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Die Gartenlaube (1864)/Heft 20

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[305]

No. 20.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Der Heimathschein.
Erzählung von Fr. Gerstäcker.
(Fortsetzung.)


Der Wirth war aber nicht der Mann, der sich lange einem solchen Zwang beugte, und da sich auch Barthold nicht wohl dabei fühlte – die Frauen wären den ganzen Tag darin sitzen geblieben – so trat bald eine Aenderung zum Besseren ein. Die nöthigen Redensarten von Ehre und Freude und Hoffnung einer solchen Verbindung etc. etc. waren gewechselt, was von Speisen noch vertilgt werden konnte, war vertilgt, und der Wirth brachte jetzt, während Lieschen den Kaffee und Kuchen besorgte, Cigarren. Da war es ordentlich, als ob mit dem aufsteigenden Dampfe derselben der böse Zauber bräche, der auf ihnen Allen gelegen.

Die beiden Männer kamen bald auf ein Gespräch über Vieh und Felder, was sie Beide interessirte; dadurch lenkten die Frauen auf ihre Wirthschaftsangelegenheiten ein, und im Handumdrehen war die noch vor Kurzem so steife hölzerne Gesellschaft in ihre natürlichen Bewegungen, ja selbst in den natürlichen Ton ihrer Stimmen zurückgefallen, und die Unterhaltung floß von da an leicht und ungezwungen.

Auch Lieschen thaute auf, und vielleicht auch durch das wirklich Matronenhafte der sonst gar noch nicht so alten Mutter ihres Bräutigams angezogen, setzte sie sich zu ihr und plauderte bald mit ihr so frei und herzlich von der Leber weg, als ob sie von Kindheit auf miteinander bekannt und befreundet gewesen wären. Das aber schmeichelte der Frau Barthold auch; Lieschen sah dabei in ihrer städtischen Kleidung so vornehm und „ansehnlich“ aus, daß jene ordentlich stolz auf ihre zukünftige Schwiegertochter wurde und nicht satt werden konnte, ihr zu wiederholen, wie sehr sie sich freue, sie zur Tochter zu bekommen und ihrem Sohne eine solche Frau geben zu können. Dabei unterließ sie freilich auch nicht, alle die Tugenden und Vorzüge ihres eigenen Hans aufzuzählen, und Lieschen fand da wohl eben soviel Freude daran, ihr zuzuhören.

Den beiden Männern wurde es aber bald zu eng in der Stube. Bauern halten nie lange in einem Zimmer aus, denn die freie Luft ist ihnen Bedürfniß, und während die Frauen noch beim Kaffee sitzen blieben, gingen die Andern miteinander hinunter auf den Hof und in die Ställe und, da die Pferde gerade nahebei ackerten, auch einmal ein Stück hinaus auf das Feld.

Ihr Weg führte sie dicht hinter dem Pfarrgarten vorbei, und weil es Barthold einfiel, daß er Hansens Taufschein eingesteckt hatte, konnten sie den hier eben so gut gleich abgeben. Hier stand dem alten Barthold auch eine Ueberraschung bevor, denn der Geistliche schien gar nicht gewußt zu haben, daß Hans katholisch sei; zu einer „gemischten Ehe“ schüttelte er aber bedenklich den Kopf und bedeutete den alten Barthold, daß er unter keinen Umständen ein Aufgebot erlassen könne, bis er nicht vom General-Superintendenten einen sogenannte Dispens gelöst hätte.

Der Alte wollte schon über die neue Schwierigkeit wild werden, allein der Traubenwirth nahm ihn unter den Arm und sagte, als sie wieder draußen im Wald waren: „Macht Euch keine Sorge, Barthold, ein Dispens vom Consistorium ist schon zu erlangen, und geben sie ihn nicht, nun, dann fahren wir hinüber nach Gotha und lassen die jungen Leute da trauen. Dort sind sie vernünftiger. Das junge Paar kann dann gleich seine Hochzeitsreise nach der Wartburg machen,“ fügte er lächelnd hinzu.

Mit diesem Trost schlug sich der alte Barthold denn auch bald die ärgerlichen Gedanken aus dem Kopfe, noch dazu, da sie hier in offenes Land und zu ein Paar neugekauften Pferden des Wirthes kamen, für die er sich ganz besonders interessirte. So verging ihnen die Zeit rasch, bis der Dreiberger Bauer plötzlich merkte, daß die Sonne schon bald am Horizont stand, und erschreckt ausrief: „Aber Wetter noch einmal, wir haben uns bei dem Herrn Pfarrer zu lange aufgehalten, und ich muß machen, daß ich wieder zu meiner Alten komme, die wird sonst böse. Im Dunkeln möcht’ ich auch nicht gerade den Weg nach Dreiberg zurückfahren.“

„Es sind ein paar böse Stellen drin,“ sagte der Wirth.

„Na, es geht,“ meinte Barthold störrisch, „aber mein Wägelchen ist nicht so recht darauf eingerichtet, und die Frau könnte brummen. Wann kommt Ihr denn einmal nach Dreiberg hinüber?“

„Ich weiß nicht, ob ich die Woche noch kann,“ sagte der Wirth, „denn morgen haben wir hier eine große Kindtaufe im Ort, wo bei mir getanzt wird, und am Sonnabend bringe ich meine Alte nicht aus dem Haus. Wenn’s aber irgend möglich zu machen ist, so rutschen wir den Freitag doch noch hinüber.“

„Rutschen?“ dachte Barthold mit dem Weg in der Erinnerung, aber er sagte nichts, und die beiden Männer schritten jetzt wieder dem Wirthshaus zu.

Ueber die Aussteuer der Brautleute war heute noch kein Wort gesprochen worden, obgleich der Wirth darauf gewartet hatte. Anfangen davon mochte er aber auch nicht, und Barthold hielt es nicht für schicklich, das gleich bei der ersten Begegnung vorzunehmen. Wenn der Traubenwirth zu ihm nach Dreiberg kam, dann wollten sie das wohl bald in Ordnung bringen. Schneller jedenfalls, als die Geschichte mit dem Consistorium, die ihm doch im Kopfe herumging.

[306] Der Großknecht hatte jetzt Auftrag bekommen, einzuspannen, und der Wagen hielt bald darauf vor der Thüre, aber die beiden Frauen, die im Anfang den Mund kaum öffnen wollten, waren jetzt warm geworden und in ein Gespräch über ihre Kinder hineingerathen, aus dem sie sich nicht wieder herausfinden konnten. Barthold stand schon lange, mit Hut und Stock in der Hand, neben der Thür und hielt die Klinke.

„Na, Alte, kommst Du?“

„Gleich, Vater, gleich – das glaub’ ich, Ihr Männer seid immer gleich fertig mit Anziehen. Ihr setzt den Hut auf und damit basta. Und nicht wahr, Frau Erlau, Sie machen uns recht bald das Vergnügen, damit Sie auch einmal sehen können, wie wir da draußen eingerichtet sind? O, es soll Ihrem Lieschen schon bei uns gefallen, daran zweifle ich keinen Augenblick.“

„Wenn so ein Paar Frauen in’s Schwatzen kommen,“ lachte Barthold gutmüthig vor sich hin, „da reißt’s nachher gar nicht wieder ab. Wir kommen heute nicht mehr weg. Habt Ihr Betten genug im Haus, Erlau?“

„Betten genug,“ schmunzelte dieser.

„Die brauchen wir für heute nicht!“ rief aber die Alte, sich gewaltsam losreißend. Sie hatte die letzten Worte gehört. Doch das Lieschen kam jetzt noch herbei, dem sie einen Kuß und noch einen und noch einen geben mußte, und endlich war sie mit Allem fertig. Unten knallte der Großknecht mit der Peitsche, daß die Fensterscheiben klirrten. Jetzt saßen sie im Wagen, und nun sollte es noch einmal an ein Abschiednehmen und Handdrücken gehen; dem aber machte der Großknecht ein Ende. Ein kleiner Peitschenschlag traf das Handpferd, und hinaus rasselte der Wagen aus dem Thorweg, ein kurzes Stück auf der Chaussee hin, eben genug, um das Chausseehaus wieder zu Passiren, und bog dann in den Feldweg ein, ehe die Frau nur von ihrem Manne Alles erfahren hatte, was er mit dem Herrn Pfarrer vorhin gesprochen. So neugierig sie aber darauf war, eine Unterhaltung wurde zur Unmöglichkeit, sobald sie in den Feldweg einlenkten, und alle weiteren Erklärungen mußten für daheim aufgeschoben werden.




4. Eine weltliche Schwierigkeit.

Am Freitag kam der Traubenwirth mit seiner Frau zur Gegenvisite nach Dreiberg. Die beiden Väter saßen denn wohl eine Stunde lang oben zusammen allein in des Alten Stube – aber nicht etwa trocken, denn Barthold hielt darauf, einen ganz vorzüglichen Ungarwein in seinem Keller zu haben – und kamen nachher wieder, Beide seelenvergnügt und, wie es schien, vollkommen einig, zu den Frauen hinunter, um dort Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen.

Am nächsten Sonntag war Hans natürlich den ganzen Tag drüben in Wetzlau in der Traube, und dort holten sich die beiden jungen Leute eine Landkarte vor und zeichneten sich darauf die Reise nach Gotha zusammen ab. Was kümmerten sie sich um das Consistorium!

Merkwürdige Zeit nahm sich übrigens der Herr Generalsuperintendent, an den die Eingabe zuerst gemacht war; denn die ganze nächste Woche verging, ohne daß er auch nur das Mindeste hätte von sich hören lassen. Das war aber noch das Wenigste, es traf auch keine Antwort von Schlesien ein, und Hans wußte schon vor lauter Ungeduld gar nicht mehr, was er angeben sollte. Endlich, am Sonnabend Mittag, die Familie saß gerade bei Tische, kam ein Brief mit dem preußischen Gerichtssiegel.

„Nun endlich!“ rief Hans jubelnd und sprang von seinem Stuhl auf, „das hat lange gedauert.“

„Hm,“ meinte der Vater, der den Brief kopfschüttelnd befühlte und dabei nach seiner Brille suchte, denn das Schreiben kam ihm viel zu dünn vor, als daß irgend ein Document darin eingeschlossen sein könnte, „seit ich die Geschichte mit dem Consistorium gehört, habe ich ordentlich Angst bekommen, daß hier ebenfalls etwas der Quere gehen könnte; aber das ist doch nicht gut möglich, denn das Amt geht es doch nichts an, ob wir Katholiken oder Protestanten sind.“

Jetzt hatte er seine Brille gefunden, setzte sie auf, öffnete den Brief und sah hinein.

„Nun, ist der Schein nicht drin?“ frug Hans rasch und mißtrauisch.

„Drin ist nichts,“ sagte der Vater, „aber wir wollen erst einmal sehen, was der Gerichtshalter schreibt. Vielleicht ist es blos eine Anweisung an die hiesigen Gerichte, ihn hier auszustellen; das wäre auch das Kürzeste.“

„Was brauch’ ich überhaupt einen Heimathschein?“ sagte Hans, „wenn ich nur eine Heimath habe, denn so ein Wisch giebt mir doch keine. Nun, was schreibt der Gerichtshalter?“

„Da werde der Henker d’raus klug,“ rief der alte Barthold, indem er den Brief – er enthielt kaum zehn Zeilen – auf den Tisch warf, seine Brille abwischte und wieder in die Tasche steckte.

„Nun?“ rief Hans, das Schreiben aufgreifend.

„Du wärst in Preußen gar nicht heimathberechtigt, wenn auch da geboren, denn ich wäre mit Dir, als Du noch minderjährig gewesen, in das Ausland ausgewandert, und ich und meine Kinder hätten dadurch unser Heimathsrecht in Preußen aufgegeben.“

„Ja, aber Du lieber Gott, wo soll er denn da einen solchen Schein herbekommen?“ rief die Mutter, „sie müssen ihm ja den geben, er ist ja doch dort geboren.“

„Es steht auch noch drunter, daß der Junge in Preußen nie seiner Militärpflicht nachgekommen wäre und schon deshalb nicht als preußischer Unterthan betrachtet werden könnte.“

„Und was liegt d’ran?“ rief Hans, den Brief trotzig auf den Tisch zurückwerfend, „irgendwo muß ich zu Haus gehören, das sieht ein Kind ein, und wenn Preußen nichts von mir wissen will – was ich ihm nicht verdenken kann, denn mir geht’s in manchen Stücken gerade so – ei, dann müssen sie mir hier einen solchen Wisch geben. Siehst Du wohl, Vater, hättest Du mich nur gleich in die Stadt hineinreiten lassen, so wäre jetzt Alles abgemacht, und nun geht die Geschichte noch einmal von vorn an. Hier haben wir unseren Grund und Boden, und hier gehören wir also auch her. Was kümmert uns Preußen!“

„Na, ich will’s wünschen,“ sagte der alle Barthold, der auf einmal merkwürdig mißtrauisch gegen alles das geworden war, was Behörden eigentlich thun müssen und was sie wirklich thun. „Da ist’s aber doch besser, ich fahre selber in die Stadt; denn wenn Du auch jetzt gingst, so müßte ich später doch selber hinein, und da würde nur noch mehr Zeit damit verloren. Außerdem kann ich dann gleich einmal mit zum General-Superintendenten gehen und sehen, wie die Sache mit dem „Dispens“, glaub’ ich, nannt’ es der Pfarrer in Wetzlau, steht. Die nehmen sich auch eine bärenmäßige Zeit. Heute käm’ ich freilich zu spät hinein, und morgen ist Sonntag, wo alle Gerichte geschlossen sind; aber den Montag Morgen mit Tagesanbruch fahre ich weg. Bis dahin mußt Du Dich schon noch geduldigen, Hans. Es kann eben nichts helfen.“

Der alte Barthold ging hinauf in seine Stube, um sein Mittagsschläfchen zu halten, und die Mutter halte draußen noch zu thun. Hans war am Tische sitzen geblieben, stützte den Kopf in die Hand und sah finster brütend vor sich nieder. Katharine trat in’s Zimmer und ging hindurch in die Kammer, um reine Milchtücher herauszunehmen. Als sie nach einer Weile zurückkam, saß der Hans noch immer in der nämlichen Stellung; er hatte sie gar nicht gehört,

Katharine trat leise auf ihn zu, legte ihre Hand auf seine Schulter und sagte: „Hans!“

„Bist Du’s, Kathrin,“ sagte Hans und sah zu ihr auf, „Willst’ was?“

„Weiter nichts, als daß Du nicht mehr so traurig bist. Habe nur ein klein wenig Geduld, es macht sich ja Alles, und das Lieschen wird bald Deine Frau werden. Ihr seid ja nachher auch für das ganze lange Leben beisammen, und bei so einer langen Zeit kann’s ja doch auf die paar Tage nicht ankommen.“

„Ich bin nicht traurig, Kathrin,“ sagte Hans, indem er sich die lockigen Haare aus der Stirn warf, „nur ärgerlich, ärgerlich über die Gerichte, über das Consistorium, über die Pfarrer, über die Gerichtshalter, über mich – ei, über die ganze Welt!“

„Ueber mich auch, Hans?“ fragte Kathrine, und sah ihn mit ihren hellen Augen so treuherzig an.

„Ueber Dich? – nein, Kathrin’,“ sagte Hans, ihre Hand nehmend und drückend, „weshalb sollt’ ich über Dich böse sein? Du bist immer so lieb und gut, und wenn’s an Dir läg’, so hätt’ ich meine Papiere gewiß schon lange und könnt’ morgen Hochzeit machen.“

„Du darfst mir’s glauben, Hans, ja,“ erwiderte Katharine, und sah ihn dabei recht ernst und wehmüthig an. „Wenn’s an [307] mir läg’, sollest Du nicht einen Augenblick warten dürfen, um glücklich zu werden. Aber der Vater wird’s auch schon allein fertig bringen,“ fuhr sie nach einer kleinen Pause fort. „Es geht nun einmal so entsetzlich langsam mit den Gerichten, und Nachbars Margareth hat mir erzählt, daß eine Schwester von ihr, die in die Stadt hinein heirathete, über zwei Jahr hat warten müssen, weil ihr Bräutigam immer und immer die Papiere nicht bekommen konnte.“

„Da würde ich wahnsinnig, wenn das mir passirte,“ rief Hans.

„Nun, so schlimm wird’s schon nicht werden,“ lächelte das junge Mädchen. „Hab’ nur guten Muth und mach’ wieder ein freundlich Gesicht. Siehst Du, wenn Du traurig bist, dann sieht’s gleich im ganzen Hause schwarz aus, und – man ist’s auch eigentlich gar nicht an Dir gewöhnt. Aber ich muß fort; Joseph und Marie, da draußen steht schon die Rese und wartet auf mich,“ und mit den Worten huschte sie mit den Leintüchern, die sie noch immer unter dem Arme hielt, aus der Thür.

Hans stand auch auf. Es war ebenfalls Zeit geworden, daß er wieder hinaus an seine Arbeit ging, und nur das Böse dabei, daß er sich bei der Arbeit nicht einmal die Gedanken aus dem Kopfe schlagen konnte, denn der Aerger wollte ihm gar nicht aus dem Sinn, und beim Pflügen hatte er erst recht Zeit, darüber nachzugrübeln.

Sonderbar: die Liebe zu Lieschen und der Schmerz, daß er ihr noch so lange nicht angehören solle, hatten eigentlich mit seinen Gefühlen weit weniger zu thun, als der Aerger über diese albernen Weitläufigkeiten. Es war aber auch wieder ganz natürlich, denn nichts kann einen Menschen mehr ärgern und verdrießen, als wenn er einem bestimmten Ziel entgegenstrebt, ja schon in Armesbereich nahe gekommen ist und dann durch eine Menge von Hindernissen davon zurückgehalten wird. Sind diese Hindernisse der Art, daß man sie selber mit eigener Kraft und Ausdauer bewältigen kann, ei, dann ist es etwas Anderes; dann wird unser Geist, unsere ganze Thätigkeit dadurch in Anspruch genommen, und wir haben sogar nachher noch einmal so viel Freude an dem Gewonnenen, denn nichts macht uns glücklicher, als was wir uns selbst verdient und errungen haben. Sind die Hemmnisse dagegen der Art, daß wir nichts, gar nichts auf der Gotteswelt dawider thun können und nur immer warten und warten müssen, dann mögen sie wohl einen nur etwas lebhaften Menschen zur Verzweiflung treiben, und Hans war allerdings lebhafter Natur. Seine Geduld zu erproben, bekam er aber jetzt Gelegenheit, denn er schien dazu gerade auf das rechte Capitel gerathen zu sein: eine Eingabe an ein Consistorium und ein Heimathschein, selbst für den urgeduldigen Deutschen ist es ein Meisterstück, die beiden Dinge ruhig abzuwarten.




5. Zwischenfälle.

Der nächste Tag war wieder ein Sonntag, und Hans ritt natürlich gleich nach dem Frühstück nach Wetzlau hinüber. Zugleich nahm er aber auch eine Einladung mit dorthin für die Familie Erlau, denn am Dienstag – den Montag wollte der Alte überdies in die Stadt – war seines Vaters Geburtstag und zugleich sein Hochzeitstag, und der wurde immer daheim nicht allein festlich, sondern sogar feierlich begangen. Er ließ auch sein Pferd tüchtig ausgreifen und trabte noch rasch in den Thorweg zur goldenen Traube hinein, ehe er den Braunen einzügelte.

Drinnen im Hausflur, an dem links das Schenkzimmer für die Fuhrleute und Handwerker, rechts die „Gaststube“ für vornehmere Gäste lag, führte hinten gegen den Hof zu die offene Treppe in den ersten Stock. Dort stand Lieschen unten an der Treppe und ein junger, sehr elegant gekleideter Herr, mit dem Hut in der Hand, neben ihr und schien sich nach etwas zu erkundigen. Wie sie Hans aber hereintraben sah, ließ sie den jungen Herrn gleich stehen, rief ihm nur noch ein paar Worte zu, daß er ihren Vater da drüben in der Stube träfe, und sprang dann an das Pferd, um ihrem Bräutigam die Hand hinauf zu reichen und guten Morgen zu sagen.

„Wer war denn der Fremde, Schatz?“ sagte Hans, als er sein Pferd dem Hausknecht übergeben hatte und mit Lieschen in die obere Stube ging.

„Ich weiß es nicht, Hans,“ lautete die Antwort, „ein fremder Herr, der bei uns ein paar Tage wohnen will. Er gehört, glaub ich, mit zu den Vermessern, die jetzt das Zusammenlegen der Felder beginnen sollen. Der Vater hat auch den Kopf voll damit. Aber das ist brav, daß Du so früh gekommen bist, da haben wir heute den ganzen langen Tag vor uns. Wie ist’s, hast Du Deinen Heimathschein?“

„Ach, sprich mir nicht davon,“ sagte Hans verdrießlich, „es verdirbt mir den ganzen, schönen Tag. Der Vater muß noch morgen deshalb in die Stadt. Wenn er mich nur hineinließe; ich wollte denen da drinnen schon die Meinung sagen.“

„Ja, und nachher steckten sie Dich ein,“ lachte Lieschen, „und Du bekämst ihn gar nicht. Nein, da laß Du doch lieber den Vater gehen, der setzt mit Ruhe und Vernunft mehr durch, wie Du mit Hitze und Poltern. Aber jetzt hol’ ich Dir erst etwas zum Frühstücken, und nachher gehen wir ein wenig hinunter in den Garten.“

„Aber kein Wort mehr über den Heimathschein,“ rief Hans ihr nach.

„Keine Sylbe.“

Der Vertrag wurde gehalten, und spät am Abend, nach einem vergnügt verlebten Tag, ritt Hans nach Dreiberg zurück.

Am nächsten Morgen fuhr der Vater in die Stadt, hatte indeß auch noch Nichts ausgerichtet, als er gegen acht Uhr Abends wieder ziemlich erschöpft zurückkam. Die Herren nahmen seine Angaben allerdings sämmtlich zu Protokoll, versicherten ihn aber auch, die Sache könnte nicht übers Knie gebrochen werden. Trotzdem solle er, wenn irgend möglich, noch in dieser Woche Bescheid erhalten.

Der alte Barthold wäre übrigens beinah noch übel gefahren. Anfangs wollte er daheim mit der Geschichte nicht recht laut werden, nach und nach kam aber doch Alles heraus. Er hatte nämlich dem Einen der Leute auf dem Gericht, den er für einen untergeordneten Beamten gehalten, weil er gar so schäbig ausgesehen, einen harten Thaler in die Hand drücken wollen, um die Sache ein wenig zu beschleunigen, und nachher war das ein Gerichtsassessor gewesen. Der alte Barthold schüttelte jetzt noch mit dem Kopf, wenn er daran dachte, was der für ein Gesicht gemacht und wie er ihn angesehen hatte. Es war aber dennoch gut abgelaufen.

Auf den nächsten Tag fiel die Geburtstagsfeier; Erlau’s hatten zugesagt zu kommen – Lieschen auch mit, natürlich – und das Haus in Dreiberg war von unten bis oben mit Blumen und grünen Reisern geschmückt, daß man in lauter Lauben treppauf und treppunter ging. Und wie halte die Mutter heute aufgetäfelt, und als Traubenwirths endlich kamen, ließ sie es sich auch nicht nehmen, die Braut selber herumzuführen in Haus und Wirtschaft, und ihr Alles zu zeigen, wo sie einmal später als Herrin schalten sollte.

Und wie geputzt das Lieschen heute war, und was für ein schönes schwerseidenes Kleid es anhatte, und wie es sich auch darin zu benehmen wußte! Mutter Barthold war eigentlich zuerst ein Bischen verlegen gewesen und hatte sich gar nicht ordentlich getraut es Du zu nennen, denn es sah eigentlich wie eine recht vornehme Dame aus. Aber den Hans genirte das gar nicht. Er nahm sie beim Kopf und küßte sie ab, als ob sie ein Kattunfähnchen angehabt hätte, und die Mutter Barthold stand nur immer in Todesangst dabei, daß er ihr vielleicht einmal auf das lange, kostbare Kleid treten möchte. Er konnt’s beinah gar nicht verhindern.

Bei Tisch saß Vater Barthold, als Geburtstagskind und Hochzeiter, mit seiner Frau oben an der Tafel, und neben der Mutter saß der Traubenwirth und neben dem Vater dessen Frau, während unten am Tisch Hans zwischen seiner Pflegeschwester und Lieschen seinen Platz hatte, und eine vergnügtere Tischgesellschaft hat es wohl seit langer Zeit nicht gegeben.

Merkwürdig war aber der Unterschied zwischen den beiden jungen Mädchen, und Vater Barthold, der ihnen gerade gegenüber saß, war vielleicht der Einzige, der es bemerkte oder wenigstens so darauf achtete, denn er mußte immer und immer wieder dorthin sehen und die Beiden mit einander vergleichen.

Katharine war das echte Bild eines deutschen Mädchens, mit nicht zu hellblonden Haaren und so tiefblauen Augen, daß man gar nicht satt werden konnte hinein zu schauen, wenn Einem der Blick einmal begegnete. Um die wirklich zart geschnittenen Lippen lag dabei ein unbeschreiblicher Zug von Sanftmuth und Milde, ja auch wohl von stiller Ergebenheit, und wenn sie lächelte, konnte man gar nicht anders, als ihr gut sein. Und doch war sie eigentlich keine Schönheit, denn Lieschen war viel, viel schöner.

[308] Lieschens Gesicht war wirklich mehr als hübsch, es war schön, in seiner Regelmäßigkeit und edlen Form, und die dunkelbraunen Augen funkelten den an, mit welchem sie sprach, als ob es ein paar Brillanten gewesen wären. Wundervolles kastanienbraunes Haar hatte sie auch, und wußte es auf eine gar so geschickte Weise zu tragen. Mutter Barthold hatte sich schon den ganzen Morgen im Stillen den Zopf angesehen, um nur heraus zu bekommen, wie er geflochten und aufgesteckt wäre. Dabei war ihr Benehmen, wenn auch immer mädchenhaft, doch frei und ungezwungen, was sie jedenfalls in der Stadt gelernt hatte, und wenn sie lachte, zeigte sie zwei Reihen Zähne, wie Perlen, so regelmäßig und weiß.

Es war ein „wahres Prachtmädel“, wie der alte Barthold bei sich meinte. Wahrhaftig, er konnte es seinem Sohne nicht verdenken, daß er sich die zur Frau gewählt. Aber zu seinen Beobachtungen wurde ihm auch nicht lange Zeit gelassen, denn der Traubenwirth, der in derlei Dingen außerordentlich gewandt war und einen prächtigen Humor hatte, stand auf und brachte mit so künstlich und komisch gesetzten Worten einen Toast auf den Vater Barthold und auf die Mutter aus, daß sich Alle am Tisch halbtodt darüber lachen wollten. Und dann klangen die Gläser zusammen, und der feurige Ungarwein stieg der kleinen Gesellschaft bald in’s Blut und brachte Leben selbst in die Ruhigsten. Sogar Katharine, die sonst nie derlei starke Getränke berührte, hatte ein volles Glas davon geleert, weil sie mit Hans und dem auf ihrer anderen Seite sitzenden Traubenwirth ein paar Mal, erst auf den Vater, dann auf die Mutter und dann auf die Brautleute, anstoßen mußte – und zurückstehen konnte sie doch nicht bei einer solchen Gelegenheit. Wenn sie aber auch still blieb, bekamen doch ihre Wangen einen rötheren Schein und ihre Augen einen höheren Glanz, und der alte Barthold, der das bemerkte, nickte ihr freundlich zu und rief über den Tisch hinüber: „So recht, Kathrine, zeig den Leuten auch einmal, daß Du in Ungarn gewesen bist und seine Weine trinken kannst. Heute ist unser Ehrentag, und da muß Alles fidel und lustig sein.“

Hans besonders war ganz glücklich über seine wunderhübsche Braut. So gut hatte sie ihm noch gar nicht gefallen, wie heute Abend, und er konnte sich nicht satt an ihr sehen. Jedes Stückchen, das sie an sich hatte, musterte er, und dann mußte er ihr immer wieder in die dunklen Augen schauen. Wie die blitzten und funkelten!

„Wo hast Du denn die schöne Rose her?“ frug er sie da einmal, und zeigte auf die Blume, die sie vorn an der Brust trug. „Es ist schon so spät im Jahre; in unserem Garten blühen schon lange keine Rosen mehr.“

„Die hab’ ich geschenkt bekommen,“ sagte Lieschen neckend. „O, andere Leute können auch galant gegen mich sein.“

„So?“ lachte Hans, „wohl von dem jungen Herrn, der da neulich an der Treppe bei Dir stand?“

„Und wenn’s von dem wäre?“ frug Lieschen und sah ihn dabei gar so schelmisch an, „wärst Du eifersüchtig?“

„Nein,“ sagte Hans treuherzig, „wenigstens auf den geschniegelten und gebügelten Burschen noch lange nicht. Aber Du brauchst die Rose gar nicht,“ fuhr er leiser fort, „Deine Backen haben ein viel schöneres Roth, Du siehst gar so hübsch aus, Lieschen.“

Lieschen wurde jetzt noch viel röther, als die Blume war, und dann flüsterte sie Hans etwas zu, worüber dieser lachte, und nachher lachten sie Beide mit einander und plauderten den ganzen Abend.

Am schlechtesten kam eigentlich die arme Katharine dabei weg, denn um die kümmerte sich Niemand. Hans, ihr Nachbar zur Rechten, schwatzte natürlich nur mit seiner Braut, und der Wirth an ihrer Linken hatte soviel mit seiner Nachbarin, der Mutter Barthold, und dem alten Barthold zu reden, daß er an das stille Mädchen neben sich auch nicht denken konnte. Freilich durfte sie auch nicht immer sitzen bleiben und mußte viel aufstehen, um bald dies, bald Jenes zu besorgen, und da war es denn recht gut, daß sie Niemand vermißte. Unbemerkt stand sie von ihrem Platz auf, unbemerkt nahm sie ihn wieder ein, und so wurde auch Niemand dadurch gestört.

So lange blieben sie aber am Tische sitzen und so spät wurde es an dem Abend, bis sie Alles gesehen und besprochen hatten, daß Barthold unter keiner Bedingung zugab, sie dürften heute noch an den Heimweg denken. Ja, wenn es andere Leute von Wetzlau gewesen wären, denen hätte er den Heimweg im Dunkeln schon gegönnt, aber seine künftige Schwiegertochter und ihre Eltern wollte er nicht daran wagen, und so gern der Traubenwirth heut Abend noch zu Haus gewesen wäre, er durfte eben nicht fort.

Und was für Betten machte die Mutter jetzt, mit Katharinens Hülfe, für die lieben Gäste zurecht, eine wahre Welt von Federn, jedes einzelne, daß einem ordentlich der Athem ausging, wenn man hineinsprang und darin versank! Ein anderer Mensch als ein deutscher Bauer hätte auch gar nicht darin schlafen können. Aber der Ungarwein half, und Punkt zehn Uhr lag Alles in tiefer Ruhe.

(Fortsetzung folgt.)




Ein deutscher Volkstribun und Dichter.
Von Moritz Hartmann.

Die deutsche Volkspartei, und speciell die würtembergische, hat eine bedeutende, eine treue und unermüdliche Kraft verloren: sie hat in Ludwig Seeger einen Mann eingebüßt, der für bessere Zeiten zu einem Volkstribun des Stoffes viel in sich hatte. Die deutsche Wissenschaft verlor in ihm einen jener Wenigen, jener Seltenen in Deutschland, die sie aus Wust und Moder der Studirstube, aus Bücherstaub und Formelkram, trotz ihrer vom Stubenhocken eingeschlafenen Beine in’s frische, freie Leben hinauszuführen verstehen, sie mit Menschen menschlich reden lehren und aus ihr machen, was sie sein soll: eine Lehrerin und Wiederbeleberin des Volkes. Die deutsche Literatur verlor in ihm einen würdigen Schüler Uhland’s und würdigen Schüler der Zeit, einen Fahnenträger, einen von denen, von welchen geschrieben ist: Schlage die Trommel und fürchte Dich nicht! Wir dürften, von Ludwig Seeger sprechend, à la Ludwig Börne anfangen: Ein Eichenbaum ist gestürzt, eine Keule zertrümmert, ein Donner verhallt, ein Stahl zersplittert, eine Schanze gefallen, eine Trompete verklungen, ein Schlachtgesang verstummt, ein Liedeslied verweht. –

Es war ein harter, ein betäubender Schlag, als es am 22. März in Stuttgart hieß: heute Morgen ist Ludwig Seeger gestorben! Dieser Mann, der aussah, als ob man sich hinter ihm verstecken könnte, der im Bewußtsein seiner Lebensfülle immer behauptete, daß er es wohl auf ein Jahrhundert oder nahezu bringen werde, dieses Bild der Kraft, ja der Ueberkraft, dieser derbe kerngesunde Geist, dieser weithin tönende, in Philippiken donnernde oder in Witz lachende Mund, diese vielen und großen Entwürfe – Alles, Alles auf einmal hin. Heimtückisch und boshaft, wie so oft, kam diesmal der Tod, gerade als der Mann in der Fülle seiner Kraft, mit frischem Muthe und neu auflodernder Vaterlandsliebe an neue Unternehmungen und neue Thaten ging. Zu allen Zeiten rüstig, rührig, von außerordentlicher Ausdauer und keine Mühe von sich weisend, übertraf er sich selbst gerade in der letzten Zeit seines Lebens, da er in der Kammer, im Schleswig-Holstein-Comité zu Stuttgart, im Sechsunddreißiger-Ausschuß zu Frankfurt, in den verschiedensten Versammlungen für’s Vaterland wirkte, während er in der Stille seiner Studirstube als Publicist arbeitete und zugleich das ungeheuere Werk, den ganzen Shakespeare in neuem deutschen Gewand der deutschen Nation vorzuführen, mit liebevollem und riesigem Fleiße förderte.

Von der Arbeitsamkeit dieses Lebens hat Niemand eine Vorstellung, dem nicht ein Blick in die geheime Werkstatt desselben vergönnt war. Man weiß, was es bedeutet, den ganzen Aristophanes, den unübersetzbaren Beranger, den fruchtbaren Victor Hugo zu verdolmetschen und zwar so, wie es vor Seeger Keiner gethan; aber Wenige wissen, daß vor wie nach dem März 1848 Ludwig Seeger überall, überall mit thätig war, wo es galt, der kreißenden Mutter Zeit bei neuen Geburten zu helfen. Das kleinste Blättchen, das sich Mühe gab, Ideen der Freiheit und Volksthümlichkeit, in seinem engen Kreise zu verbreiten, war der Hülfe seiner leichtverständlichen, eindringlichen Beredsamkeit eben so sicher, wie die

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Ludwig Seeger.

deutschen Jahrbücher, welche die höchsten und abstractesten Fragen der Menschheit discutirten. Mit Tagesanbruch saß er am Arbeitstische und erhob sich nur, um zu neuer Arbeit in die Kammer zu gehen oder, wie der Geschichtsschreiber Prescott, sich als sein eigener Holzhauer einige Bewegung zu machen, um bald wieder an den Schreibtisch zurückzukehren und bis zum späten Abend auszuharren. Wie oft hat ihn, zur eigenen Beschämung, der Schreiber dieser Zeilen so sitzen sehen, wenn er, von einem Morgen- oder Abendspaziergang heimkehrend, an Seeger’s stiller Wohnung vorüberkam! Ein kurzes Gespräch durch’s Fenster belehrte ihn, daß eben für Schleswig-Holstein, oder für die Judenemancipation, oder an Shakespeare’s Othello gearbeitet würde. Wie gern hätte jeder Staat eine solche Arbeitskraft, solches Wissen, solchen Styl, solche Ueberredungsfähigkeit glänzend bezahlt, aber Ludwig Seeger’s Grundsatz war: „Selbst ist der Mann“. Er wollte auf eigenen Füßen stehen, von seiner Freiheit des Wirkens und Schaffens auch nicht ein Titelchen verkaufen, wie schwer auch der Kampf mit dem Leben war,

„Da er sich auf den Erwerb schlecht, als ein Dichter, verstand.“

Sagen wir es mit einem Worte, zu seiner Ehre, als Beweis, daß er nur wegen der Sache, die ihm lieb und heilig war, sein Leben lang so gewaltig arbeitete, sagen wir es ohne Furcht, eine falsche Scham zu kränken, da es ihm nur zum Ruhme gereicht: Er starb eigentlich als armer Mann; in bestgeordneten, ehrenhaftesten Verhältnissen, aber als armer Mann. Seine beiden Söhne hat er so weit gebracht, daß sie sich ehrenvoll durch’s Leben schlagen und die Stütze der Mutter werden können, allein, außer dem ehrenvollen Andenken des Vaters, hat er ihnen keine andere Erbschaft hinterlassen.

Ludwig Seeger wurde am 30. October 1810 in dem schönen und romantischen Curort Wildbad im Schwarzwald geboren. Dieser Umstand ist auf den künftigen Dichter und den Mann, der für die ganze Welt ein Herz hatte, gewiß nicht ohne Einfluß geblieben. Die herrliche, dabei so tief ernste Natur, die rauschenden Tannenwälder, die wilde Enz, die saftigen Wiesen, die an die Schweizer Matten erinnern, mußten auf ein empfängliches Gemüth einen lebenslang dauernden Eindruck machen. Die Heilquellen versammeln da jeden Sommer Gäste aus allen Weltgegenden, und wie klein auch das Städtchen sei, durch Monate kann man hier jedes Jahr mit Kindern der verschiedensten Länder in Berührung kommen, von ihnen lernen, durch sie einen Blick in die Ferne thun und sich in Berührung und Zusammenhang mit der weiten, weiten Welt fühlen. Dabei sind diese Fremden nicht frivoles, vergnügungssüchtiges, aufgeputztes Gesindel, wie man wohl es in andern Bädern Deutschlands findet, sondern wirkliche und solide Kranke, oft durch Leiden geläuterte Menschen, umgeben von der liebenden Pflege treuer Gatten oder Kinder.

Wie erschreckend auch in Wildbad das Elend gebrechlicher Menschlichkeit auftritt, so ist es doch vom Ernst und von der Poesie des Leidens geadelt und gemildert – und in diesem Rahmen ruhevoller Natur scheint auch die Versöhnung dem Trauerspiele menschlichen Lebens nicht zu fehlen. Dazu kommen in Wildbad die historischen und poetischen Erinnerungen, die eine Gegend erst recht [310] beseelen. Für den Schwaben ist es ein classischer Boden; hat ihn doch sein Nationalheld, Eberhard der Greiner, betreten und haben ihn doch seine besten Dichter besungen. Die schönen Spaziergänge längs der Enz stammen vom Herzog Carl oder, wie man ihn hier nennt, von Carl Herzog, und dieser Name wieder erinnert an Schiller, an Schubart . Und wohin man sich von Wildbad aus wendet, nennen wir z. B. nur Kloster Hirsau, überall schöne, tiefe, ernste Natur, überall Sagen und Erinnerungen, die in romantischem Dämmer weben, überall für ein offenes, anschließendes Gemüth Zusammenhang mit Gott, Natur, Geschichte.

Dahin mußten sich Dichter gezogen fühlen, von dorther mußte ein Dichter kommen. Seeger’s Vater war Reallehrer in Wildbad. Da seit Generationen immer ein Seeger Geistlicher war und weil diese Laufbahn, Dank dem Tübinger Stifte, in Würtemberg die billigste ist, sollte wieder einer der vier Söhne des Lehrers diesem Stande gewidmet werden, und die Wahl fiel auf Ludwig. Mit zwölf Jahren wurde er in das lieblich gelegene, heute durch seinen Gewerbfleiß aufblühende Städtchen Calw, in der Nähe von Hirsau, auf die lateinische Schule und 1824 in das evangelische Seminar nach Schönthal geschickt. An beiden Orten zeigte er schon einen widerspenstigen, revolutionären Geist, der sich gegen die hergebrachte Pedanterie und die eingerosteten Formeln, gegen den todten Buchstaben auflehnte. Trotz dieses deutlichen Fingerzeigs, trotz dieses Protestes seiner Natur mußte er aus dem Regen in die Traufe, aus dem Fegefeuer in die Hölle, aus dem Seminar in das Tübinger Stift, aus der frischen, lebendigen Welt, mit einem achtzehnjährigen, um sich greifenden, suchenden, strebenden, lebendigen Geiste in dieses Stück verrotteten Mittelalters, in dieses Nest officieller, formulirter, kopfhängerischer, am tödtlichen Wort klebender Orthodoxie.

Trösten wir uns im Angesicht solcher Anstalten mit der Frage: ob an dem, der in ihnen zu Grunde geht, auch viel verloren ist? ob die Springfedern eines lebendigen Geistes dadurch, daß man sie zusammendrückt, nicht gekräftigt werden? ob in solchem Dunkel nicht die natürlichen Farben, in solcher Kellerluft nicht die Frische der Säfte erhalten wird? Aus dem Tübinger geisttödtenden Stifte sind hervorgegangen: Hegel, Schelling, David Strauß, Hölderlin, Zeller, Bauer, Vischer, Reinhard, Waiblinger, W. Hauff, Schwegler, Gustav Schwab, Mörike, Herwegh, Hermann Kurtz, wahrlich Stiftler, von denen man nicht sagen kann, daß sie in der Stickluft verkommen sind. Es sind Geister unter ihnen, die zu den freiesten nicht nur der Nation, sondern der Welt gehören, obwohl die Meisten wohl einen oder den andern Ring der Kette, die sie zerrissen, ihr Leben lang nachgeschleppt haben mochten. Wie der Wald der Axt, die ihn umhauen soll, den Stiel liefert, so liefern derartige Verfinsterungsinstitute die Mineure, die ihre tiefsten Grundlagen durchwühlen. Diese haben die Sclaverei des Geistes und ihre Schmerzen kennen gelernt. Jene Mineure sind aus dem Kloster des Tübinger Stiftes hervorgegangen, wie Schiller aus der Kaserne der Carlsschule hervorging, wie Luther aus der Augustinerzelle. Haben nicht auch Lamennais und Renan ihre Jugend in Seminaren verbracht? – Ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit eines Nachtessens bei der Gräfin d’Agoult, der unter dem Namen Daniel Stern bekannten Schriftstellerin und Verfasserin der Geschichte der Revolution von 1848. Viele Berühmtheiten von Paris waren geladen, doch schweben mir nur noch die Namen Frelon’s, des republikanischen Ministers, Ponsards, des Dichters der „Lucretia“, der „Charlotte Corday“, von „Ehre und Geld“ etc., und Jules Simon’s des Philosophen, Verfassers der „Pflicht“, der „Gewissensfreiheit“ etc. und jetzigen republikanischen Mitgliedes des gesetzgebenden Körpers, vor. Man sprach von den Jesuiten, die damals, nach dem Staatsstreich, in Frankreich wieder mächtig wurden, und von der Infamie ihrer Erziehungssysteme. Jeder hatte etwas darüber zu sagen und einige Erfahrungen über diesen Punkt mitzutheilen – und im Laufe des Gesprächs stellte es sich zur allgemeinen Heiterkeit heraus, daß beinahe alle Mitglieder dieser hier versammelten jesuitenfeindlichen, nichts weniger als kirchlich und rechtgläubig gesinnten Gesellschaft von den Jesuiten erzogen worden.

Aber ist es gleich ein Trost, daß im Sumpfe auch die Heilpflanze gegen das Sumpffieber wächst, daß man durch die Unterdrückung zur Freiheit, durch Nacht zum Licht gelangt; mag es vom größten Nutzen für die Menschheit sein, daß aus einem „Stift“ Menschen wie Hegel und Strauß und der ganze Bankospiegel ihrer unendlichen Nachfolger hervorgeht – für diejenigen, welche die trostlose Disciplin durchzumachen haben, ist und bleibt sie im Momente schrecklich, niederschlagend, im Hinblick auf ihre Zukunft voll Beängstigung. Wir haben Ludwig Seeger oft die Plagen seiner Stiftzeit schildern hören; er war dann unerschöpflich und noch in der Erinnerung graute ihm vor jenen Prüfungen. Oft meldete er sich krank, nur um während der Tischzeit das Glück der Einsamkeit genießen zu können, und in der Nacht ließ er sich am Seile zum Fenster hinuntergleiten und durchwanderte die öden Straßen Tübingens, um sich, wenn auch verlassen und in der Wüste, der verbotenen Freiheit zu freuen, sich selbst zu gehören. Länger als zwei Jahre konnte er es nicht ertragen; er verließ das Stift, wenn er auch die Theologie nicht verlassen durfte. Nunmehr konnte er doch neben dieser sein sollenden Wissenschaft wirkliches und lebendiges Wissen sammeln, er durfte mit Menschen menschlich leben, studiren wie es ihm gefiel und seine Lehrer wählen. Damals hörte er Uhland, der die Begabung seines Schülers bald erkannte und liebevoll den jungen Dichter aufmunterte. Indessen hatte er noch eine ähnliche Prüfungszeit wie im Stift durchzumachen, denn einmal Theologe mußte er auch die Laufbahn antreten, und drei Jahre lang quälte er sich als Pfarrvicar in einem kleinem Städtchen. Aber nunmehr war er in jeder Beziehung mündig, und entschlossen, lieber Jahre zu verlieren als ein ganzes Leben, lieber ein Stück Laufbahn drein zu geben, als eine ehrenhafte, freie, seinem ganzen Denken angemessene Wirksamkeit, warf er den Zwang ab und den Stand, für den sein grader, wahrhaftiger Sinn nicht geschaffen war. Schon ein Mann, begann er ein neues Leben und betrat er einen neuen Weg. Er ging nach Stuttgart und studirte, um gleich praktisch mit der lebenden Welt anzuknüpfen, zu den alten Sprachen, deren er Herr war, die neuen, während er, um ein kümmerliches Leben zu fristen, Lectionen gab. Eine Hauslehrerstelle rief ihn in die Schweiz, wo er bald an das Realgymnasium von Bern als Lehrer der alten Sprachen gezogen wurde. Zugleich las er an der Universität als Docent über alte und neue Literatur. So viel er auch in der Schweiz lehren mochte, so lernte er doch noch mehr als er lehrte. Er lernte ein Volk kennen, das sich zum Theil mit größter Freiheit selbst regierte und das zum Theil noch damit beschäftigt war – es war in den dreißiger Jahren – seinen alten Regierungen den Zopf abzuschneiden, die letzten Reste von Privilegien, Ständeunterschieden, Bevormundungen mit der Wurzel auszurotten; er lernte, wie man ruhig, mit dem Gesetze in der Hand, mit Wort, Ueberzeugung und Belehrung daran geht, Verbesserungen einzuführen, friedliche Reformen durchzusetzen – und wie man, wo sich trotz dieser Mittel der Vernunft die Unvernunft und die brutale Gewalt entgegenstellt, als Mann die Waffen ergreift und für seine Freiheit einsteht.

Wir haben es in neuerer Zeit erlebt, wie selbst ein König, der verstorbene König von Dänemark, es aussprach: er habe seine Jugend in der Schweiz verlebt und er wisse, welch’ gutes Ding es um die Republik sei. Wir wissen ferner, daß ein anderer König, der Landesvater Seeger’s selbst, als er vor nicht gar langer Zeit aus der Schweiz in sein Land zurückkehrte, in einem Zeitungsartikel die Schweizer Republikaner seinen Unterthanen als Muster anrühmte – wie hätte Ludwig Seeger, ein geborener Republikaner, nicht die Segnungen der Republik erkennen sollen? Mit ganzer Seele betheiligte er sich an den damaligen vielfachen politischen Vorgängen der Schweiz. Indessen - die Freiheit ist ein göttlicher Schatz, man liebt sie überall, man kann in jeder Fremde für sie bluten und sterben, – aber die Heimath ersetzt sie nicht ganz, und hat man ihre Süße gekostet, strebt man noch eifriger als zuvor, sie auch dem Vaterlande zu erringen. Als das Jahr 1848 herankam, das Jahr, das sie durch ein Decennium zu verleumden strebten und das trotz alledem und alledem Samen ausgestreut hat, die früher oder später aufgehen und über ihre Häupter zusammenschlagen werden, – als dieser große Moment herankam, fand er in Ludwig Seeger keinen Sohn eines schwachen Geschlechtes. Nach zwölfjährigem Aufenthalt in der Schweiz gab er seine gesicherte Stellung auf, brach, obwohl er sich indessen verheirathet und Kinder bekommen hatte, sein Haus ab, und eilte aus seinem ruhigen Hafen herbei mitten in den Sturm, aus gesicherter Häuslichkeit mitten in’s Ungewisse, nur um beim Kampfe für Freiheit und Vaterland nicht zu fehlen. Mögen sie verleumden! Solcher unbekannter Opfer wurden damals viele gebracht, wenn sie die Geschichte auch nicht in ihre Bücher aufgezeichnet hat. Sie sind um so größer und heiliger.

Ludwig Seeger entfaltete jetzt im Vaterlande eine große [311] Rührigkeit. Als Redacteur der „Ulmer Schnellpost“ wurde er bald eine im ganzen Lande bekannte Persönlichkeit, und seine geschriebenen Reden für Freiheit und Einheit Deutschlands wußte bald jedes Kind an der ihnen eigenen Kraft, Kernhaftigkeit, Schärfe und Ueberzeugungswärme herauszufinden, auch wenn sie nicht gezeichnet waren. Es gereicht Ludwig Seeger zur besonderen Ehre, daß sich die Reaction vermittelst ihres Helfershelfers Römer zuerst an ihm vergriff und daß er zwei Mal auf den Asperg wandern mußte in das Gefängniß Schubart’s, das auch Schiller bestimmt war. Dafür wurde er vom Volke im Jahre 1849 in die Landesversammlung geschickt und seitdem zu wiederholten Malen zum Abgeordneten gewählt. Auch in diesem neuen Berufe wankte und wich er bis zu seinem Tode nicht einen Finger breit von dem Wege ab, den ihm seine demokratische Ueberzeugung, oder vielleicht besser seine demokratische Natur vorzeichnete. In der Kammer war er von unschätzbarem Werthe. Aus einem octroyirten Wahlgesetze hervorgegangen, unter der schweren Atmosphäre der allgemeinen Reaction, war sie nur zu sehr geneigt, einzuschlafen und die Dinge gehen zu lassen, wie sie gingen. Da fuhr Ludwig Seeger wie ein Gewitter darein, reinigte die schwüle Luft und weckte die Betäubten. Hatte er als Mitglied einer schwach vertretenen Partei auch nicht die Macht, von Ministern, Prälaten und Standesherren protegirte Gesetze abzuschaffen, so ließ er sich doch nicht einschüchtern, sagte wenigstens im Angesichte des Landes die Wahrheit und that das Seinige, daß die Principien der Freiheit nicht vergessen wurden. Und zur Erfüllung dieser Pflicht hatte er immer das rechte Wort bereit und den rechten Muth. Es war natürlich, daß ein solcher Mann sofort auf dem Kampfplatze erschien, als es sich um die vaterländische Sache von Schleswig-Holstein handelte. Er wurde sogleich in das Stuttgarter Comité gewählt und nach seinem Auftreten im Frankfurter Saalbau, das die Gartenlaube geschildert hat, auch in den Sechsunddreißiger-Ausschuß des Abgeordnetentages. Und so kann man sagen, daß er überhäuft mit jenen Ehren starb, die er allein erstrebt, und die er, als vom Vaterlande und nicht von Fürsten kommend, allein als Ehren betrachtete.

Dies in kurzen Umrissen das Leben Ludwig Seeger’s, ein Leben voll Kampf und Arbeit und Entsagung – und doch fleckenlos; ein durch und durch ehrenhaftes Leben, das nicht nur keiner Versuchung erlag, an das sich nie eine Versuchung heranwagte. Daher kam wohl auch, bei allem Ernst, mit dem er jedes Ding ergriff, bei allen Lasten, die er auf seine Schultern nahm, jene Heiterkeit, die, wenn auch einen derben, doch einen wahrhaft Rabelais’schen Witz hervorsprudeln ließ, der ihm eben so viele Feinde wie Freunde machte. Im Kreise seiner Freunde werden sich noch lange Segeriana und Anekdoten erhalten, die gesammelt beweisen würden, daß er von Natur zum Uebersetzer des Aristophanes und der Falstaffiaden bestimmt war. Dies mahnt uns an seine letzte große Unternehmung, welche das Shakespeare-Jubiläum auf das Würdigste feiern sollte, an seine neue Uebersetzung. Leider sind nur drei Tragödien vollendet: Hamlet, König Johann und Timon von Athen. Othello ist mitten im 5. Acte abgebrochen. Schon krank arbeitete er noch mit Eifer an dieser Tragödie, und unfähig mehr die Feder zu halten, dictirte er noch eine Scene seiner treuen Lebensgefährtin. Das mag ihm ein großer Schmerz gewesen sein, dieses Monument, das er sich selber baute, eine neue Shakespeare-Uebersetzung, welche die Schlegel’sche übertreffen sollte, unvollendet zurückzulassen. Dafür wurde ihm in den letzten Monaten seines Lebens die Genugthuung, daß seine Gedichte „der Sohn der Zeit“ in neuer Auflage erschienen und, obwohl zu einem großen Theile politische Gedichte der vormärzlichen Zeit, sich als so frisch und jung erwiesen, daß sie mit noch größerem Beifall als bei ihrem ersten Erscheinen aufgenommen wurden. Für diese Gedichte wollen wir Seeger selber sprechen lassen, indem wir zum Schlusse eines derselben hierhersetzen, das zugleich ahnen läßt, wie er seinen Beranger übersetzt hat. Es heißt:

 Elternfreuden.
So ist es wahr, was nur bescheiden
Dein Lächeln, Dein Erröthen sagt,
Was heimlich schlief als Wunsch in Beiden,
Was kaum der Mund zu nennen wagt?

5
O laß mein Herz an Deinem schlagen:

Wir sind nicht länger mehr zu Zwei’n!
Der Nacht in’s Ohr will ich es sagen:
Geliebte, Du wirst Mutter sein!

Im Kranz der gottdurchströmten Wesen

10
Nicht taube Blüthen sind wir nur:

Zum Schaffen sind auch wir erlesen,
Auch wir sind göttlicher Natur.
Im Wechsel blühender Gestalten
Erneut sich stets der ew’ge Reihn;

15
Fühlst Du in Dir der Gottheit Walten?

Geliebte, Du wirst Mutter sein!

Geheimnißvolle Lebensfunken
Sind Deinem süßen Leib vertraut.
Ahnst Du, in Demuth hingesunken,

20
Die hohe Würde – Gottesbraut?

Und ich – o laß in Ehrfurcht küssen
Die Brust, den heil’gen Wunderschrein,
Erfüllt von Gottes Strahlengüssen,
Geliebte, Du wirst Mutter sein!

25
Ein Pfand der Liebe, unsrer Liebe,

Der Gottesliebe, wächst es still.
Wir blicken frei in’s Weltgetriebe,
Wir wissen, Jedes, was es will:
Wir wollen unser Glück verdienen,

30
Und Lieb und Kraft den Menschen weihn,

Ein Mann der Freiheit dien’ ich ihnen,
Geliebte, Du wirst Mutter sein!

Ein Mann der Freiheit? – ach, wir streiten
Nur für das kommende Geschlecht.

35
Dein Wunsch und Dein Gebet begleiten

Mich, holde Mutter, in’s Gefecht.
Selbst Vaterfreuden kosten Zähren,
So lang wir noch nach Freiheit schrein;
Die Zahl der Sclaven zu vermehren,

40
Bei Gott, wer möchte Mutter sein?


Und kehr’ ich heim mit rothen Wangen,
Vom Kampf des schwülen Tages warm,
Kommst Du entgegen mir gegangen,
Das süße Kleinod auf dem Arm;

45
Ich les’ im Kindesaug, dem blauen,

Die Siegesbotschaft. – Sieh’ darein,
Gerechter Gott, laß unsre Frauen
Nur freier Kinder Mütter sein!




Alpenglühen und Meeresleuchten.
Erinnerungen von Ferdinand Stolle.
1.

Das Gewitter war verrollt in den Bergen. Nur aus der Ferne grollte in immer längern Pausen der Zorn des Himmels, Das Thal ruhte in klarer Nachmittagsonne, frisch und farbenduftig, und gegen Morgen über grünem Tannenwalde stand holderquickend ein Regenbogen,

Wir saßen, im östlichen Winkel Oberbaierns, im umgrünten Gärtchen am Ufer der Saalach, jenes kecken Gebirgskindes, das, jugendlich frisch aus Tyrol kommend, es kaum scheint erwarten zu können, sich mit Schwester Salza zu vereinigen, und ihre weißgelben Wellen rasch dahin rollt. Freund Leonhard, der Maler, hatte an einem Tische vor der Jelängerjelieberlaube Platz genommen und zeichnete den Hochstauffen, dessen Riesenpyramide im reinsten Blau ruhte, so daß das gußeiserne Kreuz auf seiner Spitze vermittelst des Opernglases deutlich zu erkennen war. Nur von Zeit zu Zeit zog leichtes Gewölk an dem erhabenen Haupte weißflockig vorüber. Albertine und Sophie, zwei anmuthige Blumen aus dem Norden des deutschen Vaterlandes, waren über die Saalachbrücke nach dem unfern gelegnen Kirchlein Nonn geeilt, um Alpenveilchen und blaue Genzianen zu pflücken. Aus den offnen epheuumzognen Parterrefenstern des mit reichem Holzschnitzwerk versehenen Schweizerhauses tönten die Klänge eines Pianos. Es war der junge Docent aus Göttingen, der Bruder des schönen Schwesterpaares. Mit vieler Fertigkeit und Präcision trug er das erste Finale aus Don Juan vor und war so eben zu der unsterblichen Menuett und dem Hülferuf Zerlinens gelangt, als Albertine und Sophie ganz glücklich von ihrem Ausfluge heimkehrten. Sie brachten reiche Ausbeute an violetten Hasenöhrl’n[1] [312] und im prachtvollsten Ultramarinblau leuchtenden Genzianen. Außerdem waren ihre Körbchen mit duftenden Walderdbeeren gefüllt, die sie einem armen Mädchen für wenige Kreuzer abgekauft hatten.

Die Sonne, eine goldstrahlende Fürstin, versank hinter das Faltengebirge. Weiter und tiefer legten sich die Schatten über die Thalebene; die Madonnenbilder an den Wegen wurden in Dunkel gehüllt, die Wälder schwärzer. Immer höher kroch die Nacht an den Wänden der Bergriesen hinauf, bis endlich nur noch deren höchste Häupter, wie leuchtende Inseln, über die schattenreiche Unterwelt emporragten.

„Gott, Gott, wie schön, wie himmlisch schön!“ rief Albertine, und ihr von einer Thräne feuchtes Auge trank mit Entzücken dies kostbare Abendbild. „Schaut, schaut,“ fuhr sie begeistert fort, „wie prächtig die Alpen glühen!“

Der Maler, mit Zusammenpacken seiner Zeichnungen und Studien beschäftigt, erwiderte: „Das ist kein Alpenglühen, Fräulein, das ist die einfache Sonnenbeleuchtung, wie wir sie zu Hause auch haben, nur mit dem Unterschiede, daß unsere Berge die hiesigen kaum um das Zehntheil an Höhe erreichen.“

„Was versteht man denn da eigentlich unter Alpenglühen?“ erkundigte sich Sophie.

Der Göttinger Docent war unter die Veranda getreten und belehrte die Schwestern über die wunderbar schöne Naturerscheinung.

„Freund Leonhard,“ sprach er, „hat vollkommen Recht, die Beleuchtung der Bergspitzen, wie wir sie heute und diese Tage daher gehabt, ist noch lange kein Alpenglühen, obschon sie von Vielen, die zum ersten Male in die Berge kommen, dafür gehalten wird. Im Gegentheil, gerade an Tagen, wo, wie heut, die Sonne klar und wolkenfrei untergegangen, dürfte sich die schöne Erscheinung kaum zeigen. Es gehören eigenthümliche atmosphärische Bedingungen dazu; namentlich ist von Nöthen, daß die Sonne hinter leichten, wässrigen Wolkenschichten untergeht, wo sich dann gleichsam ihr rother Strahl bricht und die Berge mit Purpur färbt; wenigstens habe ich die Erscheinung für die hiesige Gegend also erklären hören; ob sie die allein richtige, mag dem Physiker überlassen bleiben.“

„Dann,“ seufzte Albertine, „werden wir am Ende das Alpenglühen nie zu sehen bekommen!“ – Der folgende Tag war ein Regentag. Erst am Spätnachmittage klärte sich der Himmel. Wir benutzten die paar goldenen Sonnenblicke, um in dem nahgelegenen österreichischen Grenzdörflein Großgmein, das in der Umgegend durch seinen billigen Ungarwein und schmackhafte Forellen bekannt ist, unser Abendbrod einzunehmen. Wohlgemuth saßen wir unter den alten Linden, die nahe am Wirthshause ein grünes Dach bauen. Vom Kirchthurme herüber tönte das Abendläuten. Schon auf dem Herwege hatten wir nicht ohne Verwunderung wahrgenommen, wie der Maler wiederholt stehen blieb und am Himmel Beobachtungen anstellte. Diese meteorologischen Studien schien er auch fortzusetzen, nachdem wir unter den Linden Platz genommen. Es ließ ihm keine Ruhe, fast aller zehn Minuten stand er auf und bestieg den nahen Hügel, worauf der Friedhof des Dorfes gelegen war. Wir glaubten anfangs, er traue dem Wetter nicht und sei besorgt wegen eines regenvollen Heimweges.

Indeß hatte die geschäftige Annemirl für die Damen die gewünschte Milch und für die Herren die goldgefüllten Biertöpfchen gebracht. Der Maler stand wieder auf dem Hügel und observirte den Himmel gen Tyrol. Der Göttinger Docent, mit Kennermiene das Bier prüfend, rief ihm zu: „Herr Wetterprophet, lassen Sie doch den Himmel auf sich beruhen und kommen Sie zu uns, das Theisendorfer ist famos.“

Plötzlich stürmte der Angerufene in gewaltigen Sätzen und freudig erregtem Gesicht den Hügel herab. „Albertine,“ rief er, „Glückskind, Sophie, kommen Sie, kommt Alle, rasch, rasch!“ Damit eilte er durch das am Wirthshause gelegene Gärtchen nach einer kleinen Anhöhe, von wo man das ganze Thal prächtig überschauen konnte. Ohne zu wissen, worum es sich handle, aber nicht ohne eine gewisse freudige Ahnung, ließen wir Alles stehen und folgten dem Maler.

Die kleine Anhöhe war bald erreicht. In anderthalbstündiger Entfernung wälzte der Untersberg ernst und waldumnachtet seine Massen gen Himmel. Zur Rechten starrte, wie die versteinerten Fluthen eines Weltmeers, das Lattengebirg. Zwischendurch schauten aus weiter Ferne die Bergriesen von Berchtesgaden. Weiter zur Rechten erhoben der Müllnerberg und das Ristfeuchthorn ihre wolkenthronenden Häupter, während der Hintergrund durch die Pyramiden der beiden Stauffen geschlossen ward.

Da mit einem Male begannen sich die Zinnen des Untersbergs mit einem völlig ungewohnten, wunderbaren rothen Schimmer zu überziehen. Erst ganz leise, wie angehaucht, allmählich röther und tiefer – immer röther, immer tiefer, bis endlich die ganze obere Hälfte des Berges in Feuerpracht, einem rothglühenden Eisen vergleichbar, majestätisch zum Himmel ragte.

Bezaubert hingen unsere Augen an dem unvergleichlichen Schauspiel, als der Maler mahnte, uns umzuschauen. Gott im Himmel, was war das? Welch neue überraschende Pracht und Herrlichkeit! Nicht der Untersberg allein – nein, so weit der entzückte Blick immer schweifte, ringsum, in der Nähe, in der Ferne, alle Bergeskronen, die großen, die kleinern glühten in demselben Purpurschein. Das ganze Thal gen Berchtesgaden schwamm in rothem Dufte, über welchem die Schneefelder des hohen Göhl im holdesten Rosalichte daher leuchteten. Es war ein Leuchten und Glühen, wie bei einem Weltbrande.

Und so standen wir und schauten in stummem Entzücken. Da allmählich erloschen die tiefer gelegenen Bergeskronen und versanken in das schweigende Reich der Schatten. Bald folgten die mittleren Berge; nur die höchsten Majestäten glühten noch eine Zeit lang und leuchteten wie vereinzelte Goldkronen weit hinaus über die abenddunkelnde Welt. Endlich verglühte auch der Untersberg; es folgte der Müllnerberg, das Ristfeuchthorn, die beiden Stauffen und schließlich leuchtete nur noch das Sonntaghorn als vereinsamte Goldpyramide aus Tyrol herüber. Da erlosch auch diese, und die Schatten der Nacht traten in ihr alles Recht. – Mit einer Weihe, als habe uns der Himmel in sein goldnes Reich schauen lassen, kehrten wir nach unseren Tischlein unter den alten Linden zurück, wo indeß die Annemirl für ein frugales Abendbrod Sorge getragen.

„So schön hab’ ich’s nimmer g’schaut,“ sagte Letztere. Sie meinte das Alpenglühen.

Der Maler aber erzählte auf dem Heimwege: „Nächst dem heutigen prachtvollen Alpenglühen entsinne ich mich noch eines zweiten ähnlichen, das ich vor zwei Jahren in hiesiger Gegend erlebte; nur mit dem Unterschiede, daß ich mich damals nicht im Thale, sondern auf fünftausend Fuß hoher Alp befand. Es war unbestritten die erhabenste Viertelstunde meines Lebens. Auch damals hatte es zuvor anhaltend geregnet, und erst gegen Abend klärte sich der Himmel. Meine mehrstündige Gefangenschaft in einsamer Alphütte, worein mich unverhofft eingetretener Regen getrieben, sollte königlich belohnt werden.

Nachdem ich Stunden lang in trostlos eintönige Wolken geschaut, die wie Schneeberge an dem kleinen Alphüttenfenster vorüberzogen, hatte endlich der Regen nachgelassen. Es ward heller, die Wolken begannen dünner zu werden, die Nebel sich zu zertheilen, so daß mir von Zeit zu Zeit durch die zerrissenen Himmelsdecken ein entzückender Blick in die Unterwelt vergönnt war. Der Geist der Berge schien es aber damals absonderlich gut mit mir zu meinen. Allmählich wurden sämmtliche Wolkenvorhänge hinweggenommen, alle Nebel zerflossen, so daß nach kurzer Zeit die gesammte Alpenwelt von Kärnthen, Salzburg und Tyrol mit ihren Schneekronen, Eispyramiden, Gletschern und Schneefeldern, vom Großglockner bis zur Ortlesspitze, abgeklärt in der Abendbeleuchtung ruhte. Es war wie eine Zauberei, wie eine Phantasmagorie und doch die prachtvollste Wahrheit.

Diesem herrlichen Schauspiele sollte aber die Krone aufgesetzt werden. Plötzlich bemerkte ich, wie sich unter der dem Untergange ziemlich nahestehenden, aber von leichtem Gewölk umhüllten Sonne zwei lange goldne Streifen bildeten, und mit einem Male eröffnete sich eine Pracht, wie ich solche nie geschaut im Leben. Die Alpen begannen zu glühen wie heut, in der Nähe, in der Ferne, nur daß damals Hunderte von goldenen Kronen daher leuchteten, alle Thäler in rothem Dufte schwammen und die zahlreichen Schneefelder und Eispyramideu im holdesten Rosa schimmerten.

Ich war wie verklärt. Wie wiederholt ich das Alpenglühen vom Thale aus bewundert, es verschwand gegen die Himmelspracht, die sich mir auf der Höhe erschloß. Ich hatte das schönste Bild [313] genossen, das die Alpen je zu bieten vermögen, und wie oft ich später die Berge bestiegen, es ist mir nie wieder zu Theil geworden. Wie heut, währte auch damals das Alpenglühen in seiner reichsten Pracht kaum zehn Minuten, – ein rechtes Bild von der Vergänglichkeit des Schönsten auf dieser Erde.“ –

Wir waren mittlerweile bei der Wohnung des Malers angelangt. Er verabschiedete sich mit den Worten: „Ich kenne noch ein Feuer- und Farbenspiel, das dem Alpenglühen an die Seite gestellt werden kann: das Meeresleuchten, namentlich in unsern nordischen Gewässern. Auch dabei gehöre ich zu den Glückskindern, indem ich eines der schönsten vor einer Reihe von Jahren auf der Insel Helgoland erlebte.“

„O, davon müssen Sie uns erzählen,“ baten Albertine und Sophie aus einem Munde.

„Sobald wir wieder im Gärtchen an der Saalach sitzen,“ verhieß der Maler, „soll es mit Vergnügen geschehen. Für heute aber wollen wir dem Himmel danken, daß er uns eines so prachtvollen Alpenglühens würdigte.“




2.

Wieder saßen wir in Oberbaiern am grünen Ufer der Saalach, deren geschwätzige Wellen sich liebliche Märchen erzählten aus den Heimathbergen Tyrols; wieder ruhte die Riesenpyramide des Hochstaufen im tiefsten Blau, und die Berge im Abend begannen ihre Schatten über die grünen Matten zu legen. Albertine hielt einen frischgepflückten Strauß Edelweiß in der Hand und betrachtete sinnend diese von der Poesie der Berge reichumklungenen weißsammtnen Sternenblumen.

„Erzählt mir doch, ihr weißen Blüthen,“ sprach das schöne Mädchen, „wie hoch seid ihr gewachsen auf wolkenthronenden Bergen, vielleicht umstarrt von Schnee und Eis?“

„Dieses Gnaphalium leontopodium,“ begann der gelehrte Bruder, „liebt allerdings die höchsten Berge. Dies möchte sein; auch die Rosa alpina thut dasselbe; aber das Gnaphalium ist die Sirene unter den Blumen der Alpenwelt. Es blüht fast nur an den abschüssigsten und gefährlichsten Stellen. Ich kann diese Blume daher nie ohne einen gewissen Schauer betrachten. Es sind mir zu viele traurige Geschichten davon bekannt worden. Wie mancher junge Wagehals stieg seiner Traudi, Walli, Elsi zu Liebe nach dieser Blume in die Wolken, und man fand seinen Körper, die Hand voll Edelweiß, zerschmettert im Abgrunde.“

Der Maler erklärte den Schwestern, daß es seit urdenklichen Zeiten unter den jungen Burschen Sitte, ihre Schätze mit Edelweiß zu beschenken, als einen Beweis ihres Muthes und ihrer Liebe. Je schöner das Edelweiß, desto größer der Muth, desto stärker die Liebe; denn das schönste Edelweiß wächst eben an den höchsten und gefahrvollsten Stellen. Da gehöre es denn nicht zu den Seltenheiten, daß Einer oder der Andere „abfalle“, wie das Verunglücken in den Bergen hierorts genannt werde.

„Das sind traurige Geschichten,“ fiel Albertine ein; „erzählen Sie lieber vom Meeresleuchten, wie Sie es versprochen.“

„Recht gern bin ich hierzu bereit,“ versetzte der Angeredete; „nur muß ich wohl zu bedenken geben, daß ich nur von dem Meeresleuchten, wie solches sich zuweilen in der Nordsee zeigt, berichten kann. Diese, so zu sagen, geisterhafte Naturerscheinung entfaltet aber ihre höchste Pracht nur in den Meeren der heißen Zone.“

Der Göttinger Docent warf die Bemerkung dazwischen: „Die Ursachen des Meerleuchtens sind in neuer Zeit so gründlich erörtert, daß alle früher darüber aufgestellten und oft sehr wunderlichen Hypothesen sich als unhaltbar erweisen.“

Die Damen wurden ungeduldig über die wissenschaftliche Discussion, die sich zu entspinnen drohte, der Maler fuhr daher fort: „Mehrere Wochen schon lebte ich auf der Insel Helgoland. Ich hatte mir auf dem Oberlande in einem idyllisch umgrünten Häuslein, dessen blankgescheuerte Fenster freundlich blitzten, ein niedliches mit holländischer Sauberkeit ausgestattetes Stübchen gemiethet. In dem Gärtchen davor blühten noch wunderschön die Centifolien, und von dem kleinen Altan vor dem Hause genoß man die prachtvollste Aussicht über das Meer. Dieser umrankte und umblühte kleine Altan war ein reizendes Plätzchen. Wie oft saß ich hier an schönen Abenden, wenn das Meer wie eine endlose Wüste, oder, poetisches, wie eine blaue Krystallblume, deren Mittelpunkt und Herzblatt die grüne Insel, vor mir lag und von dem Conversationsgarten des Unterlandes die böhmische Capelle ihre lieblichen Weisen ertönen ließ! Wie klang das so bezaubernd über die Wellen, während am fernen Horizonte auf der großen Straße von Deutschland nach England die Segel wie weiße Schwäne, im Golde der Abendsonne, still dahinzogen!

Ueberhaupt hatte ich während meines Aufenthaltes keine Gelegenheit verabsäumt, die Naturschönheiten und Merkwürdigkeiten des interessanten kleinen Insellandes kennen zu lernen. Wie oft hatte ich am alten Feuerthurme gesessen und hinausgeschaut über das brandende Meer, wenn im ewigen Sichneugebären die graugrünen Wasserberge mit ihren Schneekronen daherkamen, ihre tausendjährige Wuth an dem kleinen Felseneilande auszulassen, und ihr zorniger Schaum hochaufgeworfen ward an den zerklüfteten Wänden der Ostseite! Und wieder welch ein Frieden, wenn ich auf der Bank am Südcap saß und die Sonne begraben ward, golden und schön im blauen Meer – wenn dann der Mond hervorlauschte, erst verschwimmend und bleich, aber allmählich siegessichrer hervortrat und in Silberpracht und Sabbathstille seine kühlen Strahlen sandte über das weite nächtliche Meer – wie dann die weiße Düne wie eine Geisterinsel herüberschimmerte in magischem Lichte!

All diese erhabenen und prachtvollen Bilder waren vorübergezogen und hatten einen unverlöschlichen Eindruck in meiner Seele zurückgelassen, und nur das Eine, wie oft ich während meines Aufenthalts davon hatte erzählen hören, sollte mir vorenthalten bleiben. Es war das – Leuchten des Meeres.

Ich hatte die Farbenpracht des Meeres in all ihren zahlreichen Schattirungen zu beobachten Gelegenheit gehabt, vom graugrünen Malachit bis zum prachtvollsten Smaragd, vom tiefsten Amethyst bis zum holdesten Himmelblau, – aber das Meer aufleuchten zu sehen in nächtlicher Stunde, diese Sehnsucht war immer unerfüllt geblieben.

Wie oft war ich, von Helgolander Schiffern veranlaßt, in einem Boote zu nächtlicher Stunde hinausgefahren! Sobald nämlich der verdienstlustige Helgolander auch nur die entfernte Hoffnung hat, daß Meerleuchten eintreten könne, ladet er den fremden Besucher der Insel gern zu einer Wasserpartie ein für Billiges. Meine Erwartung bei diesen Fahrten war aber auch hinter den bescheidensten Wünschen zurückgeblieben. Höchstens, daß hier und da einmal ein vereinzelter heller Tropfen sichtbar wurde, sobald das Ruder die Wellen berührte.

So saß ich eines Abends bei einem Fläschchen Pale Ale in der freundlichen Restauration zum „Fremdenwillkommen“ und studirte die Hamburger Börsenhalle, als plötzlich ein Bremer Freund hastig und mit den Worten „prächtiges Meeresleuchten!“ in’s Zimmer trat. Wie durch einen Zauberruf freudig aufgeschreckt, sprang ich empor, und wir eilten nach dem Strande. Zahlreiche Gruppen hatten sich hier bereits eingefunden.

Es war die weichste, wohligste Augustnacht des ganzen Sommers; eine wahrhaft italische Milde ruhte über Land und Meer. Der Himmel strahlte in reicher Sternenpracht, und von Deutschland herauf zog ein Gewitter mit beständigem Wetterleuchten. Im Hintergrunde lag Helgoland mit seinen erleuchteten Hotels des Oberlandes. Der „rothe Felsen“, wie dies Inselland von den Eingeborenen genannt wird, wurde fast ununterbrochen vom Blitze erhellt; und damit die Kunst hinter der Natur nicht zurückbleibe, ließen ein paar Engländer auf dem Südcap zur Rechten Raketen und buntfarbige Leuchtkugeln steigen, untermischt mit bengalischen Flammen, welche die nächste Umgebung magisch beleuchteten.

Ununterbrochen stießen Boote mit heitern Gesellschaften vom Ufer und andere kamen an. Doch was war das?! Welche nie erlebte prächtige Erscheinung?! Jede Welle, sobald sie dem Ufer nahte, verklärte sich zu einem Silbergürtel, der sich wie ein kostbarer Brillantschmuck an das Ufer legte, wo er einige Secunden glänzend aufleuchtete und dann erlosch. Es war wie Zauberei.

Ich hielt anfangs den Brillantschmuck für optische Täuschung; doch so wie ich mich bückte und darnach faßte, behielt ich die ganze Hand voll Silber und silberne Tropfen fielen glänzend zur Erde.

Dieses ebenso ungewohnte wie reizende Schauspiel gab bald Veranlassung zu den interessantesten Scherzen. Herren und Damen bewarfen sich verschwenderisch mit flüssigem Silber und Brillanten, die eine Zeitlang an den Kleidern fortleuchteten. Mein Bremer [314] Freund ging in seiner Ekstase so weit, einmal den ganzen Arm in’s Wasser zu halten, und zog ihn vollkommen übersilbert zurück. Damen befeuchteten ihre Taschentücher und schmückten sie so mit den kostbarsten Diamanten.

Plötzlich eröffnete sich eins der originellsten Wasserfeuerwerke und zwar im vollsten Sinne dieses Wortes. Eine Anzahl Herren hatten sich kleine flache Steine, wie deren das Meer zu Tausenden am Strande ausgeworfen, zusammengesucht und ließen dieselben geschickt über das Wasser tanzen, wo dann ein jeder eine lange brillante Rakete in die dunkle Fluth riß. Bewegte man den Spazierstock in den Wellen hin und wider, so schlug rings das klarste Silber empor. Noch prächtiger nahm sich dieses Experiment mit einem Baumzweige aus, wo ganze Silberflächen hervorgezaubert wurden. Warf man endlich eine Hand voll trockenen Sandes über die Fluth, so entzündete sich das Meer in weitem Kreise, weil jedes Sandkorn sein Wellchen hervorrief, das da leuchtete.

Endlich war es auch mir und meinem Freunde gelungen, ein Boot zu acquiriren und eine Strecke in die See hinauszufahren. Es war wie ein Märchen aus tausend und einer Nacht. Bei jedem Ruderschlage rauschten die Silbermassen aus dunkler Tiefe empor. Viele der am Strande Anwesenden, die sich noch immer nicht zur Ruhe zurückzogen, obgleich Mitternacht vorbei war, füllten sich Glasflaschen mit Wasser, das auch noch lange nachher fortleuchtete.“

Der Maler schwieg, und die Schwestern erkundigten sich jetzt bei dem gelehrten Bruder nach der Ursache dieser ebenso seltenen wie interessanten Naturerscheinung.

„Das Meerleuchten,“ erklärte dieser, „hat den wissenschaftlichen Forschern seit Jahrhunderten viel Kopfzerbrechen verursacht. Bald sollte es das Ausströmen elektrischen Lichtes sein, bald vom Brechen der Mondesstrahlen herrühren; der zahlreichen anderen, oft sehr absurden Hypothesen nicht zu gedenken. Erst der neuesten Wissenschaft blieb es vorbehalten, diese Frage gründlich zu lösen und als unumstößlich für alle Zeiten hinzustellen. Die sorgfältigsten und gewissenhaftesten Untersuchungen haben nämlich unwiderleglich nachgewiesen, daß diese Erscheinung ihr Dasein zahlreichen Leuchtthierchen verdankt. Das Meerleuchten findet, je nach den äußeren Ursachen und Wärmeverhältnissen, in der erhöhten Lebensthätigkeit dieser Thierlein seinen Ursprung. Bei kühler Temperatur der Luft und des Wassers sinkt diese Lebensthätigkeit, und vom Meerleuchten ist da keine Rede. Daher denn auch diese Erscheinung in den kältern Meeren bei weitem nicht diese Intensivität erreicht und darum auch weit seltener sich zeigt als in den südlichen Oceanen, wo sie ihre höchste Pracht entfallet. Reisende aus jenen Meeren können diese Pracht nicht begeistert genug schildern. Die dahin segelnden Schiffe ziehen breite Lichtstraßen hinter sich. Die Thun- und Haifische erkennt man in einer Tiefe von fünfzehn Fuß. Delphine bewirken durch ihre Schlangenlinien und durch das Schlagen ihrer Flossen ein ununterbrochenes Feuerwerk. Fliegende Fische gewähren den Anblick des prächtigsten Feuerregens. Ja, es hat Fälle gegeben, namentlich in der Gegend vom Cap der guten Hoffnung und dem Aequator, daß das Meer über und über zu brennen schien. Jede Welle trug eine leuchtende Krone, Leuchtkugeln stiegen auf und nieder, und die Fische schossen wie Blitze durch die Tiefe. Trotz des rabenschwarz bedeckten Himmels war es so hell, daß man die Fliegen auf den bleichen Segeltüchern deutlich erkennen konnte und am Cajütenfenster selbst kleine Schrift zu lesen vermochte. Außerordentlich imposant wird das Phänomen, sobald plötzlicher Platzregen eintritt, wo sich dann das ganze nächtliche Meer in eine kochende Feuergluth verwandelt.

Von diesen merkwürdigen Leuchtthierchen giebt es die unterschiedlichsten Arten, theils mikroskopisch, theils dem unbewaffneten Auge sichtbar. In den südlichen Meeren spielen darunter die sogenannten Feuerwalzen oder Pyrosamen, sechs bis sieben Zoll lange walzenförmige Thiere, die Hauptrolle, während die Nordsee hauptsächlich durch die sogenannten Leuchtbläschen versilbert wird, Thierchen, von welchen ein einziger Wassertropfen eine große Anzahl enthält. Dies sind,“ schloß der junge Gelehrte seinen Vertrag, „die wissenschaftlich festgestellten Ursachen des Meerleuchtens.“

Es war dunkel geworden. Man brach auf nach dem Conversationsgarten, wo Concert angekündigt war. Der Maler, noch trunken in der Erinnerung, sagte: „Ich verdanke der Mutter Statur und ihrer Pracht und Herrlichkeit manche hochgenußreiche Stunde, doch die unvergeßlichsten Augenblicke bleiben mir doch, als die Alpen glühten am Spätabend und das Meer brillanten aufleuchtete in stiller Mitternacht.“




Eine andere Stätte, von wo Licht ausging.
Von Prof. Richter in Dresden.

Eine Stätte, von wo Licht ausging, habe ich unsern freundlichen Lesern vor Kurzem vorgeführt (Gartenlaube 1863. Nr. 47. 48.). Diese Benennung gebührt in noch weit höherem Maße derjenigen Stätte, an welche ich Sie heute, wenigstens in der Einbildung, führen will. Bevor wir jedoch deren Bedeutsamkeit besprechen, will ich erst erzählen, wie es zuging, daß ich dieselbe entdeckte.

Es war am 14. August 1855 Nachmittags, als wir, Freund Jaksch und ich, in offenem Einspännerchen aus der stolzen Hafenstadt Genua gen Westen rollten, um auf die genußreichste Art jene wundervolle Straße längs der Ufer des mittelländischen Meeres am Fuße der Seealpen hin zu bereisen, welche dem Baugenie Napoleon’s alle Ehre macht und zugleich mit Recht als einer der reizendsten Striche der ganzen Erde, als das „goldne Ufer“ Oberitaliens berühmt ist. Ueber Voltri und Arenza waren wir in ein Oertchen Namens Cogoletto gelangt. Hier hielt unser Kutscher plötzlich auf der Straße still, sprang mit italienischer Ungenirtheit vom Bocke, indem er uns in ein paar Worten andeutete, daß er hier etwas zu thun habe, – und verschwand, uns und das Pferd auf dem Pflaster stehen lassend. In dieser Lage fiel uns an der nächsten Ecke ein Kaffeehausschild in die Augen. Wir gingen dahin, bestellten bei der Wirthin einen „Cafè nero“ (schwarzen Kaffee) und begaben uns dann, ohne in die rußige niedrige Stube einzutreten, durch den Thorweg (s. das Bild) hinunter an das Meer, dessen klare blaue Wellen wir hinter dem Häuschen am Strande plätschern hörten. Von dieser Seite aus sah das Gebäude freilich noch dürftiger aus, als von der Vorderseite, welche ich dem Leser durch die gütige Vermittelung unseres Landsmannes, des Malers und Photographen Herrn Alfred Noack in Genua, hier im Holzschnitt zeige. Eine Holzgallerie mit einem Hüttchen daran, behangen mit alter Wäsche, darunter ein großer Misthaufen und ein kleines Gärtchen mit ein paar Büschen, – letzteres durch eine niedrige Steinmauer von dem flachen Strande getrennt, welcher, nur ein paar Schritte breit, die heranwandernden Schaumlinien des Meeres in Empfang nahm. Aber die Aussicht von da ist reizend und erhaben! Der ganze Golf von Savona, Genua und Spezzia, eingefaßt von lachenden Städten, Dörfern und Landhäusern, im Hintergrund durch die zackige Alpenkette geschlossen, und jede Woge im Glanz der Nachmittagssonne flinkernd!

Durch das Haus in die düstre Wirthsstube zurückgekehrt, fanden wir einen Kaffee, der dem Namen Nero nur zu sehr Ehre machte, mag man dabei an den Römertyrannen oder an den Kettenhund denken: eine trübe schwarze Brühe. Aber die Wirthin beeiferte sich, diesen Mangel durch ihre von uns nur halb verstandene Unterhaltung in Genueser Italienisch zu ersetzen. Sie erzählte uns in der Kürze ihre ganze Familiengeschichte, wie ihr Schwiegersohn gegen die Oesterreicher gefochten und nach Amerika habe flüchten müssen, ihr die Tochter und die Kinderchen zur Versorgung zurücklassend. Dann sprang sie plötzlich auf ein andres Thema über und betonte wiederholt „la casa di Colombo.“ Wir begriffen nicht, was die Alte wollte. Aber der eben eintretende Kutscher (der Brave hatte inzwischen für ein frischeres und besseres Pferd gesorgt) machte dem Mißverständniß ein Ende, indem er mit den Worten „si, si, questa é la casa di Colombo“ („ja, ja, dies ist das Haus des Columbus“) uns einlud, ihm auf die Straße hinaus zu folgen, wo wir auf zwei über der Thür angebrachten [315] Marmortafeln, einer älteren vom Jahre 1650 und einer neueren von 1826, die amtliche Versicherung lasen, daß hier das Geburtshaus des großen Entdeckers von Amerika stehe.[2]

Nun erwarte ich freilich, daß die Kritiker über mich herfallen und erklären werden, daß Columbus’ Geburtsstätte nicht geschichtlich nachzuweisen stehe, daß sich um diese Ehre so viel Orte streiten, wie um Homer’s Geburtsstadt, daß insbesondere Genua selbst darauf Anspruch mache, indem sich der große Admiral selbst immer nur einen gebornen Genueser genannt hat, sodann Piacenza, Cuccaro, Finale, Oneglia, Savona und Boggiasco. Was Alles ausführlich zu lesen ist in Washington Irving’s berühmter Geschichte des Lebens und der Reisen des Christoph Columbus (im fünften Anhang des letzten, 4., Bandes). Hierauf erwidere ich, daß Columbus gewiß mit Recht, auf seine freistaatliche Abstammung stolz, sich einen Genueser genannt haben wird, weshalb er nicht in der Hauptstadt selbst, sondern nur im Staate Genua geboren zu sein brauchte. Vor Allem aber bestimmt mich der Umstand, daß keine andere Stadt uns so wie Cogoletto einen bestimmten, sicht- und greifbaren Punkt als Columbus’ Geburtshütte aufweist und daß kein Platz der Welt geeigneter war, die Wiege und Jugendzeit des Mannes aufzunehmen, dessen Ahnungen und Combinationen über tausend Meilen hinüber eine neue Welt finden sollten. Ich kann mir recht gut vorstellen, wie der phantasiereiche Knabe in diesem Fleckchen, zwischen Meer und Gebirge eingeklemmt, jenseits des Ersteren unbekannte südliche Welten, jenseits der Letzteren wunderbare nordische Länder geahnt und geträumt haben mag; wie er, in den das Gärtchen bespritzenden Meereswogen herumwatend, schwimmend und kahnend, frühzeitig jene Vertrautheit mit dem salzigen Elemente erworben haben mag, welche ihn später zu einer noch heute ungewöhnlichen Kühnheit im Befahren des unendlichen Oceans sowohl als der gefährlichsten Korallenriffe und Inselklippen des westindischen Meerbusens befähigte? Denn man darf nicht übersehen, daß diese vermessene und dabei doch umsichtvolle Kühnheit, dieses innige Vertrautsein mit dem Seeleben und seinen Gefahren eine der ersten Vorbedingungen war, welche ein Mann besitzen mußte, der mit Vorbedacht und Entschluß darauf ausging, die unbekannte Hälfte des Erdballs zu umschiffen.

Hinweg also mit den Zweifeln! Sei’s hier oder in der Nähe, wir stehen auf einer Stätte, würdig zur Erinnerungsfeier an denjenigen Mann, dem die europäische Menschheit mehr vielleicht als manchem Anderen ihre Erlösung aus schauderhafter Verdummung und ihren Uebergang zu einem System ununterbrochenen geistigen Fortschreitens auf der Bahn thatsächlichen Forschens und kühner Entdeckungen verdankt. Diese Bedeutung des Columbus klar zu machen, ist der Zweck unseres heutigen Artikels.

Die Geschichte des Columbus und seiner Reisen ist wohl den meisten unserer Leser aus Campe’s vielgelesener Kinderschrift oder aus dem erwähnten classischen Werke W. Irving’s bekannt genug. Für unsern Zweck genügt es, an folgende Umstände zu erinnern. Columbus widmete sich frühzeitig mathematisch-geographischen und andern dem Seefahrer nöthigen Studien und war von Jugend an Seefahrten gewöhnt. An der Seite zweier, ebenfalls als Schiffsbefehlshaber berühmter Verwandter nahm er schon als junger Mann an den für jene Zeit sehr kühnen und großartigen Entdeckungsreisen Theil, welche von den Portugiesen längs der westafrikanischen Küste nach den canarischen Inseln und dem grünen Vorgebirge hin ausgedehnt wurden. Er reiste aber auch nach Norden, bis nach Island und hatte demnach den längsten Strich der damals bekannten Welt, ziemlich 50 Breitengrade, also etwa den 7. Theil des Erdumfanges beschifft. Theils auf diesen Reisen, theils bei seinem Aufenthalt in Portugal, wo er sich verheirathet und niedergelassen hatte, aus den Nachrichten zahlreicher anderer Seefahrer und Erdkundiger, sammelte er jene Summe von Thatsachen, aus denen sich in immer steigender Gewißheit die Schlußfolgerung ergab, daß im Westen von Europa ein großes Festland liegen müsse, von welchem her die Wellen nicht selten Baumstämme, tropische Früchte, menschliche Schnitzwerke und sogar die Leichen einer neuen Menschenrace an die Küsten der westeuropäischen Länder anschwemmen.

Die Art und Weise, wie Columbus diese Thatsachen sammelte, bewahrheitete, zusammenstellte und zu haltbaren Schlußfolgerungen verwendete, entspricht ganz der Art, wie es die Naturforscher heutzutage beim Aufsuchen neuer Wahrheiten machen, dem sogen. Inductionsverfahren. Daher kam aber auch jene Macht der Ueberzeugung, welche unsern Columbus veranlaßte, in jedem Mißgeschick und unter unaufhörlichem Kampf mit unverständigen oder flachen Menschen sein Project 18 Jahre lang festzuhalten und von einer Regierung zur andern zu wandern, um zur Ausführung desselben ein paar elende Schiffe und eine verhältnißmäßig unbedeutende Summe – welcher er sein gesammtes eigenes Vermögen zulegen mußte – bewilligt zu erhalten. Es ist bekannt, daß ihm hierzu schließlich mehr das Vertrauen der Königin Isabella verholfen hat, welche mit weiblichem Takt den ehrlichen Mann in Columbus erkannte und ihm zeitlebens eine treue Beschützerin blieb, als die Intelligenz der Gelehrten und Staatsmänner, denen sein Plan und dessen Gründe zur Prüfung vorgelegt wurden. Im Gegentheil! Die noch erhaltenen Verhandlungen dieses zu Salamanca im Dominikanerkloster St. Stephan von Professoren der Astronomie, Geographie, Mathematik und anderer Wissenschaften, so wie von verschiedenen kirchlichen Würdenträgern und gelehrten Mönchen abgehaltenen Rathes beweisen nur allzukläglich, bis zu welchem Grad der Verdüsterung und Verkehrtheit die Köpfe in jener Zeit „durch mönchischen Aberglauben und Falschwisserei“ gerathen waren.

Die echte Gelehrsamkeit hatte in Spanien bisher so wenig Fortschritte gemacht, daß diese vermeintlichen Weltweisen nicht einmal die ersten Gründe begriffen, worauf Columbus seine Muthmaßungen und Hoffnungen stützte. Gleich an der Schwelle der Untersuchung wurde Columbus statt geographischer Einwürfe mit Stellen aus der Bibel und mit den darauf bezüglichen Auslegungen der Commentatoren und Kirchenväter angegriffen. Mathematische Beweise wurden aus der Kirchenlehre widerlegt. Dem einfachen Satze, daß die Erde eine Kugel ist, wurden die bildlichen Ausdrücke der Bibel entgegengehalten, wonach der Himmel mit einem ausgespannten Teller (in den Psalmen) oder einem Zelte (bei Paulus) verglichen wird. Daß es Gegenfüßler (Antipoden) gebe, ward mit Lactantius für absurd erklärt. Einige behaupteten, der Umfang der Erde sei so groß, daß eine solche Seefahrt drei Jahre dauern müßte. (Columbus rechnete nur 7–800 Seemeilen.) Andere behaupteten, daß ein Schiff, wenn es dorthin gefahren sei, wegen der Kugelgestalt der Erde nicht wieder zurückkommen könne, weil es dann bergauf segeln müsse! (Als ob dies nicht auch von der Hinfahrt gelten müßte!) Noch Andere behaupteten, daß es unterm Aequalor so heiß sei, daß Alles verbrennen müsse. Und doch waren die Portugiesen damals schon seit Jahren in den Aequatorländern herumgeschifft, und Columbus mit ihnen!

Die Mehrzahl zeigte sich schon im Voraus gegen dieses Project eines unbekannten Abenteurers eingenommen. Sie sagten, es sei Vermessenheit, wenn Jemand klüger sein wolle, als alle gelehrten Leute vor ihm. Wenn es wirklich solche Länder gäbe, so würden sie durch den Scharfsinn früherer Jahrhunderte schon längst entdeckt worden sein. Es sei eine starke Anmaßung von solch einem gemeinen Mann, gegenüber von Männern in hohen Aemtern und Würden zu glauben, daß ihm große neue Entdeckungen vorbehalten seien.

Und doch, lieber Leser, dürfen wir uns beim Vernehmen dieses Unsinns, welchem nur das Eine entgegenzuhalten war: „Versucht es doch, anstatt darüber zu disputiren!“ wir dürfen uns wahrlich nicht zu sehr unserer heutigen Weisheit rühmen. Noch vor dreißig Jahren sind gegen den Entwurf der ersten größern deutschen Eisenbahn, der von Leipzig nach Dresden, nicht minder lächerliche Bedenken und Vorausurtheile vorgebracht worden, wie beim hohen Rath zu Salamanca, etwa die Bibelsprüche und Kirchenvater abgerechnet. Denn der mittelalterliche Geist der Autoritätsgläubigkeit und Vorauswisserei ist heutzutage noch lange nicht vollständig aus den Köpfen der Leute verschwunden. Noch heute giebt es Länder, [316] wo man einem neuen Erfinder mit demselben Apparat von Klügeleien und Düfteleien (Sophismen) entgegentritt. Noch leben Männer, denen man es seiner Zeit zum Verbrechen angerechnet hat, daß sie neue Bahnen suchten und die Aussprüche ihrer ehrwürdigen Lehrer nicht als entscheidend anerkennen wollten, oder denen man Stillschweigen geboten, weil sie hergebrachten wissenschaftlichen Ansichten, die von oben her beschützt wurden, zu widersprechen wagten.

Dieser mittelalterliche Geist war nun aber zu Columbus’ Zeit gerade mächtiger als je. Soeben waren die Araber, die letzten Träger der Wissenschaft, welche theils altgriechische Kenntnisse fortgepflanzt, theils selbständige Forschungen, besonders auf naturwissenschaftlichem Felde, gepflegt hatten, aus Europa vertrieben, unterjocht und zersplittert worden. Die Inquisition bereitete sich vor, ein Paar Jahrhunderte lang den Glaubenssieg durch fanatische Menschenquälerei zu feiern. Staat und Kirche waren fest verbunden, jede ketzerische Abweichung von den obrigkeitlich oder kirchlich befohlenen Gedankengängen zu unterdrücken und bitter zu bestrafen. Ein schwerer Druck, ein dicker Nebel lastete auf allen denjenigen Geistesanlagen des Menschengeschlechtes, durch welche wir befähigt werden, vorwärts, aufwärts, dem Göttlichen zu, uns zu entwickeln. Und sie drohten, immer schwerer, immer dicker zu werden. Es läßt sich nicht denken, wie dies von selbst im Laufe der Dinge hätte besser werden sollen. Durch Erörterungen allein wird die Masse nicht frei; sie begreift erst Thatsachen. Allerdings war damals die Buchdruckerkunst schon erfunden; sie machte es möglich, daß vieles ehedem Verborgene zur allgemeinen Kenntniß gelangte. Aber die Buchdruckerpresse ist leicht zu unterdrücken, wie wir noch heutzutage merken; sie wäre in jenen Zeiten noch leichter und vielleicht für immer zum Schweigen zu bringen gewesen, wenn die verbündeten politischen und kirchlichen Machthaber des gesammten Europa’s ernstlich gewollt hätten. Und wo nicht, so blieb es immer noch möglich, wie heutzutage, sie in ausgedehntem Maße zur Verdunkelung der Menschengeister zu benutzen. Noch heutzutage ist die Masse der Schriften, welche die Köpfe verdummen und die Denkkräfte verweichlichen, wie manche Romane es thun, überwiegend größer, als die Zahl der wahrhaft aufklärenden und die geistige Spannkraft erhöhenden. Zudem ist die Zahl der Lesenden immer eine geringe und war dazumal verschwindend klein. Die große Mehrzahl des Volkes lebte in bodenloser Unwissenheit und Abergläubigkeit, zwischen knechtischer Arbeit und rohem Sinnesgenuß getheilt. Seine Weisheit und Frömmigkeit bestand in auswendig gelerntem Wortkram, hirnverwirrenden Glaubenssätzen und kindischer Furcht vor Geistern und Höllenmächten, womit sie von ihren klerikalen Zwingherren geängstigt wurden. Zauberglaube, Hexenverfolgung und Ketzervertilgung waren an der Tagesordnung; letztere gehörten zu den öffentlichen Festlichkeiten. Vernunft und Natur, beide waren proscribirt, verpönt und gefürchtet zugleich.

Die höheren Stände waren ebenfalls großentheils aller eigentlichen Bildung fremd. Ihr Hauptinteresse war entweder Jagd- und Kriegeslust, welche den Menschen zum Raubthier herabziehen, oder Lied und Liebe, die der Mensch mit dem Finkengeschlecht gemeinsam hat. Aber von jenen Geisteskräften, welche den Menschen vom Thiere unterscheiden und zu der stolzen Hoffnung berechtigen, daß mit dem Menschengeschlecht eine neue zukünftige Reihe vollkommnerer Geschöpfe beginne – von diesen höheren Geistesfähigkeiten wurde keine für würdig gehalten. Die Gelehrten endlich, aller Ursprünglichkeit und Schöpferkraft bar, klammerten sich an die überlieferten Sätze längst verstorbener Schriftsteller und an die von der Kirche amtlich vorgeschriebenen Glaubenslehren. Auslegung (Commentiren) und Zergliederung solcher alter Sätze galt für Gelehrsamkeit, Spitzfindigkeit und Wortklauberei für Scharfsinn, Schulweisheit (Scholastik) für Kenntniß. Man bildete sich ein, Etwas zu wissen, wenn man nacherzählte, was die Leute vor Jahrhunderten zu wissen gemeint hatten. Selbstständig zu untersuchen, ob solche Autoritäten Recht hatten, ob der Kern der Sache wahr oder unwahr sei, kühn in die noch unbekannten Thatsachen hineinzugreifen, um ein paar neue Wahrheiten zu erhaschen: das wagte Niemand, das wäre Vermessenheit gewesen. Die oben berichtete Geschichte des Rathes zu Salamanca, wo schließlich die unstudirten Dominikaner noch am meisten für die Sache des gesunden Menschenverstandes, d. h. des Columbus, Partei nahmen, giebt uns ein deutliches Bild, wie es in den Köpfen jener Gelehrten aussah.

In diese Finsterniß nun fiel zuerst ein erleuchtender Morgensonnenstrahl durch die oben erwähnten Entdeckungsreisen der Portugiesen längs der Westküste von Afrika, die Entdeckung der Canarien, Madeira’s, Teneriffa’s und des grünen Vorgebirges. „Das Gerücht von diesen Seereisen verbreitete sich bald in ganz Europa. Die Menschen, welche lange Zeit gewohnt waren, die Wirksamkeit und Kenntniß des menschlichen Geistes in ihren bisherigen Kreis einzuschränken, erstaunten, als sie den Kreis der Schifffahrt so plötzlich erweitert und eine Aussicht eröffnet sahen auf Reisen in Weltgegenden, von deren Dasein man in den vorausgegangenen Zeiten nichts gewußt hatte. Die Gelehrten und Denker machten Schlüsse und Theorien über diese unerwarteten Entdeckungen. Das Volk staunte. Muthige Abenteurer eilten aus allen Ländern Europa’s herbei, ihre Dienste anzubieten,“ schreibt Robertson in seiner Geschichte von Amerika.

Eine kleine naturwissenschaftliche Entdeckung gab diesem neuen Triebe das Mittel zum Hinausschweifen in den Ocean. Dies war die Entdeckung der Eigenschaft des freischwebenden Magnetes, sich mit der Axe quer gegen den Erdumlauf, also mit den beiden Spitzen gegen beide Pole zu stellen, die Erfindung der Magnetnadel, welche sich rasch unter den Schifffahrern verbreitete. Erst diese machte es möglich, bei Nacht und Nebel in’s weite Meer hineinzusteuern, während bis dahin die Schiffer sich immer ängstlich am Lande hin drücken mußten, um nicht bei fehlendem Stern- und Sonnenschein Gefahr zu laufen, alle Richtung zu verlieren und die Hoffnung auf Heimkehr einzubüßen. Jetzt vertraute man sich kühn, und die Columbusse unter den Kühnsten, dieser zitternden stählernen Wegweiserin an, und sie war es denn auch, welche unsern Helden – nicht ohne einige Schelmereien der Abweichung vom richtigen Pol – glücklich in das gelobte Land brachte.

Die Art und Weise, wie Columbus diese kühne Erstlingsweltreise ausgeführt hat, ist mustergültig für jeden Entdecker in jeder Wissenschaft. Er maß Alles am Himmel und in den Tiefen; er hielt genaue Rechnung über jede zurückgelegte Seemeile (sogar doppelt, eine echte für sich und eine verminderte für sein zaghaftes Schiffsvolk); er beobachtete alle sich darbietenden Erscheinungen in der todten und lebenden Natur und schrieb die Beobachtungen sofort mit der Farbe des frischen Eindruckes in seine Tagebücher nieder.

Er controlirte scharf alle neu dargebotenen Thatsachen, z. B. die heranschwimmenden Pflanzen, die auf das Schiff flatternden oder vorbeiziehenden Vögel, um zu prüfen, in wie weit sie das Vorhandensein eines westlichen Festlandes bestätigten, das heißt die Summe der beweisenden Umstände für einen solchen Inductionsschluß vermehrten. Und so wurde am 11. Octbr. 1492 diese wundervolle neue Welt entdeckt; nicht durch den blinden Zufall, nicht durch die Laune eines Wagehalses, sondern durch die langjährige Arbeit eines Forschers, welcher von richtigem Grundsätzen ausgehend die Thatsachen reden lehrte und an dem, was sie ihm mitgetheilt, mit unerschütterlicher Festigkeit und Folgerichtigkeit festhielt, bis er seine Aufgabe gelöst hatte. Freilich, „die Ausführbarkeit einer solchen Fahrt war eines jener natürlichen Geheimnisse, welche in der bloßen Speculation für unausführbar gelten, aber, einmal ausgeführt, die allereinfachsten Dinge von der Welt sind.“ Columbus war sich dessen recht wohl bewußt, wie die bekannte Geschichte vom Ei beweist. Denn als einige Zeit nachher ein naseweiser Höfling meinte: „wenn Columbus nicht gewesen wäre, würde wohl ein Anderer die neue Welt gefunden haben!“ – da forderte Columbus ihn und die übrige Gesellschaft auf, ein Ei auf die Spitze zu stellen, so daß es stehen bleibe. Und als dies keiner vermochte, löste er die Aufgabe durch Zerklopfen der Schale. „Nichts leichter als das!“

Die nächste Wirkung von Columbus’ Entdeckungen war Bewunderung und Entzücken in der ganzen civilisirten Welt. Jedermann betrachtete es als ein Ereigniß, bei welchem er selbst mehr oder minder betheiligt sei und welches ein neues schrankenloses Feld der Untersuchung und des Erwerbes eröffne. Pomponius Lätus, ein Gelehrter jener Zeit, schreibt von sich, er sei vor Entzücken in die Höhe gesprungen und habe Freudenthränen geweint. Peter Martyr, ein anderer Gelehrter, schrieb, er fühle eine wahre Glückseligkeit des Geistes, sich mit den zurückgekehrten Entdeckern zu unterhalten. Es sei ihm zu Muthe, wie einem Armen, dem sich reiche Schatzkammern öffnen. Die Seele fühle sich erhoben, wenn sie solche glorreiche Erfolge betrachte. „Alles, was man bisher für groß und glänzend gehalten hatte, verschwand und verdunkelte [317] sich beim Vergleich mit so wunderbaren und unerwarteten Begebenheiten. Die Aussichten erweiterten sich, und erweckten den menschlichen Geist zu größerer Thätigkeit. Er strebte den Gegenständen, die sich ihm vorhielten, eifrig nach und spannte seine wirksamen Kräfte an, um eine neue Laufbahn zu betreten.“

Zunächst waren es natürlicherweise die Habgier und Herrschsucht, dann Bigotterie und Bekehrungseifer, welche durch die Entdeckung jener neuen, goldreichen und von schwächlichen Indianerstämmen bewohnten Länder geweckt wurden. Diese niedrigen Motive hatten aber, wie es so oft in der Weltgeschichte ergeht, höhere, geistige Errungenschaften zur Folge. Der alte Autoritätsglaube, der Beherrscher des Mittelalters, stürzte zusammen, und zwar durch die Macht des wirklich Erlebten, welche überall sicherer und durchgreifender auf die Massen wirkt, als Belehren und Zureden. Diese Aufklärung war durch keine Macht des Herrscher- und Priesterthums mehr zu unterdrücken. Die Leute erstaunten über ihre bisherige Unwissenheit; sie lernten deren Quellen mißachten; sie begannen sich auf ihre eigenen Sinne und ihren gesunden Menschenverstand mehr als auf fremde Zureden zu verlassen; sie erwarben den Muth, selbständig auf der Entdeckungsbahn vorwärts zu gehen, neue Thatsachen aufzusuchen und Untersuchungen über die Gültigkeit alles bisher Geglaubten zu unternehmen.

Diese dem 15. Jahrhundert und seinen Entdeckungen entstammende Geistesrichtung fand ihren wissenschaftlichen Ausdruck in dem philosophischen System des berühmten englischen Staatsmannes Baco von Verulam, der von 1561 bis 1626 lebte. Baco lehrte die Menschen, sich von Vorurtheil und Autoritätsglauben gründlich frei zu machen. Er zeigte, daß die bisherigen Philosophien hauptsächlich auf Hirngespinsten beruhten, die der Mensch in sich bildete und an die Stelle realen Wissens setzte. Er lehrte, wie man der Einbildungskraft Zaum und Zügel anlegen müsse und statt dessen an der Hand nüchterner Beobachtung zu Erfahrungen, an der Hand unausgesetzter Versuche zu Entdeckungen gelangen könne. Er gab sorgfältig die Verfahrungsweisen und Vorsichtsmaßregeln an, welche man befolgen muß, um nicht in Irrthümer zu verfallen, sondern wirklich haltbare Wahrheiten zu finden. Fortan sollte jeder Forscher, in jedem Gebiete des menschlichen Wissens, ein Entdecker, ein Columbus in seinem Fache werden. Nur auf diesem Wege ist es möglich, daß das Menschengeschlecht wirkliches Wissen und geistige Fortschritte erziele.

Columbus’ Geburtshaus in Cogoletto.

Diese Philosophie, welche am kürzesten mit dem deutschen Sprüchwort: „probiren geht über studiren!“ bezeichnet werden kann, ist nach und nach die herrschende unserer Zeit geworden, zuerst in den Naturwissenschaften, dann in der Heilkunst, endlich auch in den die Natur des Menschen und dessen sociales Treiben behandelnden Wissenszweigen, wo sie, wie z. B. in der Volkswirthschaft, als statistische und numerische Methode bekannt ist. Ueberall setzt sie in diesen Wissenschaften an die Stelle des früheren aus dem Gehirn der Gelehrten herausgesponnenen Wissens die nackten Thatsachen und das, was die Thatsachen bei richtiger Behandlung von selbst aussprechen. Sie setzt den Fortschritt darein, neue Thatsachen aufzusuchen, die alten zu beglaubigen, beide zusammenzustellen und zu zwingen, daß sie neue Wahrheiten oder doch Wahrscheinlichkeiten kundgeben. Dieses gesammte, besonders von den neueren Naturwissenschaften durch eine Menge neuentdeckter Instrumente und Verfahrungsweisen geförderte System des wissenschaftlichen Fortschrittes hat seinen Ausgang von Baco’s Philosophie. Und ein Baco wäre nicht möglich gewesen ohne einen vorherigen Columbus. So feiere denn die neue Zeit jene Hütte als eine Stätte, von wo Licht ausging!

Daneben dürfen wir nicht gering anschlagen die Unsumme neuer Thatsachen, welche mit und in Folge der Entdeckung Amerikas bis auf heute den Schatz des menschlichen Wissens vermehrt haben. Welche unerhörten Bereicherungen erhielten nicht die Naturwissenschaften, die Sternen- und Erdkunde, die physikalische Erdkunde vor allen (Columbus selbst entdeckte zuerst die Abweichung der Magnetnadel), die Gesteins-, Pflanzen- und Thierkunde, die Schifffahrtskunst; welche Bereicherungen der Verkehr mit edlen Metallen, Kostbarkeiten, Lebensmitteln (Cacao, Zucker etc.), Kleidungsstoffen (Baumwolle, Pelzwerk etc.); welchen Anstoß der Landbau in den verschiedensten Zonen (Zucker-, Mais-, Tabaks-Erzeugung etc.)! Vor allem aber wichtig wurde es, daß der neue Erdtheil eine Fluth der unternehmendsten und thatkräftigsten Persönlichkeiten aus Europa zu sich hinüber lockte, um dort nützlich zu schaffen oder als Saat einer reichen Zukunft zu Grunde zu gehen. Zunächst strömten allerdings hauptsächlich wilde Abenteurer hinüber, dann herrschsüchtige [318] Staats- und Kirchenbeamte; bald aber folgten auch friedliche Colonisten, Arbeiter und Kaufleute. Nicht lange, so wurde Amerika die Zuflucht aller, welche Freiheit suchten, zuerst in religiösen, dann in politischen Dingen. Und die Freiheit wurzelte dort drüben zeitiger als im alten Lande ein, und kam von dort als Rückfracht zurück. Bis heute hat jeder Schritt, den Amerika zu seiner Befreiung gethan, einen Rückschlag auf entsprechende Theile Europas ausgeübt: Nordamerika auf England, Frankreich, selbst Deutschland, Südamerika auf Spanien und Portugal. „Mit dem Bekanntwerden Amerikas beginnt wirklich eine neue Periode der Menschen-, Völker- und Staatengeschichte. Denn wie der enge Wohnkreis wurde auch der menschliche Gedankenkreis dadurch zu einer höheren Stufe der Ideenwelt erhoben. Nun erst wurde Gesammtentwicklung aller Kräfte und Anlagen des Menschengeschlechtes durch die vollständige Kenntniß seines ganzen Erziehungshauses, des Erdballs, möglich,“ so schreibt Carl Ritter in seiner allgemeinen Erdkunde.

Am merkwürdigsten aber ist es, daß der oben geschilderte Columbus’sche Geist in den Amerikanern, wenigstens in den Bürgern der Vereinigten Staaten Nordamerikas, vollständig verkörpert, zu Fleisch und Blut geworden ist. Dies ist der den echten Yankee überall kennzeichnende Grundsatz des „go ahead“, des Drauflosgehens. Wo der Europäer, und vor Allem der gute Deutsche, sich erst noch lange, lange bedenkt und das Für oder Wider einer Sache grübelnd abwägt: da hat sie der echte Amerikaner schon längst angepackt und in’s Werk gesetzt; denn Probiren geht ihm über Studiren, und Zeit gewonnen heißt ihm Geld gewonnen. Neue Erfindungen, halbreife Pläne, bloße Einfälle ergreift der echte Yankee mit einer Raschheit und führt sie mit einer Entschiedenheit aus, wobei einem ehrlichen Deutschen ganz schwindelig zu Muthe wird. So kommt es freilich zu vielen Fehlschlägen; aber „dabei lernt man was!“ So geschieht es aber auch andrerseits, daß keine Nation der Erde in gleich kurzer Zeit gleich viele große und schwierige Werke durchgeführt, gleich viele Erfindungen und Entdeckungen verwirklicht, gleich viele und bedeutende Verbesserungen in allen sachlichen und technischen Zweigen vollbracht hat, wie das energische und fortschrittstüchtige Volk der nordamerikanischen Freistaaten.

Und wenn dieses kühne Volk einst, hoffentlich bald, seine jetzige, mit derselben go-ahead-Manier ergriffene Aufgabe beendet haben wird, dem Sclavenhalterthnum ein Ende zu machen und den Schandfleck der Leibeigenschaft und Sclavenzüchterei von der Union abzuwaschen; wenn die Sterne Uncle Sam’s, wieder alle auf einem Banner vereinigt, stolzer als jetzt in die alte Welt herüber leuchten werden: dann möge sich Amerika desjenigen Mannes erinnern, dem es nicht nur seine Entdeckung, sondern auch seine Fortschritts principiell zu verdanken hat. Dann möge sich neben der bescheidenen Hütte zu Cogoletto ein Riesenthurm erheben, welcher, weithin über den Golf von Genua sichtbar, ein Sternenbanner flaggend, in alle Welt hinausrufe: „Hier ist das Haus des Columbus!“




Die Geschichte der deutschen Telegraphie.

C’est une idée germanique!“ sagte am 5. November 1809 Napoleon I. zu seinem Leibarzt, dem Baron Jean Dominique Larrey, als dieser ihm einen vollständigen elektrischen Telegraphen vorgelegt und dabei erklärt hatte, daß mit diesem Apparat zwischen Straßburg und Paris eine unmittelbare Verbindung möglich sei, während der optische Telegraph, bei seiner Beschränktheit auf bestimmte Entfernungen, die Wiederholung der telegraphischen Zeichen auf vielen Stationen nothwendig mache und ebendeshalb vielfachen Mißverständnissen ausgesetzt sei, der Unterbrechungen seiner Thätigkeit durch Nacht und Nebel nicht zu gedenken. „C’est une idée germanique“, wiederholte der Kaiser, indem er die Legung und Sicherung eines Verbindungsstranges von solcher Länge für viel zu schwierig erklärte, um ausgeführt zu werden, und wies damit die Erfindung als eine „deutsche Träumerei“ – denn das lag in dem wegwerfenden Ton, mit welchem er sie als „idée germanique“ bezeichnete – ohne Weiteres von sich.

Wir nehmen heute Napoleon’s Ausspruch als ein geschichtliches Zeugniß auf für die deutsche Ehre der großen Erfindung. Daß dies aber überhaupt nöthig ist, daß trotz der hohen wissenschaftlichen Stellung des deutschen Erfinders, trotz der ausführlichen Darlegung der Erfindung in deutschen akademischen Denkschriften, trotz der Empfehlung durch bedeutende Männer der Wissenschaft in Frankreich, England, Rußland und Oesterreich, ja trotz der praktischen Ausführung im Kleinen an zwei Stätten deutscher Gelehrsamkeit, daß trotz alledem die deutsche Ehre der Erfindung so ganz und gar vergessen werden konnte, daß bis heute die große Menge im guten Glauben auf die Ehrlichkeit fremder Ansprüche die Ehre der Erfindung an Namen wie Morse knüpfte, der lediglich durch Verbesserungen sich Verdienste erworben hat, das ist ein so ganz gewöhnliches Stück deutscher Erfahrung, daß man sich am Ende wundert, wie Einen über derlei immer neue Entrüstung packen mag.

Der Erfinder des elektrischen Telegraphen ist der berühmte Anatom und Physiolog Samuel Thomas von Soemmerring, und die Zeit der Erfindung das Jahr 1809. Soemmerring, ein geborener Thorner, war Professor der Anatomie in Mainz, als die Universität daselbst aufgelöst wurde. Er lebte dann als praktischer Arzt in Frankfurt am Main, ging 1804 als Mitglied der Akademie der Wissenschaften nach München und wurde 1810 königlich baierischer Geheimer Rath. Diese Notiz ist keine müßige, sie soll beweisen, daß hier das öffentliche Vorurtheil und die nationale Gleichgültigkeit nicht einen armen Forstmann, wie Ressel, den deutschen Erfinder der Schiffsschraube, oder einen armen Artillerie-Unterofficier, wie Wilhelm Bauer, den deutschen Erfinder der unterseeischen Schifffahrt, vor sich hatte, sondern einen berühmten, hochverdienten und auch im Leben hochgehaltenen Mann.

Daß dieser deutsche Gelehrte einer der größten vergleichenden Anatomen der neuern Zeit gewesen, erzählt jedes Conversations-Lexikon. Dagegen hat bis heute das Kleingewerk der deutschen Biographie meist davon geschwiegen, daß diesem Gelehrten allein auch die Ehre zukommt, um die sich noch in der neuesten Zeit Russen, Engländer und Amerikaner streiten, die Ehre der ersten Idee, den Galvanismus für Telegraphie zu benutzen. Die Veranlassung zu dieser Erfindung war folgende.

Am 5. Julius 1809 saß Soemmerring in Bogenhausen an der Tafel des Ministers Grafen Montgelas. Im Laufe der Unterhaltung äußerte der Minister gegen den von ihm sehr geschätzten Gelehrten, die Akademie würde ihn erfreuen, wenn sie ihm Vorschläge zu einem möglichst zweckmäßigen Telegraphen vorlege. Dieser Wunsch war es, der die Erfindung erzeugte, und ihr selbst war bereits auf wissenschaftlichem Wege vorgearbeitet. Soemmerring beschäftigte sich nämlich neben seinen Berufsarbeiten gern mit physikalischen, chemischen und astronomischen Studien. Sie hatten ihn schon 1801 zu Versuchen mit der Voltaischen Säule geführt und die Wirkung derselben auf das Nervensystem in ihm schon damals die Ahnung einer Analogie zwischen galvanischer Erregung und Nerventhätigkeit erweckt. Konnte ihm da der Gedanke fern sein, isolirte galvanische Drähte zu einem telegraphischen Leitungsseil zusammenzuwinden „und dadurch ein, wenn auch noch grobes Analogon eines Nervenstrangs zu construiren“ ? – Wie er nun, daran festhaltend, Versuch an Versuch reiht, bis endlich die ganze Erfindung vollendet und der erste Apparat in seiner Thätigkeit erprobt ist, dies Alles hat Soemmerring in einem Tagebuch niedergelegt, aus welchem sein Sohn, Hofrath Dr. W. Soemmerring, das Wesentlichste in einer Schrift[3] veröffentlichte, die uns für diesen Artikel als Vorlage dient.

Die hauptsächlichsten Tagebuchsätze sind: Am 8. Juli (1809). „Die ersten Versuche gemacht, die Voltaische Säule zu einem Telegraphen zu verwenden, nämlich durch Gasentbindung Buchstaben an entfernten Orten zu bezeichnen. Die Batterie hatte 15 Glieder (Brabanter Thaler, Filz mit gesättigter Kochsalz-Auflösung befeuchtet und Zinkplatten).“

Am 22. Juli. „Endlich den Telegraphen geendigt.“

Diesen ersten elektrischen Telegraphen der Erde theilen wir hier in Abbildung mit. Soemmerring hatte zu diesem „Trogapparat“ bei Mechanikus Settele in München einen Glaskasten anfertigen lassen, dessen Boden aus Kork besteht, und in welchem 27 einzelne Goldstifte befestigt und mit den Buchstaben des [319] Alphabets nebst einem Wiederholungszeichen und Punkt bezeichnet sind, ferner für den Schreiber (des Telegramms) ein ähnliches Gestell, dessen 27 Zapfen ähnlich bezeichnet sind, wie die Abbildung zeigt.

Montag, den 28. August 1809. „Ich zeige meinen elektrischen Telegraphen in der Sitzung der Akademie vor. Gegenwärtig waren: Jacobi, Schlichtegroll, Krenner, Pallhausen, Niethammer, Martini, Reichenbach, Neumann, Gehlen, Moll, Ritter, Ellinger, Pezzl, Flurl, Güthe und Imhoff.“ Welche gewichtigen Zeugen für den deutschen Ursprung einer solchen Erfindung, – der trotz dieser deutschen Akademie so gründlich aus dem Gedächtniß der Zeitgenossen im Vaterland verschwinden sollte!

Im Herbst dieses Jahres 1809 war es, wo Napoleon mit seinem Leibarzt, Baron Larrey, nach München kam. Durch letztern, einen Verehrer Soemmerring’s, gelangte, wie wir im Eingang erzählten, der neue Telegraph zur Kenntniß des französischen Kaisers.

Napoleon war nicht der einzige Zweifler an der Ausführbarkeit dieser „Idée germanique“; er fand auch hierin bei den Landsleuten Soemmerring’s den eifrigsten Beistand. Ein Herr Premierlieutenant Prätorius erklärte, noch ehe in den Denkschriften der Münchener Akademie die Darstellung der Apparate mit den Abbildungen veröffentlicht war, die ganze Sache für eine paradoxe Idee, die wohl nur einem Scherze ihren Ursprung verdanke. Das geschah in Gilbert’s Annalen und unter der Ueberschrift: „über die Unstatthaftigkeit der elektrischen Telegraphen für weite Fernen.“ –

Aber auch die wissenschaftlichen Zeugen für die Erfindung mehrten sich. Trotz der Abneigung Napoleon’s gegen dieselbe, legte Larrey den Apparat in einer Sitzung des Instituts von Frankreich am 5. December 1809 vor, und es wurde eine aus Biot, Carnot, Charles und Monge bestehende Commission zur Berichterstattung darüber ernannt. Der Bericht selbst ist zwar nicht vorzufinden, aber Biot hat die Belohnung Morse’s in Paris noch mit erlebt und dasselbe Stillschweigen dazu beobachtet, wie so viele Männer der Wissenschaft in Deutschland.

Noch mehr geschah für das Bekanntwerden der Erfindung im Jahre 1811. Jetzt erst erschien der Band der Denkschriften der Münchener Akademie, welcher Beschreibung und Zeichnung der Apparate enthielt. – Im Juni dieses Jahres wird zuerst des Kais. Russ. Staatsraths Barons Schilling von Cannstadt Erwähnung gethan, durch welchen die Kunde der Erfindung nach Rußland kam. Nachdem derselbe gemeinsam mit Soemmerring viele neue Versuche gemacht, u. A. den, den elektrischen Strom durch fließendes Wasser (durch einen Canal und längs der Ufer der Isar) zu führen, nahm er einen ganz nach Soemmerring’s Plan in München verfertigten Telegraphen mit nach Petersburg. Hier wohnte Kaiser Alexander selbst dem Versuche bei, mittels eines durch die Newa geleiteten Drahts eine Kanone der Peter-Pauls-Festung auf das Commando des Kaisers durch den elektrischen Funken abzufeuern. An eine Ausführung in’s Große dachte man jedoch nicht.

Elektrischer Telegraph von Soemmerring.
A Voltaische Säule, deren Pole durch zwei Leitungsdrähte mit B¹, dem Telegraphen des Schreibers, verbunden sind. B² die vordere und B³ die obere Seite desselben. Bei B² stecken die mit beiden Polen der Säule durch Drähte verbundenen zwei Zäpfchen auf den durchlöcherten Stiften B³, welche zu den 24 einzeln isolirten zum Leitungsziel E verbundenen Drähten führen. In C¹, dem Telegraphen des Empfängers, endigen diese in 24 Goldspitzen, welche in dem Boden des mit Wasser gefüllten Glastroges C³ befestigt sind, an denen die sich entbindenden Gasströme die auf B¹ vom Schreiber bezeichneten Buchstaben dem Empfänger angeben. Soll der Wecker D den Empfänger aufmerksam machen, so steckt der Schreiber die zwei Zäpfchen bei B¹ auf die Stifte B und C, wodurch, wie C² zeigt, an den entsprechenden zwei Goldspitzen Gas entwickelt wird, welches den Löffel in die Höhe hebt, der am Ende eines gebogenen Hebels bei C¹ auf dem Glaskasten über B und C beweglich angebracht ist. Er kömmt dadurch in die bei C¹ punktirte Lage, das am anden Ende aufgesteckte Bleikügelchen fällt durch den Trichter auf die Schale des Weckers D und löst ihn aus, daß er zu schlagen anfängt.

Der im Mai 1811 aus Paris zurückgeschickte Apparat hatte die Ehre, die Erfindung Soemmerring’s auch vor den dritten Kaiser Europa’s zur Parade zu bringen. Ein russischer Graf Potocki ließ denselben am 5. Juli in Wien vor Franz I., der Kaiserin und den Erzherzogen Karl und Johann operiren. Seine Majestät waren „enchantirt“ und wünschten sich einen solchen Telegraphen zur Verbindung von Wien und – Laxenburg. Selbst dieser bescheidene Wunsch blieb unerfüllt.

Am meisten schien Dalberg, der damalige Großherzog von Frankfurt, die interessante Neuigkeit zu würdigen, denn er überraschte Soemmerring dafür mit einem sehr ehrenden Schreiben und einer goldenen Medaille mit seinem Bildniß. Auch anderswo, in der Schweiz und in Holland, fand der Apparat laute Anerkennung.

Trotz aller dieser Zeichen von der erkannten Wichtigkeit der Erfindung blieb sie eine wissenschaftliche Rarität ohne praktische Anwendung; selbst der berühmte Mathematiker und Astronom Gauß in Göttingen, der im April 1815 ihretwegen nach München reiste, schien ihr damals noch keine andere Bedeutung verschaffen zu können.

Weil nun weder die drei Kaiser, noch die übrigen intelligenteren Fürsten, noch die Gelehrten des Continents dem großen Werke Soemmerring’s die ihm gebührende Bahn zu eröffnen verstanden hatten, so suchte endlich auch Soemmerring sein Heil in England. Er übergab am 15. Mai 1816 dem damaligen englischen Legationssecretair Sir Lyonel Harvey in München einen Telegraphen mit einer ausführlichen Abhandlung für Humphrey Davy, den größten Chemiker Englands. Die Sendung kam jedoch zurück, angeblich weil die englischen Zollbehörden dem Apparat den Eingang verweigerten! – – Eine zweite Zuschrift an Harvey, der indeß britischer Gesandter in München geworden war, datirt vom 20. Mai 1819 und schließt mit den denkwürdigen Worten: „Ich übergebe meine Erfindung mit allem Vertrauen der tiefen Kenntniß, dem unparteiischen, nachsichtigen und edlen Charakter Sir Humphry Davy’s in der Ueberzeugung, daß unter seinem Schutze dieser elektrische Telegraph nicht nur manche Verbesserungen gewinnen, sondern sehr bald zur höchsten Vollendung und zum beständigen Nutzen Großbritanniens gediehen sein wird.“ Und an Davy selbst schrieb er: „Sie werden es vielleicht noch erleben, daß der Telegraph durch den Canal geführt wird.“ So sicher blickte Soemmerring in die Zukunft seiner Erfindung.

Doch auch dieser Schritt blieb ohne Erfolg. Im folgenden Jahre wurde Oerstedt’s, des großen dänischen Physikers, Entdeckung des Elektromagnetismus bekannt, den der oben genannte Baron Schilling v. Cannstadt sofort zur Construirung eines elektromagnetischen Telegraphen (mit zwei Leitungsdrähten) benutzte. In dem selben Jahre siedelte Soemmerring von München wieder nach Frankfurt am Main über, wo er am 2. März 1830 starb.

Der Mann war todt, sein Werk konnte nicht untergehen, – aber sein Name konnte von diesem Werke getrennt, verschwiegen und endlich sogar vergessen werden.

[320] Die Ehre der ersten praktischen Anwendung des elektromagnetischen Telegraphen sollte, trotz des Mißgeschicks des Erfinders des elektrischen, Deutschland dennoch zu Theil werden. Im Jahre 1833 construirten die Professoren Gauß (der, wie oben bemerkt, achtzehn Jahre früher Soemmerring’s Apparat in München kennen gelernt hatte) und Weber in Göttingen einen sogen. Nadel-Telegraphen, welcher mit einer doppelten Drahtleitung das physikalische Cabinet der Universität mit dem außerhalb der Stadt gelegenen Observatorium in Verbindung setzte. Und vier Jahre später mußte wunderbarer Weise in München, der Heimstätte der Erfindung, Professor Steinheil von Göttingen aus angeregt werden, die Sternwarte in demselben Bogenhausen, wo die erste Anregung zu dieser Erfindung durch Montgelas gegeben worden, mit dem nämlichen Münchener Akademie-Gebäude, in welchem Soemmerring die ersten Versuche mit seinem Apparate öffentlich angestellt hatte, durch elektrische Telegraphendrähte bleibend zu verbinden.

Vierzehn Tage später, am 25. Juli 1837, feierte England das Fest der Einführung des ersten elektro-magnetischen Telegraphen durch den Probeversuch am Londoner Terminus der Nord-Westbahn mit einem Drahte von 11/4 englischen Meilen Länge.

Es gehört zur Aufgabe dieses Artikels, den Weg nachzuweisen, auf welchem die deutsche Erfindung nach England kam, denn es war dies nicht der gerade der directen Mittheilung Soemmerring’s an Humphry Davy, sondern ein sehr krummer.

Oben ist es gesagt, daß Baron v. Schilling Soemmerring’s Telegraphen nach Petersburg gebracht, und daß er 1820 den ersten Versuch der Benutzung des Elektromagnetismus für die Telegraphie gemacht hat. Mit einem solchen, und zwar dem ersten, elektromagnetischen Apparat kam v. Schilling 1835 zur Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte nach Bonn. Hier zog derselbe besonders die Aufmerksamkeit des Prof. Munke von Heidelberg auf sich. Als Schilling mit seinem Apparat von Bonn nach Frankfurt ging und ihn in dem damals noch jungen physikalischen Verein bei Valentin Albert zeigte, kam auch Munke herbei und ließ den Apparat bei Albert nachmachen, um ihn für seine Vorlesungen in Heidelberg zu benutzen. In Heidelberg hielt sich damals ein Engländer, William Fothergill Cooke, auf, um im anatomischen Institut Wachspräparate für die neue Universität in Durham anzufertigen, und diesem erklärte Munke am 6. März 1835 den von Frankfurt mitgebrachten Telegraphen. Der Blick des Engländers sprang sofort kühn über die Beschränktheit des wissenschaftlichen Experimentirens mit der großen Erfindung hinweg; er gab seine ganze bisherige Beschäftigung auf, eilte mit seinem Funde nach England, wo er schon am 22. April ankam, und verfolgte fortan unablässig seinen Plan: elektromagnetische Telegraphen bei den Eisenbahnen in England einzuführen. Aber erst im Jahre 1837 kam er zum Ziel, und zwar nur durch seine Verbindung mit dem Professor der Physik am Kings-Collegium zu London, Wheatstone, mit dem er am 12. Juni ein Patent auf die Erfindung nahm und, wie bereits bemerkt, am 25. Juli die ersten Telegramme Englands durch den Draht sandte.

Die Entdeckung dieses Weges der deutschen Erfindung über Rußland, Bonn, Frankfurt und Heidelberg nach England und auch nach Amerika verdanken wir dem russischen Staatsrath Dr. v. Hamel, der, wie Schilling, ein Deutsch-Russe und für alle neuen Entdeckungen und Erfindungen lebhaft interessirt, es sich große Reisen in Europa und Amerika kosten ließ, um der Geschichte der Telegraphie auf die wahre Spur zu kommen. Ihm selbst gestand nämlich der Amerikaner Morse, welcher offenbar den Telegraphen auf seinen wiederholten Reisen in Europa kennen gelernt hatte, daß er die ersten Versuche mit einem noch sehr unvollkommenen Schreib-Telegraphen erst am 4. September 1837 gemacht habe – also 28 Jahre nach Soemmerring’s Erfindung und 17 Jahre nach Schilling’s erster Verbesserung derselben!

Das ist die Geschichte der deutschen Telegraphie. Es liegt nicht in der deutschen Art, fremdes Verdienst zu verschweigen. Bereitwillig ist es anzuerkennen, daß Wheatstone und Morse die große Erfindung erst in’s große Leben einführten und daß jener durch die Vervollkommnung des Nadeltelegraphen, dieser durch Construirung des Schreibtelegraphen, und beide durch die Energie in der Verfolgung ihrer praktischen Zwecke sich ein Recht auf besondere Auszeichnung in der Geschichte der Erfindung erworben haben; aber die Erfinder der Telegraphie sind sie nicht, und es war ebensoviel Anmaßung von jener Seite, die Huldigungen Europa’s und Amerika’s mit stolzer Erfindermiene entgegenzunehmen, als es namentlich in Deutschland mehr als die alte Lahmheit und Zahmheit gegen auswärtige Frechheit war, in diese Huldigungen mit einzustimmen und mit den Lorbeerhaufen für den Engländer und den Amerikaner den deutschen Erfinder so hoch zu überdecken, daß sieben Jahre nach seinem Tode sein Name für die Erfindung verschollen war und daß es zwanzig Jahre später gelehrter Forschungen bedurfte, um für ihn und Deutschland die Ehre der Erfindung zu retten!




Blätter und Blüthen

Drei große deutsche Erfindungen dieses Jahrhunderts und ihre Schicksale. Von der Ehren-Schwärmerei, welche wir Deutschen mit unsern großen Erfindern, wenn sie todt sind, treiben, möchten wir, mit Bezug auf obenstehenden Artikel, einmal einfach auf die nationalökonomischen Verluste hinweisen, die wir dadurch erlitten haben, daß wir die erste Ausbeute unserer größten Erfindungen immer den Fremden überlassen haben.

Wir wählen dazu drei Zeitgenossen. Joseph Ressel[4] ist der Erfinder der Schiffsschraube. Schon 1812 war diese Erfindung fertig und erprobt, und erst 1840 feierte sie als englische Erfindung eine großartige Auferstehung. Welchen Vorsprung hätte die österreichische Marine gewinnen können, hätte sie sich 1812 zum Alleinherrn dieser Erfindung gemacht! Wer berechnet den Schaden, welcher der deutschen Schifffahrt durch die unverzeihliche Mißhandlung dieser großen Geistesgeburt zugefügt wurde? – Und als im Jahre 1852 die englische Regierung für den wirklichen Erfinder der Propellerschraube einen Preis von 20.000 Pfd. Sterl. aussetzte, und die von der österreichischen Regierung beglaubigten Actenstücke über den deutschen Ursprung der Erfindung nach London wanderten, – wer erhielt die schöne Summe? Fünf Engländer, deren Namen die britische Admiralität noch heute nicht bekannt gemacht hat!

Noch einleuchtender sind die Vortheile, welche Deutschland über die ganze Verkehrswelt in Europa errungen hätte, wenn Soemmerring’s Erfindung der elektrischen Telegraphie zuerst bei uns verstanden und in’s Große ausgeführt worden wäre. Wie mit der Schiffsschraube, war mit der Telegraphie Deutschland dem Ausland um 20-30 Jahre voraus! Wer berechnet die Größe des deutschen Verlustes durch die Verwahrlosung einer solchen Erfindung ? – Und zum Schluß derselbe Hohn des Auslandes für die Erfinderehre: der Amerikaner Morse steckt mit derselben Gemüthsruhe die kaiserl. französ. Belohnung von 400.000 Fr. ein, aber doch mit mehr Recht, wie jene fünf Engländer die 20.000 Pfd. Sterl. und den Deutschen bleibt nichts übrig, als nun dem eigentlichen Erfinder Soemmerring nachträglich zu dem landüblichen Denkmal zu verhelfen.

Der dritte Zeitgenosse ist Wilhelm Bauer. Seine wichtigste Erfindung ist die der unterseeischen Schifffahrt. Sie ist erprobt, Rußland hat das theure Lehrgeld für sie bezahlt, und sie ist seitdem durch wesentliche Verbesserungen vervollkommnet. Wird Deutschland, durch seine bisherigen Erfindungs-Verluste belehrt, aus ihr den ersten Nutzen ziehen? Die Gelegenheit war da, Ehre und Vortheil geboten es, und es ist nicht geschehen! Hätte nur ein halbes Dutzend Bauer’scher unterseeischer Schiffe als Brandtaucher die Nord- und Ostsee befahren und wäre nur ein einziges dänisches Kriegsschiff durch eine solche Brandtaucher-Mine in die Luft geflogen, – der dänische Seeraub wäre gelegt gewesen! Millionen deutschen Gutes hätten ihren unsichtbaren Schutz gefunden. Ja, noch mehr: die Zufuhr von den dänischen Inseln zum Festland wäre abgeschnitten gewesen, kein Panzer- und Thurmschiff hätte sich in Alsens und des Sundewitts Nähe gewagt, und Hunderte braver Männer und Jünglinge hätten den wenn auch noch so rühmlichen Heldentod ersparen können, um als Lebende die heilsame Wirkung einer nationalen Erfindung zu preisen! – Jetzt bauen Rußland, Frankreich, Spanien unterseeische Schiffe, und Amerika hat den ersten Triumph der deutschen Erfindung davongetragen! Am 17. Febr. dieses Jahres wurde von einem nach Wilh. Bauer’s Princip gebauten Brandtaucher der nordamerikanischen Südstaaten die Unions-Corvette Housatonic von 1200 Tonnen und 13 Kanonen in die Luft gesprengt. Wer wird nun der Preisträger dieser deutschen Erfindung sein? Sollte nicht der Erfolg derselben in Amerika endlich den Deutschen die Augen öffnen? Muß man es unseren Küstenstaaten erst bei Heller und Pfennig vorrechnen, daß sie nimmermehr im Stande sind, eine oberseeische Flotte zu schaffen, mit welcher sie den vereinigten Flotten von England und Frankreich erfolgreichen Widerstand zu leisten vermögen, aber daß eine unterseeische Flotte nach Bauer’s Princip sie nicht nur zu Herren ihrer Küsten, sondern auch zu Herren auf der See hätte erheben können? Wie viel ist jetzt schon verloren durch diese neue deutsche Saumseligkeit! Und doch kann noch weit mehr verloren gehen, wenn die Deutschen sich nicht noch heute zu einem energischen Aufraffen entschließen und wenigstens ihre Flottengelder an die Ausführung einer deutschen Erfindung wagen, die im Auslande nun sattsam erprobt ist! [5]


  1. So heißen im oberbairischen Volksmunde, nach ihrer Gestalt, die Alpenveilchen (cyclamen europaeum).
  2. Für die Sprachkundigen unserer Leser setzen wir die Inschriften des Columbus-Häuschens her:

    Hospes, siste gradum: fuit hic lux prima Columbo,
    Orbo viro majori: heu, nimis arcta domus.

    („Wandrer, hemme Deinen Schritt: hier sah Colum das erste Licht,
    ein Mann, größer als der Erdkreis; – ach, ein enges Häuschen.“)
    Unus erat mundus; duo sunt, sit iste: fuere.
    („Es gab nur eine Welt. Zwei sind es, sprach Er: sie waren.“)
    Con generoso ardir, dell’ area all’ ondo
    Ubbidiento, il vol Colomba prento
    Corre, s’aggira terron scopre e fronde
    D’olivo in segno al gran Noë ne rende.
    L’imita in cio’ Colombo nè s’asconde
    E da sua patria il mar soleando fende.
    Terreno altin scoprendo diede fondo
    Offerendo all’ Ispano un nuovo mondo.

  3. Der Elektrische Telegraph als deutsche Erfindung Samuel Thomas von Soemmerring’s, aus dessen Tagebüchern nachgewiesen von Hofrath Dr. W. Soemmerring. Frankfurt am Main, 1863.
  4. Vgl. Gartenlaube, 1863, S. 124.
  5. Einen Aufruf Wilhelm Bauer’s an die deutschen Regierungen und Patrioten, ihm die Mittel zum Bau von sechs Brandtauchern zu gewähren, haben wir in den deutschen Blättern Nr. 19. mitgetheilt, nachdem dringende briefliche Aufforderungen Fr. Hofmann’s an den Sechsunddreißiger-Ausschuß und an die Erlanger Landesversammlung, sich der Erfindung Bauer’s zum Besten der schleswig-holsteinschen Sache anzunehmen, vergeblich gewesen waren.
    Die Red.