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Nicotinfreier Tabak

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Titel: Nicotinfreier Tabak
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aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 191
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[191] Nicotinfreier Tabak. Nach alter Erfahrung ist kein Schwindel so groß, daß er nicht immer eine Anzahl Gläubiger fände, um so mehr, wenn er sich in einige wissenschaftlich klingende Worte einhüllt, einige Zeugnisse für seine Vorzüglichkeit beibringt und, was die Hauptsache ist, es nicht an volltönenden Anpreisungen in allen möglichen Zeitungen fehlen läßt. Es giebt kaum ein schlagenderes Beispiel, als die sogenannten elektrischen Fabrikate der letzten zwanzig Jahre. Die Elektricität ist gewissermaßen Modesache; wer auf ein wenig Bildung Anspruch macht, hat davon gehört, daß in den Nerven und Muskeln des lebenden Menschen elektrische Kräfte thätig sind, – wie sollte da nicht die Elektricität auch ein allmächtiges Heilmittel sein? Goldberger’s Rheumatismusketten haben unzähligen Leichtgläubigen die Thaler aus der Tasche gelockt, und kaum fingen sie an, der verdienten Nichtachtung anheimzufallen, als bereits die elektromotorischen Fabrikate von Betty Behrens ihre Stelle einzunehmen trachteten und, so viel ich in meinem Wirkungskreise sehen und aus den zahlreichen Zeitungsanzeigen, die sich doch bezahlt machen müssen, erschließen kann, keineswegs ohne Erfolg. Freilich haben alle diese Waaren keine elektrischen Wirkungen, noch hat jemals irgend ein urtheilsfähiger Beobachter überhaupt eine eigenthümliche Wirkung von denselben gesehen, welche besser als der fast werthlose Stoff die hohen Preise rechtfertigen würde; aber das ist auch gar nicht nöthig. Man denke nur, wie es mit den Zahnhalsbändern geht. Während der Zeit des Zahnens, welches den meisten Kindern einige Unbequemlichkeiten verursacht, kommen viele Sünden der Erziehung in Nahrung, Kleidung, Reinlichkeit u. s. w. mit ihren mehr oder weniger schweren Folgen zu Tage, also schließlich die Bequemlichkeit, die den eigentlichen Ursachen nicht nachforschen mag, sondern meint, das Zahnen sei an Allem schuld, und die begangenen Fehler werden einem Feinde in die Schuhe geschoben, gegen den es keine zuverlässige Hülfe giebt. Die Angst der „sorgsamen Eltern“ wird nun zu Gunsten der Zahnhalsbänder ausgebeutet, welche den lieben Kleinen sicher über diese gefährliche Periode hinweghelfen sollen. Mancher glaubt den Anpreisungen, Mancher denkt wenigstens: der Versuch kann nichts schaden, und: lieber etwas Ueberflüssiges thun, als zu wenig. Nun, die Mehrzahl der Kinder übersteht bekanntlich das Zahnen, und haben sie dann zufällig ein Zahnhalsband umgehabt, so ist der Nutzen klar. Das wäre nun, abgesehen von der Beförderung des Aberglaubens, der jedem gebildeten und gesitteten Menschen ein Gräuel sein muß, noch nicht so sehr schlimm, wenn nicht durch das falsche Vertrauen auf Zahnhalsbänder und andere Amulete und Geheimmittel Tausende verleitet würden, die richtige Hülfe zu vernachlässigen. Geht es unglücklich aus, so kommen freilich wohl Gewissensbisse hintennach, aber man spricht nicht gern davon, und so gelangen nur die glücklichen Ausgänge zur allgemeinen Kunde und verleiten immer wieder Andere.

In der allerneuesten Zeit kommt nun etwas noch nicht Dagewesenes auf den Markt: nicotinfreier Tabak und nicotinfreie Cigarren; Herr Biermann in Berlin macht sie, und ein Dr. Haubold in Leipzig empfiehlt sie. Fast Jedermann hat seit dem Bocarmé’schen Proceß davon gehört, daß der Tabak einen sehr giftigen Bestandtheil enthält, das sogenannte Nicotin. Dieser Stoff geht bei dem langsamen Verbrennen des Tabaks in Pfeifen und Cigarren in den Rauch über, aus dem Kautabak wird er durch den Speichel, aus dem Schnupftabak durch die Absonderung der Nasenschleimhaut ausgezogen, und so gelangt er, allerdings in sehr geringen Mengen, in das Blut. Darauf beruhen die hauptsächlichsten Wirkungen des Tabaks, die dem Neuling im Genusse unangenehm genug fühlbar werden. Kranke rauchen auch; sollte man nicht den Männern dankbar sein, die ihnen den Genuß erhalten und Gesunde vor den denkbaren schlimmen Folgen bewahren wollen, indem sie den schädlichen Stoff entfernen?

Ein wunderbarer Naturtrieb leitet die Menschen an, durch aufregende Mittel – wie Wein, Branntwein, Bier, Kaffee, Thee u. s. w. – oder durch betäubende – wie Opium, Haschisch, Fliegenschwamm, Coca, Tabak u. a. m. – die Reize des Daseins zeitweilig zu erhöhen. Die Ureinwohner von Central-Amerika genossen den Rauch des Tabakkrautes, lange bevor Columbus geboren wurde oder Sir Walter Raleigh’s Genossen es an den Hof der Königin Elisabeth brachten. Das Cocablatt, welches jetzt die indianischen Bewohner von Peru labt und zu unglaublichen Anstrengungen stärkt, wurde, wie heute, schon in den frühesten Zeiten von ihren Voreltern gekaut. Der Gebrauch des Opium, des Haschisch (ein aus dem Samen des indischen Hanfes bereiteter Auszug) und das Betelkauen in den asiatischen Ländern verlieren sich in die Zeiten des fabelhaften Alterthums. Die Bewohner der Südseeinseln und des jüdischen Archipels benutzten die berauschenden Pfefferpflanzen ihrer Heimath, die Eingeborenen der Anden und die Anwohner des Himalaya den Stechapfel, die Bewohner des nördlichen Europa den Sumpfporst und den Hopfen, die Bewohner Sibiriens den betäubenden Schwamm zu denselben Zwecken, lange bevor das Licht der Geschichte anfängt, das Dunkel ihres Daseins zu erhellen. Die außerordentlich rasche Verbreitung des Tabaks über die ganze Erde, die ihn zu einem der wichtigsten Handelsartikel gemacht hat, seine Einbürgerung bei allen Völkern in den verschiedensten Klimaten und unter den verschiedensten Lebensbedingungen, bei den Arbeitern des Körpers und des Geistes, bei Hoch und Niedrig, bei Gebildeten und Ungebildeten, lehrt, daß in seinem Genuß ein Reiz vorhanden sein muß, der stärker ist als seine abschreckenden Erstwirkungen bei dem Ungewohnten, stärker als die heftigen Gegenschriften des gelehrten Königs Jakob I. von England, stärker als das Auflegen großer Abgaben und die Beschränkung des virginischen Anbaues, als die Androhung der Peitsche und des Kerkers an die Tabakverkäufer in Frankreich, als diejenige der Knute, des Nasenabschneidens und des Todes in Rußland, stärker als die Bannbullen des Papstes Urban VIII. und die Verbote der Priester und Sultane in den mohammedanischen Ländern.

Von den andern betäubenden Genußmitteln, so sehr sie auch in einzelnen Gegenden eingebürgert sind, hat keins auch nur entfernt eine solche Verbreitung gefunden, wie der Tabak, aber keines von ihnen hat auch so wenig nachtheilige Wirkungen. Vom Opium ist es ja allgemein bekannt, daß es in stärkeren und stärkeren Gaben genossen werden muß, um die gewünschten Wirkungen hervorzubringen, bis es endlich seine Opfer körperlich und geistig elend zu Grunde richtet. Der Tabak hat keine so gewaltigen Wirkungen. Sind die ersten Unannehmlichkeiten der Angewöhnung einmal überwunden, so ist von einem mäßigen Genusse desselben keine andere Folge bemerkbar, als daß er das Nahrungsbedürfniß vermindert, ohne die Ernährung zu beeinträchtigen, eine ruhige Gemüthsstimmung befördert und zugleich munter und zu geistiger und körperlicher Arbeit geschickt erhält. Wenn nun auch übermäßiger Tabaksgenuß allerlei unangenehme Folgen hat, wie z. B. eine mit Unruhe verbundene Erschlaffung, Verstimmung und einen unruhigen, durch ängstliche Träume unterbrochenen Schlaf, oder wenn er einzelnen Naturen überhaupt nicht bekommt, so folgt daraus doch weiter nichts, als daß letztere sich des Genusses enthalten und daß überhaupt das Uebermaß vermieden wird, aber die große Mehrzahl braucht darum einem Genußmittel nicht zu entsagen, das nicht nur nicht nachtheilig auf sie wirkt, sondern entschiedene Annehmlichkeiten und Vortheile mit sich bringt. Das seltenere Nahrungsbedürfniß z. B., das bei Rauchern nur zu den Hauptmahlzeiten sich geltend macht, bewahrt sie vor der Neigung zu Näschereien außer der Zeit, welche Nichtraucher oft kennzeichnet, und durch unregelmäßige und ungeeignete Beschäftigung des Magens und Unterbrechung der auch diesem Organe nothwendigen Ruhepausen die Verdauung stört.

Diese günstigen Wirkungen des Tabaks beruhen aber gerade auf der Anwesenheit einer geringen Menge von Nicotin, während die unangenehmen Folgen größtentheils anderen Stoffen, namentlich den bei der Verbrennung sich bildenden flüchtigen Oelen und theeartigen Substanzen, zur Last fallen. Die Bereitung und Benutzungsweise der Cigarren und Tabake geht deshalb darauf aus, den zu reichlichen Nicotingehalt zu verringern und die Bildung jener öl- und theeartigen Stoffe möglichst zu vermindern oder dieselben aufzusaugen. Wirklich nicotinfreier Tabak zeichnet sich durch einen unangenehmen Geruch seines Rauches und durch die Erzeugung eines ekelhaften, kratzenden Geschmackes aus, und würde deshalb gewiß keinen Beifall finden, wenn er in den Handel käme. Der angeblich nicotinfreie Tabak von Biermann ist aber, laut der in der Berliner Polytechnischen Gesellschaft mitgetheilten Ergebnisse genauer chemischer Untersuchung, gar nicht frei von Nicotin, sondern enthält davon eben so viel, als anderer gewöhnlicher Rauchtabak. Ob sich dies bei allen angeblich nicotinfreien Cigarren und Tabaken so verhält, weiß ich nicht; aber wenn auch kein solcher Betrug vorläge und das Nicotin wirklich entfernt wäre, so würde den Käufern doch eine Waare angeschwindelt, welcher gerade der Stoff fehlte, um dessen willen sie dieselbe kaufen, und welche daher diejenigen Wirkungen nicht hätte, die ihr nachgerühmt werden.