Charakterköpfe aus der deutschen Abgeordneten-Versammlung in Frankfurt
Sigmund Müller – Rudolph v. Bennigsen – Wilhelm Löwe – Ludwig Häusser.
Vom Verfasser des Artikels „Die Fürsten des Fürstentags“.
Es giebt auch Bußtage im Leben einer Nation, und mich dünkt, die deutsche Abgeordneten-Versammlung vom 21. December ist ein solcher nationaler Bußtag gewesen. Ein Freudentag war es jedenfalls nicht. Die Stadt Frankfurt versteht sich doch gewiß auf Fest- und Freudentage; aber diesmal: keine Fahne, kein Triumphbogen, kein Kanonendonner, kein Schall der Festmusik – man hat uns ernst und still willkommen geheißen. Und hätte es anders sein können? Vor 15 Jahren tagte hier ein vollberechtigtes, verfassunggebendes Parlament, das an demselben 21. December die Grundrechte des deutschen Volkes endgültig feststellte,
[94] dem ein verantwortliches Reichsministerium zur Seite stand, das als anerkannte Macht mit den deutschen Regierungen verkehrte; heute fanden sich in schwerer Zeit 500 deutsche Abgeordnete zusammen, ohne Mandat, ohne Executivgewalt zur Seite, verleugnet, und beargwöhnt von fast allen Regierungen, auf nichts gestützt als auf den Widerhall, den ihre Beschlüsse etwa im Volke finden würden. Vor 15 Jahren war keine Frage des deutschen Verfassungsrechtes so weitreichend, daß sich das Parlament nicht hätte dafür zuständig halten dürfen; heute wurde aus der eigenen Mitte der Versammlung Verwahrung eingelegt gegen einen Antrag, der nichts weiter wollte, als einen ständigen Ausschuß bestellen, als „Mittelpunkt der gesetzlichen Thätigkeit“ für Schleswig-Holstein.
Sind das die Fortschritte, die wir gemacht?
Es ist nöthig, auch einmal diese, die peinliche Frage zu stellen; denn über dem Festjubel und Festgepränge von Frankfurt, La Chaux de Fonds und Leipzig droht uns der Maßstab verloren zu gehen für das, was wir haben und was wir haben sollten. Die großen Feste sind vorüber gerauscht, aber das deutsche Elend ist geblieben, und nun, da der Tag der Noth gekommen, strecken wir nach wie vor die Hände in die leere Luft. Ein unersetzliches Kleinod soll aus unserer Reichskrone herausgebrochen, der tüchtigste und treueste deutsche Stamm soll auf’s Neue seinem Erbfeind überliefert werden; uns schnürt es das Herz zu bei den flehentlichen Hülferufen, das Ausland aber höhnt uns und schlägt uns in’s Angesicht, in den Cabineten treibt gar der blanke Verrath sein offenes Spiel – und fünf lange Wochen müssen verstreichen, ehe die Vertreter der großen deutschen Nation ein Gesammtwort abgeben können. Und was ist’s denn nun weiter mit diesem Gesammtwort der deutschen Volksvertreter? Haben sie ein Heer über die Elbe, eine Flotte in die Ostsee schicken, haben sie die Landesverräther vor ihr Gericht stellen können? O nun, nichts von alledem! Dies Gesammtwort gab ja kein Parlament, es gaben es nur 500 Abgeordnete aus den Einzelstaaten ab, die das äußerste Maß ihrer polizeilich gestatteten Zuständigkeit schon erschöpften, wenn sie – einen Centralausschuß niedersetzten für Schleswig-Holstein.
Es hat viel trübere Tage in der jüngsten deutschen Geschichte gegeben. Als die würtembergischen Truppen das Parlament auseinander sprengten, als in Rastatt die blutigen Exempel statuirt wurden, als in Kurhessen die Kriegsgerichte ihr schauerliches Amt verwalteten, als ein preußisch-österreichisches Heer die schleswig-holsteinische Armee entwaffnete, und alsdann nach all diesen Erntetagen des neuesten deutschen Soldatenruhmes es stille ward im deutschen Laud, ganz stille – gewiß, da war eine viel trübere Zeit. Aber wenn dies Trauertage waren für unser Volk, so bleibt deshalb doch der 21. December ein nationaler Bußtag. An diesem Tage, wo die Vertreter unseres Volkes rathlos und machtlos in derselben Stadt sich zusammen fanden, in der schon vor einem halben Menschenalter ein deutsches Parlament getagt, an diesem Tage, wo auch die aufrichtigste Einmüthigkeit nicht den kleinsten Theil der organisirten Macht uns wieder zurückgeben konnte, die wir vordem von Rechtswegen besaßen, an diesem Tage haben unsere Parteien Buße dafür thun müssen, daß sie in den Tagen des Glückes mit dem deutschen Erbfehler gesündigt, bittere Buße für die frühere Uneinigkeit über die obersten Lebensfragen unserer Nation. Ich weiß, es hat ihnen beiden am Herzen gebrannt, als sie nun da saßen, die „Großdeutschen“ und die „Kleindeutschen“ und mußten sich beide ihre Ohnmacht gestehen; aber wie hart die Strafe auch war und wie sehr wir zu Gott hoffen, daß nicht die Unschuld darunter leiden werde verdient war diese Strafe. Diesen Beweis der Folgen ihrer Sünden gerade an der liebsten und theuersten Ehrensache, mußten unsere Parteien erst erhalten, wenn ihnen die Augen über sich selbst und über einander aufgehen sollten.
Das sind herbe Worte, wie sie nur der demüthigende Gang einer solchen nationalen Ehrensache abpressen und nur die völlige Gleichmäßigkeit des Vorwurfs rechtfertigen kann. Ich leugne und verkleinere darum ebensowenig irgend einen der Schritte, die wir seit fünf Jahren wieder vorwärts gemacht, wie ich die hohe politische Bedeutung des Frankfurter Tages unterschätze. Wir haben in Frankfurt einen Wechsel auf die Zukunft gezogen, und der Tag wird kommen, wo wir ihn zur Zahlung präsentiren. Die Zukunft aber, sie gehört dem Volke und reift unter unablässiger mühevoller Arbeit der edelsten Kräfte unserer Nation heran. Denn das ist eben der tröstende Zug wiederkehrender nationaler Gesundheit an unserer tief bewegten deutschen Gegenwart, daß neben der officiellen Thätigkeit unserer Regierungen leise und unscheinbar, aber in der Gesammtwirkung bereits deutlich erkennbar, viele Hunderte von Männern ohne Amt und Titel auch ihr Werk verrichten und im wahren Geist der Nation die Entwickelung unseres Volkes fördern helfen. Diese nationalen Freiwilligen, wie ich sie nennen möchte, waren es, die auch in Frankfurt zu gemeinsamer Arbeit versammelt waren. Wer weiß, was die Zukunft für sie bringen wird? Vielleicht daß dem Einen oder dem Andern von ihnen noch einmal in fremdem Land als Flüchtling das Herz bricht; vielleicht auch, daß ihnen das Geschick gestattet, recht bald im berufenen Amt die Sache des Volkes zu führen und zu vertreten. Wer mag es wissen, wie heute die Dinge im deutschen Lande liegen? Noch aber sind sie unser als echte nationale Freiwillige, und deshalb bringe ich hier die Bilder von einigen der Besten, wie ich sie zufällig auf und neben der Rednerbühne aufgelesen.
Am Präsidententische sitzt ein Mann, der die Fünfzig wohl überschritten haben muß; zwar schlank, jedoch nicht von allzukräftiger Haltung, das regelmäßige, offene, Vertrauen erweckende Gesicht etwas abgemagert, die Stimme leicht angegriffen, denn sie klingt gedämpft und füllt bei aller Anstrengung kaum den Raum des großen Saales. Das ist Dr. Sigmund Müller, Advocat und Notar der freien Stadt Frankfurt, vieljähriger Präsident ihrer gesetzgebenden Versammlung und in weiteren Kreisen besonders bekannt geworden als Vorsitzender des Ausschusses für das große deutsche Schützenfest. Was ist es doch, was an dem schlichten Mann mit dem ungesuchten anspruchslosen Auftreten so anzieht? Vor dreißig Jahren, als diese hellen blauen Augen im ersten Jugendfeuer glänzten, als diese jetzt noch so vollen braunen Locken in noch üppigerer Fülle um die freie heitere Stirn fielen, als diese schlanke Gestalt in voller elastischer Kraft sich bewegte, vor dreißig Jahren hätte uns wohl das Aeußere allein bestechen können. Heute ist dieser Jugendschmelz natürlich abgestreift; aber Charakter und innerer Gehalt haben dafür einen anderen dauerhafteren Schmelz über den Mann gegossen. Sigmund Müller ist ein charakteristischer Beleg dafür, wieviel eine Persönlichkeit Reiz gewinnen kann, die in voller Unbefangenheit, nicht von Ehrgeiz, sondern nur von Pflicht- und Rechtsgefühl getrieben, jeder Aufgabe gegenüber nichts weiter als ihre volle Schuldigkeit hat thun wollen. Sigmund Müller ist kein Gelehrter, kein hinreißender Redner ersten Ranges, keine tief angelegte staatsmännische Natur; aber – er glaubt auch dies Alles nicht von sich. Ihn haben niemals hochfliegende Pläne gequält, noch hat er früher je von sich geglaubt, daß sein Name einmal durch ganz Deutschland genannt werden würde. Ruhig und gelassen ist er stets weniger an die öffentlichen Fragen herangetreten, als vielmehr diese an ihn; von nichts Anderem getrieben, als von dem, was das innere Pflichtgefühl ihm gebot, war er allezeit zufrieden mit dem Erfolg, den sein klarer, gesunder, im Leben gewiegter Verstand und seine hingebende Selbstverleugnung ihm gewannen. Und gerade darum, weil er so selbstlos auftrat und sich nirgends ungestüm als besonders berufen vordrängte, gerade darum fürchtete man für keine Sache, wenn er sie in die Hand nahm, und trug ihm bereitwillig mit der Zeit nur um so mehr entgegen. Sigmund Müller ist einer von den wenigen glücklichen Menschen, die selbst im scharfen Zugwind des Parteilebens ohne Neider und ohne Feinde geblieben sind, in seinem ganzen Verhalten das Bild eines Mannes, wie wir sie in Deutschland leider noch nicht allzuhäufig treffen, das Bild eines pflichttreuen freien Bürgers im besten Sinne des Wortes.
Rechts von Sigmund Müller am Präsidententische sitzt fast unbeweglich, aber mit gespanntester Aufmerksamkeit auf Alles achtend, ein um mindestens zehn Jahre jüngerer Mann, mit kräftig schlanker Gestalt, voll Energie und doch fein und gewandt in allen Bewegungen; der runde, schön geformte Kopf ist von kurzem, dunkelem Haar bedeckt, das Gesicht von einem vollen braunen Bart eingerahmt, die Stirne hoch, breit und entwickelt, das braune Auge liegt etwas vor und ist bei außerordentlichen Gelegenheiten, wie diesmal, mit der Brille bewaffnet, die auf der etwas kurz ausgefallenen und, wie es scheint, auf der Hochschule leicht beschädigten Nase nicht recht haften will. Aus dem ganzen Gesicht spricht Festigkeit, Verstand und Entschiedenheit, und wir wissen – wenn auch nicht von heute – daß der breiten gewölbten Brust eine klare, wohlklingende Stimme mit norddeutschem Accent entspricht. Es ist Rudolf v. Bennigsen, der Präsident des Nationalvereins.
[95] Man vergißt das Gesicht Bennigsen’s nicht leicht wieder, obwohl es nicht besonders schön und noch weniger häßlich ist. Das macht die breite hohe Stirn, deren geistiger Ausdruck das ganze Gesicht adelt und von der man beim ersten Blick ablesen kann, daß wir es mit einem Manne zu thun haben, der bei klar durchblickendem Verstand vor allen Dingen weiß, was er will. Und so ist auch wirklich der Mann. Nicht gerade verschwenderisch reich ist diese Natur ausgestattet, aber es ist ein vollgewogenes Pfund bis auf den letzten Bruchtheil verwerthet. Bennigsen’s größte Gabe ist vielleicht seine Selbstbeherrschung, die ihm gestattet, in jedem Moment seine volle Kraft sich zu Gebot zu erhalten, weil er sich niemals vor der Zeit völlig ausgiebt. Er hat offenbar vor Allem sich selbst fest in die Hand genommen, und man fühlt es dieser straff in sich gefügten Natur an, daß er den Menschen zum Gegenstand nicht seines wenigst eifrigen Nachdenkens gemacht, denn soviel überlegte Ruhe wird nicht angeboren, wo so viel warmes inneres Leben damit Hand in Hand geht, sie wird in strenger Selbstzucht anerzogen. Aber gerade so fest wie sich, nimmt er auch die Anderen in die Hand, und nur sein natürliches, offenes, männliches Wesen macht es ihm möglich, die sich ihm Nähernden gerade so nahe wieder an sich heranzuziehen, als er sie sich fern zu halten weiß.
In dieser seltenen Mischung von bewußter Zurückhaltung und Vertrauen erweckender Offenheit beruht vor Allem sein großer persönlicher Einfluß und sein natürlicher Beruf zum politischen Führer. Sein bekanntes bedeutendes Talent für die formelle Behandlung organisatorischer Fragen stelle ich wenigstens hierbei erst in die zweite Linie. Auch in der Rede spricht sich derselbe Charakter aus. Es sind kurze klare Sätze, in denen Bennigsen spricht; sie gehen überall direct auf das Ziel los, und auch wo er einen Seitenweg einschlägt, ist es immer die gerade Linie, in der der Gedanke fortarbeitet. Blumen und rednerische Figuren kommen in seiner Rede fast gar nicht vor, und selbst das Gefühl, wo es einmal herausbricht, giebt sich in streng bemessener Form. Man hört es wohl heraus, daß er stets nur das sagt, was er sagen will; aber dies sagt er auch so rund, klar und vollständig, daß er selbst bei dem, der es bemerkt, einer Mißdeutung niemals ausgesetzt ist. Bennigsen ist offenbar weit weniger durch eine ausgezeichnete Naturanlage zum sicheren Redner geworden, als vielmehr dadurch, daß er es werden wollte. Er hat sich aber auch hier fest in die Hand genommen. Noch vor fünf Jahren sprudelte seine Rede im raschesten Fluß, heute geht der Strom schon weit langsamer, und er wird noch langsamer sprechen lernen, wenn er es für gut finden sollte – wenn er eben will.
Aus einer alten angesehenen Familie hervorgegangen, der Sohn eines hohen Militärs, würde Bennigsen, wenn er nicht im Jahre 1857 als Staatsanwalt seinen Abschied gefordert, vielleicht schon heute eine einflußreiche Stellung im hannoverschen Ministerium einnehmen. Ihm selbst ist dies vielleicht noch weniger zweifelhaft als uns. Er hätte dazu nur Eins nöthig gehabt – für Viele seiner Standesgenossen eine unbedeutende Kleinigkeit – er hätte den Welfenstaat Hannover und ganz Deutschland als die natürliche Domäne zweier bevorrechteter Menschenrassen behandeln müssen: des hohen und des niederen Adels. Wenn er, gestützt auf ein nicht überreiches Vermögen, auf diese Ehren und Vortheile verzichtete und, statt seine politische Ueberzeugung zum Opfer zu bringen, lieber als Führer der hannoverschen Opposition und als einflußreicher Leiter der liberalen deutschen Bewegung seine reiche Kraft verwerthete – wer lohnt ihn für diese Selbstverleugnung? Vielleicht außer dem, was jeden Ehrenmann schon in seinem Innern reichlich selbst belohnt, einmal eine große staatsmännische Wirksamkeit, deren Millionen Deutsche segnend gedenken, jedenfalls aber schon jetzt eine unbegrenzte Hochachtung der besten Männer Deutschlands und des ganzen hannoverschen Volkes. So ist nie ein Fürst in den reichen Marschen der Niederweser und die Weser entlang von Bremerhaven bis Bremen geehrt worden, wie Bennigsen, als er im Juli 1861 vom Seebad Borkum nach Hause reiste. Zu festlichem Zug, zu Wagen und zu Pferd, geleiteten ihn die Bauern der Lande Hadeln, Wursten und Budjading von Ort zu Ort, die Schiffe auf der Weser und im Bremerhaven flaggten und salutirten ihm zu Ehren, und Kanonendonner erschallte, als er den Boden der freien Stadt Bremen betrat. Ein alter Bauer hatte seine fünf Enkel an ihn herangeführt, um ihnen den Mann des Volkes zu zeigen: „Seht, Kinder, das ist Bennigsen.“ Ob ein Staatsrath oder Minister von Bennigsen wohl auch den Bauerkindern im Lande Hadeln gezeigt worden wäre?
Der Sitz links von Sigmund Müller für den zweiten Vicepräsidenten ist leer. Sein Inhaber, der Freiherr Gustav von Lerchenfeld aus Bamberg, hat ihn verlassen, weil ihm nach dem Antrage auf Niedersetzung eines ständigen Ausschusses ein längeres Zusammengehen mit der Mehrheit der Versammlung nicht mehr möglich erschien. Ueberlassen wir es der Partei, deren Führer seither Herr von Lerchenfeld war, sich wegen dieses Schrittes mit ihm auseinander zu setzen, und gehen auch wir, wie die Versammlung es that, dem treffenden Worte Ludwig Seeger’s entsprechend, „rasch über diesen Mißton hinweg“. Dr. Wilhelm Löwe aus Berlin war es, der diesen ehrenrettenden Antrag begründete. Fassen wir uns daher ihn statt des Herrn von Lerchenfeld in’s Auge. Es ist Löwe-Calbe, der letzte Präsident des deutschen Parlaments, der vor uns steht. Die gedrungene Gestalt ungebeugt, das Gesicht voll und blühend, Haar, Kinn und Schnurrbart dicht und schwarz, das dunkle Auge voll Feuer, die tiefe, weiche Stimme im reinsten Wohllaut weithin die Gedanken tragend, die unter der edel geformten Stirn vorher entstanden – ist das ein Flüchtling, den das Leben in seinen erbarmungslosen Armen gewiegt? Und doch ist es so. Und wenn wir der Rede des Mannes so recht aufmerksam folgen, dann erfahren wir auch noch mehr, dann hören wir auch aus seiner feinen Auffassung und ernsten Denkweise heraus, daß nicht etwa ein unverwüstlicher Leichtsinn, nein, daß ein tiefes Gefühl, ein reiches Seelenleben den Mann bewegt, der so frisch, so mild, so unverbittert nach zehnjährigem Flüchtlingsleben in die Heimath zurückkehrte.
Löwe steht heute noch auf demselben politischen Boden, auf dem er im Parlament gestanden, wenn auch der Gang der neuesten Geschichte Deutschlands und die Erfahrungen, die er in Amerika und England gemacht, sein Unheil hier und da berichtigt haben mögen. Nur der rastlose Eifer in der Förderung alles öffentlichen Lebens ist ganz und gar derselbe geblieben und hat in seiner vielseitigen Bildung, seiner ungemeinen Arbeitskraft und seiner außerordentlichen rednerischen Begabung der preußischen wie der deutschen Sache eine nicht hoch genug zu schätzende agitatorische Kraft wieder zugeführt. Ich habe nur wenige Redner gehört, die einen gleich wohlthuenden Eindruck auf den Zuhörer machen, wie Löwe-Calbe. Wie auf geistigen Armen faßt er unsere Gedanken mit seiner weichen, wohlklingenden Stimme auf und trägt uns schaukelnd weiter und weiter, bald hoch uns hinaushebend in die Höhen der Dialektik, bald tief uns hinabtauchend in die Fluthen der Gefühlswelt, so sicher, so stetig, mit so fester Hand uns führend, daß wir es unwillkürlich bedauern, wenn er am Schluß seiner Rede uns wieder auf die eigenen Füße stellt. Löwe ist ein geborener Redner in Moll, aber ich zweifle nicht, daß er unter dem Eindruck eines überwältigenden Gefühls auch die Duraccorde der Leidenschaft – und dann mit erschütternder Gewalt – zu greifen versteht.
„Ich gehöre nicht zu Denjenigen, die aus der demokratischen Partei hervorgegangen, ich gehöre entschieden zu Denjenigen, die aus den gemäßigten Meinungen herausgewachsen sind, aber ich bekenne, die schleswig-holsteinische Frage hat mich die bittere Kunst des Mißtrauens gelehrt seit dem Tage von Malmoe, und ich habe mir ein feierliches Gelübde gethan, in dieser Sache, selbst wenn zweifelhaft, nicht wieder zu sündigen durch Unterlassung.“ Im Munde eines Anderen wären diese Worte wahrscheinlich den gewöhnlichen Betheuerungen zugezählt worden, im Munde Ludwig Häusser’s aus Heidelberg waren sie ein Ereigniß. Mit diesen Worten bekannte einer der ältesten und bedeutendsten Führer der gothaischen Partei offen und unumwunden vor ganz Deutschland einen verhängnißvollen früheren Parteiirrthum. Vor 15 Jahren hätten sich Ludwig Häusser – wenn er im Parlament gesessen – und Löwe-Calbe in der schleswig-holsteinischcn Frage wahrscheinlich als entschiedene Gegner gegenüber gestanden, heute reichte Häusser in derselben Frage dem früheren Gegner ohne allen Rückhalt die Hand zur Verständigung. Ich wiederhole, das ist ein Ereigniß, in dem sich zwar der ganze Jammer einer langen Reihe trüber Tage für Deutschland und Schleswig-Holstein wiederspiegelt, an das aber auch die Hoffnung auf die Gesundung unserer Parteien mit vollem Recht ihre Knospen wieder ansetzen mag. Aber auch zur Charakteristik des Mannes selbst, der dies Bekenntniß ablegte, sind diese Worte von Bedeutung; denn wer einmal vor Ludwig Häusser gestanden, [96] der weiß auch, selbst wenn er seine „deutsche Geschichte“ nicht gelesen und sein entschlossenes Auftreten als Parteimann von 1847 an in der „Deutschen Zeitung“, in der „Zeit“, in der „Süddeutschen Zeitung“ nicht verfolgt, daß er weder obenhin eine Meinung sich bildet, noch auch leichthin eine einmal gefaßte Meinung aufgibt. Der Mann sucht zwar nicht den Kampf, aber er fürchtet ihn auch nicht. Er hat, wie seine ganze zähe, opferfreudige Partei, zu lange nach rechts und nach links mit scharfen Waffen Front gemacht, um des bloßen lieben Friedens wegen zu schweigen oder gar zuzustimmen. Ludwig Häusser ist ein unverwerflicher Zeuge dafür, daß man ein „Gothaer“ und ein „deutscher Professor“ obendrein und doch „jeder Zoll ein Mann“ sein kann. Ohne gerade durch bedeutende oder durch regelmäßig schöne Züge zu bestechen, zieht doch die feste, selbstbewußte Haltung des kräftigen Körpers und der fast bis zur Strenge gesteigerte sittliche Ernst in dem geistig durchwehten Gesicht unwillkürlich an. Diese graublauen Augen, die hinter der Brille hervor Einem scharf entgegen blicken, diese breite, entschlossene Stirn, diese etwas vorstehende Unterlippe über dem festgeformten Kinn verrathen uns, daß wir trotz des stubengebleichten, glatt rasirten Gesichtes keinen gewöhnlichen Stuben- und Alltagsmenschen vor uns haben. Wenn Löwe-Calbe vielleicht als Arzt durch den Anblick des körperlichen Menschenelends mild und nachsichtig geworden, so scheint Ludwig Häusser durch das Studium der Geschichte und der darin auftretenden sittlichen Mängel des Menschengeschlechtes einen angeborenen Sinn für Recht und Pflicht noch geschärft und den kategorischen Imperativ zu seinem leitenden Princip erhoben zu haben. Bei aller gewinnenden Freundlichkeit im geselligen Verkehr bricht diese Seite seiner inneren Natur doch jederzeit in seinem Beruf, in seinen Schriften, in seinem öffentlichen Wirken hervor. Dieser Ernst, den jedoch Gemüth und Geist in Verbindung mit einem reichen gesättigten Wissen gleich sehr vor der Gefahr des Pedantismus schützen, beherrscht auch seine Reden. Wenn ich Löwe-Calbe einen Redner in Moll genannt, so ist Ludwig-Häusser ein geborener Redner in Dur, selbst dann, wenn er als echtes, blondes Kind der fröhlichen Pfalz in liebenswürdigem, geistvollem Humor bei Tischreden überschäumt. Darin unterstützt ihn freilich auch eine der klangvollsten tiefen Männerstimmen, die ich je gehört. Wie der Ernst und die klare Ruhe seiner Gedanken, so versetzt auch schon der mächtige, melodische Ton seiner Stimme den Zuhörer in eine gehobene, fast möchte ich sagen, feierliche Stimmung, und mich wenigstens überkommt es bei seinen Reden fast regelmäßig so, als wenn ich die Feiertagsglocken der Heimath in meinem Innern widerklingen hörte.
Als akademischer Lehrer hat Ludwig Häusser zwar fast täglich Gelegenheit, seine Redegabe zu üben, er ist jedoch dabei auch durch seine Stellung gezwungen, in besonders gewiesener, belehrender Form zu sprechen. Aber so reich und kräftig ist dieser Geist, daß er als Redner gegenüber großen Massen jede Erinnerung an den gewohnten Ton zurückzudrängen vermag, ohne der eigenen, wie der Würde der Sache irgend etwas zu vergeben. Es giebt Volksredner, die mit enthusiastischerem Beifall belohnt werden, aber es giebt ihrer wenige, die es wie Häusser verstehen, ihre Zuhörer so zu sich herauf zu heben. Er wiegt uns nicht, wie Löwe-Calbe, auf weichem Arm, er faßt uns wie mit starker Hand fest an und zwingt uns durch den sittlichen Ernst seiner Gedanken ihm mit unseren Gedanken zu folgen. Und wir folgen ihm gern; denn er giebt zugleich mit voller Hand und immer frisch aus Geist und Phantasie gequollen, und so viel er uns auch giebt, wir haben doch nie das Gefühl, daß er nun zu Ende sei, wir glauben vielmehr, daß er noch immer tiefer hinunter langen und immer neue Schätze heraufholen könne aus der reichen Vorrathskammer seines Wissens und seines Gemüthes.
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Schultze-Delitzsch – Ludwig Seeger – August Metz – Karl Brater – Edward Wiggers.
Als parlamentarischer Redner sodann ist Schulze-Delitzsch seiner Partei fast unersetzlich. Wenn vielleicht erst spät in der Nacht nach langen Berathungen die Fortschrittspartei sich auf einen bestimmten Antrag oder die bestimmte Behandlung einer Frage geeinigt hat und es sich nun darum handelt, diese Beschlüsse im Hause selbst zu vertreten, dann ist es Schulze-Delitzsch, der am andern Morgen vor allen Anderen die Sache der Partei mit einer Beredsamkeit führt, die oft genug gerade seine Freunde am meisten in Erstaunen setzt. Als wenn er Wochen lang an nichts Anderes gedacht, so verficht er oft in der gründlichsten, scharfsinnigsten Weise dieselbe Sache, die er vielleicht noch am Abend vorher innerhalb der Fraction bekämpft. So wunderbar rasch weiß er eine einmal erfaßte Idee in sich selbst zu Fleisch und Blut zu verarbeiten, und so wunderbar sicher steht ihm die Gabe des Wortes zu Gebote. Dialektische Gewandtheit, Gedanken- und Wortfülle, Scharfsinn, Witz, vollständige Ruhe bei größter innerer Wärme – mit diesen Waffen führt er als parlamentarischer Redner ersten Ranges die Sache seiner Partei. Um jedoch ein bedeutender Volksredner zu sein, würden freilich diese reichen Mittel zum Theil nicht verwendbar sein, und zum Theil noch nicht ausreichen. Der parlamentarische Redner muß vor Allem von seinen Zuhörern verstanden werden, der Volksredner muß vor Allem seine Zuhörer selbst verstehen.
Schulze-Delitzsch ist aber auch ein gleich bedeutender Volksredner, weil er das Volk wie Wenige kennt und versteht, und weil ihn Mutter Natur zugleich mit Dichteraugen in’s Leben entließ. Er hat nicht blos an seinem eigenen, er hat ebensosehr an seines Volkes Geschick schwer getragen, und dies und seine rastlose Thätigkeit haben ihm, dem Fünfziger, jetzt den Stempel eines vielbewegten Lebens auf das Gesicht gedrückt. Als Schulze-Delitzsch aber noch Hermann Schulze hieß, als er noch nach Norwegen und Italien wanderte, ja selbst dann noch, als er wirkliches actives Mitglied der schlimmen juristischen Secte war, die sich seitdem unter der Firma „preußische Kreisrichter“ einen geschichtlichen Namen gemacht, da lag um Augen und Stirn bei ihm noch ein Zug, den man jetzt nur bei genauerem Zusehen im engeren Freundeskreise entdeckt, ein Zug schalkhafter Laune, um den die freie Göttin Phantasie ihr Spiel trieb. Das ist der Dichterzug an Schulze-Delitzsch, der ihn in manchem hübschen Lied hat aussprechen lassen, was ihm beim Anblick von Berg und Wald, von Thal und See die Seele bewegte, und der freie Lauf, den lange Jahre seine reiche Phantasie hat nehmen können, die Fähigkeit, eine Anschauung und Stimmung sofort dichterisch ausklingen zu lassen – das ist es, was ihn zugleich zu einem so eminenten Volksredner gemacht.
[105] Als er in Frankfurt bei der Gründung des Nationalvereins die immer noch uneinigen Süddeutschen und Norddeutschen durch die prachtvollen Worte zur Einigung zwang: „Ich lasse Sie nicht, bis Sie sich geeinigt haben; der Geist der Nation steht hinter der Thüre und harrt darauf, daß wir uns einigen“; als er in Gotha die versammelten Zunftmeister durch den einen Satz zur Gewerbefreiheit bekehrte: „Ihr seid die Raubritter des neunzehnten Jahrhunderts“ – da sprach eben der Dichter Schulze-Delitzsch, der Dichter, der es vermag, eine ganze Kette von Gedanken zu bewegen und in einem instinktiv gegriffenen Bild zu concentrirter Wirkung zusammenzufassen. Wäre Schulze-Delitzsch um dreißig Jahre früher geboren, er würde uns vermuthlich nur in unserer Literaturgeschichte als lyrischer, vielleicht auch als dramatischer Dichter genannt werden. Damals kannte man eben keine höhere Leistung des Menschengeistes, als seine Gedanken und Gefühle in Verse zu bringen.
Wir wollen darum nicht geringschätzig auf diese Zeit herabsehen, denn wir würden – von allem Anderen abgesehen – heute keine Redner wie Löwe-Calbe, wie Ludwig Häusser und Schulze-Delitzsch haben ohne die poetische Sättigung, mit der diese versemachende Epoche unsere Nation erfüllte. Aber freuen wollen wir uns darum doch, daß wir aus der Zeit der dichterischen Empfindungen in die Zeit der ernsten nationalen Arbeit übergetreten sind, daß eine Kraft wie Schulze-Delitzsch im praktischen Dienste der Nation eine Bürgerkrone, statt im Nachtrab Goethe’s und Schiller’s einen Lorbeerkranz, hat erringen können. Den Dichter Schulze-Delitzsch würden vielleicht nur unsere Gelehrten kennen, den Volkswirth und Staatsmann Schulze-Delitzsch aber, den kennen wir Alle, denn das ist – „unser“ Schulze-Delitzsch. –
Es sprach noch ein Dichter im Saalbau, und zwar einer, dem die Statur diesen Zug noch tiefer eingegraben hat, ein Landsmann von Ludwig Uhland, der ihm als Schüler zu Füßen gesessen, dem aber trotz seiner 53 Jahre das Herz noch viel heißer schlägt, als es Uhland vielleicht je geschlagen. Ich meine Dr. Ludwig Seeger aus Stuttgart. Der hat als Bube im heimathlichen Schwarzwald den Finken und Amseln nicht blos das Singen abgelauscht, er hat ihnen auch den freien Flug und Zug abgesehen, und sein Leben lang nicht wieder vergessen können. Der Mann duldet keine Schranken um sich, wenn er sie nicht selbst als recht und gerecht anerkannt. Wie ihm das Halstuch lose und frei und der Rock weit und bequem am Leibe sitzen muß, so verlangt er in allen Dingen freies Feld für sich, und wer ihn ansieht, fühlt das auch alsbald aus dem energischen Ausdruck seines Gesichtes heraus. Der fest geschlossene Mund, die hellen blauen Augen, die einem fast noch jugendlich trotzig hinter den großen Brillengläsern entgegensehen, die runde hohe Stirn und die kräftigen Bewegungen des stämmigen Körpers – das Alles verräth eine Natur, die leicht dazu kommen mag, die Dinge auf Ja oder Nein zu stellen.
Ludwig Seeger trägt eben sein eigenes Maß in sich. Dem Stand des Pfarrers entsagte er nach dreijähriger Wirksamkeit und entzog sich dem unerträglichen politischen Druck der dreißiger Jahre, um in die freie Schweiz überzusiedeln. Aber als er zwölf Jahre dort als Lehrer der Schweizerjugend an Gymnasium und Hochschule zu Bern gewirkt und der Märzwind des Jahres 1848 von Deutschland her über die Alpen wehte, da zog es ihn doch wieder zurück in das alte liebe Vaterland, um auch dabei sein zu können mit Wort und That. Er führte damals die Feder in der „Ulmer Schnellpost“, und man wußte im Schwabenlande bald, was Ludwig Seeger geschrieben, auch wenn sein Name nicht darunter stand. Das Ministerium Römer wußte es auch, aber es wollte nichts davon wissen und ließ ihn zwei Mal sechs Wochen lang auf den Hohenasperg führen, als es das deutsche Parlament auseinandersprengte und Ludwig Seeger seinen ganzen Zorn darüber ausgoß.
Die schwäbischen Bauern freilich sahen die Sache anders an und schickten den Mann, der so ganz in ihrem Sinn geschrieben und gesprochen, noch in demselben Jahre nach Stuttgart in die Kammer. Sie meinten, wer auch auf der hohen Schule des Asperg sich den Doctortitel erworben, der sei der rechte Doctor für sie. Und das muß er wohl auch gewesen sein, denn die Bauern von der rauhen Alp schicken ihn noch heute in die Kammer. Nun sitzt er still in Stuttgart und schlägt wohl einmal, wenn es ihm gar zu arg wird, ein „Eulenspiegel“ dazwischen, oder es fällt wohl auch manchmal noch ein frisches Lied nebenher ab. Aber seine ganze volle Kraft legt er mit unermüdlichem Fleiß in einem Werke nieder, das er sich als Lebensaufgabe gestellt: er will den freiesten Geist der britischen Nation, er will Shakespeare dem deutschen Volke noch viel lebendiger und wahrer zugänglich machen, als es durch Schlegel und Tieck geschehen. Die mittelgroßen Menschen sind nicht nach Ludwig Seeger’s Art und die kleinen gar nicht, darum hat er immer nach den freiesten und größten gegriffen: so jetzt nach Shakespeare, so früher nach dem großen Griechen Aristophanes, dessen Lustspiele er in unübertroffener Weise in’s Deutsche übertragen hat. Schwierigkeiten schrecken ihn dabei nicht ab, sie reizen ihn nur, und die eigene Dichternatur, das eigene freie, starke Herz und ein tiefes Verständniß des Wesens der Sprache befähigen ihn allerdings wie Wenige zu so hohen Leistungen. Die Schwaben haben früher die Sturmfahne des deutschen Reiches in den Schlachten getragen, und Ludwig Seeger wenigstens ist nicht aus dieser guten schwäbischen Art geschlagen. Der trüge sie auch heute noch, wenn es gelten sollte; denn er ist nicht blos ein Dichter, er ist auch ein Mann des Kampfes, ein treuer kühner Streiter für alle freiheitliche Entwickelung und eine echte, wahre volksthümliche Natur. Beruf und Lebensstellung haben ihn freilich nie so recht ausschließlich in das öffentliche Leben eintreten lassen, auch sagt es seiner Art nicht zu, dem langsamen Fortschreiten einer Bewegung auf Schritt und Tritt zu folgen, aber wo es galt im schwäbischen Land, da hat er nie gefehlt und seine außerordentliche Redegabe der guten Sache bereitwillig zur Verfügung gestellt.
Ludwig Seeger ist eigentlich nur Volksredner, aber einer vom ersten Rang. Sein schneidend scharfer Verstand, die groteske Komik seines Witzes, seine mächtige, donnernde Stimme, seine wuchtige, markige, plastische Sprache, die in hellem Zorn über Lüge und schiefe Winkelzüge wie ein Sturmwind dahinfahren kann, und die tiefe sittliche Ueberzeugung, die stets aus seinen Reden herauslodert, reißen seine Zuhörer mit ihm fort, sie mögen wollen oder nicht. Er tritt als Redner dem Volke noch um eine Stufe näher als selbst Schulze-Delitzsch und spricht ihm noch mund- und sinngerechter als dieser, denn Schulze-Delitzsch bleibt als Volksredner immer noch Lehrer und väterlicher Freund des Volkes, Ludwig Seeger aber spricht mit ihm, ohne im Geringsten platt zu werden, als Seinesgleichen, als guter treuer Camerad. –
An Schulze-Delitzsch und Ludwig Seeger reihe ich einen Dritten, der auch als Volksredner viel genannt wird: Dr. August Metz aus Darmstadt. Die deutschen Feuerwehrmänner haben ihn einmal in einem launigen Toast auf seinen technischen Namensvetter in Heidelberg, im Gegensatz zu diesem, als den Metz bezeichnet, „der den Brand schürt“, und sie haben damit die hervorstechende Eigenthümlichkeit des Mannes viel treffender charakterisirt, als die deutsche Presse, die sich daran gewöhnt hat, ihn besonders als Volksredner hervorzuheben. August Metz ist gewiß ein Redner von Beruf, er hat auch gerade als Volksredner schon manche glänzende Probe davon abgelegt; aber doch ist er, wie ich glaube, nicht in erster Linie ein Volksredner. Metz ist vielmehr seinem innersten Wesen nach Volksagitator, Parteimann im besten Sinne des Wortes und als Redner vor Allem ein geborner Vertheidiger.
Von Ludwig Seeger nicht zu reden, würde Schulze-Delitzsch ungeachtet des Vorurtheils, das in Baiern und Oesterreich gegen ihn bestanden hat, in einer großen Volksversammlung dort, wenn auch vielleicht mit einer politischen Rede nicht alsbald durchdringend, aber doch jedenfalls eine mächtige Wirkung erzielen. Schulze-Delitzsch würde dies vermögen, weil er wirklich zum Volke schlechthin – das ja überall gleichmäßig fühlt und denkt – zu sprechen versteht und das Volk instinktiv in ihm die verwandte Natur herausfühlt. Metz würde hierzu schwerlich im Stande sein, weil er nur für Parteigenossen ein Volksredner ist und bairische und österreichische Zuhörer nicht zehn Minuten lang in die Ansicht würde versetzen können, daß er, auf gleichem Boden mit ihnen stehend, die Wahrheit gemeinschaftlich mit ihnen suche. Er wird sie durch seine glänzende Logik vorübergehend zu der Ansicht zwingen, daß er Recht habe, aber er wird sie kaum überreden und in keinem Falle bekehren. Um dies zu können, müßte er fähig sein, sich selbst ganz auf denselben Ton zu stimmen, auf den die ihm gegenüberstehende, anders gesinnte Menge gestimmt ist. Dazu aber ist er nicht im Stande, weil er immer aus dem Gegensatz, aus der Unrichtigkeit einer andern Ansicht die eigene rednerische Grundstimmung entlehnen muß.
Das eigentliche Feld für das Rednertalent von Metz ist daher die gerichtliche Vertheidigung und die parlamentarische Rede als [106] Parteimann und dann erst die Rede vor großen, im Voraus gleichgesinnten Massen. Dem steht nicht entgegen, daß Metz es war, der auf einer großen würtembergischen Volksversammlung wenigstens einen Theil der schwäbischen Demokratie für die Sache des Nationalvereins gewann; denn er hat die Schwaben damals nicht für das Programm des Nationalvereins, sondern nur für die frische, agitatorische Triebkraft des Vereins gewonnen, von der er selbst das empfehlendste Beispiel war. Metz hat alle Früchte, die dem Parteimann und Agitator blühen, geerntet: die wärmste Anerkennung und das unbedingte Vertrauen seiner Freunde und den bittersten Haß seiner Gegner. Er war es, für den die Letzteren den Namen „Commis voyageur des National-Vereins“ glaubten erfinden zu müssen, weil er unermüdlich rührig und überall, oft an drei, vier Orten in einer Woche, die Sache des Vereins verfochten hat. Er ist es auch gewesen, der gewandt, lebensklug, mit der Umsicht und Vorsicht des Advocaten und dann wieder, sobald er den Zeitpunkt gekommen erachtete, mit dem vollen Muth und der ganzen Rücksichtslosigkeit des Agitators, den schwachen Seiten des Ministeriums Dalwigk nachgespürt und bei den letzten Wahlen, trotz aller ausgeklügelten Hindernisse eines faulen Wahlgesetzes, eine so geschlossene Opposition in die Kammer gebracht hat, wie er es selbst kaum zu hoffen gewagt.
Diese beiden Seiten seines Wesens sprechen sich, glaub’ ich, auch sehr deutlich in seinem Aeußeren aus. Das tief blaue, kluge, beobachtende Auge, die Linien um die spitz auslaufende Nase und die fein geschnittenen, fest geschlossenen Lippen gehören dem scharf berechnenden, vorsichtigen Sachführer der Partei, der, nichts überstürzend, ruhig den Dingen folgt und auf seine Zeit paßt. Wenn er aber auf der Rednerbühne steht, und die hohe, etwas, forcirte Tenorstimme schallt einem entgegen, und man sieht von ferne die dunklen Augen, die unter der hochgewölbten Stirn im Feuer der Erregung hervorsprühen, und das bleiche Gesicht, dessen Blässe bei dem üppigen schwarzen Haar und dem dichten schwarzen Hambacher Bart noch stärker hervortritt, dann könnte man leicht versucht sein, bei diesem leidenschaftlichen Agitator an einen fanatischen Hussitenprediger zu denken. Der ganze Mensch arbeitet bei seinem Vortrage mit, der kräftige Körper hebt und beugt sich, und man meint, er müsse die Gedanken aus seinem ganzen physischen Habitus entwickeln. Und doch arbeitet eigentlich nur der Kopf, und gerade weil nur dieser arbeitet, während sein Gemüth ihn übermannt, statt ihn mit Hülfe der Phantasie zu unterstützen, gerade darum ist eben Metz nicht in erster Linie Volksredner. Die raschen, glücklichen plastischen Griffe und Sprünge, wie sie Ludwig Seeger und Schulze-Delitzsch ihre Dichternatur von freien Stücken und unabsichtlich gestattet, sind ihm versagt. Seine langen, fest gegliederten Sätze kann nur der allein dominirende, geschulte Verstand so sicher zu seinem Ziele leiten, und wie oft auch seine Rede in drastischer Spitze ausläuft und bis auf das Mark der Gegner trifft, es sind nicht momentan gegriffene dichterische Bilder, es sind von Verstand erfaßte und wohl geführte Pointen. –
In der Rotunde hinter dem Präsidententische sitzt unter vielen Andern ein kleiner, schmächtiger Mann in den vierziger Jahren. Der Gestalt entsprechend ist der Kopf klein und würde ohne das volle dunkelblonde Haar noch kleiner erscheinen. Das Gesicht dagegen, von dem dünnen Vollbart in seinen Contouren nicht verhüllt, tritt um so schmäler hervor, sodaß die natürliche Ovalform fast bis zum Dreieck zusammen geschwunden sich ansieht und die feinen, angenehmen Züge etwas spitz hervortreten. Nur ein Theil des Gesichtes ist in normaler Ausdehnung geblieben: das große, blaue, durchdringende Auge, in dem der ganze energische Geist des Mannes zum Ausdruck kommt. Das ist Karl Brater, der Geschäftsführer des ständigen Ausschusses der Abgeordneten-Versammlung, früher Bürgermeister der alten Reichsstadt Nördlingen, eine Stellung, der er aber nach langem Kampf für die deutsche Reichsverfassung und nach nicht enden wollenden Conflicten mit der baierischen Büreaukratie entsagte, der Gründer der Zeitschrift für baierische Verwaltungswissenschaft, der Mitherausgeber des Staatslexikons von Bluntschli, der Gründer und mehrjährige Redacteur der Süddeutschen Zeitung in München. Das ist kein Redner von Beruf und er spricht auch heute nicht, wohl aber eine politische Feder, die vielleicht nicht warm genug ist und zu viel eigene Anstrengung voraussetzt, um so recht durchschlagend auf die Massen zu wirken, die aber in lichtvoller Klarheit und classisch strenger Formschönheit ihres Gleichen sucht. Wie Bennigsen hat auch Brater sich fest in die Hand genommen, wie dieser weist auch er einem Jeden, der sich ihm naht, seine feste Stellung an; wie Bennigsen ist auch er ursprünglich Jurist und hat in trüber, drückender Reactionszeit fast allein, zunächst außerhalb und von 1859 an innerhalb der Kammer, einem freiheitfeindlichen Ministerium die Spitze geboten. Es gehörte eine so begabte, sittlich so unangreifbare und zugleich eine so taktvolle und so furchtlose Persönlichkeit dazu, um im Herbst 1859, unmittelbar nachdem ein unbeschreiblicher Enthusiasmus für die Sache Oesterreichs durch Baiern gegangen, eine Zeitung in München zu gründen, die dem Programm des Nationalvereins in Baiern den Boden bereiten sollte. Was Brater hierbei geleistet, ist wahrhaft bewundernswerth. Mit außerordentlichem Geschick und mit der zähesten Ruhe und Festigkeit überwand er Schritt für Schritt alle Schwierigkeiten – hielt es doch anfangs schwer, nur einen Drucker und nun gar einen Austräger für das vom öffentlichen Urtheil verfehmte Blatt zu gewinnen! – und erzwang sich durch sein unparteiisch Urtheil, seine wirklich liberale Opposition gegen die Regierung und durch die Tüchtigkeit seiner Redaction allmählich Achtung und Interesse.
Man hat ihn in Baiern um seiner politischen Haltung willen schwer gehaßt, so wie nur ein so unausgelebtes Volk wie das baierische hassen kann, aber man hat seinen glänzenden Leistungen als Journalist und seinem Achtung gebietenden öffentlichen Auftreten gegenüber doch auch wieder nicht ohne einen gewissen Stolz sich in dem Gedanken gefallen, daß er – ein geborner Baier sei, und mit aufrichtiger Sorge verfolgten selbst entschiedene Gegner den fernern Verlauf seines Geschickes, als er, der aufreibenden Thätigkeit als Redacteur erliegend, schwer erkrankt München verlassen mußte. Hatte doch selbst sein fanatischster Feind es nie gewagt, auch nur den Schein eines Verdachtes auf die sittliche Makellosigkeit eines Mannes zu werfen, der Amt und Würden um seiner Ueberzeugung willen ausgeschlagen und ohne Vermögen für sich und die Seinen in harter Arbeit sein Brod suchte, während Niemand Zweifel darüber hatte, daß Wissen und Talent ihn für die höchsten Staatsstellen berufen sollten. –
Die Versammlung begann schon ungeduldig zu werden, als Eduard Wiggers, Advocat in Rendsburg, der Sprecher der Holsteiner Abgeordneten, von lautem Beifall begrüßt, auf der Rednerbühne erschien. Er hatte sich, ich weiß nicht ob absichtlich, jedenfalls aber mit richtigem Takt das letzte Wort vorbehalten, denn er wollte und konnte ja nicht in einer Sache mitdebattiren, die von dem übrigen Deutschland allein ausgemacht werden mußte. Aber sprechen wollte er, um Zeugniß abzulegen von den Wünschen, Absichten und Gesinnungen des verlassenen Bruderstammes. Und das hat er redlich gethan. „Die Zeit verrinnt und das Herz ist mir schwer, ich will mich bemühen, so kurz und ruhig zu sein, als es mir die Zeit und die Stunde erlaubt“ – so begann er seine Rede. Ich glaubte es gern, daß dem Manne das Herz schwer war, und ich begriff es auch, daß es ihm nicht gelang, „ruhig“ zu sein. Zu Hause fahndeten die Dänen auf ihn, weil er auch nicht hatte „ruhig“ bleiben können, und nun stand er hier, um Kunde zu bringen von dem, was vom deutschen Volke denn wohl zu hoffen sei für eine Sache, für die er vor 15 Jahren schon sein Leben in der Schlacht gewagt und der er jetzt zum zweiten Mal seine Existenz und, wenn es sein mußte, sein Leben zu opfern entschlossen war. Er wußte, in welcher qualvollen Ungewißheit er sein Land verlassen hatte, er wußte, wie dort die Gemüther Aller taumelten unter den wechselnden Eindrücken von Furcht und Hoffnung, von Jubel und Verzweiflung, von entschlossenem Wagen und bangem Verzagen, und er wußte auch, was Land und Volk gelitten, denn ihm selbst hatte ja zwölf Jahre lang der Grimm über das dänische Joch am Herzen gefressen. Ich habe Eduard Wiggers schon im August auf dem Abgeordnetentage sprechen hören und ich wußte, daß er zwar das Zeug zum Reden hat, daß er aber noch kein fertiger Redner ist. Und doch hat mich am 21. Decbr. kein Redner so erschüttert, als dieser Mann, dem das heftig pochende Herz ein wunderbar treues Spiegelbild von der Lage der Herzogthümer auf die Zunge legte. Aus seinen Worten klagte wirklich der verlassene Bruderstamm im Uebermaß seiner Verzweiflung. Wie in Holstein vor dem Einmarsch der Bundestruppen in aller fürchterlichen Bedrängniß und Ungewißheit nur Eins gewiß war: daß das Land von dem schmachvollen dänischen Joche frei werden und bei Deutschland bleiben wolle, so beherrschte auch Eduard Wiggers in seiner Rede nur dieser eine Gedanke. Was [107] lag daran, ob man auch in aller Welt erfuhr, was in Holstein jedes Kind wußte – hier blieb vorerst nur Eins zu thun: noch einmal feierlich zu erklären, daß Schleswig-Holstein Alles für sein gutes Recht daran zu setzen bereit sei, und dann die Dinge gehen zu lassen, wie sie wollten. Es war ein mit furchtbarer Eindringlichkeit geführter Appel an die Hülfe Deutschlands, als er uns erzählte, was für Schritte unmittelbar nach dem Einrücken der Bundestruppen in Holstein geschehen würden, und mich überlief es eiskalt, wenn ich mir die ganze Fürchterlichkeit einer Lage vorstellte, die sogar ein solches Preisgeben aller Pläne rechtfertigte. Hier sprach wirklich nicht mehr ein einzelner Mann: hier sprach die Sache selbst.
Ich bin zu Ende. Ein paar von unseren Besten habe ich zeichnen wollen; möge das, was ich ohne Gunst und Mißgunst über sie gesagt, im Gedächtniß unseres Volkes haften. Seit wir in Frankfurt versammelt waren, sind die Dinge zu einer weiteren Höhe gestiegen, daß es sich schon nicht mehr um Schleswig-Holstein, daß es sich bereits um Deutschland handelt. In solcher Zeit wird es um so nöthiger sein, daß das Volk in den Männern seine Führer kennen kann, durch deren Thätigkeit mit die Entscheidung so rasch gezeitigt worden ist. Ob auch wir selbst reif genug geworden für diese Entscheidung, davon gilt es vielleicht schon sehr bald die Probe abzulegen. Wir kennen jetzt die Folgen unserer früheren Fehler. Hüten wir uns davor, sie noch einmal zu wiederholen, es möchte sonst ein Bußtag über uns kommen, an dem unsere Kinder und Kindeskinder noch zu trauern hätten! Lange genug haben in Deutschland zwei schlimme Worte ihr Spiel getrieben, die Worte „Großdeutsch“ und „Kleindeutsch“, und selbst in Frankfurt haben sie sich noch einmal in widerwärtiger Weise hervorgedrängt. Vergessen wir diese unheilvolle Worte für alle Zeit und hören wir wenigstens in der letzten Stunde auf, in wahnwitziger Verblendung uns unter einander anzufeinden. Deutschland wird und kann nichts anderes als unser großes Vaterland werden, wenn wir selbst nur in voller Einmüthigkeit ihm jetzt hinweg helfen über die Gefahren, die noch mehr als seiner Ehre, die seinem politischen Fortbestand den Untergang drohen.