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Die Gartenlaube (1864)/Heft 21

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 21.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Der Heimathschein.
Erzählung von Fr. Gerstäcker.
(Fortsetzung.)


Am nächsten Morgen freilich brachen die Wetzlauer früh auf, denn allzu lange konnten und durften sie nicht von daheim wegbleiben. Im Haus selber gab es jetzt auch viel zu thun mit Aufräumen, Ordnen und Reinigen. Ein solches Fest mußte nicht spät in den nächsten Tag hineinreichen, und es war schon eine tüchtige Arbeit nur das grüne Werk wieder alles hinauszuschaffen und das Haus blank zu kehren. Um acht Uhr Morgens war aber auch das Letzte beseitigt und Katharine unten in der Stube beschäftigt, das zweite Frühstück für den Vater und Hans herzurichten, daß sie es gleich bereit fänden, wenn sie vom Feld herein kämen.

„Nun, Kathrine,“ sagte die Mutter, die in der Stube an ihrem Spinnrad saß, denn müßig konnte sie nun einmal nicht sein, „wie hat Dir denn gestern dem Hans seine Braut gefallen? Du hast mir ja noch kein Wort darüber gesagt, Gelt, das ist ein sauber Mädel?“

„Ei gewiß, Mutter,“ sagte das junge Mädchen, ohne sich aber dabei in ihrer Arbeit stören zu lassen, „das ist gar eine stattliche Maid und so hübsch und so vornehm. Mit der wird der Hans Ehre einlegen.“

Die Mutter nickte mit dem Kopf, erwiderte aber nicht gleich etwas darauf, denn sie dachte eben über das Wort „vornehm“ nach. Sonderbar, es war ihr auch fast so vorgekommen, als ob Lieschen fast ein bischen zu vornehm für eine wirkliche Bäuerin wäre, wenn es ihr auch noch nicht recht klar geworden. Die Wirthstochter ging im Grunde genau wie eine Stadtdame gekleidet und trug auch so ein neumodisch Ding, eine Crinoline nannten sie’s ja, daß die Röcke nach allen Seiten hinausstanden. In den Kuhstall konnte sie mit den Kleidern auf keinen Fall gehen. Aber daheim führte sie ja doch auch die Wirthschaft und war so tüchtig und fleißig dabei, und bei der Arbeit würde sie gewiß schon andere Kleider haben. Wie hübsch hatte sie auch ihr Haar geflochten; viel Zeit ging da freilich drauf, wenn sie das hätte jeden Morgen so machen wollen, oder sie mußte eben ein bischen früher aufstehen.

Die Frau saß eine ganze Weile in tiefen Gedanken, und das Rädchen schnurrte dabei, daß es eine Lust war. Katharine sprach ebensowenig; es gab heute Morgen gar so viel zu thun.

„Aber ein gutes Herz hat sie gewiß,“ brach die Frau plötzlich wieder das Schweigen, und die Worte fuhren ihr eigentlich nur da so heraus, wo sie gerade in ihren Gedanken stehen geblieben war, „Ihr Beiden werdet gewiß recht gut mitsammen auskommen.“

Katharine erschrak ordentlich, denn genau an dasselbe hatte sie eben auch gedacht und sich in dem Augenblick die nämliche Frage gestellt, der die Mutter jetzt Worte gab: Wie würde es werden, wenn die junge Frau in das Haus zog und die Wirthschaft selber übernahm? Würde diese auch so lieb und gut mit ihr sein wie die Mutter? oder würde sie selber überhaupt hier noch nöthig bleiben? Ob sie dann gut mitsammen auskämen? O gewiß; aber wenn nicht? Dann mußte die Fremde doch natürlich das Haus verlassen, ihre Heimath, und hinausziehen zu fremden Leuten. Und wäre es nicht besser gewesen, wenn sie das gleich vom Anfang an und freiwillig gethan hätte, ehe die Verhältnisse sie dazu zwangen? O gewiß, in vielen, vielen Stücken wäre es besser gewesen.

„Meinst Du nicht, Kathrine?“ frug die Mutter noch einmal, da ihr das Mädchen, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, nicht gleich eine Antwort gab.

„Ich? ei, gewiß, Mutter,“ sagte Katharine jetzt schnell, „warum denn nicht? Ich will sie gewiß lieb haben, wie eine Schwester, wenn sie mich nur noch im Hause brauchen können,“ setzte sie leiser hinzu und erschrak fast, als die Worte heraus waren.

Die Mutter sah rasch zu ihr auf, so rasch, daß ihr der Faden abriß, denn daß die Katharine daran denken könnte, je ihr Haus zu verlassen, daran hatte sie selbst im Leben noch nicht gedacht. War es denn nicht ihre eigene Tochter geworden durch die langen, langen Jahre?

„Unsinn, Kathrine,“ sagte sie aber auch gleich danach kopfschüttelnd und nahm den Faden wieder auf. „Dich sollten sie nicht brauchen können? Und wenn sie Dich nicht brauchten, glaubst Du, daß mein Alter und ich Dich missen möchten? Sprich mir nicht wieder solch Zeug, Mädel, oder Du bekommst es mit mir zu thun. Uebrigens ließ Dich Hans auch gar nicht fort, denn wie lieb Dich der hat, weißt Du, und daß er überall Deine Partei nimmt. Nein, Schatz,“ setzte sie gutmüthig hinzu, „mit uns bleibt’s beim Alten, ob Du zu der jungen Frau passest oder nicht. Außer –“ und sie nickte ihr dabei freundlich zu, „Du müßtest denn einmal von uns fortziehen wollen, wie das Lieschen jetzt bald aus der Eltern Hause zieht, dann freilich mit unserem besten Segen, Kind.“

„Du lieber Gott, Mutter,“ sagte Katharine, und ein Seufzer hob dabei unwillkürlich ihre Brust, „damit hat’s Zeit. Wenn Ihr mich nicht früher loswerdet, müßt Ihr mich wahrscheinlich bis an meinen Tod bei Euch behalten.“

„Denkst Du eher zu sterben, als wir, Kathrine?“ lächelte die Frau wehmüthig.

[322] „Wir wollen nicht vom Sterben reden, Mutter,“ sagte Katharine, ging auf die Mutter zu und drückte ihr herzlich die Hand, „wenn es kommt, kommt’s. Es war nur so eine dumme Redensart von mir. Seid mir nicht böse drum.“ Und sich rasch abdrehend, verließ sie das Zimmer.

Die Mutter sah ihr wohl eine Minute kopfschüttelnd nach, dann nahm sie ihren wieder und wieder abgerissenen Faden noch einmal auf und spann emsig weiter; allein das eben Besprochene konnte sie doch nicht aus dem Kopfe bringen; es ging ihr immer rund darin herum.

„Arme Kathrine,“ dachte sie dabei, „das Kind hat Sorge, daß es aus dem Haus muß, wenn die neue Hausfrau einzieht; aber dann kennt es mich und meinen Alten schlecht. Du bleibst, das weiß ich, oder ich ging selber mit aus dem Hause,“ nickte sie leise vor sich hin, und mit dem Entschluß schnurrte das Rädchen noch viel schärfer, als vorher.




6. Weltliche und geistliche Behörden.

War aber Hans schon ungeduldig und bös geworden, wie es ihm die ersten acht und vierzehn Tage mit den nöthigen Papieren nicht fördern wollte, so bekam er nachher noch eine weit vortrefflichere Gelegenheit, seine Langmuth auf die Probe zu stellen, denn Jenes schien nur der Anfang gewesen zu sein von dem Herüber- und Hinüber-Spiel.

Erstlich erklärte der General-Superintendent, nachdem er die Eingabe des alten Barthold einen vollen Monat im Haus gehabt, daß er in der ganzen Sache gar nichts thun könne, die müsse doch noch vor das Consistorium gebracht werden, wo man sie dann in gemeinschaftlicher Sitzung berathen würde; und dann war der Heimathschein noch immer nicht eingetroffen.

Wie der alte Barthold, der jetzt schon fünf Mal wegen der einen Eingabe in der Stadt gewesen, diesmal wieder nach Hause kam, mocht’ er’s dem Hans gar nicht sagen, was für einen Erfolg er gehabt. Hans sah es ihm aber doch am Gesicht an, und wenn in dem Augenblick eine Revolution ausgebrochen wäre, Hans hätte sich mit in den dicksten Haufen geworfen, nur um seine Wuth erst einmal an den „Gerichtsschreibern“ und den „Pfaffen“, wie er ein hohes Consistorium sehr unehrerbietig nannte, auszulassen.

Und der Heimathschein erst – was für eine Masse Papier die Leute in der Stadt schon in der Angelegenheit verschrieben hatten, nur um herauszubekommen, welcher Fleck in Deutschland ihm nachher auf einem Viertelbogen bescheinigte, daß er überhaupt da sei und das Recht habe, hier oder dort einmal Ansprüche an das Gemeindearmenhaus zu machen. Es war ganz erstaunlich, und man hatte nun glauben sollen, sie wären auf dem Gericht selber bös geworden über die entsetzliche Mühe und Arbeit, die es ihnen machte, aber Gott bewahre. Immer gut gelaunt blieben sie dabei, und wenn der alte Barthold auf seinen verschiedenen Streifzügen in die Stadt bei ihnen anfrug, wie denn die Sache mit dem Heimathschein stände, so schlugen sie erst eine Menge von Büchern nach, – und jetzt hätten sie’s eigentlich auch schon aus dem Kopf wissen können – und lachten und meinten dann, er möchte einmal in sechs Wochen wieder nachfragen.

Doch wie könnte ich dem Leser einen Begriff von all den Weitläufigkeiten, Laufereien, Schreibereien, Scheerereien und Quälereien geben, die nur das eine Wort „Heimathschein“ in sich begreift! Hat er’s selber schon einmal durchgemacht, so kennt er’s, und nickt nur traurig mit dem Kopf, wenn er daran zurückdenkt. Hat er’s aber noch nicht durchgemacht, dann glaubt er’s nicht einmal und denkt, man übertreibt, nur um den Gerichten eins anzuhängen.

Unsere Gesetze sind wohl ganz schön und auch gewiß gerecht, es ist nur der Henker, daß eine große Anzahl von Menschen ihre ganze Lebenszeit daran verwenden muß, um einzig und allein herauszuklügeln, wie sie zu verstehen sind. Und wenn sie dann nachher nur noch einerlei Meinung wären, aber Gott bewahre. Die Einen sagen: dies Gesetz bedeutet das, und das ist darunter gemeint, und die Anderen rufen nachher: Aber du mein Himmel, es fällt ihm ja gar nicht ein, gerade das Gegentheil ist darunter verstanden; und bis dann nicht ein Dritter dazu kommt, von dem man auch nicht recht fest überzeugt ist, ob er’s genau weiß und sagt: Du hast Recht und Du hast Unrecht, zahlt der ruhige Staatsbürger, für den sie eigentlich gemacht sind, der aber gar nichts davon versteht, ganz einfach vierteljährlich seine Kosten und bekommt nachher ein schriftliches Urtheil zugeschickt, mit dem er indeß wieder erst zu einem Anderen gehen muß, um nur zu verstehen, was da in deutscher Sprache geschrieben ist.

Das nennt man nachher einen Proceß, und wer ihn gewinnt, hat Glück.

Bei einem Heimathschein ist wenigstens das eine Gute, daß man die Schreibereien nicht alle zu bezahlen hat – das Gericht thut das zu seinem eigenen Vergnügen – aber Hans bekam keinen, wenigstens die ersten drei Monate nicht, und es half nichts, daß sich sein Vater und der Traubenwirth in der Stadt erboten, Bürgschaft zu leisten, soviel sie haben wollten, daß er keiner hiesigen Gemeinde einmal zur Last fiele. „Das ginge nicht,“ meinten die Herren vom Gericht, vom Kreisgericht bis zum Ministerium hinauf. Vor allen Dingen müßte jetzt erst einmal ausgeforscht werden, wohin Hans eigentlich gehöre, und wieder wurden Briefe nach Preußen und Ungarn geschickt und Acten hinübergesandt und von dort einverlangt; das war aber auch Alles. In der Sache selber blieb’s beim Alten, und die Hochzeit konnte natürlich noch immer nicht stattfinden, denn der Pfarrer durfte vorher nicht einmal das Aufgebot erlassen.

Hans war außer sich, denn nun kam auch noch die Ernte dazwischen, wo sich, des schlechten, unsicheren Wetters wegen, die Arbeit so häufte, daß er oft nicht einmal Sonntags hinüber nach Wetzlau konnte.

Es war an einem solchen Sonntagsabende, sie hatten den ganzen Tag eingefahren und eben das letzte trockene Fuder hereingebracht und abgeladen, als er in die Stube kam, seinen Hut in die Ecke, sich auf einen Stuhl warf und, den Kopf in die Hand stützend, sich und sein Geschick verwünschte.

„Ich wollt’, ich wär’ todt,“ rief er aus, „todt und begraben und weg von der Erde, daß ich nur das Elend nicht mehr länger ansehen müßte; und viel länger halt’ ich’s überdies nicht aus, denn Gift und Galle bringen mich doch über kurz oder lang in’s Grab. Giebt es denn in der ganzen Welt einen Menschen, der mehr Unglück hat, als ich?“

„Aber Hans, um Gottes willen, versündige Dich nicht,“ bat die Mutter, doch der Vater sagte:

„Du sprichst wie ein Kind, Hans, und solltest Dich schämen. Sind das Reden für einen erwachsenen Menschen? Kannst Du’s ändern, kann ich’s ändern? Haben wir nicht bis jetzt Alles gethan, was in unseren Kräften stand, um Dir über die Schwierigkeit hinauszuhelfen, und hat es sich machen lassen mit all unserer Mühe? Wer also trägt die Schuld?“

„Seid nicht bös, Vater,“ rief Hans, „ich weiß ja wohl, daß Ihr keine Schuld dabei habt, ’s ist auch nur allein mein ewiges Unglück, das ich mit Allem habe, was ich nur anfasse.“

„Hans,“ sagte der alte Barthold ernst, „wenn ich Deiner Jugend nicht die unbedachten Worte zu gute hielte, würde ich jetzt ernstlich böse auf Dich werden. Was hast Du denn schon für wirkliches Unglück im Leben gehabt, und weißt Du denn überhaupt, ob es ein Unglück ist, daß Deine Heirath jetzt hinausgezögert wird?“

„Aber Vater –“

„Ihr junges Volk,“ sagte der Vater ernst, ohne sich irre machen zu lassen, „beurtheilt immer Alles nur nach dem Augenblick, ob es Euch paßt oder nicht. Was paßt, wird ruhig hingenommen, als ob es nicht anders sein könnte; was nicht paßt, ist ein Unglück, eine Verfolgung des Schicksals, eine Ungerechtigkeit, und wie die Faseleien alle heißen. Es geschieht nichts umsonst! Wenn Du einmal älter bist, wirst Du mir das aus eigener Erfahrung bestätigen. In dem gewaltigen Weltgebäude fällt kein Sperling vom Dache ohne den Willen des Höchsten, und so wunderbar greift Alles ineinander, daß wir nur staunen und anbeten können, wenn wir die Wirkung sehen. Daß uns armen unbedeutenden Menschenkindern aber nicht verstattet ist, den lieben Gott in seiner geheimen Werkstätte zu belauschen und die einzelnen Fäden zu sehen, mit denen er die Geschicke der Menschen leitet, darüber bist Du unzufrieden. Du willst auch gleich wissen, warum das und das so ist, und weshalb Du gerade nicht auf der Stelle Deinen Willen haben kannst.“

„Ach, Vater,“ brummte der junge Bursch verdrießlich vor sich hin, „das ist Alles schon recht, aber soll ich nicht die Geduld verlieren, wenn ich sehe, wie mir mein ganzes Leben verbittert [323] wird, blos einer albernen Weitläufigkeit wegen, die mit ein paar Federstrichen abgemacht wäre? Ich habe, was ich zum Leben brauche, und kann eine Frau ernähren, Lieschen ist mir gut, Ihr und Lieschens Eltern habt eingewilligt, und Monate lang könnten wir schon unseren neuen Hausstand haben; aber nein, da strecken lauter Leute, die mir nicht ein Stück Brod geben, wenn ich an der Straße verhungere, die Finger dazwischen und schreien: Nein, das geht nicht, die hohe Obrigkeit will’s nicht, der liebe Gott nicht! Ist denn das nicht um den Verstand zu verlieren?“

„Wahre das Bischen, was Du hast, mein Junge!“ sagte der Alte trocken, „Du weißt nicht, wie Du’s noch ’mal im Leben brauchen kannst.“

Und damit war das Gespräch über den Gegenstand für heute abgebrochen, aber die Sache wurde darum nicht anders, denn wieder vergingen Wochen, ohne daß weder von der geistlichen noch weltlichen Behörde ein Entscheid gekommen wäre. „Sie müssen warten,“ lautete die jedesmalige Antwort, „eine solche Sache läßt sich eben nicht über’s Knie brechen,“ und dabei blieb’s, einmal wie allemal.

Der arme Hans ging wirklich in Verzweiflung umher, und er glaubte oder bildete es sich auch wohl nur ein, daß Lieschen jetzt selber ungehalten über die Verzögerung würde und es ihn entgelten ließe. Es wollte ihm wenigstens so vorkommen, als ob sie lange nicht mehr so freundlich, so herzlich mit ihm sei, wie in früherer Zeit, wenn er sie drüben in Wetzlau aufsuchte, und welchen anderen Grund hätte sie dazu in der Welt haben können, als die verwünschte Heimathsangelegenheit? Er konnte sich nicht mehr helfen, er mußte Jemanden deshalb um Rath, um seine Meinung fragen, und Niemand schien ihm dazu passender, als seine Pflegeschwester. Niemand war es auch wohl.

„Sei nicht thöricht, Hans,“ sagte ihm diese aber freundlich. „Deine eigene üble Laune macht Dich Alles schwarz sehen; Du wirst drüben in Wetzlau gerade so mürrisch und verdrießlich ausgeschaut haben, wie hier, und daß das arme Lieschen sich darüber nicht glücklich fühlen konnte, willst Du sie nun auch noch entgelten lassen. Ist das recht?“

„Und glaubst Du wirklich, Kathrine, daß mich Lieschen recht von Herzen lieb hat und nicht bös auf mich werden würde, wenn’s auch noch länger dauert?“

„Ich glaub’s gewiß, Hans,“ sagte das junge Mädchen, aber mit recht leiser Stimme. „Es kann ja –“ sie hielt plötzlich an, sah vor sich nieder und fuhr dann fort: „Bist Du denn schuld an der Verzögerung? Sie wird nur eben auch traurig sein, daß es so lange dauert, ehe sie – ihr Glück an Deiner Seite findet.“

„Was wolltest Du vorher sagen, Kathrine? Du meintest ‚es kann ja –‘“

Katharine erröthete leicht, aber sie sagte: „Ich bringe das, was ich sagen will, nicht immer so mit den rechten Worten heraus, aber gemeint ist’s gut, Hans, das darfst Du mir glauben.“

„Ich glaub Dir’s, Kathrine,“ sagte Hans, drückte ihre Hand, während er ihr mit der Linken über die blonden Haare strich, und ging dann hinaus in den Stall, um nach seinen Pferden zu sehen.

Katharine setzte sich auf denselben Stuhl, auf dem Hans vorher gesessen hatte, stützte den Kopf in die Hand und schaute nach der untergehenden Sonne hinüber, die da drüben am Berghang die Kieferstämme mit ihrem rothen Gluthenschein übergoß und ihr blitzendes Licht in den Fenstern des Pfarrhauses wiederspiegelte.




7. Die Dreiberger Kirmeß.

Der Herbst rückte heran und die Zeit der Kirmeß, und die erste sollte in Dreiberg abgehalten werden. Am nächsten Sonntag wurde sie „angetrunken“, und Hans durfte deshalb nicht so lange als gewöhnlich in Wetzlau bleiben. Aber er kehrte heute mit fröhlichem Herzen heim, denn Lieschen hatte geweint, als er ihr von seinem Verdacht erzählte, daß sie ihn nicht mehr so lieb habe, und war ihm dann um den Hals gefallen, und ihre Küsse brannten ihm noch auf den Lippen.

Der „Mosje aus der Stadt“ wohnte freilich noch immer in der goldenen Traube und hatte mit ihnen an einem Tisch gegessen – was er alle Tage mit Lieschen und ihren Eltern that, da er sich bei ihnen in Kost gegeben. Der Herr war auch sehr aufmerksam gegen seine Braut gewesen, und eigentlich gefiel das Hans nicht recht, aber es ließ sich auch nicht gut etwas dagegen sagen. Das Zusammenlegen der Felder, besonders bei den verwickelten Eigenthumsverhältnissen in Wetzlau, war keine Arbeit, die sich eben in vierzehn Tagen abthun ließ, und das andere Wirthshaus im Dorfe so schlecht, daß ein anständiger Mensch dort nicht gut wohnen konnte. Jener Fremde – Herr von Secklaub hieß er – mußte also wohl oder übel in der Traube wohnen und essen, und daß er sich artig gegen die Tochter vom Haus betrug, konnte Hans ebenfalls nicht gut übelnehmen. Weit eher hätte er Grund dafür gehabt, wenn das Gegentheil der Fall gewesen. Lieschen sprach aber auch in der ganzen Zeit, da Hans in Wetzlau war, keine zehn Worte mit jenem Herrn, und als sie ihm auch noch zusagte, daß sie seine Platzjungfer auf der Kirmeß in Dreiberg sein wollte, hatte er alles Andere darüber vergessen – selbst den Heimathschein und das hohe Consistorium – und galoppirte so fröhlich und guter Dinge nach Hause, wie er lange nicht gewesen war.

Und heute Abend wurde die Kirmeß wirklich in Dreiberg angetrunken, wie man diese Feierlichkeit dort nennt; d. h. die jungen Burschen aus dem Orte kamen im Wirthshaus zusammen und behandelten die sehr wichtige Angelegenheit, wer die Kirmeß eigentlich von ihnen halten, d. h. bezahlen sollte. Zu dem Zweck mußten sich drei von ihnen zu sogenannten Platzburschen erbieten, die es übernahmen die sämmtlichen Kosten zu tragen, oder wenigstens dafür gut zu sagen. Erreichte die Einnahme nachher die Kosten nicht, so hatten sie aus ihrer Casse darauf zu legen, was daran fehlte.

Es versteht sich von selbst, daß sich immer die wohlhabendsten Burschen im Dorfe dazu erboten, und Hans war heute der Erste, der sich zu einem derselben meldete. Nach einigem Herüber- und Hinüberreden, denn die Sache kostete manchmal viel Geld, fanden sich auch noch die beiden Anderen, und jetzt mußte Jeder seine Platzjungfer nennen.

Das ging ebenfalls rasch genug: Hans nahm natürlich seine Braut, ein anderer Bauerssohn aus Dreiberg erklärte, seine Platzjungfer solle Barthold’s Katharine sein, und der dritte hatte sich des Schulmeisters Tochter ausgesucht.

Nun kamen noch einige geschäftliche Angelegenheiten, denn die Platzburschen hatten auch für die Musik, die ganze Kirmeß durch, zu sorgen, wie sie ebenfalls während der Zeit Freibier halten mußten. Auf morgen Abend aber wurde, wie das jedes Mal so geschieht, das Ständchen angesetzt, das die Platzburschen ihren gewählten Mädchen geben, und ein Abgesandter der Stadtmusikanten, die gewöhnlich auf den Kirchweihen spielen, war schon zu dem Zweck herausgekommen, um die nöthigen Anordnungen zu hören und die Stärke des Orchesters mit den Platzburschen zu besprechen.

Gewöhnlich hatten diese nun immer zwölf „Musikanten“ zu ihrem Tanz und Vergnügen gehalten, Hans aber bestand auf zwanzig, ohne den Kapellmeister, weil er die Sache glänzend durchgeführt haben wollte, und als die Anderen, der Kosten wegen, darauf nicht eingingen, erbot er sich die Ueberzähligen aus seiner eigenen Tasche zu bezahlen. Der „Stadtmusikant“ bekam dann gleich Befehl, morgen Abend um sieben Uhr mit seiner „Bande“ an Ort und Stelle zu sein, und die beiden anderen Platzburschen – Lieschen wußte ja schon, daß sie gewählt sei, und kannte den dabei beobachteten Gebrauch – brachen jetzt auf, um ihren Platzjungfern die zugedachte Ehre anzuzeigen.

Katharine sträubte sich erst. Sie war bis jetzt nur dann zu Tanz gewesen, wenn Hans mit ihr ging, aber Hans redete ihr selber zu und bat sie, es seinet- und Lieschens wegen anzunehmen, das sich gewiß freuen würde, mit ihr da zusammen zu sein. Außerdem konnte sie es nicht einmal gut ausschlagen, ohne den jungen Burschen gröblich zu beleidigen. Er wäre gewiß nicht wenig von den Cameraden ausgelacht worden. So nahm sie es denn an, und die Mutter, die stolz darauf war, daß sie ihre Katharine zur Platzjungfer gewählt, hatte alle Hände voll zu thun, um den gehörigen Putz für sie herzurichten, denn Katharine sollte dem Barthold’schen Haus wahrhaftig keine Schande machen.

Die eigentliche Kirmeß fing erst in vier Wochen an, am nächsten Abend aber mußte den Platzjungfern, mit dem vollen Musikcorps, das Ständchen gebracht werden, und es ist dann Sitte, daß die Mädchen die Burschen sowohl, als die Musikanten mit Kaffee, Kuchen, Wurst und Brod tractiren. Da sie aber doch nicht gut bei allen dreien essen und trinken konnten, suchten sich die Burschen gewöhnlich zum Halteplatz den Ort aus, wo sie auf ein gutes „Tractament“ rechnen konnten, und das war hier im Ort natürlich [324] sicherer bei Barthold, als beim Schulmeister zu finden. Des Schulmeisters Tochter wurde deshalb, sowie die Musik eingetroffen war, zuerst heimgesucht, und das ganze Dorf lief zusammen, als das mächtige Musikcorps mit Pauken und Trompeten in die stille Nacht hineinwirbelte und einen ganz heillosen Lärmen machte. Dann nahm der Tänzer Bärbel’s, denn so hieß das junge Mädchen, diese an den Arm, und nun zog der Trupp zu Barthold’s hinüber, um dort den musikalischen Spectakel von neuem zu beginnen.

Der alte Barthold ließ sich aber nicht „lumpen“. Aufgetragen war in der großen unteren Stube, was Küche und Keller nur liefern konnten, und wie sie sich dort ganz gehörig „gestärkt“, ging der Zug – ohne die Mädchen natürlich – in einem Strich nach Wetzlau hinüber, denn der Traubenwirth war auch nicht zu verachten.

Das galt aber, wie gesagt, nur als das Vorspiel des Ganzen, denn vier Wochen später begann am Dienstag die wirkliche Kirmeß, die drei Tage dauerte, Freitag und Sonnabend war Ruhe, und am Sonntag wurde dann die sogenannte Nachkirmeß gehalten.

Am ersten Kirmeßtag aber ist es Sitte, daß die Platzburschen ihre Mädchen mit Musik abholen, und Hans natürlich hatte es sich etwas kosten lassen, um das seiner würdig in’s Werk zu setzen. Er selber, mit dem üblichen Strauß im Knopfloch und einem anderen kleineren mit einem wehenden rothen Band daran am Hut, eröffnete an dem Morgen den Reigen, da Wetzlau am weitesten entfernt lag und er also sein Mädchen zuerst herüberbringen mußte. Er ritt seinen Braunen, ein prächtiges munteres Pferd, und dahinter kam ein mit Guirlanden und Büschen geschmückter Leiterwagen, auf den die ganze Musik gepackt war. Hinter dem Leiterwagen aber fuhr der Großknecht den kleinen steierischen Wagen leer hinüber, um darin die Platzjungfer, seine Braut, mit ihren Eltern abzuholen. Früh um sechs Uhr brachen sie auf. Lieschen war auch schon gerüstet und prangte im prachtvollen Schmuck der Platzjungfer, mit Blumen am Mieder und im Haar und einem carmoisinrothen Seidenbande in den dunklen Locken, genau dieselbe Farbe wie es ihr Platzbursche, der Hans, trug, was ihr gar so reizend stand.

Die Eltern wollten auch und zwar nur für heute mitfahren, denn drei Tage, so lange wie die Kirmeß dauerte, konnten sie nicht gut von Hause wegbleiben. Der alte Erlau zog es aber doch vor mit seiner Tochter den eigenen kleinen Wagen zu benutzen und sich nicht dem „Räderwerk“ des Dreiberger Bauern anzuvertrauen. Er hatte jetzt Federn an seinem Wagen.

Dem Zug, dem sich noch ein Dutzend junge Burschen von Wetzlau anschlossen, folgte auch Herr von Secklaub, auf einem prachtvollen Rappen, seinem eigenen Pferd. Er schien sich ebenfalls einmal die Dreiberger Kirmeß mit ansehen zu wollen, und eingeladen war ja Jeder, der kommen wollte.

Die Gäste, d. h. der Traubenwirth mit seiner Familie, stiegen natürlich bei Barthold’s ab, wo auch schon die anderen Platzburschen warteten, um Katharine abzuholen.

Und wie lieb Katharine heut aussah! Sie war in die Bauerntracht ihres Ortes gekleidet, und unwillkürlich flog Hansens Blick von ihr zu Lieschen, um zum ersten Mal die Beiden mit einander zu vergleichen. Lieschen war städtisch gekleidet, wie sie immer ging, heute aber wär’ es Hansen fast lieber gewesen, sie hätte auch die Bauerntracht getragen. Es hätte mehr zu dem Ganzen gepaßt, so aber sah sie aus, als ob sie nicht recht dazu gehörte und nur zum Besuch herausgekommen wäre, und das war sie doch nicht. Er hatte sie auch wirklich darum bitten wollen, es aber wieder vergessen; was kam denn überhaupt auf die Tracht an? Woraus das Kleid nur gewebt war, das sie trug? dachte er dabei; es sah prächtig aus, mit hineingewirkten Blumen und Zierrathen, und die Blumen – künstlich gemachte, ihr Strauß und Kopfputz, die waren wirklich herrlich und so natürlich, daß man hätte daran riechen mögen – Moosrosen und Nelken stellten sie vor, weil sie, zu dem Band passend, roth sein mußten. Wo hatte sie nur so rasch die kostbaren Blumen herbekommen? – Lieschen war unbestritten das schönste Mädchen im Dorfe, und während des ganzen Festes, und obgleich sie mit Allen auf das Herzlichste und Unbefangenste sprach, hatten die beiden anderen Platzburschen doch einen ordentlichen Respect vor ihr, was jedenfalls die städtische kostbare Kleidung bewirkte, und doch war sie ja auch nur eines Bauern Tochter.

Viel heimischer wurde es ihnen dagegen bei Katharine zu Muthe, die mit ihrem kleidsamen kurzen Rock, den bunten Zwickelstrümpfen, dem geputzten Mieder und ihrem einfachen Kornblumenkranz im Haar, der zu dem blauen Bande paßte, ganz wie die Kornblume gegen die Moosrose abstach, aber doch auch wieder in ihrer Art gar wunderhübsch und lieblich aussah.

Ob sie sich in Lieschens Nähe gedrückt fühlte? sie schien heute lange nicht so heiter und fröhlich als sonst, während in Lieschens Augen das Vergnügen über das zu erwartende Fest ordentlich funkelte und sie in einem fort lachte und Haus über sein ehrbar steifes Wesen als Platzbursche neckte.

Jetzt war auch des Schulmeisters Tochter abgeholt, ein einfaches, doch auch gar liebes Mädchen, das einen weißen Strauß in den dunklen Haaren und am Mieder, und ein weißes Band in den Locken trug, und der Zug ging nun zur Kirmeßstange vor der Kirche. Hier tanzten erst die drei „Platzpaare“ drei Tänze im Freien, welches Recht ihnen allein zustand, dann zog die ganze fröhliche Schaar auf den festlich geschmückten Tanzboden in das Wirthshaus.

(Schluß folgt.)




Im Hopfenparadiese.
Allen biertrinkenden Lesern und – Leserinnen der Gartenlaube gewidmet.

Seit drei Tagen war ich in Nürnberg, und überall, wohin ich kam, fand ich die Geister seiner Bewohner von einem einzigen und dem nämlichen Gedanken beherrscht. Draußen in der Welt tönten noch da und dort, bald lauter, bald leiser, die Nachklänge des großen Leipziger Turnfestes, spukten Fürstentag und Bundesreform, Abgeordnetencongreß und nahende Octoberfeier den Menschen in den Köpfen, hier in Nürnberg war jegliche Politik und politische Spaltung vorläufig in dem einträchtigen Feldgeschrei „Hopfen, Hopfen, Hopfen!“ auf- und untergegangen. Die ganze Stadt war eine einzige große Hopfenbörse geworden, seitdem in der Nachbarschaft die Hopfenernte begonnen hatte. Und so gar befremdlich konnte das nicht erscheinen, wenn man sich erinnert, welche glorreiche Rolle der Hopfen in der baierischen Culturgeschichte spielt, eine kaum minder große, als höchste und allerhöchste Kunst- und Poesiebestrebungen, Wal- und Ruhmes-, Feldherren- und Befreiungshallen und Neumünchner hochromantische Tafelrunden mit ihren lorbeerumkränzten Seneschallen. Aber unerträglich wurde der ewige Refrain nachgerade denn doch.

Mein Tischnachbar im alten Rothen Roß deducirte mir von dem in den Blüthendolden der Hopfenpflanzen enthaltenen Hopfenmehl, dem Lupulin, dessen flüchtiges Oel dem Biere seine durch kein Surrogat zu ersetzende kräftige Würze verleihe. In die Himmelsleiter, nach dem Bratwurstglöckle – wer kennt nicht das Bratwurstglöckle bei der Sebalduskirche mit seinen erzdelicaten fadendünnen Würsteln und dem feinen Sauerkraute? – selbst bis zu den alten Karthäusern, wo nun das Germanische Museum sich angesiedelt hat, und hinauf in’s Dürerhaus, ja in den lindenbeschatteten mittelalterlichen Hof der Burg, überallhin verfolgte mich das unerschöpfliche Hopfenlied. Es war nicht mehr zum Aushalten, und doch begann es mich zu interessiren und zu reizen.

Wie wäre es, frug ich mich, wenn auch du dir mit anschautest, was eine ganze volkreiche Stadt in Spannung und Aufregung und so erhebenden Gefühlseinklang versetzt? Wie wär’ es, wenn du ein Stück in’s Hopfenland hineindampftest, wo’s überdies eine Schweiz mit in den Kauf giebt, wenn auch nur eine Nürnberger, und noch dazu – fiel mir eben ein – einen alten Freund in Hersbruck, einen, der ehedem auch zum Handwerk gehört und nun sich zwischen den stattlichen Reihen seiner Hopfensäcke weicher gebettet hat? Gedacht und schnell gethan.

Am nächsten Morgen, bei guter Zeit, kutschirte mich eine dem mittelalterlichen Charakter der Dürer- und Pirkheimerstadt angemessene Droschke nach dem Nürnberger Ostbahnhofe. Station Lauf war bald erreicht. Die Pegnitz, in Nürnberg so faul und so braun, so schlammig und so langweilig, beginnt jetzt schon sich zu läutern, rascher und interessanter zu werden, und die Hänge links gleichen, wenn wir von Weitem an ihnen vorüberbrausen,

[325]

Arbeiten im Frühjahr.   Das Hopfenblatten.   Hopfen-Ärnte.

[326] dünn belaubten Weinhügeln, in ihrer mageren, regelmäßigen, lichtgrünen Vegetation so monoton wie diese. Erst wo sie sich näher zur Bahn heranziehen, unterscheidet man an den höheren Pfählen, die, zum Theil schon ihrer Umrankung beraubt, wie ein Wald von langen Spießen in die Lüfte starren, daß man hier nicht in ein Reich des himmelgeborenen leichtbeschwingten Bacchus, sondern des erdentsprossenen handfesten Gambrinus einfährt. Zwar versichern Kenner, daß die Dolde, die man weiter südlich in der Umgebung von Spalt, ebenfalls in Franken, der segenspendenden Nessel abzugewinnen versteht, noch würziger sei, als die des Pegnitzthales, doch ist der Unterschied kein sehr erheblicher, und in quantitativer Beziehung steht die Gegend, durch die uns eben die schnaubende Locomotive trägt, mindestens in gleicher Linie mit jener.

Mittlerweile hat die Landschaft angefangen in mildzahmer Weise zu „schweizern“. Die Hügel steigen allmählich steiler an und spitzen sich zu mannigfachen Gipfeln zu, wo aber immer die Sonne die Hänge bestreichen kann, da ziehen sich überall die gleichförmigen Reihen der Hopfenpflanzungen die Berglehnen empor, und allerwärts zwischen dem hochkletternden Geblätter zeigt sich ein buntes Getümmel emsiger Menschen, Männer und Frauen und Kinder. Ueberall wird das Hopfenlaub abgeschnitten, zu einzelnen dicken Büscheln vereinigt, und diese werden dann zu handlichen Bündeln zusammengeschnürt, vorsichtig und sorgsam, damit das ölreiche Hopfenmehl nicht den Doldentrauben entfalle.

Die Locomotive pfeift. „Hersbruck,“ ruft der Schaffner in mein geöffnetes Coupé. Da liegt es, das saubere, ehedem Nürnbergische Städtchen mit ein Paar ansehnlichen Thürmen und seinen freundlichen Häusern, das wohlthuende Bild von Rührigkeit und Gedeihen. Rundum von Hopfenbergen umgeben, ist es die Hauptader einer Production, deren Herz das alte Nürnberg bildet, in welchem die kleinen und großen Blutgefäße von allen Himmelsgegenden zusammenströmen und zur Zeit der Hopfenernte jenen fieberhaft vollen Pulsschlag hervorrufen, von dem wir eben Zeuge waren.

Das Gütchen meines Freundes war bald aufgefunden, – alle Welt kannte ja den Matador des Ortes, – aber er selbst war nicht daheim.

„Der Vater ist schon draußen im ,Berg’,“ antwortete auf meine Frage ein kräftiger junger Bursche von etwa sechzehn Jahren, der älteste Sohn des reichen Hopfenbauers, „draußen bei dem ,Pflücken’, und vor Mittag wird er schwerlich wieder heimkommen. Doch,“ setzte er hinzu, als ich meinen von der Familie oft vernommenen Namen genannt hatte, „ich schicke auf der Stelle nach Papa. Er wird so froh sein, Sie einmal in Hersbruck bei uns zu sehen, von dem er uns so manches Mal erzählt hat.“

„Bitte, lassen Sie das bleiben. Ich suche Ihren Vater lieber unter seinen Hopfenpflückern auf. Wollen Sie mir den Weg zeigen lassen?“

Der junge Mann gab mir selbst das Geleite nach dem „Berge“. Durch einen Terrassengarten traten wir in’s Freie, und ich konnte von dem etwas erhöhten Punkte die anmuthige Lage des Ortes noch besser überschauen, als vom Bahnhofe aus.

Wir schritten nun durch lauter Hopfengärten dahin. In den meisten gab’s noch das lustigste Regen und Rühren; hier reckten sich die Männer, um das oberste Laub von den riesigen Stangen herunterzuholen, dort bückten sich die Weiber, um die großen Blättersträuße zu einer Art von Garben zusammenzufügen, während die Kinder Nachlese hielten unter dem den fleißigen Händen entglittenen Segen, und allerwärts ward auch den flinken süddeutschen Zungen kein Feierstündlein gegönnt, obwohl die Sonne uns Steigenden schon tüchtig zu schaffen machte. Manche der Pflanzungen standen aber auch schon ziemlich kahl und entblättert da, denn die Ernte war bereits seit mehreren Wochen im Gange, und boten mit ihrem endlosen nackten Stangenwerk, das die Aussicht versperrte, eben keinen besonders fesselnden Anblick. Vielfach waren auch die 30 bis -40 Fuß langen Pfähle aus dem Boden gehoben und, den Pfad hemmend, über einander geworfen.

Die Pflanzung meines Freundes gehörte zu den höchstgelegenen und nahm die ganze obere Mittagslehne eines ansehnlichen Hügels ein. Es kostete daher bereits manchen Schweißtropfen, ehe wir uns auf den engen Gängen zwischen den einzelnen Hopfenstöcken und zwischen dem an ihnen hantirenden emsigen Volke zu dem Gesuchten hindurch gearbeitet hatten. Endlich waren wir seiner habhaft. Mit breitem Strohhute über dem sonnenheißen Gesichte und abgeworfenem Rocke stand er an der obersten Staffel seines Besitzthums und commandirte das Schneiden und Binden, das Packen und Abfahren um ihn her.

„I, potz Blitz! Machst Du auch jetzt in Hopfen? Willst mir wohl die Ernte am Stocke abkaufen?“ war der erste Ausruf des Ueberraschten, dem indeß das herzlichste „Grüß Gott und Willkommen in Hersbruck!“ und das wärmste Händeschütteln folgten.

„Das weniger,“ antwortete ich. „Hab’ mich nur vor dem stereotypen Feldgeschrei in Nürnberg aus dem Staube gemacht und will mir ansehen, einmal gründlich ansehen, was eigentlich hinter dem Hopfenlärme steckt. Darum überfalle ich Dich so plötzlich und inmitten der Hauptcampagne Deiner menschen- und kehlenbeglückenden Großthaten. Du giebst mir doch auf ein paar Tage Quartier, bis ich mir Euer eigenthümliches Ernteleben recht ordentlich beschaut habe? Auch Euere Schweiz muß ich kennen lernen. Wir machen zusammen eine Streife in Euere Nürnberger Alpen; nicht wahr? Der große Herr Sohn da vertritt schon den Vater einmal auf einen Tag.“

„ Wollen’s noch überlegen. Allein ich fürchte, Du bist bei uns vom Regen gar in die Traufe gekommen. Drunten in Nürnberg sind sie hopfentoll wenigstens erst, seit die Ernte begonnen hat, hier spricht man schon seit drei Monaten von nichts Anderem mehr, als von dem zu erwartenden oder nicht zu erwartenden Hopfen. Da hat man tagtäglich seine Beobachtungen zu machen und seine Vermuthungen auszutauschen, sich gegenseitig seine Hoffnungen mitzutheilen und seine Befürchtungen zu klagen, und ob in Polen der Murawiew henkert oder der Berg, ob in Mexico die Rothhosen klopfen oder geklopft werden, – das Alles ist uns gleichgültig, sobald nur der Frost in der letzten Nacht unseren Pflanzen keinen Schaden gethan hat. Denn „der Hopf ist ein Tropf“ heißt unser Sprüchwort, und Ihr, die Ihr das ganze Jahr ruhig hinter Eueren Schreibtischen sitzet, Ihr laßt Euch nicht träumen, wenn Ihr Abends in Eueren Stammkneipen Euer sogenanntes „Baierisch“ oder „Coburger“ oder – horribile dictu! „Wald- oder Feldschlößchen“ schlürft, was für Aengste und Sorgen so ein armer geplagter Hopfenbauer zu erdulden hat, nur um den Herren da draußen die Würze für ihren Abendtrunk in gebührender Qualität zu verschaffen. Da erscheint zunächst im Frühjahr, wenn’s trocken und dabei kalt ist, der Erdfloh. Er zerfrißt die ersten Triebe unserer Hopfenpflanze und hindert diese am rechten Aufkommen. Dann im Sommer fällt der Honigthau, der nach kühlen Nächten die Hopfenblätter wie mit einem undurchdringlichen Firnisse überzieht, die Poren verstopft und die Säftecirculation in Stocken bringt. Damit nicht genug, stellt sich im Gefolge dieses bösen Thau’s alsbald die sogenannte Hopfenlaus, eine Species der Blattlaus, ein und hat rasch verwüstet, was an den Pflanzen noch gesund war, da sie sich in kurzer Zeit in’s Millionenfache vermehrt. Man nennt diese Verheerungscomplication auch den schwarzen Brand, der z. B. 1854 und 1860 unsere ganze Ernte in Frage stellte. Ja, selbst im August und September, wenn wir schon am Pflücken und Blatten sind, lauern noch tückische Feinde, wie u. A. der Kupferbrand, eine Art von Verdorren und Absterben, von dem ich selber schon manches Liedchen singen könnte. Wahrhaftig, ’s ist mit dem Hopfen noch heikeler, als mit der Rebe; vielleicht giebt es keine einzige Culturpflanze in der Welt, welche den Einflüssen der Witterung in gleichem Grade unterworfen ist, wie unsere veredelte Nessel. Und so kommt Unsereiner Tag und Nacht aus seiner Aufregung und Spannung nicht heraus. Jetzt begreifst Du wohl, daß unsere Ernte alle Zungen in Nürnberg in Bewegung setzt, wo sich das Hopfengeschäft für ganz Franken, ja für das gesammte Baiern concentrirt, und daß wir Hersbrucker am Ende gewissermaßen zu Monomanen werten, in deren Hirnkästen nur noch für eine einzige, alle anderen Gedanken absorbirende Idee Raum bleibt. – Doch, laß uns einen Gang durch meinen ,Berg’ machen und dann in dem benachbarten Felsenkeller noch einen Appetitstrunk schlürfen, ehe wir uns zum Essen heim begeben. Robert,“ wandte er sich an den Sohn, „Du kannst bis Mittag hier bleiben. Aber gieb hübsch Acht, daß die Bündel immer gehörig nach Hause geschafft werden, damit sie drin beim Blatten nicht aufgehalten sind. ’s ist noch mancher Zapfen abzuschneiden, weißt Du, bevor das Trocknen seinen Anfang nehmen kann.“

„Hast Du,“ begann mein Freund wieder, welchem das Vergnügen aus den Augen leuchtete, das es ihm gewährte, einen alten Jugendgenossen durch sein stattliches Anwesen und über den recht [327] eigentlichen Schauplatz seiner gedeihlichen Wirksamkeit führen zu können, „hast Du Dir die Männer und Weiber betrachtet, die ringsum in den Pflanzungen beschäftigt sind? Der bei Weitem kleinste Theil dieser Arbeiter und Arbeiterinnen ist aus unserer Gegend. Sieh nur die mannigfaltigen Trachten, welche die Frauen namentlich schmücken oder verunzieren! Unsere Ernte pflegt in der Regel im letzten Viertel des August zu beginnen, und sobald St. Bartholomäi, der 24., vorüber, so kommt’s bei uns eingeströmt von allen Seiten. Da rücken aus Ober- und Unterfranken, aus der Oberpfalz und selbst aus Böhmen herüber Schaaren von Arbeitern beiderlei Geschlechts mit Kind und Kegel ein, uns beim Pflücken und Blatten zu helfen. Der gute Tagelohn, den wir zahlen, die bessere und reichlichere Kost, die sie hier finden, aber auch das lustige Leben, das sie erwartet, zieht die Leute an. Denn man muß schon ein Auge zudrücken, wenn’s dann und wann dabei etwas ‚locker und lose‘ zugeht, und kann es schwer verhüten, daß sich so mancher nichtsnutzige Vagabund und manche leichtfertige Dirne in der großen Einwanderungsfluth mit einschleichen. Wir brauchen eben helfende Hände; denn Schnelligkeit ist bei unserer Ernte die Hauptsache. Dennoch werden wir vor Ende September nie damit fertig; häufig dauert es gar bis tief in den October hinein, je nachdem Wetter und Erträgniß sind.“

Mittlerweile hatten wir, weiterschreitend, den Saum der Pflanzung erreicht. Ein paar Schritte davon lag der Felsenkeller, dem wir zustrebten. Es war ein gar lauschiges, schattiges Plätzchen; unter den alten Linden, die seinen Eingang behüten, standen Tische und Bänke aufgeschlagen, von denen man das ganze saubere Städtchen im Blicke hatte. Schon saß da und dort eine Gruppe ehrsamer Hersbrucker beim sogenannten „Appetitschoppen“ oder der „Frühmesse“, wie man in Süddeutschland diesen Morgentrank auch wohl nennt. Die Discussion war bereits in flottem Gange, als wir Platz nahmen. Natürlich gab’s hier nur das eine Interesse, das Alle beherrschte. „Schon viel auf der Trockne?“ „Noch nicht mit Pflücken fertig?“ „Wie weit mit dem Blatten?“ frug man herüber und hinüber.

„Da hast Du’s,“ lächelte mein Freund. „Was nicht Hopfen heißt und Hopfen angeht, das existirt jetzt für uns Hersbrucker nicht mehr. Und wir treiben’s noch eine gute Weile so fort. Denn nun nimmt erst das eigentliche Geschäft, die Speculation mit unserem Erzeugnisse, das Makeln und Handeln den Anfang. Du mußt nämlich wissen, der Hopfen gehört zu den bedeutendsten Ausfuhrartikeln des Landes und findet mit jedem Jahre immer weitere Abzugsquellen. Vom Juni an kreuzen sich schon briefliche und telegraphische Mittheilungen aus England und Frankreich, aus Belgien und Nordamerika, aus Böhmen und Baiern und einigen andern deutschen Hopfengebieten über den Stand der Pflanze, und jetzt, wo es über die Ernte und ihr Erträgniß, über Preis und Kauf und Verkauf zu berichten giebt, wächst dieser Verkehr noch um das Doppelte und Dreifache. Noch haben wir unsere Ernte nicht beendet und schon ist in allen den Kreisen, die sich mit unserem Nesselproducte befassen – Du weißt doch, daß der Hopfen dem Nesselgeschlechte angehört? – die Aufregung zum wahren Fieberparoxysmus gestiegen. Besonders aber ist dies der Fall, wenn in England der Hopfen nicht gerathen ist und darum ein großer Export dahin stattfindet; denn England braucht für seine Ale- und Porterbrauereien jährlich mehr als eine halbe Million Centner Hopfen. Welchen Geldwerth dieser Bedarf repräsentirt, kannst Du Dir berechnen, wenn ich Dir sage, daß der Durchschnittspreis eines Centners nicht niedriger als 60 Gulden veranschlagt werden darf! Früher war unser Geschäft höchst einfach: der Erzeuger war zugleich immer der Händler und der Consument der directe Käufer. Heutzutage hat der Vertrieb in dieser Weise nur noch selten statt. Heut sitzt der speculirende Großhändler auf seinem Comptoir und sinnt und calculirt und wagt, während eine Menge von Maklern und Zwischenhändlern das Land auf- und abjagen, um an den Vortheilen der Speculation auch ihr Theil zu erhaschen, und eine Schaar von Musterreitern die Brauer in der ganzen Welt mit Anerbietungen bestürmt.

„Derart dauert der Taumel ein paar Monate fort. ’s ist ein wahrer Taumel, eine unaufhörliche Angst; in wenigen Wochen schwanken die Preise oft um hundert, ja um zweihundert Procent, und kein Mensch weiß, was eigentlich der Grund des Steigens oder Fallens ist. Ja, ja, mein alter Junge, Ihr braucht uns geplagte Hopfenproducenten und Hopfenhändler wahrhaftig nicht zu beneiden, wir können uns auf keinem rosenbestreuten Lotterbette pflegen, wir schweben beständig zwischen Rausch und Katzenjammer! Heut jauchzen wir himmelhoch, morgen sind wir zum Tode betrübt, und auf unserer Börse, der offenen Carolinenstraße in Nürnberg, da wirbelt’s und schwirrt’s von den Hunderten christlicher und jüdischer Speculanten oft wild und toll genug durcheinander; mit einem Male kommt eine unbegreifliche Hausse, dann wieder eine ebenso räthselhafte ‚Panique‘, ganz wie auf dem Parquet und hinter den Coulissen der Pariser Börse. Weil uns jeder sichere statistische Anhalt fehlt, weil man weder das Erträgniß der einzelnen Bezirke, noch den Bedarf der Consumenten genau kennt, so ist die Hopfenspeculation weit weniger das Resultat scharfsinniger Combination, als ein blindes Tappen im Nebel, ein echter Börsenschwindel, ein waghalsiges Hazardspiel, dessen Aufregung alle Nerven spannt und alle Pulse klopfen macht. Und das dauert fort bis tief in den Winter hinein; dann allenfalls kommt eine kurze Periode verhältnismäßiger Ruhe, bis zeitig im Frühjahre der Rundlauf unserer Aengste und Sorgen von Neuem seinen Anfang nimmt, die –“

„Die Euch und Euerem hübschen Hersbruck indeß gar nicht so übel zu gedeihen scheinen,“ fiel ich dem Freunde lächelnd in’s Wort.

Er schmunzelte, barg aber, einen tüchtigen Zug thuend, sein Gesicht hinter dem Deckel seines Maßkruges, als wolle er mir nicht zeigen, wie sehr ihm meine Bemerkung geschmeichelt hatte. Dann fuhr er, seiner Unterhaltung eine etwas andere Wendung gebend, fort: „Bis jetzt kennst Du nur den einen Theil unserer Hopfenernte, den mindest interessanten; die andere Hauptarbeit derselben geschieht nicht im Freien der Pflanzungen, sondern in den Häusern selbst. Es ist das sogenannte ‚Blatten‘, das Abzupfen oder Abschneiden der das Hopfenmehl, das Lupulin, enthaltenden Blüthendolden oder Zäpfchen, gewissermaßen dem Ausdrusch Euerer Fruchternte zu vergleichen, nur daß bei uns beide Operationen nicht nacheinander, sondern immer gleichzeitig vorgenommen werden. Jeden Tag schafft man die von den Pflanzen gebrochenen, zu großen Bündeln zusammengeschnürten Blätter herein, und sofort geht es darüber her, sie der würzhaltigen Dolden zu entledigen. Da sitzt nun die ganze Familie, Männer und Weiber, Alte und Kinder, vom frühen Morgen bis zum späten Abend in den Stuben zusammen um einen großen Behälter, einen weiten Korb oder ein sonstiges räumiges Gefäß, und mit ihnen die fremden Helferinnen, um mit den Fingern oder mit der Scheere die Hopfenzapfen von den Blätterbüscheln zu trennen und sorgsam in Wanne oder Trog hinabgleiten zu lassen. Und stundenweit in der Runde, thalauf und thalab, wirst Du jetzt selten ein Haus finden, wo sich nicht wochenlang dieselbe Scene wiederholte, oft ein allerliebstes Genrebild, fix und fertig, so daß ein Maler auch keinen Strich ab-, keine Linie anzufügen brauchte, um seine Leinwand mit einer reizenden Composition zu bedecken. Eine gar lustige Arbeit ist’s ohnedem, dies Blatten, auf das sich Alles, Alt und Jung, Groß und Klein schon den ganzen Sommer über freut, so lustig, wie nur das ‚Wimmeln‘ (das Reblesen) drüben am Rhein sein kann, wenn wir unserer Lust auch nicht mit Böllerschüssen und Raketensprühen Luft machen oder gar über die Flammen springen, wie’s in Schwaben und am Bodensee Brauch ist beim ‚Herbsten‘. Die Alten erzählen und das junge Volk singt, und da magst Du manche alte Mär hören, welche Dir längst entschlummerte süße Erinnerungen aus Kinderstube und Mutterhaus wachruft, und manche naive treuherzige Volksweise vernehmen, die draußen in der Welt vergessen ist und nur noch da und dort in einer Liedersammlung auftaucht, aber auch manch neckisches ‚Gesätzle‘ und den allerneuesten Gassenhauer oder das modernste Operncouplet. Jeder und Jede spenden freigebig von ihrem Reichthume, und der Kurzweil und des Scherzes ist kein Ende, wenn auch den Dirnen hin und wieder einmal das Blut in die Wangen getrieben und vielerlei Neckerei verübt wird. Doch bös ist’s nimmer gemeint, und überzimperlich sind wir hier im Pegnitzgaue auch nicht gerade. Und kommt nun endlich der letzte Erntewagen herein, dann beginnt erst der rechte Jubel. Hoch auf der schwellenden Ladung thronen junge Burschen und hübsche Mädchen, das Haar mit Hopfengerank umwunden, und im Triumphzug geht’s nach Hause. Am Abende aber, wenn kein Büschel mehr zu ‚blatten‘, wenn der ganze Segen abgezupft und in Korb und Wanne geborgen ist, dann wird das Arbeitsgeräth, werden Tische und Stühle hurtig bei Seite geräumt, und bald dreht sich Alles, auch mancher Weißkopf und manch altes Mütterchen, welche der [328] allgemeine Festtaumel fortreißt, bunt durcheinander im fröhlichen Reigen, und es schadet der Lust nicht, daß in der Regel eine einsame Ziehharmonika das ganze Orchester ausmacht.

„Diese heitere Schlußscene unserer Hopfenernte ist der sogenannte ‚Niederfall‘. Am Morgen darauf stäubt das fremde Arbeitervolk wieder in alle vier Winde auseinander; viele ziehen nach dem Main und Rhein, wo ihre Hände bei der Weinlese willkommen sind, ein kleines Häuflein langjähriger Stammgäste bleibt auch wohl bei uns, um uns noch die Kartoffeln mit einheimsen zu helfen. – Nun, heut’ Abend wollen wir uns einmal das Blatten beschauen in einem Häuschen ein Stück weiter oben im Thale. ’s ist eine herzige biedere Familie, der ich schon seit Jahren ihr kleines Ernteerträgniß abkaufe, eine noch vom alten Schlage, welche der Crinoline den Eingang gewehrt hat und die schmucke Tracht des Pegnitzgaues beharrlich in Ehren hält. Du brauchst nicht die Achseln darüber zu zucken, wir schauen sonst nicht sehnsüchtig rückwärts in die ‚gute alte Zeit‘; die ist bei uns schon lange gründlich überwunden und für Riehl’sche Gesellschaftsschrullen und Familientheorien am allerwenigsten bei uns der Boden. Wir sind vielmehr sammt und sonders rüstige ‚Fortschrittler‘ und haben’s bewiesen, – so weit es der Hopfen gestattet; denn der ist unser Regent und Tyrann. Jetzt aber laß uns heimeilen; die Suppe wird unser warten.“

Wachgerufene Erinnerungen an eine gemeinschaftliche Schulzeit und an einen lieben Geschiedenen, der nach den stürmischen Nürnberger Revolutionstagen im Hause meines Freundes ein sicheres Versteck gefunden hatte, bis dem Flüchtlinge der Paß frei wurde nach der Schweiz, belebten den in süddeutscher Weise reichlich besetzten Mittagstisch, welchem die gelassen heitere Hausfrau und eine Schaar frischer, von Leben und Gesundheit strotzender Kinder den schönsten Reiz verliehen. Durch das ganze Haus ging jener warme leichtlebige Hauch, jenes zutraulich aufgeschlossene Wesen, wie man’s erst mittagwärts vom Main antrifft, wo man sich in Stunden näher rückt, als bei uns in Monaten.

Der Nachmittag ward in der Kühle des Baumgartens verdämmert, der hinter dem Hause in Treppenabsätzen den Fuß des Berges anstieg. Wir hatten uns Tisch und Stühle herausgeschafft unter das schattende Dach eines Nußbaumnestors und Kaffee und Cigarren dazu. Schon säumte die Abendsonne die Gipfel der Hügel ringsum, flammte auf den Spitzen der Thürme und glühte in den Fenstern des vor uns ausgebreiteten Städtchens, und noch immer plauderten wir von Zeiten, die längst verrauscht, und hätten Hopfen und Pflücken und Blatten schier vergessen, wäre nicht mit dem sinkenden Abende draußen auf der Landstraße in immer ununterbrochenerer Folge der Erntesegen an uns vorübergetragen und gefahren worden. Es war ein unaufhörliches Gehen und Kommen, Singen und Klingen, Grüßen und Jauchzen, und gar prächtig sah es aus, wie die kräftigen sonngebräunten Männergestalten mit den mächtigen Laubbündeln auf dem Kopfe und über den hochgehobenen Stützen der Arme so straff und stramm einherschritten und die schmucken Dirnen von den aufgebäumten Erntewagen herab nach rechts und links ihre schelmischen Augen spielen ließen.

„Abgemacht also,“ sagte mein Gastfreund, indem er, sich erhebend, den Stuhl mit energischem Rucke bei Seite schob und eine frische Cigarre ansteckt?, „abgemacht, Du bleibst die Woche bei uns, und nächsten Sonntag, wenn der Himmel nicht widerwillig dreinschaut, bummeln wir selbander ein Stück Wegs in unsere Schweiz hinein, wenigstens bis auf Ruprechtstegen. Das ist ein gar lieblich gelegenes Dörflein, und das neue Hotel, das dort mein Nürnberger Landsmann, Ludwig Jegel, im Gebirgsstyle errichtet, spendet die erquicklichste Verpflegung. Und Forellen wollen wir da schmausen, wie sie den Molkenvergnügten drüben in Streitberg lange nicht so zart und lecker auf die Curtafel kommen. Ja, ja, es kann sich sehen lassen, unser Pegnitzthal, und ’s ist noch ein leidlich jungfräuliches Feld für Euch blasirte Touristen, eine neu erschlossene Domäne für Euch unersättliche Stoffjäger,“ fuhr er lächelnd fort. „Denn beichte nur, Du bist nicht so von ungefähr in unsere zahmen Gebreite verschlagen worden, und Deine Hopfenstudien wandern wohl Schwarz auf Weiß spornstreichs nach Leipzig in’s Redactionsbureau der Gartenlaube? Am Ende komme ich und ganz Hersbruck in leibhaftigem Conterfei auch mit hinein. Getroffen, nicht wahr? Nun, meinetwegen, hab’ nichts dawider, und Euere Leser hören sicher gern, wie man das baut und pflückt, einheimst und in die Welt schickt, was Millionen Tag aus Tag ein den schäumenden Lieblingstrank erst zum wahren Labetrunke macht. Doch jetzt komm noch zu einem raschen Gange durch den Berg, ehe es völlig Feierabend wird, und dann zum Blatten.“

(Schluß folgt.)




Aerztliche Strafpredigt.
Für die erwachsene Menschheit, insbesondere für den Geschäftsmann.

Die jetzige Menschheit steckt, trotz aller Fortschritte in der Cultur, doch immer noch so tief im Aberglauben und Unverstande, zumal in Bezug auf ihr körperliches und geistiges Wohl, daß man die meisten, auch sogenannte gebildete Menschen, gerade in solchen Beziehungen, wo sie recht sehr vernünftig sein sollten und könnten, vorzugsweise aber in gesundheitlicher Hinsicht geradezu für unvernünftig und einer höheren Freiheit, sowie eines behaglichen Wohlbefindens noch für durchaus unwerth erklären muß.

Das brauchte aber gar nicht so zu sein. Denn wenn durch die Erziehung in der Jugend – aber freilich nicht erst in der Schule, sondern schon in den ersten 4 bis 6 Lebensjahren – dem Menschengehirne anstatt naturwidrigen Aberglaubens ein auf die göttlichen, in der Natur herrschenden Gesetze gestütztes Wissen und Können so eingepflanzt würde, daß es darin für das ganze Leben festgewurzelt bliebe, dann könnte aus jedem Menschen ein vernünftiges und achtungswerthes Geschöpf ohne die sogenannten „menschlichen Schwächen“, d. h. ohne eingelebte schlechte Angewohnheiten, wie Genuß- und Habsucht, Eitelkeit, Ehr- und Herrschsucht, abergläubische Furcht und unverständige Glaubsucht etc., erzogen werden.

Wie aber zur Zeit die Erziehung des Menschen, und zwar hauptsächlich von Seiten der Eltern, in den ersten Lebensjahren bestellt ist (s. Gartenlaube 1862 Nr. 5), da werden, trotz aller Arten von Vereinen, aus erwachsenen Menschen, weil sie aus ihrer Jugend alle möglichen Untugenden, Schwächen, Schrullen, Vorurtheile und Aberglauben in das reifere Lebensalter mitbrachten, fast nie mehr wirklich vernünftige Geschöpfe zu bilden sein. Nur wo’s die Erwerbung irdischer Güter für ein behagliches Leben gilt, da allenfalls nimmt auch die erwachsene Menschheit noch Lehre an.

Und auch da nicht einmal. Denn selbst der wirklich gute Rath, welcher dem Laien zur Erhaltung seiner Gesundheit, also zur Erreichung des Nothwendigsten, was ihn für seine irdischen Güter erst genußfähig macht, gegeben wird, bleibt von den Allermeisten unbeachtet. Und wenn er Jahre lang auf die unverständigste, leichtsinnigste und frivolste Weise seine Gesundheit ruinirt hat, dann jammert und wehklagt der Feigling über seine Krankheit wie über ein unverschuldetes Unglück und klammert sich aus Angst vor dem Tode an jedes, auch dem Menschenverstande Hohn sprechende Heilverfahren.

Deshalb kann denn auch die Hoffnung, welche man auf die Wirksamkeit der zur Aufklärung der erwachsenen Menschheit gegründeten Vereine, sowie auf belehrende Vorträge und Schriften setzt, nur eine sehr schwache sein. Alle Vereine, sie mögen heißen und bezwecken was immer sie wollen, können niemals im Erwachsenen Das nachholen und ausbessern, was in der Jugend vernachlässigt und schlecht gemacht wurde. Der jetzige Mensch wird aber schon von Geburt an verhunzt.

Nochmals sei’s darum gesagt: nur erst dann, wenn eine richtige, schon von frühester Jugend an erworbene Kenntniß der Naturgesetze auf das Denken und Thun des erwachsenen Menschen den gehörigen Einfluß ausüben wird, nur erst dann werden die Zustände auf dem physischen, geistigen und sittlichen Gebiete in der Menschheit erfreulicher sein als jetzt, wo bei den meisten Menschen kindische Anschauungen zu bekämpfen und Wahn, Despotismus und Rohheit die Resultate der naturwidrigen Erziehung sind.

Und was soll nun mit dieser Klage erstrebt werden? Zuvörderst nichts Anderes, als daß die Leser dieser Zeilen ihre ganze Aufmerksamkeit auf die große Wichtigkeit einer richtigen physischen und psychischen Erziehung in den ersten Lebensjahren lenken (siehe Gartenlaube 1862 Nr. 5) und daß sie, um dem Fortschritte in Vervollkommnung und Veredelung der Menschheit auch wirklich [329] förderlich sein zu können, endlich einmal die unglückliche Idee vom „Angeborensein“ aufgeben und dafür das „Anerzogenwerden“ zum Erziehungsgrundsatze annehmen möchten.

Und warum glaubt Verfasser mit der erwachsenen Menschheit hadern zu müssen? Weil sie sich durchaus nicht von ihren schlechten, aus der Jugendzeit stammenden Angewöhnungen und von dem durch faules, ungeordnetes Denken entstandenen abergläubischen Vertrauensdusel trennen und lieber in eigennütziger Genuß- und Habsucht, in brutaler Herrsch- oder sklavischer Dienstsucht, in kindischer Ehr- und thörichter Glaubsucht schließlich an elender Schwind- oder Wassersucht vorzeitig und jämmerlich hinsiechen will, als unter dem Panier von „Frisch, fromm, fröhlich und frei“ ein nicht blos ihr selbst und ihren Angehörigen, sondern auch den Mit- und Nachweltsmenschen genuß- und fruchtbringendes, glückseliges, heiteres, langes und gesundes Leben zu leben. – Um die Wahrheit des Gesagten durch Thatsachen zu beweisen, wollen wir jetzt das Thun und Treiben der Menschen in ihren verschiedenen Berufsarten in gesundheitlicher und krankheitlicher Hinsicht beleuchten und zunächst den sogenannten Geschäftsmann (im Gegensatz zum Arbeitsmann) vornehmen. Als einen solchen könnte man vielleicht jeden betrachten, der, meistens mit einem Comptoir und angrenzenden Lagerräumen behaftet, beim Jahresabschluß seines Geschäftes sich ganz unglücklich fühlt, wenn er nur, wie die meisten übrigen Menschen (aus dem Arbeiter-, Handwerker-, Künstler- und Gelehrtenstande), gerade soviel verdient hat, um sein Wohlleben mit den verschiedenen Liebhabereien und den gehabten unabwendbaren Verlusten bestreiten zu können, und nicht auch noch ein Erkleckliches darüber zur Anschaffung von allerhand irdischem Plunder.

„Mein Geschäft erlaubt das nicht“ und „ich habe keine Zeit dazu“, das sind die Ausreden, welche ebenso der kranke wie der gesunde Geschäftsmann macht, um die zur Wiederherstellung oder zur Erhaltung seiner Gesundheit durchaus nöthigen diätetischen Verordnungen des Arztes, weil sie entweder zeitraubend oder unbequem sind, von sich abzuwehren, sogar sehr oft mit der Ueberzeugung, daß der Arzt ganz Recht hat. Leider giebt es nun gewissenlose Heilkünstler noch genug, die nicht etwa aus Ignoranz, sondern nur der Groschen wegen, solche Ausreden ruhig hinnehmen und die Anfänge schwerer und heilbarer Leiden, weil sie zur Zeit den Geschäftsmann zu seinen Geschäften noch nicht ganz unfähig machen, nach ihrem alten Curirschlendrian mit allerlei nichtsnutzigen (homöopathischen oder allopathischen) Mitteln tractiren, bis sie nach einiger Zeit dem Bemittelten ein erbärmliches Ende seiner Gesundheit und seines Geschäftes vermittelt haben. Beide, Geschäftsmann und Arzt, sind in solchen Fällen Verbrecher.

Die häufigste Klage des Geschäftsmannes, nämlich in Bezug auf seinen Körperzustand, ist die über seinen Kopf, den er schwer und eingenommen, häufig schwindlig oder schmerzend fühlt und in den er sich’s außerdem noch gesetzt hat, daß diese störenden Empfindungen durchaus von Blutandrang, oder von Hämorrhoiden, oder von versetzten Blähungen und Stuhlverstopfung herrühren müssen. Der mittelsüchtige Arzt nun, welcher auf diese dämligen Ideen des Patienten, da sie gewöhnlich auch die seinen sind, sehr gern eingeht und durch Purgirmittel die Beschwerden vom Kopfe nach dem Bauche abzuleiten trachtet, der ist dem Geschäftsmanne sein Mann, sobald dieser durch jene Ableitungscur nur nicht vom Geschäftemachen abgehalten wird. Daß sein Uebelbefinden bei einer solchen Heilmethode immer übler wird, daß der Appetit vollständig vergeht, daß das Mattigkeitsgefühl und die Mißstimmung fort und fort überhandnehmen, daß die Kraft zum Arbeiten immer mehr sinkt, das Alles bringt den Geschäftsfanatiker noch lange nicht dahin, daß er von seiner naturwidrigen Cur zu einer naturgemäßen übergeht; ist ja doch in seinem Geschäfts- wie Stuhlgange keine Stockung.

Wie ganz anders ist der rationelle Heilkünstler zu verfahren verpflichtet, wenn’s bei einem Geschäftsmanne nicht richtig im Kopfe ist! – Er wird diesem zuvörderst den Wahn, daß Congestionen vom Unterleibe aus die Schuld an dem Kopfleiden tragen, dadurch zu benehmen wissen, indem er die Anstrengungen desjenigen Organs, mit welchem der Patient seine Spekulationen überdenkt und überhaupt seine geistigen Geschäftsarbeiten betreibt, des Gehirns nämlich, mit den Strapazen der Beine bei anstrengenden Fußpartieen vergleicht. Beide Organe, Gehirn wie Beine, werden nämlich durch zu große Anstrengung (Ueberanstrengung), in Folge der starken Abnutzung ihrer Materie, matt und von widernatürlichen Empfindungen heimgesucht, versagen allmählich den Dienst und könnten sogar durch fortgesetztes gewaltsames Antreiben zum Thätigsein völlig gelähmt werden. Von den müden Beinen weiß nun jedes Kind, daß man dieselben, wenn sie nach einiger Zeit wieder ordentlich laufen sollen, gehörig ausruhen lassen muß und daß man bei diesem Ausruhen den ganzen ermüdeten Körper durch nahrhaftes Essen und Trinken wieder auf die Beine bringen kann. Dem durch’s Speculiren, Similiren, Addiren und Subtrahiren, Alteriren und Chicaniren u. s. w. müde gewordenen Gehirne des Geschäftsmannes, weil der keine Zeit hat und sein Geschäft es nicht erlaubt, geht’s nun aber nicht so gut wie den müden Beinen des Wanderers, denn dieses muß trotz seiner Ermüdung, die durch den Schlaf allerdings in Etwas gehoben wird, fort und fort geschäftig sein, oft sogar ohne durch nahrhafte und gut verdaute Nahrungsmittel richtig genährt und gekräftigt zu werden. Kommen nun gar noch jene ableitenden, schwächenden und den Appetit verderbenden Purganzen, oder die das Gehirn sammt seinen Nerven unnatürlich reizenden stärkeren Spirituosen und Kaltwasserquakeleien, sowie gesellschaftliche, gemüthliche und geschlechtliche Erregungen mit in’s Spiel, dann gute Nacht Gehirn mit deinem Denken und Urtheilen, deinem Gemüthe und Willen!

Ich hoffe, daß jeder Geschäftsmann, der in seinem Geschäfte wirklich sein eigenes und nicht seiner Leute Verstandesorgan, also das Gehirn, arbeiten läßt, einsteht, wie bei seinem Kopfleiden in Folge von langandauernden und bedeutendern Anstrengungen des Gehirns, dieses Organ auch die passende Erholung durch Ruhe braucht und daß demnach ein angegriffener Geschäftsmann, wenn er sich radical erholen will, durchaus auf einige Zeit sein Geschäft zu verlassen gezwungen ist. Aber freilich muß er gleichzeitig auch alles das noch meiden, was das ermüdete Gehirn stark erregen kann, wie Spirituosa, kalte Bäder, leidenschaftliche Unterhaltungen und unterhaltende Leidenschaften aller Art. Daneben sind zur Abkürzung und Nachhaltigkeit der Kräftigungscur noch reine sonnige Waldluft (recht tief eingeathmet), gute kräftige Kost (besonders Milch und Eier) und warme Bäder (wöchentlich eins bis zwei) von ausgezeichnetem Vortheile (s. Gartenl. 1863. Nr. 22. Rathschläge zu Sommercuren). – Die von den meisten Aerzten dem angegriffenen Geschäftsmanne als Kräftigungsmittel verschriebenen Arzneistoffe, sie mögen heißen wie sie wollen, haben alle, ebenso wie die empfohlenen Mineralwässer, meine vollste Verachtung, da sie niemals stärken, sondern fast immer die Magenverdauung ruiniren und dann, weil nicht genug guter Speisesaft mehr bereitet wird, schwächen. Nur nahrhafte Nahrungsmittel (besonders Milch, Ei und Fleisch) geben unserem Körper Saft und Kraft.

Und nun, Hand auf’s Herz, angegriffener Geschäftsmann mit dem eingenommenen Kopfe, erlaubt’s Dein Geschäft wirklich nicht, daß Du zur Erhaltung und Kräftigung Deines Gehirns mit seiner Urtheils- und Willenskraft, sowie zur Verbesserung Deiner Dir und Andern nicht gerade angenehmen Gemüthsstimmung, auf einige Zeit Dein enges Geschäftslocal mit Gottes weiter Natur vertauschen kannst? Bedenke, daß Du später mit all Deinem Mammon die zur Herstellung und Kräftigung Deiner Gesundheit verlorene Zeit nicht zurückerkaufen kannst und daß Du, wenn auch alle in der Welt bekannten medicinischen Professoren, Hof- und geheimen Räthe zu einem Consil über Deinen ruinirten Corpus zusammentreten, doch weit früher als nöthig in das von Dir gefürchtete Grab wandern mußt – worüber sich natürlich Deine Herren Schwiegersöhne auch noch freuen.

Erlaubt nun aber das Geschäft einem Geschäftsmanne eine Erholungscur fern vom Geschäfte in der That wirklich nicht, dann beobachte dieser zur Conservirung seines Gehirns wenigstens die folgenden Vorsichtsmaßregeln. Zuvörderst lasse er seinen speculirenden Kopf nicht zu langanhaltend arbeiten, sondern mache von Zeit zu Zeit im Arbeiten Pausen, sogar der Usance entgegen in den Geschäftsstunden und wo möglich im Freien. In der geschäftsfreien Zeit halte er sich so viel als möglich auch frei von Geschäftsideen, mache sein ordentliches Mittagsschläfchen, gebe sich des Abends einer leichten und angenehmen Unterhaltung hin und halte auf regelmäßigen Nachtschlaf. Wie die übrigen, besonders die Brust- und Bauchorgane, in Ordnung zu halten und zu bringen sind, wird ein späterer Aufsatz den Geschäftsmann lehren, denn fertig ist der Verf. mit selbigem Manne noch lange nicht.
Bock. 

[330]
Ein Frühlingsgang nach Sesenheim.
Von Jos. Victor Widmann.

Das anmuthigste aller Liebesverhältnisse Goethe’s ist unstreitig jenes, das aus der jugendlichen Neigung des Dichters zur schönen Pfarrerstochter von Sesenheim im Elsaß entsprang. Wenn auch die Liebe zu Charlotte Buff am meisten bekannt geworden ist, indem sie zu dem Evangelium aller unglücklich Liebenden, zu Werther’s Leiden, Anlaß gab, so ist es doch eben diese Berühmtheit, diese Übertragung in einen Roman, die dem wirklichen Verhältnisse Eintrag gethan und einigermaßen den Blumenstaub von der Blüthe gewischt hat. Lili ferner war gewiß ein reizendes Mädchen, aber eine Puppe voll koketter Launen. Frau von Stein – war eben Frau von Stein; die Unnatürlichkeit dieses Verhältnisses und der Streit gegen die Gesetze der Gesellschaft, der darin gegeben war, verurtheilen es. Christiane Vulpius, später Goethe’s Gattin, war gut und anhänglich, allein ein besonderer Zauber geht von ihrem Bilde nicht aus. Endlich, was soll man zu jener Marienbader Leidenschaft des vierundsiebzigjährigen Greises sagen? Giebt sie auch von dem jung gebliebenen Herzen des Dichters und von seiner lange wohlerhaltenen Kraft das beste Zeugniß, so fordert sie doch unwillkürlich zu dem Rückschlusse auf, wie so ganz anders ein Mann in voller Jugendkraft geliebt haben muß, der noch am Abend seines Lebens so feurig zu fühlen vermochte!

Eine solche Jugendliebe, naturwüchsig und echt, ist die zu Friederike Brion, und sie gewinnt an Reiz durch den Kranz frischer Feldblumen, der sich gleichsam um sie flicht. Wenn Lili, die Frankfurter Banquierstochter, ihren Freund oft „beim Spieltisch unerträglichen Gesichtern gegenüberstellte“ – ziehen dagegen dort die beiden Liebenden durch die weiten Fluren, und Friederike singt ihm ihre lustigen Liedchen:

„Vom Wald bin ich ’kommen, wo’s stockfinster is,
Und ich lieb Dich von Herzen, das glaub mir gewiß;
Und da lacht er, da lacht er, der schelmische Dieb,
Als ob er nicht wüßte, daß ich ihn lieb’.“

Friederike war eben durch und durch Natur: ein tiefes, reiches Gemüth, gebildet genug, um für alles Schöne und Gute empfänglich zu sein und das Rechte überall fein zu fühlen; von Sentimentalität freilich wußte sie nichts.

Dieses edle Mädchen nun lernte Goethe kennen, als er im Jahre 1770, während er in Straßburg die Rechte studirte, von seinem Studienfreunde Weyland zu einem Ausfluge nach Sesenheim aufgefordert und im Pfarrhause daselbst eingeführt wurde. Es war einer der ersten schönen Octobertage, als die Beiden zu Pferde in Sesenheim anlangten, Goethe, seiner Freude an Verkleidungen folgend, incognito, als ärmlicher Student der Theologie. Er hatte eigens hierzu alte Kleider geborgt und sich sein Haar so wunderlich gekämmt, daß Weyland unterwegs sich des Lachens nicht erwehren konnte, besonders wenn es seinem wohlgelaunten Freunde einfiel, dergleichen Figuren, die man „lateinische Reiter“ nennt, nachzuahmen. Im Pfarrhofe trafen sie Herrn Brion ganz allein zu Hause und wurden von dem gutmüthigen Manne freundlich empfangen. Nach und nach stellte sich auch die ganze Familie ein, außer der zweiten Tochter Friederike, nach der Alle fragten und die Alle mit Unruhe vermißten, wodurch Goethe auf ihre Erscheinung vorbereitet wurde.

Endlich trat sie in die Thür, und „da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf“. Der Dichter, der vierzig Jahre später eine plastische Schilderung jener Tage in „Wahrheit und Dichtung“ dem Secretair Kräuter dictirte, wobei er, wie dieser versichert tief ergriffen war, oft im Dictiren inne hielt, seufzte und in leiserem Tone wieder fortfuhr – er beschreibt uns die Erscheinung des sechszehnjährigen Mädchens also: „Ein kurzes, weißes, rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettesten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine Taffetschürze – so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heitern, blauen Augen blickte sie deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arme, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmuth und Lieblichkeit zu sehen und zu erkennen.“

Es ist nicht möglich, nun ausführlich hier zu erzählen, wie Goethe sofort an Friederike das größte Interesse nahm, sich mit ihr fast ausschließlich unterhielt und, indem er immer mehr über sie erstaunte, zugleich immer mehr sich seiner Verkleidung zu schämen anfing; wie er noch am gleichen Abend bei einem Spaziergange mit ihr wandelte, „mehr den Himmel über sich zum Gegenstande habend, als die Erde, die sich neben ihnen befand“; wie er hierauf, als er Nachts mit Weyland allein war, diesen ängstlich ausforschte, ob wohl Friederike schon von Jemand geliebt werde, und sich über die Verneinung dieser Frage freute; wie er dann am andern Morgen über den verwünschten grauen Rock mit den kurzen Aermeln in Erbitterung gerieth, zuerst nach Straßburg zurückreiten wollte, dann aber auf den glücklichen Gedanken kam, sich die ländliche Kleidung eines Wirthssohnes in Drusenheim zu borgen und als Georg der Frau Pastorin einen Kuchen zu überbringen, über welche neue Verkleidung viel lustige Verwirrungen und Scherze entstanden. Es genügt zu sagen, daß die Leidenschaft der beiden jungen Leute von Stunde zu Stunde wuchs und daß Goethe nach zwei Tagen, als er wegritt, sein Herz in Sesenheim zurückließ. Zugleich hatte er den Vater sehr für sich eingenommen, indem er ihm einen Plan zu einem neuen Pfarrhause zu zeichnen versprach, da das alte, worin die Familie lebte, sehr baufällig war.

Von Straßburg aus schrieb Goethe an Friederike viele Briefe; der einzige, der von denselben noch erhalten ist, datirt vom 15. October. In diesem Briefe nennt er sie seine „liebe neue Freundin“ und sagt ihr, nie sei ihm Straßburg so leer vorgekommen, wie jetzt. Drum hielt es ihn auch nicht lange dort; im November, an einem Samstag Abend, langte er plötzlich in der Schenke zu Sesenheim an. Merkwürdiger Weise war man im Pfarrhause nicht überrascht, als er eintrat. Friederike’s liebendes Herz hatte seine Ankunft geahnt und vorausgesagt. Der folgende Tag, ein heller, freundlicher Novembersonntag, wurde von den Liebenden mit einem Morgenspaziergang begonnen, auf dem sie sich von den bevorstehenden Vergnügungen des Nachmittags und von neuen geselligen Spielen unterhielten, auch beschlossen, wo möglich in ungetrennter Gemeinschaft dem Allen sich hinzugeben. Die Glocke rief sie vom Spaziergang zur Kirche; der gute Pfarrer Brion hat gewiß nie einen geistreichern und doch zugleich unaufmerksamern Zuhörer gehabt, als an diesem Tage! Der Nachmittag verfloß fröhlich bei Tanz und gesellschaftlichem Spiel, wobei die Liebenden Hauptpersonen und Anordner des Ganzen waren. Und da, in der Erregung des Tanzes und der Lust, fand sich endlich das reizende Paar im „langen, langen Kuß der Lieb’ und Schönheit“.

Diesmal verließ Goethe Sesenheim als erklärter Liebhaber. Eine Verlobung hatte vermuthlich deshalb nicht statt, weil er noch so jung war und die Einwilligung des Vaters hätte eingeholt werden müssen. Gedichte aus jener Zeit und an Friederike gerichtet finden sich mehrere unter den gesammelten Liedern Goethe’s: Willkommen und Abschied: „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde“. – Mit einem gemalten Band: „Kleine Blumen, kleine Blätter“. – An die Erwählte: „Hand in Hand und Lipp’ auf Lippe“. – Mailied: „Wie herrlich leuchtet mir die Natur“. Ferner: „Erwache, Friederike“ und „Ein grauer, trüber Morgen“.

Bekanntlich hielt sich Goethe in Straßburg auf, um dem Studium der Rechte, das er in Leipzig begonnen, ferner obzuliegen und das Doktorexamen zu bestehen. In dieser Zeit fand er nicht Muße zu Besuchen in Sesenheim. Dagegen kam damals Frau Pfarrer Brion mit ihren beiden Töchtern zu Bekannten in die Stadt. Dieser Besuch war es, der zuerst das Verhältniß mit Friederike lockerte. Goethe selbst nennt ihn „eine sonderbare Prüfung“.

Die Mädchen erschienen in Nationaltracht; in den Städten des Elsaß war dieselbe längst durch die französische Kleidung verdrängt worden. Daher geriethen die beiden Pfarrerstöchter in einen Gegensatz zu ihren städtischen Verwandten, der auf dem Lande jedenfalls zu Gunsten der erstern ausgeschlagen hätte, hier aber, in der Stadt, nach und nach für sie peinlich ward. Wenn auch Friederike sich in die ungewohnte Umgebung leichter als ihre Schwester zu finden wußte, so stand doch auch sie in nicht ganz zu verwischendem [331] Widerspruche zu derselben, und die verschiedenen Lebensverhältnisse der beiden Liebenden traten damals zuerst zu Tage. Er, der Sohn eines vornehmen Frankfurter Bürgers, sie eine arme Landpastorstochter! Darüber hatte freilich die Liebe sich nicht besonnen; die ländliche Ruhe hatte dergleichen Bedenken, selbst wenn sie aufgestiegen waren, bald wieder eingeschläfert. Aber jetzt! – Goethe mochte nicht immer die besten Urtheile über die Erscheinung seiner Geliebten in städtischen Cirkeln zu hören bekommen; das machte ihn empfindlich und zerstörte manche Illusion. „Friederike,“ sagt Schäfer, „war in den Gehölzen von Sesenheim eine Nymphe des Waldes; im Straßburger Salon wurde die Nymphe zur Bäuerin.“ Wenn auch dieser letzte Ausdruck etwas zu stark ist, so ist doch gewiß und von Goethe selbst ausdrücklich erwähnt, daß es ihm bei ihrer Abreise wie ein Stein vom Herzen fiel. Sie ihrerseits fühlte beim Scheiden, daß der Liebesroman zu Ende ging. Er stürzte sich wieder in den heitern Kreis der Genossen, um die quälenden Gedanken los zu werden. Als bald darauf die Zeit kam, wo er Straßburg auf immer verlassen sollte, ritt er noch einmal nach Sesenheim, ihr Lebewohl zu sagen.

„Es waren peinliche Tage,“ schreibt er, „deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand vom Pferde reichte, standen Thränen in ihren Augen und mir war sehr übel zu Muthe. Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim, und da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahnungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst denselben Weg zu Pferde wieder entgegenkommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen, es war Hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traume ausschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, daß ich nach acht Jahren in dem Kleide, das mir geträumt hatte und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege befand, um Friederiken noch einmal zu besuchen.“

Im August 1771 verließ Goethe Straßburg, im Juni vorher schrieb er aus dem Sesenheimer Pfarrhause zwei merkwürdige Briefe an Actuar Salzmann in Straßburg, die jetzt auf der dortigen Stadtbibkothck in derselben Schachtel mit den Briefen des unglücklichen Dichters Lenz zusammen liegen, der sich später in Friederike Brion verliebte, ohne aber bei ihr Gehör finden zu können. Denn „wer von einem Goethe geliebt worden ist, kann keinem andern Mann angehören,“ pflegte sie zu sagen.

Möge die Nachwelt, wenn sie Goethe’s Handlungsweise gegenüber Friederiken beurtheilt, die Verhältnisse berücksichtigen! Man bedenke, welche Schwierigkeiten seiner Verbindung mit der Sesenheimer Pfarrerstochter im Wege standen, wie ihm überhaupt eine frühe Verheirathung auf seiner Dichterlaufbahn ein Hemmschuh gewesen wäre, wie es kaum wahrscheinlich ist, daß Friederike in Weimar hätte existiren können, ja wie sehr wahrscheinlich der verheirathete Goethe selbst nie nach Weimar gekommen wäre, was man gewiß als ein Unglück ansehen müßte. Man erwäge, daß ein so gewaltige Kraft in sich fühlender Mann, dem die Welt damals zu enge schien, wohl eine kurze Zeit die Rose am Wege bewundern und lieben konnte, dann aber, zu sich kommend, seinem Stern folgen mußte, der ihm auf immer neuen Bahnen voranleuchtete. Ruhe im Schooß der Liebe konnte Schluß, aber nicht Anfang des Schaffens eines Titanen sein, der die zwölf Arbeiten noch ungethan vor sich sah. Wir wollen uns an das Wort Victor Hugo’s erinnern, wonach man auf Heroen nicht das Maß gewöhnlicher Menschen anwenden dürfe, und also lassen wir Goethe Verzeihung angedeihen; die Wehmuth aber, die uns unwillkürlich beschleicht, wenn wir Friederikens gedenken und das zerstörte Verhältniß uns vergegenwärtigen, sei eine dem tragischen Mitleid vergleichbare; sie trage die Versöhnung in sich selbst! –

Lewes, der bekannte Verfasser einer vortrefflichen englischen Darstellung von Goethe’s Leben, erzählt Friederikens spätere Schicksale nicht. Wir führen sie hier an, aus guter Quelle, zum Theil aus Mittheilungen von Personen schöpfend, die Friederiken persönlich gekannt. Wie oben schon angedeutet, kam der Dichter Reinhold Lenz ein Jahr nach Goethe’s Entfernung in die Nähe von Sesenheim, und Friederike flößte ihm heftige Leidenschaft ein, die aber zu keinem Ziele führen konnte, schon deshalb, weil Lenz gar nicht der Mann dazu war, irgendwie etwas Dauerndes zu gründen. Er war eine wirre, dämonische Natur, und sein Lebensschicksal, das wir hier nicht verfolgen können, ließ ihn keinen häuslichen Heerd bauen. Er starb in schwermüthigem Wahnsinn, am 24. Mai 1792. – In den Herbst 1779 fällt jener Besuch Goethe’s bei Friederike, den der Dichter, wie oben angeführt, geahnt und als Vision vorausgesehen haben will. Goethe begleitete damals seinen Herzog auf einer Schweizerreise; er fand seine Geliebte, wie er schreibt, „wenig verändert, noch so gut, liebevoll und zutraulich, wie sonst, gefaßt und selbstständig. Der größte Theil der Unterhaltung war über Lenz.“

Friederike lebte noch bis zum Jahr 1813; anfangs in Rothau im Steinthal, wo sie mit ihrer jüngsten Schwester Sophie mehrere Jahre eine Mädchenschule leitete und einen Kramladen hielt. Durch Familienverbindungen wurde sie später Gesellschafterin in einem befreundeten Straßburger Hause – Rosenstiel –. Als der Herr des Hauses zu Anfang der französischen Revolution in diplomatischen Geschäften verwendet wurde, begleitete ihn seine Familie und auch Friederike nach Paris und Versailles. Später war sie bei ihrer Schwester und deren Mann, dem Pfarrer Marx, zuweilen auf Besuch in Diersburg, dann ständig seit dem Jahre 1805 in Meißenheim, einem drei Stunden von Lahr in Baden entfernten Dorfe, bei ihrer Nichte und deren Gatten, Pfarrer Fischer. Noch ist daselbst ein Albumblatt vorhanden, welches sie ihrem Neffen, Pfarrer Fischer, schrieb und das also lautet:

Durchwandle froh die Bahn des Lebens,
Dein Loos sei stets Zufriedenheit,
Kein Wunsch von Dir sei je vergebens,
Und die Erfüllung sei nie weit.

Meißenheim, den 14. October 1807.

 Dies aus dem Herzen Ihrer Sie liebenden Tante,
 Friederike Brion.

So fand Friederike in sich und in ihrer regen, opferfreudigen Theilnahme an dem Glücke Anderer einen schönen Frieden und ein nützliches Leben, welches keineswegs als ein Verlornes, sondern im Hinblick auf seine höhere Bestimmung vielmehr als ein erfülltes zu betrachten ist. Die Geliebte des glücklichsten und des unglücklichsten Dichters deutscher Nation starb am 3. April 1813, Nachmittags 5 Uhr, im Alter von ungefähr 58 Jahren, wie aus dem Kirchenbuch zu Meißenheim hervorgeht. Ihr Grab wird vergebens gesucht. Kein Stein, kein Kreuz bezeichnet es. – Es sind nun drei Menschenalter vorübergegangen seit jenen Tagen, wo Goethe mit seiner Geliebten durch Sesenheim’s Gefilde wallte; aber noch entsinnen sich die einfachen Bewohner des Dorfes gar wohl des Herrn Goethe und haben ihre eigene Tradition über jene Zeit bewahrt. Der Verfasser vorstehender Zeilen ist im Stande hierüber Näheres mitzutheilen, indem er im Frühling des verflossenen Jahres, am 13. April, Sesenheim besuchte.

Das anmuthige Dörfchen liegt sieben Stunden von Straßburg entfernt. Der Besucher, dem es nicht möglich ist, wie Goethe, zu Pferd zu dem Orte zu gelangen, thut am besten, wenn er mit der Eisenbahn bis Bischweiler fährt; von da befördert ihn ein Botenwagen nach Sesenheim. So machte ich’s; den Rest des Weges jedoch ging ich zu Fuß, um allein und in würdiger Sammlung in das liebe Dorf einzuziehen.

Die Sonne war schon untergegangen, aber die Luft war lind, wie an einem Maiabend. Am westlichen Himmel glänzte noch da, wo dunkle Wolken auf den fernen Vogesen aufzuliegen schienen, ein heller Streif, wie flüssiges Gold; vor mir – Sesenheim liegt gegen den Rhein, nordöstlich – war es schon Nacht. Vom Dorfe konnte ich daher nichts sehen, bis ich ganz nahe war. Der Weg führt rechts an einem großen Weiher vorüber, Erlen und Pappeln ziehen sich längs der Straße hin. Auf einmal klang durch die Luft ein Ton, der mich wundersam rührte, die Abendglocke von Sesenheim! Zugleich sah ich auch die ersten Häuser des Dorfes, zwischen blühenden Bäumen versteckt, und ein Rauch war über dem Dorf und hoch vom Himmel blinkten die Sterne herab. Das Glück führte mich in die Herberge zum Anker. Der Wirth derselben heißt Michael Heintz und seine Großmutter mütterlicher Seite, Anna Maria Vix, war die Pathin Friederikens. Dies Alles erfuhr ich natürlich erst später; zunächst erkundigte ich mich nach einem Nachtlager, dann setzte ich mich unter die Bauern und aß zu Nacht. Der Wirth leistete mir Gesellschaft und äußerte seine Verwunderung über meinen Besuch in Sesenheim, setzte aber sogleich hinzu: „Am Ende kommen Sie wohl wegen dem Herrn Goethe.“ Als ich dies bejahte, stellte mir der Wirth einen bejahrten Bauer, – [332] Wolf – der in der Ecke saß, als den Sohn desjenigen Burschen vor, der Goethe gewöhnlich bei Spaziergängen begleitet, ihm auch Botendienste geleistet hatte. Von diesem erfuhr ich mehrere Anekdoten über Goethe, und sämmtliche Bauern nahmen, während er erzählte, großen Antheil, ergriffen wohl manchmal bestätigend das Wort, nie aber äußerten sie sich anders über das Verhältniß der Liebenden als mit größter Ehrerbietung für Beide. Die Aussage Aller war: „Er sei ein schöner und gar freigebiger Mann gewesen, und das Pfarrersfräulein habe er so lieb gehabt – man könne gar nicht glauben wie!“

Von dieser Freigebigkeit Goethe’s cursirt namentlich in Sesenheim eine etwas groteske Geschichte, aber eben deshalb wie dazu gemacht, im Andenken der Bauern zu bleiben: Die Bursche des Dorfes machten, wie jedes Jahr, hinter der Kirche zuweilen im November ein Feuer und belustigten sich, mit Stangen drüber zu springen. Der „Herr Goethe“ war auch einmal bei einem solchen Anlaß zugegen und bemerkte unter den Zuschauenden sechs Weiber mit alten zerrissenen Strohhüten. Da sagte er dem Bauer Wolf, er solle die Strohhüte in’s Feuer werfen. Der that’s auch gleich, nur eine ließ sich den Strohhut unter keiner Bedingung nehmen. Als nun die fünf Strohhüte lichterloh brannten, zog der Herr Goethe seinen Geldbeutel hervor und gab jedem der fünf Weiber, die ziemlich verdutzt dastanden, zwei Thaler; jetzt verkehrten sich die sauern Mienen in frohen Jubel; die sechste aber bot nun freiwillig ihren Strohhut an; als ihr Goethe gar keine Aufmerksamkeit schenkte, warf sie voll Verdruß ihren Hut selbst in’s Feuer, erntete aber auch für diese heroische Aeußerung ihrer Unzufriedenheit nichts als den Spott des ganzen Dorfes. Als Moral dieser Geschichte setzte der Bauer Wolf, der mir dieselbe erzählte, hinzu: „Einem so vornehmen Herrn muß man eben Zutrauen schenken.“

Oft habe auch Goethe die Buben angefeuert, gymnastische Spiele aufzuführen, ihnen dergleichen sogar gezeigt. Den Sieger habe er dann jedesmal reichlich beschenkt. Um seine Freigebigkeit, wie man sieht, dreht sich die Sesenheimer Tradition; denn bei gar vielen Leuten hat nichts so guten Klang, wie klingende Münze. Man ersieht hieraus, daß alle Tradition etwas Subjectives ist.

Am folgenden Tage besuchte ich in der Frühe jenen Hügel, den Goethe in „Wahrheit und Dichtung“ erwähnt, wo er schon am zweiten Tage der jungen Bekanntschaft dem reizenden Mädchen seine Liebe erklärt hatte. Die Stelle verdient nicht den Namen eines Hügels; im Dorf heißt sie der Buckel; es ist eine Erderhöhung von kaum sechs Fuß Höhe. Zu Goethe’s Zeit war sie mit Wald und Hecken gekrönt und es waren daselbst Bänke aufgeschlagen, „von deren jeder man eine hübsche Aussicht gewann“. Hier war jenes Bret mit der Inschrift: „Friederikens Ruhe“, worunter sich Goethe einst froh und ahnungslos gesetzt hatte, ganz dem aufkeimenden Gefühl hingegeben und nicht denkend, daß er gekommen sei, diese Ruhe vielleicht für immer zu stören.

Die Bänke stehen längst nicht mehr, der Wald ist ausgerottet, man hat den Pflug über das traute Plätzchen geführt. Aber es war doch noch die gleiche Erde, und gerade so, wie heute auf mich, schaute damals auf die Liebenden, der helle, blaue Himmel hernieder, und darum bückte ich mich und pflückte – man lache über meine Sentimentalität – ein vom Morgenthau feuchtes Veilchen, meine erste Reliquie von Sesenheim.

Nachdem ich wieder in’s Dorf zurückgekehrt war, begann ich auf dem Kirchhofe nach dem Grabmal des Pfarrer Brion zu suchen. Eine Bäuerin, die ich um Auskunft befragte, sagte mir, sie wisse, das Grab sei nicht hier, sondern bei der Kirche, aber genauer konnte sie mir die Stelle nicht bezeichnen. Endlich fand ich es; ein liegender, schwärzlicher Stein deckt die Ruhestätte des guten Mannes. Die Inschrift lautet:

Hier schläft in seinem Erlöser
der
Hochwürdige und hochgelahrte Herr
Johann Jacob Brion.
Treueifriger Lehrer hiesigen Kirchspiels.
Seines Alters 70 Jahre 6 Monate.

Den Vers darunter konnte ich nur mit Mühe lesen und zwar erst, nachdem ich den Grabstein gewaschen und in die Umrisse der Schrift, damit dieselben mehr hervortreten möchten, Kalk von der Kirchhofsmauer eingerieben hatte. Der Vers heißt:

„Sei still und weine,
Christ und Menschenfreund;
Hier ruhen die Gebeine
Eines Mannes, der vereint
Tugend pries und Tugend übte,
Gott in seinem Leben liebte.“

Während ich diese Worte schrieb, fielen auf einmal drei oder vier Schüsse hinter der Kirchhofmauer, und als ich erstaunt aufschaute, gewahrte ich eben einen Brautzug, der sich in die Kirche bewegte. Natürlich schloß ich mich an und wohnte der Feierlichkeit bei. Das war also die Kirche, wo einst Goethe an der Seite der Pfarrerstochter „eine etwas trockene Predigt des Vaters nicht zu lang fand“ und wo er sich die Vorzüge seiner Geliebten, „ihre besonnene Heiterkeit, Naivetät mit Bewußtsein, Frohsinn mit Voraussehen,“ wiederholte und auch darüber nachdachte, wie er es wohl vermeiden könnte, beim Pfänderspiel seine Geliebte zu küssen; denn seine Lippen waren ja von jener leidenschaftlichen Straßburger Schönen, deren Neigung er nicht erwiderte, verwünscht worden. Am gleichen Nachmittage lösten sich indessen alle Bedenken, wie wir oben gesehen haben. Als die Einsegnung des Paares vorüber war, begab ich mich nach dem Pfarrhause, welches der Kirche gegenüber liegt. Es ist von einem Gartenzaun eingeschlossen, vor der Thür stehen niedrige Tannenbäume.

Der Pfarrer, Namens Lucius, ein gastfreier Herr, nahm mich sehr freundlich auf, als er den Zweck meines Kommens erfahren hatte, und führte mich überall umher. Vom alten Pfarrhofe ist nur noch eine Scheune übrig; er stand mehr links, als der neue. An der Stelle, wo sonst Goethe mit der Familie Brion zu wohnen pflegte, wachsen jetzt Bohnen und andere Küchenkräuter, und der kleine Sohn des Herrn Pfarrers war emsig beschäftigt, dieselben vom Unkraut zu säubern. Ganz hinten im Garten steht aber noch, an die erwähnte alte Scheune angelehnt, jene berühmte „Jasminlaube von Sesenheim“, in der Goethe das Märchen, das er später unter dem Titel „Die neue Melusine“ Wilhelm Weister’s Wanderjahren einverleibte, zum ersten Male erzählte. Daß ich auch hier Reliquien sammelte, versteht sich von selbst.

Hierauf zeigte mir der Pfarrer ein Autograph Friederike’s; sie bittet ihren Verwandten Heintz um ihr langes Halstuch (ein Pathengeschenk eben jener Anna Maria Vix), er möge es ihr nach Rothau schicken. Im Wohnzimmer hängt an der Wand beim Clavier ein Bild des greisen Goethe; nirgends ist mir dieses Bild so bedeutsam vorgekommen, wie hier; ich mußte mich unwillkürlich an Rückert’s Gedicht von Chidder, dem ewig jungen, erinnern.

Ich nahm nun Abschied von dem gastfreien Herrn Pfarrer und verließ das Haus. Am Ausgang des Dorfes, vor dem Schulhause, war die ganze liebe heranwachsende Jugend von Sesenheim versammelt. Die Mädchen tanzten eben einen Ringeltanz um ihre Lehrerin herum; ich schaute mir die Gesichter wohl an, aber es war keine Friederike unter ihnen!

Und so zog ich denn weiter gegen Fort Louis hin; ehe ich aber in den Wald kam, schaute ich noch einmal zurück nach dem lieben Dorf, und wie ich’s so vor mir liegen sah und des gestrigen Abends und der einstigen Zeiten gedachte, überkam mich eine Stimmung, in die sich Andacht und Wehmuth theilten.




Berliner Skizzen.
2. Der Omnibus.
Von Rudolph Löwenstein.

Vom Fischerdorfe zur Weltstadt, vom Bauernkarren zur Droschke und von der Droschke zum Omnibus – welch riesiger Fortschritt weltgeschichtlicher Cultur! Fünfhundert Jahre bedurfte Berlin, bis die Umwandlung aus dem Anglernest in den Angelpunkt deutscher Intelligenz als vollzogen betrachtet werden konnte, und fast ein halb Jahrhundert verstrich, ehe sich der kosmopolitische Omnibus der heimischen, particularistischen Droschke zugesellte. Wie lange es dauern wird, bis die Berliner Droschke sich zu einem der Residenz [333] würdigen Fiacre veredelt, bleibt der Erkenntniß unserer Enkel vorbehalten. Die Droschke hat sich trotz der Omnibus-Concurrenz in ihrer urzuständlichen Form (von Reinheit ist leider keine Rede) erhalten, nur dann und wann begegnet man einem von der Cultur der Gegenwart mit frischem Firniß beleckten und mit fleckenlosen Polstern verkleideten Eingespann; die Mehrzahl aber der für fünf Groschen feilen Miethlinge ist nicht geeignet, den traurigen Satz zu widerlegen, daß es in ganz Europa von Petersburg bis Madrid und von Rom bis Stockholm kein schlechteres öffentliches Fuhrwesen als das Berliner gebe.

Wer, der jemals die Straßen von Spree-Athen betreten, wer kennt sie nicht, diese klapprigen, baufälligen Gestelle mit ihren abgelebten, „abgetriebenen“ und schwermüthigen Pferden und den rothnasigen Rosselenkern? Wen erfaßt nicht ein menschliches Rühren, wenn er die fahrenden Eckensteher auf dem Bocke des „Folterkastens“ und die Mähren mit dem über die Ohren gebundenen Hafersäcke betrachtet? Wer hätte nicht gehört von dem untilgbaren Hasse, welcher zwischen den Lenkern der Droschken und den Züglern der Omnibusgäule besteht? Mit demselben Grolle, mit dem einst der arme Weber den „eisernen Arbeiter“, die Dampfmaschine, und der letzte Posthalter die erste Locomotive erblickt, sahen vor einundzwanzig Jahren die Berliner Droschkenkutscher auf das erste sechsrädrige Ungethüm, das, von einem Speculanten gebaut, unter dem Namen Omnibus durch die Straßen rollte. Und der Groll ist von Jahr zu Jahr mit der Zahl der neu-concessionirten Allerweltswagen gewachsen. Mehr als dreihundert Omnibus durchkreuzen die Residenz nach allen Richtungen, und während der auf seinen Halteplatz oft Stunden lang gebannte Droschkenführer nach einer „lumpigen Person“ vergeblich späht, sausen Hunderte von Groschen-Passagieren an seiner Nase vorüber.

Im Omnibus.
Originalzeichnung von Th. Hosemann.

Was der Dampfwagen für die Nationen, das ist der Omnibus für die Residenzler: er verknüpft die früher Getrennten, fördert Austausch und Verkehr und trägt neues Leben in die entlegensten, ehedem fast unzugänglichen Gegenden. So lange die Omnibusunternehmer nur auf die sehr belebten Straßen speculirten und jede Tour in mehrere Stationen theilten, für deren jegliche ein Reisegeld von einem Neugroschen zu erlegen war, wollte das Geschäft nicht recht vorwärts kommen; seitdem sie aber vom Ende der einen Vorstadt bis zum letzten Hause der entgegengesetzten fahren und für den Weg von fast einer deutschen Meile nur einmal den Zinsgroschen erheben, blüht das Geschäft, und in den Vorstädten steigen neue Häuser und neue Straßen empor. Die Sandscholle der ehemaligen „Hundetürkei“, in deren trügerischem Boden Roß und Reiter elendiglich versanken und Hungerblume und Distel sich vergeblich quälten, Wurzel zu fassen, sie ward zur Baustelle, zum lachenden, „goldtragenden“ Morgen, sobald sie von der Wünschelruthe des Omnibuskutschers berührt wurde. Das „Köpenicker Feld“, noch vor zehn Jahren eine menschenleere Wüste, ist zu einer Stadt von 25.000 Einwohnern erwachsen, der Bodenwerth hat sich verzehnfacht, der Steppensand ist auch hier zum Goldsande geworden. Der National-Oekonom wird dereinst mit Zahlen beweisen können, welchen Antheil das Institut der Omnibus an dem wahrhaft wunderbaren [334] Wachsthum gerade des Köpenicker Feldes gehabt hat. Von hier aus gehen die meisten Wagen in das Innere der Stadt; der Oranien- und der Moritzplatz entsenden von fünf zu fünf Minuten einen zweispännigen Zug, der sich, ehe er sein Ziel erreicht, zwei, auch drei Mal seiner lebendigen Last entledigt und dafür neue Ladung nimmt.

Die Berliner Omnibus unterscheiden sich wesentlich von ihren Londoner und Pariser Vorbildern: sie sind weder so elegant bespannt, noch so pünktlich bedient, noch endlich so zweckmäßig organisirt, als jene. Der Einführung einer geregelten Correspondenz, eines Bündnisses aller Unternehmer stemmen sich – ein Zeichen echt deutschen Wesens – Sonderinteressen und Sondergelüste entgegen: Keiner will sich entschließen, dem allgemeinen Besten auch nur ein Titelchen seiner fuhrherrlichen Souverainetät zum Opfer zu bringen, und so kreuzen sich denn Wagen, Linien und Interessen in wirrer Unordnung. Daß bei uns Wagen, Kutscher und Conducteure unter strengster polizeilicher Aufsicht stehen, die jedes Vergehen gegen das „Reglement“ und die Fahrordnung unnachsichtlich straft, versteht sich ebenso von selbst, wie daß Alles, was zum Dienstpersonal der Wagen gehört, dem straffen, soldatisch-knappen Uniform-Zuschnitt unterworfen ist. Wie die strengen Religionsgesetze der Juden großentheils von sanitäts-polizeilicher Weisheit dictirt sind, so ist auch Vieles in dem Reglement nur durch die zarte Besorgniß der Polizei für Leben und Gesundheit der nomadisirenden armen Kutscher zu erklären. Das scharfe Gebot: „Du sollst auf dem Bock nicht rauchen“ und das gleichscharfe: „Du sollst den Rockkragen stets bis an’s Kinn zugeknöpft halten“, was sind sie anders, als Zeugnisse jenes schönen patriarchalischen Regiments, das Alle vom Junker bis zum Roßknecht umfaßt?

Den schlimmsten Stand hat bei den Wagen – in jeder Beziehung des Wortes – der Conducteur: den Behörden für jeden Fehltritt, seinem Principal für jeden Schwänzelgroschen mit seiner Caution verantwortlich, ist er durch das „Reglement“ gezwungen, auf dem Trittbret zu stehen oder, falls es besetzt ist, zu schweben. Die Wagen sind nämlich so ökonomisch eingerichtet, daß jeder Zoll zum Transport von Menschenfleisch verwendet ist. Oben und unten, vorn und hinten – Plätze, aber destoweniger Platz. Schaudernd blickt der weichherzige Thierfreund auf die an die Last von 25 Personen gefesselten, mühselig keuchenden Rosse, und eine Thräne des Mitgefühls rollt über seine Wangen. Wehe den Insassen des Wagens, wenn sie plötzlich von einem Zweihundertpfünder bedrängt werden! Angstvoll gepreßt in schauderhafte Enge, blicken sie den Dicken an, der sich mit seiner Breitseite Platz zu machen sucht. „O Jott, mein bestes Hühnerauge!“ seufzt ein Lackstiefler. „Himmel, mein Kleid!“ zürnt eine Köchin. „Conducteur, lassen Sie mir raus, mir wird ohnmächtig!“ ächzt ein Dämchen. Dreimal Wehe der seidenen Robe, die sich in den Morgenstunden der Markttage zwischen den Kattun der Omnibus-Besatzung verirrt! Körbe, Kiepen, Fischnetze, Gänseleichen, frisch gemordete Hühner und enthäutete Hasen rechts und links! Pöklings-, Härings- und Käsedüfte, Orange und Knoblauch, Zwiebel und schwarze Seife zusammenfließend in einen einzigen unaussprechlichen Duft! Fleuch, Wanderer, fleuch in solchen Morgenstunden den Wagen mit seinen bausbäckigen Casserolburschen und Küchendragonern, fleuch, und wärest Du so müde, daß Du Deine Gebeine nicht allein mehr fortschleppen könntest. Fleuch, wenn Dir Dein Leben lieb ist und Du darauf hältst, in gutem Geruch bei den Leuten zu stehen, denn es ist schon oft vorgekommen, daß ein Hecht in seiner Todesangst nach dem Nachbar seiner Mörderin geschnappt hat, daß beutegierige Krebse dem Netze entschlüpft sind und die Beine eines Passagiers angeknabbert haben, daß eine heimtückische Köchin den Marktkorb mit durchsickerndem Eigelb auf die weißen Pantalons eines Stutzers gestellt und eine Andere dem duftenden Jockey-Clubbisten heimlich einen Häring in die Rocktasche prakticirt hat.

Willst Du aber die Annehmlichkeiten des Omnibus genießen und Studien über Berlin und Berliner machen, dann wähle einen Tag, da kein Markt ist, und durchstreife die Stadt vom Zigeuner-Viertel bis zum Pantinen-Viertel, d. h. vom Moritzplatze bis in das sogenannte „Voigtland“. (Es wohnt nämlich in der Gegend des Moritzplatzes, in den von Bauspeculanten zum großen Theil auf Schwindel erbauten Häusern ein gar seltsames, in ewigem Umzüge begriffenes Volk, das von den Wirthen zum Austrocknen der Wohnungen gratis aufgenommen wird, und an dieses Proletariat haben sich die aus dem Innern der Stadt mehr und mehr verdrängten sittlich Verwahrlosten angeschlossen. Im Voigtlande dagegen, ehemals der Brutstätte des Elends, klirren jetzt lustig Räder, Hämmer und die Holzpantinen der Arbeiter.) Hast Du den Weg mehrere Male während einer Woche gemacht, so wirst Du auch manche feste Kunden des Omnibus kennen gelernt haben – den Wechsel-Kommissionär und den Gerichtsrath, die schon früh auf Arbeit fahren, die Musiklehrerin und die Choristin, die um 10 Uhr ihr Werk beginnen, den Geh-Doctor und die Wickelfrau, die um 11 Uhr ihre Visiten machen, die Schulmeister, die Mittags zur Krippe eilen, und so fort bis zur Abendstunde, wo sich der Wagen mit Theaterlustigen jedes Standes und Geschlechtes füllt. Vielleicht hast Du gar schon eine interessante Bekanntschaft gemacht, denn die Berliner sind gesprächig und ihre Frauen und Töchterlein oft nicht blos gesprächig, sondern geschwätzig, und es findet sich ja so leicht Gelegenheit zur Anknüpfung einer Unterhaltung, zumal wenn der Sitz so eng ist, daß man der Nachbarin beschwerlich fallen muß. Man bittet um Entschuldigung, klagt über die jammervolle Einrichtung des Wagens, über das fortwährende Anhalten und Einsteigen, verläßt den Omnibus nicht eher, bis die nette Nachbarin aussteigt, freut sich über den glücklichen „Zufall“, daß man denselben Weg gehen müsse – und die Bekanntschaft ist fertig! – Ja, es giebt Leute, die sich des Omnibus nur in der Hoffnung auf ein kleines Abenteuer bedienen, und manch alter Don Juan, mancher Leporello, der „nicht länger Diener sein“ will, schleicht sich abendlich in das Innere der rothbelaternten Wagen. – Der Lord vom Mühlendamm mit dem rothen Bart der Backen, der Nase des Adlers und dem Kneifer des Auges wandelt Lust durch die Straßen der Stadt. Von fern sieht er eine stattliche, seidenumwallte Gestalt, gefolgt von einem King-Charles. Kein Zweifel – sie ist’s, die Holde, nach deren Herzen und Ducaten er schon so lange seufzt! Es ist ihr King-Charles, ihr Mylord! – Ihr nach! Sie steigt in den Omnibus, Mylord mit ihr. Der Lord aber des Mühlendamms fliegt ihr auf Sehnsuchtsfittigen nach – er erreicht den Wagen – kein Platz mehr inwendig – die Holde ist im Fond verschwunden – er postirt sich als Schildwacht auf dem Außensitz. Vergebens versucht er, in den Wagen hineinzublicken: der Conducteur und Trittbret-Genossen sperren ihm die Aussicht. So oft der Wogen geöffnet und geschlossen wird, stößt er einen Schmerzensschrei aus, denn die Wagenthür hat sich darauf capricirt, seine Kniescheiben zu schleifen; so oft der Wagen hält, harrt er gespannten Auges, ob sie nicht aussteigen werde. Eine halbe Stunde hat er diese Qualen erduldet, da öffnet der Conducleur – ein Damenfuß wird sichtbar – sie muß es sein – noch kann er ihr Antlitz nicht erkennen – noch hängt sie mit drei Viertheilen ihrer crinolinbehafteten Existenz innerhalb des Wagens – der Conducteur reicht ihr die Hand und hilft sie herausbugsiren jetzt wendet sie sich um – die Passagiere des Omnibus athmen frohlockend auf – der Lord aber ruft erschrocken aus: „Meun Gott, wölch optücalüsche Täuschung! zweu Cöntner Fleusch, dreußüg Oellen Seudenzeug, zöhn Pfund Crünolüne – sie ist es nicht! – Für meinen Haß zu schwer, zu stark für meine Liebe! Fare well!




Ein Besuch auf der preußischen Flotte.

In der Meerenge Gellen, zwischen Stralsund und Rügen, liegt das kleine Eiland Daenholm, die Hauptstation, gewissermaßen das Mutterhaus der jungen preußischen Flotte. Nach dieser Insel also lassen wir uns von einem östlichen Außenwerke Stralsunds, dieses mächtigen preußischen Seebollwerks, überfahren.

Unsere Blicke werden zuerst von der großen Sternschanze angezogen, die auf dem linken Theile der Insel auf einem Hügel sich hoch über die Meeresfläche erhebt und mit ihren schweren Geschützen nach Rügen und Stralsund hin und nach beiden Längen die Meerenge beherrscht. In der Mitte der Insel erheben sich ansehnliche Gebäude, das Wohnhaus des Commandanten und die Kaserne; rechts führt uns ein längs eines Canals sich schlängelnder Fußsteig zu einem kleinen, zum Aufenthalt für geringere Schiffe ausgebaggerten Bassin. Hier ist das eigentliche Asyl für die kleineren, [335] nur zum Schutze der Küsten dienenden Fahrzeuge unserer jungen preußischen Marine.

Schon von fern fallen uns eine Menge preußischer Kriegsflaggen auf, welche, anscheinend dicht über dem Wasserspiegel schwebend, lustig im Winde flattern; näher kommend, erblicken wir ein zahlloses Gemisch von kleinen, kaum drei Fuß hohen, am Bug und Stern abgerundeten, auf beiden Seiten mit zwei mächtigen Geschützen versehenen Fahrzeugen – den sogenannten Ruderkanonenbooten. Am Ufer erheben sich in einer langen Reihe die zu ihrer Aufnahme während des Winters oder für vorkommende Reparaturen bestimmten festen Schuppen. Ueberall, auf allen Booten rege, geschäftige Thätigkeit. Hier wird unter der Leitung eines alten ergrauten Sergeanten, der schon mit den Rispiraten an der Nordküste von Afrika sich herumschlug und die Expedition nach China und Japan mitmachte, die frisch eingezogene Mannschaft der Seewehr am Geschütz und mit dem Zündnadelgewehr ausgebildet; dort manövriren zwei Ruderjollen: bald vor-, bald zurückgehend, bald mit raschen Wendungen seitwärts ausbiegend, suchen sie dem Gegner die Blöße abzugewinnen; gleichmäßig, wie auf einer mittelalterlichen Galeere, senkt sich eine Masse von mächtigen Rudern in die blaue Fluth; ein kurzes Commando, und in einem Nu ragen die eben noch leicht über das Wasser dahingleitenden Hebel in die Luft. In aufrechter Haltung im Hintertheil des Bootes, auf der wettergebräunten Stirn die Mütze mit der breiten goldenen Borte, das Abzeichen des Seeofficiers, an der Seite den fein verzierten Degen, die gedrungene, kernige Gestalt des Commandeurs, eines noch jungen Fähnrichs zur See. Noch vor einem halben Jahre sah man dieselbe Gestalt im einfachen Seemannsanzuge, mit Cirkel, Lineal und anderen nautischen Instrumenten versehen, zur Navigationsschule ihre Schritte lenken. Der junge Mann gebrauchte weder zwei-, noch dreijährige Dienstzeit, um seine jetzige Staffel zu erklimmen; er machte sein Steuermanns-Examen, wurde beim Ausbruch des deutsch-dänischen Krieges als sogenannter Seedienstpflichtiger eingezogen und bestand nach mehrwöchentlicher Ausbildung sein Officier-Examen. So glückte ihm in vier Wochen auf dem Wasser eine Carriere, die manchem Avantageur zu Lande sehr viel Kopfzerbrechen verursacht. Wohl mögen die Herren Cameraden zu Lande, welche erst nach entsetzlich vielen Torturen an Leib und an Seele sich zu dem herangebildet haben, was dort ein brauchbarer und tüchtiger Officier benamset wird, etwas scheel auf den Herrn Cameraden zur See sehen, der nach ihrer Meinung auch gar zu plump in seinem Auftreten ist, seine rohen Seemannsmanieren durchaus nicht ablegen will, sein freies und offenes Wesen nicht in jenes bekannte affectirte, seine rauhe, aber ehrliche und gemüthvolle Redeweise nicht in jene näselnde so mancher Landratten zu verwandeln sucht und noch dazu fast dreimal so viel Gage bezieht, als sie. Was uns aber anbetrifft, so sagen wir: Alle Achtung vor diesem Mann, der, fast von Kindesbeinen an gehärtet auf stürmischer Fluth, mit unzähligen Mühen und Beschwerden gekämpft und, kühn Wind und Wellen trotzend, schon so manches Mal einem schrecklichen Tode in’s bleiche Antlitz geschaut hat, bis es ihm, indem er Staffel auf Staffel erklomm, vom Kajütenjungen, Halbmann, Jungmann bis zum Matrosen, endlich vergönnt war, auf der Navigationsschule sich die für einen preußischen Steuermann erforderlichen theoretischen Kenntnisse zu erwerben. Freilich würde er, sollte er die Uniform eines preußischen Landsoldaten anziehen, gewiß ebenso, wie viele seiner Brüder, mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, ehe er im Stande wäre, seine wiegende Seemannshaltung in die kerzengrade, straffe Parade-Haltung des Landsoldaten zu verwandeln; doch hier auf blauem Grunde ist er so recht in seinem Element. Und auch die lustigen Jungen in ihren blau- und weißgestreiften Hemden, den blauen Jacken und Hosen und der mit fliegenden Bändern versehenen Mütze, auch sie haben alle Achtung vor den Befehlen ihres Commandeurs, sie fühlen, daß er gewohnt ist, in brüllender See mit ruhigem Commandoton das Schiff durch die brechenden Wogen zu leiten, sie wissen, daß ihr Commandeur keinen Spaß versteht, wenn er in dem Landes-Dialekt, der derben, gewichtigen, plattdeutschen Redeweise, Etwas anordnet und, gemüthlich die feinen weißen Officier-Glacé-Handschuhe von den rauhen Händen streifend und in die Rocktasche schiebend, auch wohl selbst wacker Hand mitanlegt. Fast sämmtlichen der kleinen Ruderkanonenboote ist als Commandant einer von diesen kürzlich erst zum Officier beförderten, nach Beendigung des gegenwärtigen Krieges zu entlassenden Leuten, sogenannten Auxiliar-Officieren, zuertheilt, während auf den größeren Dampfkanonenbooten meistentheils Lieutenants zur See befehligen, die schon länger im königlichen Flottendienst sind. Die Mannschaft der ganzen Flottille zeigt in ihrem ganzen Auftreten überall jene ruhige, nie anmaßende Würde, jene gemüthliche Heiterkeit und, sobald es die Noth erfordert, jene kräftige, energisch eingreifende Thätigkeit, welche den niederdeutschen Seemann vor sämmtlichen anderen auszeichnet, so daß seine Tüchtigkeit von allen Völkern rühmend anerkannt wird. Fast überall hört man unter ihnen den derben, kraftvollen und doch gemüthlich aufheiternden plattdeutschen Dialekt, ob sich derselbe nun in der härteren vorpommerschen, in der mehr johlenden hinterpommerschen, in der breiten mecklenburgischen, oder der noch breiteren Ausdruckweise der Danziger Niederung äußert; ja sogar das unglückliche, so lange geknechtete meerumschlungene Land hat manche seiner Söhne zur preußischen Flotte gesandt, um ihren alten Erbfeind auch zur See mit zu bekämpfen, weil ihnen zu Lande dies nicht vergönnt war.

In einem öffentlichen Local Stralsunds, wo eine Sängergesellschaft unter instrumentaler Begleitung verschiedene Lieder vortrug, erblickte ich unter vielen anderen zur preußischen Marine gehörenden noch jugendlichen Individuen zwei ebenfalls in der blauen Jacke steckende feste, gedrungene Gestalten. Ihre ernste Haltung, ihre ruhige, gemessene Würde, der Heiterkeit ihrer Cameraden gegenüber, die schon von tiefen Furchen durchzogene Stirn, das blondbärtige, wettergebräunte Antlitz, aus dem treuherzig die blauen Augen hervorlugten, kündigten mir an, daß ich durch die Stürme des Lebens bereits gereifte Männer vor mir hatte. Da erschollen vom Orchester durch die Halle die Klänge des „Schleswig-Holstein meerumschlungen“. Die ernsten Mienen der beiden Männer belebten sich, langsam stahlen sich Zähren aus den Augen und rollten über die Wangen; doch, von plötzlicher Wuth erfaßt, erhebt jetzt der eine der beiden Männer die markige Faust und läßt sie dröhnend auf die Tischplatte niederfallen, während sein minder heftig erschütterter Gefährte ihn zu besänftigen sucht. Nun war mir klar, wer die beiden Männer waren. Auf sie zugehend und ihnen die ausgestreckte Hand hinhaltend, fragte ich: „Wohl Schleswig-Holsteiner?“ Und mit kräftigem Händedruck antwortet der eine: „Joa, Härr, dat sünd wi, un wisen will’n wi’t den Dänen, dat wi’t sünd.“ (Ja, Herr, das sind wir, und zeigen wollen wir’s den Dänen, daß wir’s sind.) Aus näheres Befragen erfuhr ich noch, daß der eine der beiden Männer aus Schleswig, der andere aus dem Dithmarsischen war. Beide hatten durch die Erpressungswuth der Dänen schon ungemein gelitten, ihre Familien der Obhut ihrer Verwandten übergeben und Alles im Stiche gelassen, um während der Dauer des Krieges in den preußischen Flottendienst zu treten. Wahrlich, eine so heilige Begeisterung, ein so hoher Muth, eine solche Aufopferungsfähigkeit verdienten, neben die größten Beispiele der Geschichte gestellt zu werden!

Das sind die Bestandtheile unserer jungen Marine, und wo solche Männer unsere Schiffe bevölkern, da können wir wohl hoffen, auch einen ungleichen Kampf mit riesigen Kolossen, gegen die unsere Kriegsschiffe wie winzige Bootchen sich ausnehmen, mit Erfolg zu bestehen.

Wir steigen jetzt in ein Boot, das uns von einem Officier freundlich dargeboten und mit fünf rüstigen Blaujacken besetzt ist, um uns die außerhalb des Bassins im Gellen längs der Rügenschen Küste in einem weiten Halbkreis ankernden Dampfkanonenboote ein wenig aus der Nähe anzuschauen. „Wenn de Dinger blos ’n bäten mihr stühmten (von steam, Dampf), denn wullen wi den Danske-Mann woll Toback gäwen,“ (wenn die Dinger nur ein wenig mehr Dampf entwickelten, dann wollten wir dem Danske-Mann [Dänen] wohl mehr Tabak geben [zusetzen]) meint unser alter Matrose am Ruder, und der Mann hat nicht so ganz Unrecht. Hätten die Kanonenboote bei dem Seegefecht bei Saßnitz auf der Halbinsel Jasmund es wagen können, den Dänen ein wenig näher auf den Pelz zu rücken, ohne bei ihrer geringeren Schnelligkeit befürchten zu müssen, abgeschnitten zu werden: die Dänen hätten jedenfalls weit mehr gelitten.

Als Beispiel von der vortrefflichen Bedienung unserer Flotten-Geschütze kann ich nicht umhin, noch folgenden Vorfalles während des Seegefechtes zu erwähnen, der mir von einem glaubwürdigen Augenzeugen erzählt worden ist.

[336] „Ein Bombardier auf der Arkona fragt im heftigsten Gefecht, auf den nächsten dänischen Koloß zeigend, den Capitain: ,Härr Captein, wuhr söalen wi em foaten?’ (Herr Capitain, wo sollen wir ihn fassen?) Der Capitain bezeichnet ihm das Bugspriet. Kaltblütig richtet der Mann das Geschütz, feuert ab, und im nächsten Augenblick senkt sich das Bugspriet des Dänen und fällt in die hoch aufspritzende Fluth.“

Unser Boot bringt uns jetzt an einen kleinen Raddampfer, der, zierlich und leicht gebaut, zwischen den Schrauben-Kanonenbooten liegt. Wir würden glauben, ein kleines Fluß-Dampfboot vor uns zu haben, wenn uns die drohend über Bug und Stern hinüberschauenden Mündungen von zwei mächtigen Geschützen nicht eines Besseren belehrten. „Dat oll lütt Dings hett den Dänen doch endlich gepäpert“, (das kleine Ding hat den Dänen doch ordentlich gepfeffert) bemerkt einer von unseren Ruderern. Es ist die „Loreley“. Ein Augenzeuge des Gefechts bei Saßnitz schildert die Loreley, wie sie auf das größte dänische, unbeweglich daliegende Kriegsschiff losdampfte, wie eine ausgelassene Dirne, die mit Erwachsenen spielen will, welche aber auf ihr Spiel nicht eingehen. „Die beiden ersten Kugeln der Arkona und Nymphe gingen über die Dänen hinweg, während die Loreley dem Linienschiff Skjold gleich eine Kugel in die Weichen sandte, daß die Splitter umherflogen, und hoher Gischt auf dem schäumenden Gewässer emporspritzte. Wie ein losgelassener Stier brüllte der Däne los, indem er der Loreley eine volle Lage gab. Ungetroffen neigt sie kokett das Köpfchen, fliegt spottend in die vom Admiralschiff ihr angewiesene Stellung zurück und setzt dort ihr verhängnißvolles Singen fort. Wie spielend sendet sie ihr tödtliches Geschoß in die dänischen Kolosse, und neckend dreht sie sich wie eine kokette Schöne, wenn sie dem Dänen die unverdauliche Speise zu kosten gegeben hat.“

„Hier fiel der Lootse Berg,“ erfahren wir von einem auf die eine Seite der Commandobrücke (Brücke zwischen den Radkasten, Platz des Capitains) deutenden Matrosen. Der Lootse Berg aus Thießow auf der Halbinsel Mönkgut war der einzige Todte, den die Loreley zu beklagen hatte. Aufgefordert von dem neben ihm stehenden Commandanten der Loreley, dem tapferen Capitain Kuhn, die gefährliche Stelle zu verlassen, erwiderte er, daß dies der Platz sei, der ihm neben dem Capitain allein gebühre. Und er hatte Recht, der wackere Lootse; auch jetzt, in diesem schweren Augenblick, wie immer, wenn Sturm und Brandung die einzigen Feinde des Seemanns sind, war es seine Pflicht, auf dem gefahrvollen Posten auszuharren, und das Schiff sicher vor allen Untiefen zu bewahren. Zu der Erfüllung dieser seiner Pflicht traf den braven Seemann ein Stück von einer Kugel, die auf den Radkasten aufgeschlagen war, und verwundete ihn so, daß er nach mehreren Stunden schon seinen Geist aufgab. Noch sehe ich das ernste, würdevolle, aber bleiche und schon die Spuren des herannahenden Todes zeigende Antlitz des pflichtgetreuen Mannes, als er, von einem Transportdampfer gebracht, durch die Straßen der Stadt Stralsund zum Militär-Lazareth getragen wurde. Trotz seiner gewiß furchtbaren Schmerzen kam kein Klagelaut über seine Lippen, und kühn schaute das muthige Auge, wie dem Feinde, so auch dem bereits herannahenden Tode entgegen. Ueberall, wohin der Zug mit dem Verwundeten kam, geballte Fäuste und Verwünschungen gegen den Feind, selbst Knaben hörte man sich darüber beklagen, daß sie noch nicht im Stande seien, an dem Dänen ihr Müthchen zu kühlen. Wie große Theilnahme aber der Lootse Berg, der erste Gefallene der preußischen Marine, erregt hat, zeigt der Umstand, daß für seine nunmehr des Ernährers beraubte Familie in einigen Tagen eine namhafte Summe Geldes gesammelt war.

In kräftigen Ruderschlägen bringt uns unser Boot wieder zur Insel. Von der Daenholms-Kaserne her ertönt das Signal zum Schluß der Arbeit. Die Fähre nach der Stadt füllt sich schnell mit lustigen Wasserratten, welche trotz ihrer Verachtung alles dessen, was auf festem Grund und Boden lebt und wirkt, es doch nicht unterlassen können, in Gesellschaft von Landratten ihr Glas „steifen Grogs“ behaglich hinunterzuschlürfen. Auch wir steigen in die Fähre und kehren zur Stadt zurück. – Mögen die Erfahrungen dieses jüngsten Kriegs mit der schwächsten europäischen Seemacht nicht abermals für Preußen verloren sein! Oder soll man von Deutschland reden? Soll man zum tausendsten Male den Herren am grünen Tisch in der Eschenheimer Gasse vorhalten, daß, wenn sie die deutsche Flotte nicht einmal vermehrt, sondern nur in gutem Stand erhalten hätten, das für das große Deutschland so schmachvolle Piratenspiel der Dänen unmöglich gewesen wäre? Der ganze Krieg würde nicht weniger rühmlich geendet haben, wenn er auch weniger Blut gekostet und dem deutschen Volksvermögen zur See weniger schwere Wunden geschlagen hätte, als dies abermals der Fall war.




Blätter und Blüthen.

Eine tröstliche Aussicht. Der Caviar, selbst wenn er nicht aus dem caspischen Meere, sondern nur von der Elbmündung in der Nordsee kam, war, zum tiefen Leidwesen gar mancher höher gebildeten Zunge, bisher bekanntlich ein etwas theueres Labsal, dessen Genuß man sich im Allgemeinen nur bei feierlichen Extragelegenheiten zu Gute zu halten pflegte. Zum Segen der Menschheit wird dieser schmerzlichen Exklusivität der antikatzenjämmerlichen Magenstärkung bald abgeholfen sein. Ein Hamburger Geschäftshaus hat nämlich unweit von Stade in Hannover in der Mündung des Schwingecanals zu Brunshausen ein ausgedehntes Etablissement errichtet, in welchem für den edlen Zweck der Caviarbereitung die von Holsteiner Fischern gelieferten Störe massenhaft geschlachtet werden. Während man die ausgeweideten Fische in Hamburg selbst räuchert und in ihren ungenießbaren Theilen zu Thrane versiedet, wird der Caviar seinen Weg nach den Staaten des deutschen Zollvereines nehmen, wo ihn als nunmehr inländisches Product nicht länger die bis jetzt auf ihm haftende hohe Eingangssteuer von eilf Thalern für den Centner trifft. – Wir glauben durch Mittheilung dieser wichtigen cultur- und culinargeschichtlichen Neuigkeit einem großen Theile unserer Leser eine höchst erfreuliche Perspektive eröffnet zu haben und in ihrem Sinne zu handeln, wenn wir der menschenbeglückenden Hamburger Firma hierdurch ein Dankesvotum decretiren.




Ein Vorbild zur Nachahmung. Unsere deutschen Schriftsteller werden vielleicht Zeter schreien, wenn wir ihnen – Alexander Dumas Vater als ein Vorbild hinstellen, dem sie mit Aufgebot aller Kräfte nacheifern sollten. Dennoch aber thun wir’s und bitten, in ihrem und auch in unserm eigenen Interesse, recht angelegentlich, sich wenigstens in einem Punkte den unerschöpflichen französischen Novellisten zum Muster nehmen zu wollen, in der – Handschrift.

Alexander Dumas weilt seit einigen Wochen wieder frisch und munter in Paris. Trotz seiner zweiundsechzig Jahre und seines buntbewegten Lebens sitzt er vom frühesten Morgen bis zum spätesten Abende am Arbeitstische und schreibt – so heißt es in einer Pariser Correspondenz aus bekannter geistreicher Feder – tagtäglich seine drei bis vier Druckbogen In einer Handschrift, welche ein Muster der Kalligraphie ist. Er ist sehr eitel auf seine schöne reine Schrift und schickt niemals ein mit Correcturen versehenes Manuskript in die Druckerei. Sobald er sich genöthigt sieht ein Wort durchzustreichen, wirft er das Blatt weg und beginnt es von Neuem zu schreiben.

Wir gestehen, ein Gefühl stillen Neides beschlich uns, als wir dieses lasen, und der sehnliche Wunsch ward in uns laut, daß ein recht ansehnlicher Theil unserer hochgeschätzten Mitarbeiter und auch Frauen und Fräulein Mitarbeiterinnen sich nur eine kleine Dosis von dieser Dumas’schen Eitelkeit aneignen möchte. Die vielgeplagten Setzer der „Gartenlaube“ würden auch kein Klagelied anstimmen, sollte unser Wunsch mindestens da und dort in Erfüllung gehen, wo man sich der Hieroglyphik allzu eifrig befleißigt.




Erklärung. Die Notiz über „Nicotinfreie Cigarren“ in Nr. 12 der Gartenlaube hat einen Fabrikanten, dessen Namen und Thätigkeit in diesem Geschäftszweige uns aus seinem Schreiben zuerst bekannt geworden ist, zu einem abwehrenden Schreiben veranlaßt. Der Fabrikant giebt darin selbst zu, daß die Bezeichnung nicotinfrei nicht richtig sei, meint vielmehr selbst, es müsse halb- oder dreiviertel nicotinfrei heißen, da seinem Fabrikat nur ein Theil seines Nicotin entzogen sei. Nun ist es wohl Jedermann, der sich um diesen Gegenstand bekümmert hat, hinlänglich bekannt, daß dem Rohtabak bei seiner Verarbeitung stets ein Theil seines Nicotingehalts entzogen wird, wie auch in unserer Notiz ausgesprochen ist. Der gewählte Name ist also falsch und verleitet das Publicum zu einer falschen Beurtheilung der gekauften Waare, der zum Ueberfluß gewisse Heilwirkungen zugeschrieben und angebliche Nachtheile anderer Tabake und Cigarren abgesprochen werden. Das ist aber ein Verfahren, welches man nach dem allgemeinen Sprachgebrauch als Schwindel bezeichnen darf, um so mehr, als die chemisch untersuchten „nicotinfreien“ Cigarren von Biermann (so viel ich weiß, die einzigen bisher geprüften) eben so viel Nikotin enthielten, als andere Cigarren. Die Fabrikationsweise des Fabrikanten, welcher unsern Angriff abweisen will, mag übrigens ganz gut sein, dann würde sein Fabrikat auch ohne die falsche Bezeichnung Beifall bei den Rauchern finden. Damit er aber nicht ferner einen Concurrenten in mir sucht, so stehe ich nicht an, meine Notiz mit meinem Namen zu vertreten und ihm zu versichern, daß ich in dem fraglichen Artikel lediglich Consument bin.
Fr. Dornblüth, Dr. med.  


Kleiner Briefkasten.


V–r in G–ain. Sie sind Sieger im Streite und das Instrument ist ein für den Gebrauch der Officiere aufgestelltes Beobachtungsfernrohr. Dergleichen befinden sich auf ähnlichen Gestellen natürlich an den verschiedenen militärisch wichtigen Punkten des Kriegsschauplatzes errichtet.