder Gut Schaden gehabt, das Vergehen nicht für gesühnt erachten? –

Der Präsident begnügte sich mit der Antwort, welche die Angeklagte aus der gepreßten Brust hinausgeschrieen hatte. Der Widerspruch war damit allerdings nicht aufgeklärt, das Zugeständniß aber auch nicht widerrufen, es behielt seine volle Beweiskraft. Auf der Anklagebank sind solche Widersprüche gar nicht selten. Die Scheu und die Scham lassen es an dieser Stelle nicht immer dazu kommen, daß die Schuld direct eingestanden, die That mit dem wahren Namen genannt wird, selbst wenn das Schuldbewußtsein dazu drängt.

Bei der weiteren Verhandlung durfte die Angeklagte sitzen bleiben; eine andere Vergünstigung konnte ihr nicht gewährt werden.

Die Beweisaufnahme brachte eigentlich nichts Neues zur Sprache, sie hatte nur insofern Interesse, als das Motiv zur That mehr entschleiert und die Angeklagte dadurch noch tiefer gedemüthigt wurde. Der Auftritt mit dem Briefträger K. war keineswegs von kurzer Dauer gewesen. Die Angeklagte hatte auf alle nur denkbare Weise versucht, den Brief in die Hände und, als diese Versuche mißlangen, wenigstens zu Gesicht zu bekommen. Die Aufschrift, aus welcher sie den Absender errathen haben mochte, und die beharrliche Weigerung des pflichttreuen Beamten, in der sie persönliche Kränkung finden zu müssen glaubte, hatten sie in große Aufregung versetzt und die That begehen lassen. Aus den von den Zeugen bekundeten einzelnen Aeußerungen und Handlungen der Angeklagten ergab sich die That als Ausfluß einer maßlosen Eifersucht.

Das Vergehen war unzweifelhaft festgestellt, das Strafgesetz mußte zur Anwendung kommen, der Vertheidiger vermochte das nicht abzuwenden.

Der Staatsanwalt stellte seinen Antrag in tiefer Bewegung. Er forderte die Verurtheilung zu drei Monaten Gefängnißstrafe, erklärte aber, daß er im vorliegenden Falle eine weit geringere Strafe verlangen würde, wenn das Gesetz für dies Vergehen eine solche zuließe.

Das Urtheil lautete demgemäß auf drei Monate Gefängnißstrafe.

Von da ab, wo sie gerufen hatte: „ich habe ja nichts Böses thun wollen!“ verblieb die Angeklagte völlig theilnahmlos. Der Schmerz, den die Erkenntniß des begangenen Unrechts erzeugt hatte, mußte tiefer, einschneidender gewesen sein als der, welchen die Verurtheilung zu einer entehrenden Strafe hervorrief.
E.




Ein deutsches Sanges-Jubelfest.


Silberkanne
dem Kölner Männergesangverein geschenkt von der Königin Victoria.

Mit dem Aufschwung, den der öffentliche Geist in Deutschland seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s des Vierten von Preußen genommen, begann auch eine neue Aera für das deutsche Lied. Als kurz nach dem Regierungsantritt des neuen Königs das Gedicht Nicolaus Becker’s:

den deutschen Nationalgeist mächtig anregte, trat an vielen Orten im Vaterlande das Bedürfniß hervor, dem Gesange, zunächst dem patriotischen Liede, die lange vernachlässigte Kunstform wieder zu geben. Nach dem gegen Frankreich gerichteten Liede Becker’s, das mit der Beseitigung der orientalischen Frage und des Ministeriums Thiers bald verscholl, tauchte das Lied vom deutschen Vaterlande des alten Arndt wieder auf, den der neue König eben wieder in Amt und Würden eingesetzt hatte. Reichardt’s schöne Composition erforderte vierstimmigen Männergesang. Herwegh folgte mit den „Liedern eines Lebendigen“, Hoffmann von Fallersleben mit den „Unpolitischen Liedern“, Prutz, Seeger u. A. tauchten auf, fanden ihre Componisten und es ging ein frischer Hauch der Begeisterung durch die lange unter den Fesseln des Polizeistaates niedergehaltenen deutschen Herzen. Die Liedertafeln, die seither das Quartett lediglich zu geselligen Zwecken gepflegt, erweiterten sich und traten in die Oeffentlichkeit, um der herrschenden Stimmung Ausdruck zu geben, und als Ende 1841 der Kriegslärm sich gelegt hatte, erfolgte im Frühling darauf die Constituirung des Männergesangvereins zu Köln. Am 27. April gründeten dreißig Sänger und Sangesfreunde den neuen Bund, der bald zu großer Bedeutung sich empor schwingen sollte. Der Domorganist und Dirigent der Singakademie, Franz Weber, übernahm die Leitung.

Das damals durch die Begründung der Eisenbahnen mächtig aufblühende Köln war, wie kaum eine andere deutsche Stadt, zur Pflege der populärsten aller Künste berufen. Von allen Seiten zogen neue Ansiedler in die alte Stadt, täglich mehrte sich die Zahl der tüchtigen [381] Kräfte, jeder Berufene nahm gern Theil an dem neuen, so mannigfachen Genuß verheißenden Streben. Gleichwohl hatte die Direction Gelegenheit genug, ihre Energie und Ausdauer zu erproben, denn Mißgunst, Neid und Eifersucht legten dem jungen Institute viele Hindernisse in den Weg. Aber schon im zweiten Jahre seines Bestehens errang der Kölnische Männergesangverein den ersten Preis in dem von der „Societé des Mélomanes“ zu Gent veranstalteten Gesangwettstreit. Sein Ruf war damit begründet und er ward nun bald das Vorbild für die allenthalben in den kleinen Städten auftauchenden Vereine für Männergesang.

Ehrenpokal
des Kölner Männergesangvereins für seinen Dirigenten.

Neben der energischen Pflege der Kunst war es die Uneigennützigkeit, welche dem Verein alsbald die allgemeine Theilnahme zuwendete; damit Hand in Hand ging die Aufopferung der Mitglieder. Von Begeisterung für ihre schöne Sache getragen, brachten sie Alle gern materielle Opfer für den gemeinsamen Zweck. Sie bewährten ihre Devise: „Durch das Schöne stets das Gute.“

Aus seinen ersten Ueberschüssen machte der Verein eine Schenkung an den Kölner Dom, ein Glasmosaik-Fenster für die obere Chor-Galerie, und dagegen erhielt er jene schöne Vereinsfahne, welche noch heute bei allen Festen entfaltet wird, gestickt von den Kölnischen Mädchen und Frauen.

Anfangs 1846 gründete der Verein den deutsch-vlämischen Sängerbund und gab in Verbindung mit 2300 belgischen und deutschen Sängern am 14. Juni das erste große Festconcert auf dem „Gürzenich“. Felix Mendelssohn-Bartholdy schrieb eigens dafür die Composition des Schiller’schen Gedichtes „An die Künstler“ und leitete persönlich das Concert.

In den weitesten Kreisen wurde der Kölner Männergesangverein bekannt, als er im Jahre 1853 auf den Plan eines industriösen Impressario, des Hofbuchhändlers Mitchell zu London, einging und zum Besten des Domes eine Sängerfahrt nach der Welthauptstadt antrat. Es gehörte viel Energie dazu, den zahlreichen Vorurtheilen Trotz zu bieten, welche von allen Seiten gegen den Plan auftauchten. Das große Publicum ist immer geneigt, allen Unternehmungen egoistische Motive unterzuschieben, es glaubt nur ungern an Großmuth und Opferwilligkeit. Als aber die achtzig Sänger, Männer aus allen Ständen, sich auf Monatsfrist aus ihren Verhältnissen losrissen, bereitwillig für Stellvertreter sorgten und mit Mühen und Kosten ihre längere Abwesenheit ermöglichten, da neigte sich alsbald das öffentliche Urtheil zu Gunsten des Unternehmens, zumal der Erfolg über alle Erwartung glänzend ausfiel. Die Theilnahme des englischen Publicums, das einstimmige Lob der Presse, dreimalige Einladungen zur Königin Victoria und eine Einnahme, die nach Abzug der über zwölftausend Thaler betragenden Gesammtkosten und nach geschehener Theilung mit dem Impressario noch dreitausenddreihundertfünfzig Thaler für den Dom und fünfhundert Thaler für wohlthätige Zwecke ergab – das Alles mußte allgemein imponiren.

Noch im December des nämlichen Jahres, traf der unternehmende Impressario wieder in Köln ein, um die Sänger zu einer zweiten Londoner Reise für den nächsten Frühling einzuladen. Diesmal dehnte er seinen Plan auch auf andere englische Städte aus und engagirte den Verein zugleich für Birmingham, Manchester und Liverpool. Obwohl die Erfolge der ersten Reise einen günstigen Verlauf der zweiten voraussehen ließen, traten die Sänger doch die zweite Fahrt nicht ohne Besorgniß an. Der Krimkrieg war ausgebrochen, die Bewohner Englands hatten manchen Angehörigen bei der Armee im fernen Lande, sie mochten vielleicht wenig geneigt sein, auf friedliche Kunstgenüsse einzugehen, und wohl gar die damals in England herrschende, Preußen ungünstige politische Stimmung auf die Sänger übertragen. Aber das erste, am 8. Mai gegebene Concert fand vor überfülltem Hause statt, und namentlich war die höchste Aristokratie außerordentlich zahlreich vertreten. Nur einmal wurden die rheinischen Sänger an den Krieg im fernen Süd-Rußland gemahnt. Auf den Wunsch mehrer hochgestellten Personen unterließen sie beim fünften Concert den Vortrag des Silcher’schen „Grabliedes zur See,“ um nicht die in manchen Kreisen herrschende Trauer über die im Kriege gefallenen Angehörigen wach zu rufen. Außer von der Königin wurde der Verein auch von der Herzogin von Sutherland nach Stafford-House am St. James-Park eingeladen; er gab in dem überaus prächtigen Palaste ein Concert, dem unter Andern auch Lord Russell, Gladstone, Lansdowne, Graf Walewski etc. beiwohnten. Mit Zustimmung des Vereins veranstaltete Herr Mitchell eine größere Zahl von auswärtigen Concerten und begann mit Bradford. Hier, wie in der dicken Luft der andern Fabrikstädte, wirkte das deutsche Lied wie Frühlingssonnenschein und weckte Begeisterung in tausend Herzen, die sonst nur für Baumwolle, für Kette und Schuß geschlagen hatten. Als nach Aufführung von einundzwanzig Concerten die Gesellschaft Abschied nahm, hatte sie, einschließlich eines Beitrags von der Königin, über dreizehnhundert Pfund Reineinnahme, und der Dom erhielt mehr als sechstausendfünfhundert Thlr.

Im Jahre 1855 zweigte sich aus dem Kölner Männergesangverein der „Kölner Sängerbund“ ab, der, seitdem als besonderer Verein bestehend, sich neben demselben einer großen Popularität in Köln und im Rheinlande erfreut und in neuester Zeit der erste war, der die Veranstaltung von Concerten zum Besten der National-Dotation für den Dichter Ferdinand Freiligrath anregte.

Die große Ausstellung zu Paris im Jahre 1856 gab Veranlassung, daß der Verein den Entschluß faßte, auch in der französischen Hauptstadt zu Gunsten des Domes zu concertiren. Es zeigte sich jedoch, wie viel weniger der Franzose für die deutsche Musik empfänglich ist als der Engländer. Die Einnahme blieb 18,000 Francs unter den Kosten. Die französische Presse war einstimmig in dem Lobe der Leistungen der Sänger, Rossini’s Worte: „Voilà la première musique depuis dix ans que j’écoute avec plaisir“ (das ist die erste Musik seit zehn Jahren, die ich mit Vergnügen höre) machten die Runde, der Impressario Mitchell hatte die enormste Anstrengung zur Bekanntmachung nicht unterlassen – dennoch mangelte es an der ausreichenden Theilnahme. Von den Zeitungsartikeln gaben manche dem humoristischen Element unter den Sängern reichen Stoff durch die Art, wie sie die Unkenntniß der Franzosen höchst ergötzlich verriethen. Ein Blatt erzählte z. B. eine schauerliche Mähr von einer zu Köln in Trümmern [382] liegenden alten Kirche, deren Thürme bald auf die Flursteine um den Altar niederfallen würden, hätte man nicht im Augenblick höchster Gefahr den Männergesangverein begründet, der bereits Oesterreich und Preußen nach allen Richtungen durchstreift habe und jetzt nach Paris gekommen sei, um die Casse des Domschatzmeisters zu füllen und den Dom fertig zu machen.

Das Deficit der Pariser Sängerfahrt deckte ein Jahr nachher eine dritte Reise des Vereins nach London. Diesmal bot sich denn auch Gelegenheit, ein Volksconcert zu geben, nachdem der Krystallpalast in Sydenham den Sängern eingeräumt war. Die Aufführung fand vor zwölftausend Zuhörern statt.

Hatten die Wanderzüge den Namen des Kölner Männergesangvereins von den beiden Hauptstädten des europäischen Auslandes aus durch den ganzen Welttheil getragen, so wurde in der engeren rheinischen Heimath nicht minder für seine Celebrität gesorgt. Jedem guten und schönen Zwecke dienstbar, griffen die Sänger allüberall ein, wo es galt, zu erwerben, zu erhalten und zu pflegen. Sie sangen zum Besten wohlthätiger Stiftungen, zum Aufbau und zur Erhaltung von Kirchen und Gotteshäusern, für den Schillerfonds zum Ankauf von des Dichters Geburtshause wie für die Restauration des alten Kaiserdomes in Speier; ihre Hymnen begrüßten bei festlichen Gelegenheiten, wie z. B. der Eröffnung der neuen Rheinbrücke und des neuen Museums, die frohen Gäste und klangen bei feierlichen Bestattungen geliebter Todten, z. B. dem Dombaumeister Zwirner, in die Grube nach. Und wieviel Gelegenheit bot nicht im Laufe der Jahre die im ganzen Rheinlande und besonders in Köln in höchster Blüthe stehende Geselligkeit! Wenn wir oben sagten, daß dem Verein Kräfte aus allen Ständen und Kreisen angehörten, so haben wir damit eigentlich schon ausgesprochen, daß der weltbekannte rheinische Humor auch seine Stätte darin gefunden; nun aber waren und sind humoristische Talente ersten Ranges unter den Mitgliedern Dichter und Componisten, Schauspieler und Sänger in Einer Person! Es ist in Köln Sitte (strenge Kritiker nennen es Unsitte), jedem ernsthaften Kunstgenuß einen humoristischen Schluß anzuhängen; vor den erstaunten Blicken des fremden Gastes schlüpft da der würdige Repräsentant der hochtragischen Hauptfigur eines Oratoriums in die Harlekinsjacke und trägt mit derselben Stimme, die eben noch im Dienste der Muse Sebastian Bach’s oder Graun’s auf dem Kothurn gewirkt, nun Scherzlieder im Kölnischen Dialect vor. Ja, die ersten Sänger der großen Gürzenich-Concerte vereinigen sich zum Carneval und spielen und singen im Schauspiele, in Burlesken und Localpossen, die sie selbst gedichtet und componirt haben; sie nennen das ein „Divertissementchen“ geben und zwar regelmäßig auf Kosten der bevorzugten Minorität der Menschheit, der Kaiser und Könige, Minister und Solcher, die es werden wollen – zum Besten der benachtheiligten Majorität, der Armen und Unterdrückten!

Dann wiederum verbünden sich die Jünger der Tonkunst von Köln mit den Pflegern der bildenden Künste von Düsseldorf; es trägt diese artistische Allianz ihre goldenen Früchte zur Freude aller Kunstfreunde; die Einen singen Concert, die Andern malen Decorationen und stellen lebende Bilder.

Während seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens veranstaltete der Kölner Männergesangverein zur Förderung der Kunst und zu wohlthätigen Zwecken zweihundertsechsunddreißig Concerte, davon einhundertdreiunddreißig in Köln, siebenundvierzig in England und dreizehn in Paris; zur Verherrlichung der Kunst wirkte der Verein achtzehn Mal mit. Er machte sechsunddreißig Reisen und Sängerfahrten, brachte vierundsechszig Serenaden und gab vierunddreißig Liedertafeln zum geselligen Vergnügen. Das materielle Ergebniß der öffentlichen Concerte des Vereins beträgt über dreiundfünfzigtausend Thaler, welche namhafte Summe er zu vaterländischen, vaterstädtischen und wohlthätigen Zwecken vertheilte. Der Verein verfuhr dabei so uneigennützig, daß er weder ein eigenes Local, noch baares Vermögen besitzt. Zuletzt, nachdem er lange in verschiedenen gemietheten Räumen umher nomadisirt, mußte sich die Stadtverwaltung des Obdachlosen erbarmen und räumte ihm die Rathhauscapelle zu seinem Gebrauche ein.

Als nun der fünfundzwanzigste Jahrestag der Stiftung, der 27. April 1867 herankam, schrieb der Kölner Männergesangverein ein großes Festconcert aus, und kaum trug die Presse die Kunde von dem bevorstehenden Jubelfest in die Ferne, als auch schon von allen Seiten die lebhafteste Theilnahme sich kundgab. Der Dichter Roderich Benedix, einst, während seines mehrjährigen Aufenthalts in Köln, ein eifriges Mitglied des Vereins, übernahm den Prolog und trug ihn selbst vor. Die Componisten Ferdinand Hiller, Max Bruch, J. Brambach, F. Gernsheim und Franz Weber schrieben eigens für das Fest Lieder und Gesänge, und die sämmtlichen Vereine und Corporationen, die ein gleiches Streben mit dem Kölner verfolgten, oder alte Schulden der Dankbarkeit für seine langjährige Wirksamkeit abzutragen hatten, ließen sich durch gratulirende Deputationen vertreten. Der jüngere Zweigverein, der „Sängerbund“, schloß sich sofort der Feier an und so kam ein stattlicher Chor von zweihundertsechsundachtzig Männerstimmen zu Stande. Die neuen Compositionen erforderten einige Solisten und eine junge Künstlerin aus dem Sachsenlande, Fräulein Hedwig Scheuerlein aus Halle, fand Gelegenheit, sich als vortreffliche Sängerin zu bewähren.

Von Seiten des Königs von Preußen, der als Protector des Kölner Männergesangvereins eine Einladung zur Theilnahme empfangen, und von der Königin erhielt der Jubilar ein Gratulationsschreiben nebst einem außerordentlich kostbaren Tactstock zum Geschenk. Die beiden bildlichen Darstellungen, die wir unserer Mittheilung beifügen, zeigen eine Silberkanne, die dem Vereine zur Erinnerung an die Londoner Concerte von der Königin Victoria von England verehrt wurde, und einen Ehren-Pocal, welchen die Mitglieder ihrem hochverdienten Dirigenten, dem königlichen Musikdirector Franz Weber, zum Jubiläum überreichten.

Ein seltenes Glück kann man es nennen, daß die Häupter des Vereins größtentheils heute noch, wie vor einem Vierteljahrhundert, mitwirken, vor Allem, daß es dem ersten Tenoristen, Herrn Andreas Pütz, noch heute beschieden ist, seine schöne Stimme und seine hohe Gesangesfertigkeit dem Vereine zu widmen.

Kaum jemals möchte es einer auf freier Verbindung beruhenden kleinen Corporation vergönnt gewesen sein, solche Erfolge zu registriren und eine solche Dauer nachzuweisen. Der Kölner Männergesangverein ist ein glänzendes Zeugniß für den guten Geist des deutschen Genossenschaftswesens; mag dasselbe im Allgemeinen auch mehr materielle Zwecke verfolgen, es beruht doch durchweg auf einem idealen Streben: Verbesserung und Veredlung sind seine Ziele allerwegen.




Pariser Weltausstellungs-Briefe.
Von Michael Klapp.[3]
1. Zum Eingang.

Vier Jahre werden es gerade in wenigen Tagen sein, daß ein kaiserliches Decret im Moniteur sprach: Es werde eine zweite Weltausstellung in Paris! Die Pariser waren überrascht, sie dachten an nichts weniger als an industrielle Weltfeste, sie dachten an ganz andere Dinge, die dem großen Manne in den Tuilerien nicht wenige Sorgen machten. Versprechungen mußten einmal gemacht sein und so versprach der Kaiser den Parisern für das Jahr 1867 zwar nicht die Freiheit, die sie meinen, aber die Freiheit, mit den weit von allen Meer- und Landwegen anströmenden Fremden machen zu können, was sie financiell nur immer wollten. Das war etwas, was sich immerhin hören ließ. Hinter den Tuilerien-Coulissen aber hatte man nebst der Freude der wirksamen Vertröstung der Pariser Kinder auf kommende fette Tage auch noch ein Extra-Vergnügen – man hatte Oesterreich einen kleinen Possen gespielt. In Wien hatten sie zur Zeit nämlich einen – Gedanken! Die Ausstellungslorbeeren von Paris und London sollten einmal auch für die schöne Donaustadt gepflückt werden. Der Kaiser Franz Joseph interessirte sich dafür, Schmerling und Rechberg [383] interessirten sich dafür, der Gemeinderath der Stadt Wien interessirte sich dafür. Und sie saßen so traulich beisammen und stritten um einen Platz für die vierte Weltausstellung. An’s Geld dachten sie Alle nicht, denn zu welcher Zeit hätte das in Oesterreich gefehlt? Es hat schon zu ganz andern Dingen, die das Fiasco mit in die Wiege gelegt bekommen, in Oesterreich an Geld nicht gefehlt und wird wieder nicht fehlen – dachte man mit Recht und stritt nur um den Platz. „Hie Exercirplatz!“ schrieen die Einen, „hie Prater!“ die Anderen, und als sie sich über den Prater zu einigen angefangen hatten, da lasen sie eines schönen Tages in der ersten Hälfte des Juni die Pariser Depesche, daß es dem „Herrn der Welt“ (Graf Bismarck war damals noch nicht Concurrent Napoleon’s des Dritten) gefallen, die nächste Weltausstellung in Paris bei sich zu Hause abzuhalten. Das arme Oesterreich! Nachdem man ihm die Lombardei genommen, nahm man ihm auch seine projectirte Weltausstellung! In den Tuilerien aber rieb man sich die Hände über das gespielte Prävenire. Man begann dort eben schon damals, an den kleinen Mitteln Gefallen zu finden, da die großen, um weiter an der Spitze der europäischen und mexicanischen Gesellschaft und Civilisation zu marschiren, gerade zu Ende gegangen waren. Von Mr. Rouher, der damals noch nicht Allgewaltiger von heute, sondern Minister der Agricultur war und also in seiner bescheidenen Stellung, die mit der „Krönung des Gebäudes“ noch nichts zu thun hatte, Zeit und Lust genug haben konnte, die neuen Napoleonischen Gedanken zu hegen und pflegen, kam der erste Rapport und alsbald tauchten auch die ersten Köpfe der Commission auf, die mit der Vollführung des kaiserlichen Gedankens belastet wurden. Wir können es den Männern glauben, es war eine Last und eine solche, die auch kaiserliche Huld und Gnade und schöne Aussichten auf Comthurkreuze und dergleichen nicht wesentlich zu erleichtern vermochten.

Schafft Platz und Geld! – hieß die kaiserliche Mahnung. Platz? Es hätte nur eines Winkes an Herrn Haußmann, den Seinepräfecten und Häuserzerstörer von Paris, bedurft, und Platz wäre gewesen, wo immer nur der Kaiser es wünschte; eines Winkes, und ganze Stadtviertel, und wären es selbst die erst von Herrn Haußmann neu errichteten, wären gefallen, um der neuen Weltausstellung Raum zu schaffen. Die Pariser können sich gratuliren, daß der Wink nicht gegeben wurde und daß vor den Augen des erleuchteten Franzosenkaisers zur rechten Zeit die große Einöde des Marsfeldes mit ihren riesigen, unwirthlichen Flächen aufgestiegen. Der Kaiser rettete, wie schon so oft, wieder einmal den Geist seiner Gesellschaft, er berief Räthe zusammen, denen er schließlich den besten Rath geben mußte. Aber Geld zu schaffen, konnte er diesen Räthen nicht erlassen, viel Geld! Die Nivellirung des wüsten Marsfeldes, dessen Gras gut genug war, um von den Rossen der Lanciers gebissen zu werden, auf dessen unebenen Bodenstücken nöthigenfalls Zuaven exerciren konnten, das aber lange kein Terrain zu dem großartigen Kampfspiele der Civilisation, das der Kaiser daselbst aufführen wollte, bot, die Nivellirung und Cultivirung dieses Marsfeldes mußte allein schon große Summen verschlingen. Und dann sollte Alles den Stempel des Kolossalen haben, die früheren, vorausgegangenen Weltausstellungen sollten der kommenden gegenüber zu kleinlichen Spielereien herabsinken, vor dem Plan schon sollten die Völker des Erdballs ehrfurchtsvoll in die Kniee sinken. Dazu gehörten große Summen. Die Weise, wie sie zu beschaffen, machte der Commission große Sorgen. Sie hatte überdies großes Pech. Sie verlor mit der Zeit Herrn Rouher, der das Agricultur-Portefeuille niederlegte, um die Cultur der Deputirtenkammer zu übernehmen, und wirthschaftete dafür Herrn Behic ein und dann verlor sie wieder den Prinzen Napoleon – sie verlor also zwei Mal ihren Kopf und bekam endlich definitiv dafür einen Ersatz in der Person eines Kindes, des „Kindes von Frankreich“. Mit einem solchen Oberhaupte oder besser gesagt Oberhäuptchen konnte man schon eher Dinge versuchen, die sonst nicht gegangen wären. Was konnte von Seiten der öffentlichen Meinung passiren? Höchstens könnte man sagen, Das und Jenes, was die kaiserliche Commission thäte, wäre kindisch! Dafür stand ja auch ein Kind an der Spitze.

Jahre vergingen unter den verschiedensten Hin- und Herberathungen, da endlich kam man zu folgendem Entschlusse: Das Geld für den Ausstellungsbau im Wege der Association zu beschaffen. Zwanzig Millionen Francs brauchte man: der Staat und die Stadt Paris sollten zusammen zwölf Millionen hergeben, die übrigen acht Millionen sollten durch speculative Capitalisten, Freunde eines guten Geschäfts, deren sich in Frankreich immer finden, aufgebracht werden. Und da steckt der wunde Fleck des großartigen Unternehmens, an dem von der einen Seite nicht gering zu rühmen, von der anderen Seite nicht genug zu tadeln ist. Zu einer Gabe von zwölf Millionen haben sich Staat und Hauptstadt bequemt und um acht Millionen willen, die man noch brauchte, hat man den ganzen schönen Nimbus der kaiserlichen Idee mit „kaufmännischer Hand“ zerstört und eine Societät von Weltausstellungs-Maklern geschaffen, der man sich mit Haut und Haar verschrieben und die nun nach ihren gewiß sehr mercantilisch reellen, aber für eine Weltausstellung gänzlich unpassenden Begriffen in den Palästen auf dem Marsfelde wirthschaftet und jede Zollbreite des Bodens in Geld verwandeln will, auf daß nur ja die Weltausstellung von 1867 ein „brillantes Geschäft“ werde. Und das um acht Millionen willen! War Herr Haußmann, der Mann, der so genial die künftigen Generationen von Paris, die heute noch gar nicht sind, schon mit erklecklichen Schulden belastet, wirklich in Verlegenheit, wie auch die acht Millionen noch im Namen der Stadt Paris zu verbüchern wären? Unglaublich für den Mann, der von sich sagen kann: „Paris c’est moi!“ Aber die Idee eines „guten Geschäfts“ stak in vielen Gliedern, und so kam die Convention zwischen dem Staat, der Stadt und der Commission, die im Namen der „Association unter Garantie der Regierung“, sprach, die noch gar nicht bestand, am 19. März 1865 zu Stande. Stadt und Staat versprachen zusammen zwölf Millionen, zahlbar in drei Raten (1865 drei Millionen, 1866 sechs Millionen und 1867 wieder drei Millionen), und für die fehlenden acht Millionen wurde die Subscription im April 1865 eröffnet. Da die Regierung auch noch die Garantie übernahm, so war es kein Wunder, daß schon Ende Juni 1865 eine Summe von zehn Millionen zweihundert siebenzigtausend Francs gezeichnet war. Nun war aber auch von dem Augenblick an das Schicksal der Weltausstellung, ein Schicksal, das sie in eine Reihe mit jeder anderen Actienunternehmung stellt, entschieden. Dahin war das welt- und culturhistorische Moment, die Bilanz war die Hauptsache!

Macht was ihr wollt, aber macht, daß Alles, was ihr macht, Geld, schönes Geld trägt! sagten die Capitalisten zu der kaiserlichen Commission und seit dem 1. April 1867, seitdem die Napoleonische Idee des „Noch nie Dagewesenen“ aller Welt offen steht zur Besichtigung, ist es mit jedem Tage deutlicher zu sehen, wie sehr die kais. Commission die Sache der Zehn-Millionen-Menschen zu der ihrigen gemacht hat. Welche Rechte hat man nicht diesen Zehn-Millionen-Männern eingeräumt! Welche Fülle von Monopolen sind ihrethalben geschaffen worden! Man konnte nicht genug erfinderisch sein nach dieser Richtung hin. Alle möglichen und unmöglichen Rechte wurden von der Commission zu Gunsten des Geschäftes verschachert. Ein hoher Pachtschilling wurde abgefordert und die Pächter von dem und jenem sind nun gezwungen sich an den unschuldigen Besuchern der Weltausstellung zu revanchiren. Die Commission will Geschäfte machen, die Association will Geschäfte machen, die Restaurations-, Café-, Buffet-, Brauereien-Pächter aller Nationen, die sich in der äußersten der Galerien des Weltpalastes zusammengefunden, wollen Geschäfte machen. Und deshalb wehe allen armen Menschenkindern, welche die große Idee des Kaisers voll kleiner und großer Wunder zum Marsfeld gezogen; man hat sich, wo und wie sie sich auch stellen oder setzen mögen, gegen sie verschworen. Ein großes Netz von Verpachtungen ist, ohne daß es der arme unschuldige Marsfeldbesucher weiß, über seinen Kopf zusammengezogen, man wartet nur, daß er hineingeräth. Sie haben Essen und Trinken verpachtet, gut. Sie haben jeden Stuhl, jedes Sitzplätzchen im riesigen Palaste, das den Leser einladen könnte, nach langen Wanderungen Platz zu nehmen, verpachtet, auch gut. Sie haben das Recht der Publication der Kataloge, die in der jetzigen Ausgabe nicht immer Verläßliches bieten, des Verkaufs von Zeitungen verpachtet, gut. Aber sie haben Gewaltmaßregeln ganz anderer Art gegen uns ersonnen; Verrichtungen, die uns Noth thun, lassen sie uns nur gegen Erlag von fünfzehn und fünfundzwanzig Centimes, je nach dem Grade jener Verrichtungen, thun. Man hat seinen Franc Eintrittsgeld erlegt und glaubt nun die Weltausstellung um diesen Preis sehen zu können? Was uns nicht beifällt! Beim „reservirten Garten“, in dem man sich einzig und allein nach den Strapazen des Auges ergehen kann, ohne das und jenes sehen zu müssen, in dem die hübsche Welt sich versammelt und Militärmusik erklingt, rufen sie uns schon Halt zu und fordern uns wieder fünfzig Centimes ab.

Und da haben die Mexicaner sich im Park einen Tempel gebaut (ich weiß nicht, ob die Kaiserlichen oder die Juaristen), der uns, wenn wir neugierig sind, fünfundzwanzig Centimes Eintrittsgeld kostet. Und man muß neugierig sein, denn man kann nicht sagen, auf dem Marsfelde gewesen zu sein, wenn man nicht Alles gesehen hat, einiger lumpigen Centesimi wegen, nicht wahr? Aber auf diese lumpigen Centimes haben es die Ausstellungs-Schacherer eben abgesehen. Darum haben sie uns auch in Chinas Parkpalästen ein Extraentrée aufvotirt. Warum verlangen sie nicht gleich am Eingang von uns zwei oder drei Franken und lassen uns dann ungeschoren, wo wir auch immer hinziehen möchten? Warum simuliren sie uns einen Spottpreis für das Entrée in den Weltpalast vor, um uns nachträglich noch einige andere abzunehmen? Das ist Schwindel zu Deutsch gesagt, und solchen Schwindel haben sie auch vielfach hervorgerufen. Sie haben einem beliebigen Herrn das Recht eingeräumt ein sogenanntes Théatre international für so und so viel Pachtschilling zu bauen; am 1. April hätte es eröffnet werden sollen, heute zählen wir den 29. Mai und noch immer ist die Eröffnung wie zu wiederholten Malen schon als „très prochainement“ (nächstens) angekündigt. Die Mauern sind mit Mühe aufgerichtet, ein Oper-, Orchester- und Balletpersonal seit Monaten engagirt, hat aber bis heute noch keinen Heller Gage erhalten können – es ist kein Geld da und nun wird beim Kaiser gebettelt.

Versagt dieser die Hülfe, so steht ein eclatanter Bankerott bevor, der, mit der Weltausstellung in Verbindung gebracht, sich sehr gut machen wird. Nicht viel reeller steht es um einen anderen internationalen Schwindel, den sogenannten „Cercle international“, der keine Mitglieder finden kann, die sich einreden lassen, es sei amüsant, hundert Franken zu zahlen für nichts und wieder nichts, um leere, gähnende Räume und noch gähnendere Beamte, Kellner und Cigarrenverkäufer zu sehen. Auch der gewisse Untergang dieses Unternehmens wird unter der Rubrik: „Weltausstellungsschwindel“ zu verzeichnen sein. Was fragte die Commission danach, ob auch all diese speculativen Herren und Gesellschaften die Garantie boten, daß sie die Idee der Ausstellung nicht compromittiren würden? Sie ließ sich hohen Pacht bezahlen und damit Basta. Sind die Pachte ausbezahlt, dann ist der kaiserlichen Commission, an deren Spitze Herr de Play (der Weltausstellungs-„Shylok“ verdient genannt zu werden) steht, und den mit ihr eng verbundenen Zehn-Millionen-Männern Zweierlei ganz gleichgültig: 1) ob man weltmännisch nobel mit den Ausstellungsbesuchern umgegangen, und 2) wie viele von den auf die Leimruthe der massenhaften Verpachtungen gerathenen Pächter (wie z. B. die Besitzer der „Vestiaires“ [Garderobe] sich ruinirt haben werden. Werden die Herren doch aller Wahrscheinlichkeit nach einen Gewinn von „einigen Millionen“ herausschlagen. Und das wird dann für sie der Triumph der Weltindustrie sein, für sie, die Industriellsten der Weltindustriellen!



[384]
Blätter und Blüthen.

Von der Erde verschwunden, so soll nach einer preußischen Instruction derjenige Ort gleichsam betrachtet werden, in welchem die Rinderpest grassirt. Und so ist es denn auch mit einigen Orten, in welchen die bekanntlich jetzt in Oberfranken und Meiningen aufgetretene verheerende Seuche herrscht. Hören wir die Schilderung eines Einwohners eines solchen Orts. Es ist das zu dem früher kurhessischen, jetzt preußischen Kreis Schmalkalden gehörige Städtchen Barchfeld, in welchem eine vom Viehhandel lebende zahlreiche Judenschaft ihren Sitz hat. „Unser Ort,“ schreibt man von dort, „ist wie ausgestorben. Grabesstille herrscht auf den Straßen, kein Fuhrwerk darf dieselben passiren, kein Huhn, kein Hund, keine Katze, geschweige ein anderes größeres Stück Vieh darf sich außerhalb der Gehöfte blicken lassen. Nur Soldatenpikets durchziehen von Zeit zu Zeit die Straßen, um, wenn da nöthig, unter dem Gebrauch der Waffen die Todtenstille aufrecht zu erhalten. Die Bewohner der Gehöfte, in welchen sich die Seuche befindet oder befand, dürfen ihre Wohnungen nicht verlassen, jede Berührung mit anderen Menschen ist ihnen auf das Strengste untersagt. Nahrungsmittel werden ihnen vor die Thür gesetzt, sie müssen dieselben nach Entfernung des Zubringenden abholen. Die Gehöfte sind militärisch abgeschlossen. Jeder andere Ortseinwohner muß, wenn er aus dem Orte, dessen ganze Ausgänge besetzt sind, hinaus gehen will, sich vorher desinficiren lassen, das heißt, er wird in eine Breterbude gesteckt und fünf Minuten lang mit Chlordämpfen geräuchert. Der Kopf wird, um das Einathmen der Dämpfe zu hindern, während der Räucherung durch ein in der Bude befindliches Loch gesteckt. Gesicht und Hände muß er mit einer flüssigen Substanz versehen. Keiner kann sich dieser Procedur entziehen, sofern er einmal draußen im Freien vor dem Orte frische Luft schöpfen, vielleicht einen Gang in seinen Garten oder auf’s Feld thun will. Auch Jeder, der von auswärts in die Nähe des Ortes kommt und auf der jetzt außerhalb des Orts verlegten Straße vorüber geht oder fährt, muß die Räucherung über sich ergehen lassen. Selbst der Herzog und die Herzogin mußten auf der Durchreise nach Liebenstein diese Gleichheit vor dem Gesetze an sich erproben. Die zartnervigere Damenwelt hat vor diesen „Desinfectionshütten“ eine gewaltige Scheu. Sie zieht es daher lieber vor, ihr Leben bis auf Weiteres hinter öden Mauern zu vertrauern. Die größte Calamität war noch, daß die viele Landwirthschaft treibende Bevölkerung wegen gänzlicher Einsperrung ihres Zugviehs ihre Felder nicht bebauen konnte. Da die Arbeit wegen der lang anhaltenden schlechten Witterung ohnedies in diesem Frühjahre sehr drängte, so spannten sich die Menschen in der ersten Rathlosigkeit selbst an den Pflug, bis auf polizeilichem Wege die Bebauung der Felder durch Viehbesitzer aus den Nachbarorten angeordnet wurde. Glücklicherweise hat in den letzten Tagen sich kein ‚neuer Pest-Fall‘ gezeigt. Wir sehen einem solchen mit Angst und Schrecken entgegen, denn er verzögert unsre Befreiung um wieder vier Wochen.“




„Handeln die Thiere nur mit Instinct, oder auch mit Ueberlegung?“ Ein langjähriger Freund unserer Familie, Dr. M..…, theilte bei seinem letzten Besuche einen neuen Beweis für die oft eminente Intelligenz der Singvögel mit.

„Als ich,“ so berichtete er, „vor Kurzem den zur Zeit unbewohnten, einer mir befreundeten Familie gehörigen Landsitz auf einem Spaziergange berührte, stattete ich dem daselbst angestellten, mir ebenfalls bekannten Gärtner einen Besuch ab. Derselbe ist ein großer Vogelliebhaber und besitzt zwei Kanarienvögel, einen Hänfling und eine Finkmeise. Diese Vögel sind sehr zahm und fliegen am Tage oft frei in der Stube umher. Der Gärtner wußte von der Finkmeise manche Schelmenstreiche gegen die übrigen Vögel zu erzählen und lieferte mir dazu einen Beweis.

Er streute nämlich in einige Käfige frisches Futter. Sogleich flogen die Vögel mit Ausnahme der Finkmeise herbei und gingen in den ihnen zunächststehenden Käfig, wo sie sich das ausgestreute Futter sehr gut schmecken ließen. Kaum hatte jedoch die Finkmeise bemerkt, daß die übrigen Vögel sich in dem einen Käfig befanden, so flog sie wie ein Pfeil herbei und schlug die Thür dieses Käfigs zu, worauf sie sich in einen andern Käfig begab und ungestört fraß. Nachdem der Gärtner die eingeschlossenen Vögel befreit hatte, streute er plötzlich Futter in den Käfig der Finkmeise, diese jedoch flog mit großer Geschwindigkeit hinein, schlug die Thür zu und ließ den übrigen Vögeln das Nachsehen, indem sie sich das Futter trefflich schmecken ließ. Nach einem jeden dieser Schelmenstreiche erhebt sie ein betäubendes Triumphgeschrei. Noch verdient Erwähnung, auf welche Art das kluge Vögelchen das Auf- und Zuschlagen der Käfigthüren bewerkstelligt. Diese Thüren sind wie die gewöhnlichen Stubenthüren gebaut, und die Meise flattert auf den obern Rand der Thür und wirft sie durch Schaukeln zu, indem sie durch Abspringen den geeigneten Stoß giebt. Auch macht sie die Thüren durch Andrücken der Brust wieder auf, wenn sie sich gesättigt hat.“

Dresden.
A. K.




Ein neues Kunstwerk der Bildwirkerei. Unsere Leser erinnern sich jenes „Heinrich des Vierten in Canossa“, den wir nach dem großen Oelbilde Plüddemann’s in Nr. 16 der Gartenlaube von 1862 in einem trefflichen Holzschnitt mittheilten. Diese Copie liegt nun als ein in Seide gewebtes Bild vor uns. Herr H. F. Schaller, Manufacturzeichner und Kartenschläger zu Ernstthal in Sachsen, hat dasselbe als eine Probe, bis zu welchem Grade der Kunstfertigkeit und Vollkommenheit es im Fache der Weberei gebracht wurde, für die Chemnitzer Gewerbeausstellung dieses Jahres herstellen lassen. Wie mühselig diese Arbeit ist, erkennt auch der Nichtsachverständige an den Angaben, daß zu diesem 93/4 Zoll breiten und 143/4 Zoll hohen Bildgewebe nicht weniger als eintausend einhundert sechsundsiebenzig Kettenfäden, dreitausend dreihundert Einschläge oder Schüsse und demnach zusammen sechstausend sechshundert Musterkarten gehörten. Dasselbe Bild wird in Wolle 53/4 Leipziger Ellen hoch und 33/4 Ellen breit hergestellt. Der Werth dieser gewebten und gewirkten Bilder besteht bekanntlich in ihrer Dauerhaftigkeit, und eben deswegen wendet man diese technische Kunst nur für Kunstwerke an, die eines solchen Aufwandes von Mühe, Zeit und Kosten für den Vorzug ihrer Dauerhaftigkeit werth sind. Wir freuen uns, daß Herrn Schaller zu dem von ihm bevorzugten Gegenstande der patriotische Wunsch hinzog, daß dieses deutscher Industrie entsprungene Bild in jedem Beschauer den Muth des deutschen Mannes wach rufen möge, „damit ein Jeder nach seinen Kräften dazu helfe, daß solche Schmach (wie Deutschland damals in seinem Kaiser erlebt) in unseren Zeiten auch auf andere Weise nicht wiederkehre.“




Kleiner Briefkasten.


Der „achtjährigen Abonnentin“. Da nicht alle Leser der Gartenlaube Bräute oder angehende Hausfrauen sind, so möchte Ihre „alltägliche Geschichte“, die übrigens von einem recht hübschen Talente für Kleinmalerei aus dem Haus- und Familienleben zeugt, nicht das nachhaltige Interesse finden, das Sie selbst gewiß Ihrer Erzählung wünschen.

Alexander Schulte in Saarbrücken. Geniren Sie sich nicht mit Ihren Angriffen auf die Gartenlaube und ihr „Rom am Rhein“; diese wird unbeirrt davon ihren Weg weiter wandeln und bekennen, was sie und mit ihr das gesammte unbefangene Publicum aller Confessionen für wahr hält. Allerdings hat die Geschichte über den Jesuitenorden ihr Urtheil abgegeben, dasselbe lautet aber ganz anders, als das Ihre. Schlauheit und Geschicklichkeit hat ihm noch Niemand abgesprochen, und diese Schlauheit, verbunden mit einer wohlberechneten Organisation und einem Zurückbeben vor keinem Mittel, ist es gewesen, wodurch er über die ganze Welt sich verbreitet, wenn auch nicht Bürgerrecht gefunden hat, wie Sie sagen. Bürgerthum und Jesuitismus sind Gegensätze, wie sich schlagendere nicht denken lassen.

Germain. Zu freisinnig sind uns Ihre Gedichte nicht, aber zu – schlecht.

L. B–s. in St. L–s. Immer nur Stoffe aus dem dortigen Leben, nicht allgemeine Betrachtungen wie der letztgesandte Artikel, der ebenso gut an dem Gestade der Pleiße hätte geschrieben werden können.

Br. in J–l. Geduld! Nach und nach werden Sie Alles finden. Artikel über Sch. unbestimmt.

J. H–l in R–u. Sie haben wohl vergessen, was wir schon mehrere Male bemerkten, daß wir Einsendungen von Manuscripten und Zeichnungen etc., die uns ohne unsre Aufforderung gemacht werden, nur annehmen, wenn sie frankirt sind.

S. in Cl–thal. Ist leider den Weg alles Fleisches gewandelt.




Freiligrath-Dotation.


Bei dem Barmer Haupt-Comité sind wiederum eingegangen: Durch Philipp in Elbing 50 Thlr.; gesammelt vom Freiligrath-Comité in Essen, durch W. Lürenbaum 300 Thlr., wovon 50 Thaler von der Gesellschaft „Glocke“; von R. L. F. in Elberfeld 5 Thlr.; gesammelt durch Fritz Hoddick in Langenberg 30 Thlr.; von Fr. Harkort und Hammacher 10 Thlr.; vom Freiligrath-Comité in Bingen durch Leop. Feist 57 Thlr.; von F. Itzig in Burgsteinfurt durch denselben gesammelt 18 Thlr. 15 Ngr.; aus Barmen: H. und R. E. 50 Thlr.; H. und O. J. 25 Thlr.; Scherz in der Barmer Pfalz 4 Thlr. 20 Ngr.; R. N. 11 Thlr. 10 Ngr.

Bei der Redaction der Gartenlaube: Liedertafel in Greiz 2 Thlr.; aus Rusinow bei Kruschwitz durch Eduard Lange 1 Thlr. 15 Ngr.; W. U. in W. 1 Thlr.; Ertrag einer musikalisch-declamatorischen Abendunterhaltung des Turnvereins in Dessau 14 Thlr.; Gesellschaften Liederkranz, Frohsinn und Blechmusikverein in Lindau 50 Thlr.; Turner in Mannheim und Frankenthal 10 Thlr.; M. Riedel in Leipzig 1 Thlr.; Verein T. in Meerane 1 Thlr.; Dr. Schreiber in Quedlinburg 5 Thlr.; F. S. in Schweinfurt 3 Thlr.; R. H. aus H. 2 Thlr.; von Verehrern des Dichters aus Stadt Norden 27 Thlr. 20 Ngr. 7 Pfg.; J. B. 1 Thlr.; Sammlung in der Gesellschaft der sog. Abendschule in Nassau-Weilburg (22 fl. 11 Xr.) 12 Thlr. 21 Ngr.; Turnverein in Schweinfurt 6 Thlr.; Gewerbeverein in Dessau 10 Thlr.; Wiener Männergesangverein mit dem Motto: „Frei und treu in Lied und That“ 10 Ducaten; aus Holland (125 fl.) 70 Thlr. 25 Ngr.

Die Redaction.




Inhalt: Das Geheimniß der alten Mamsell. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Die Dorfsibylle. Mit Illustration. – Die Biene. Gedicht von Leopold Schefer. – Die letzten Tage eines Agitators. Von einem Augenzeugen. – Aus deutschen Gerichtssälen. 2. Ich habe ja nichts Böses thun wollen! – Ein deutsches Sangesjubelfest. Mit Abbildungen. – Pariser Weltausstellungs-Briefe. Von Michael Klapp. 1. Zum Eingang. – Blätter und Blüthen. Von der Erde verschwunden. – Handeln die Thiere nur mit Instinct, oder auch mit Ueberlegung? – Ein neues Kunstwerk der Bildwirkerei. – Kleiner Briefkasten. – Freiligrath-Dotation.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Aus Leopold Schefer’s nachgelassenen Gedichten. Von dem Sänger des Laienbreviers sind unter dem Titel: „Für Haus und Herz. Letzte Klänge von Leopold Schefer. Herausgegeben von Rudolf Gottschall“ nachgelassene Gedichte erschienen, die sich durch Tiefe der Empfindungen und Gedanken, wie durch Originalität gleichmäßig auszeichnen. Besonders in den „Klage- und Trostliedern am Grabe der Lieben“, in welchen der Dichter seinen erschütternden Schmerz über den Verlust der heißgeliebten Lebensgefährtin ausspricht, findet sich eine Tiefe der Empfindung und eine Gewalt des Ausdrucks, welche jedes Herz ergreifen müssen.
    D. Red.
  2. Wie Lasalle selbst es that, überschätzten auch seine Anhänger sehr die Tragweite dieser Bewegung.
    D. Red.
  3. Dieser Artikel bildet die Einleitung zu einer Reihe von Briefen über die und gelegentlich der Pariser Weltausstellung, die wir von jetzt an etwa alle vierzehn Tage regelmäßig veröffentlichen werden. Der Name des geistreichen Feuilletonisten verbürgt unseren Lesern interessante Bilder aus dem augenblicklich in Paris versammelten großartigen Völker- und Friedenscongresse.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: die
  2. Friedrich Schiller in Prolog zu Wallensteins Lager Zeile 112 ff.