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Die Gartenlaube (1863)/Heft 26

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[401]
Eine dunkele That.
Erzählung von Otto Ruppius.
(Schluß.)


Es waren vier Tage vergangen; der junge Rothe war nach der Stadt in Untersuchungshaft gebracht worden und der Amtsrath begraben; der Doctor aber saß wie halb gebrochen in seinem Sorgenstuhle am Fenster, welches den freien Blick in den wohlgepflegten Garten bot, ohne indessen das starre Auge von einem Punkte auf den Dielen vor sich zu erheben. Seit vier Tagen war er kaum vom Pferde gekommen, um neben den nöthigsten Besuchen, welche sein Beruf forderte, den einzigen Punkt festzustellen, wo der Ermordete in der Nacht des Verbrechens sich aufgehalten, damit durch die Zeit seiner Heimkehr sich ein Anhalt für den Nachweis von Rothe’s Unschuld erlangen ließ – sobald nur festgestellt werden konnte, daß die Rückkehr des Ersteren in die Zeit nach ein Uhr fiel, so mußte auch der nächste dringendste Verdacht gegen den jungen Mann fallen, da dieser nachweislich vor ein Uhr bereits wieder in seinem elterlichen Hause gewesen war. Sonderbarer Weise aber hatte sich trotz der genauesten und speciellsten Nachforschung auch nicht die geringste Spur über des Amtsraths Wege von dem Verlassen seines Hauses bis zu seiner Heimkehr auffinden lassen, und auch als der Doctor den letzten Schritt gethan und, der Meinung seiner Wirthschafterin zuwider, in dem Hause der sogenannten Meier-Lotte, welche bei einem alten, heruntergekommenen Ehepaare im diesseitigen Dorfe wohnte, Erkundigung hatte einziehen lassen, war ihm die Nachricht geworden, daß die Genannte an jenem Nachmittage nach der Stadt gegangen und die Nacht dort geblieben sei – eine Angabe, wozu auch die Begegnung, welche der Arzt und sein junger Freund bei ihrem letzten Heimritt mit der Person gehabt, völlig stimmte.

Jetzt saß dem Alten ein Mann in schwarzem Anzuge, mit scharf ausgeprägten Gesichtszügen gegenüber, in sichtlich mißmuthiger Stimmung in das halbgeleerte Weinglas vor sich hinstarrend. „Ich muß es offen aussprechen, Doctor,“ sagte er jetzt, sich rasch aufrichtend und in die sonnige Landschaft hinaus blickend, „daß mir der Fall so hoffnungslos wie selten ein anderer erscheint, da er nach keiner Seite hin dem Vertheidiger auch nur den kleinsten Umstand zur Benutzung übrig läßt. Nicht allein die vorhandenen Thatsachen reihen sich zu einem ganz unumstößlichen Indicien-Beweise zusammen, nicht allein die moralische Ueberzeugung jedes Unparteiischen neigt sich bei dem erwiesenermaßen verabredeten Rendezvous auf Seite der Anklage, sondern auch die einzelnen, scheinbaren Entlastungs-Momente tragen nur noch dazu bei, die Weise der That erklärlich zu machen und mit dem Charakter des Angeklagten in Einklang zu bringen. Das Rendezvous hat nicht stattgefunden, die junge Frau ist aus Angst vor ihrem noch nicht heimgekehrten Manne dem Signale des harrenden Geliebten nicht gefolgt, das können wir feststellen; jetzt aber wird uns der Staatsanwalt psychologisch nachweisen, daß gerade durch diese Täuschung die Leidenschaft des jungen Mannes und seine Erbitterung gegen den Ehemann die höchste Spitze erreichen mußte und daß es deshalb recht gut zu denken sei, wie unter einer solchen den Geist verfinsternden Aufregung beim Erscheinen des Gehaßten, des einzigen Hindernisses zu einem ersehnten Glück, sich auch ein edler Charakter zu einer raschen That habe hinreißen lassen können. Ich kenne die Deductionen meines verehrten Gegners und sehe ihn schon völlig vor mir. Es wird mir unter diesen Umständen wahrlich schwer, den Eltern des jungen Mannes Bericht zu erstatten, die mit so zitternden, gespannten Augen jeden meiner Besuche empfangen, daß ich schon schwach genug gewesen bin, Hoffnungen rege zu machen, an die ich selbst nicht glaube; an Ihnen, Doctor, hängt das ganze Vertrauen der alten Leute, und so bitte ich Sie, ihnen allgemach den wahren Stand der Dinge klar zu machen!“

Der Alte hatte, regungslos vor sich hinstarrend, den Worten gehorcht, jetzt hob er langsam das abgespannte Gesicht und schüttelte mit einem Lächeln, das wie ein leiser Sonnenstrahl aus dunkeln Wolken durch seine Züge ging, den Kopf. „So weit sind wir noch nicht, lieber Herr,“ sagte er, „und wenn Sie auch, an der menschlichen Kunst der Vertheidigung verzweifelnd, die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang fallen lassen, so verzweifele ich doch noch nicht, und die Alten drüben sollen es auch nicht, denn es giebt eine Unmöglichkeit im Laufe der Dinge, die sich nicht klar demonstriren, die sich aber für den, welcher den Sinn dafür hat, um so bestimmter fühlen läßt, und so sage ich Ihnen: Eben so sicher wie ich innerlich von der Unschuld des Jungen überzeugt bin, so sehr auch alle äußeren Umstände dagegen sprechen mögen, eben so gewiß bin ich auch, daß seine Verurtheilung zu den Unmöglichkeiten gehört, und wenn er morgen schon vor seine Richter treten sollte, daß Alles, was jetzt noch dunkel ist, klar werden muß, noch ehe es damit zu spät sein würde! – Verlassen Sie sich darauf,“ setzte er mit einem eigenthümlichen Kopfnicken hinzu. „ich weiß es, wenn Sie auch nicht viel davon halten mögen, daß der Herrgott einem alten Knaben, den er schon genugsam geprüft und treu erfunden hat, seine letzte Freude in dieser Welt nicht rauben wird.“

Der Advocat zuckte leicht die Achseln und erhob sich. „Ich werde meinerseits natürlich das Möglichste versuchen,“ erwiderte er, „indessen hielt ich es für meine Pflicht, Ihnen den Stand der [402] Dinge ungeschminkt mitzutheilen. Sollte Ihnen noch irgendetwas Bemerkenswerthes aufstoßen, so werden Sie es mir ja sofort wissen lassen!“

Er trank den Rest seines Weines aus, griff dann nach seinem Hute und verließ nach einem kurz gewechselten Händedrucke mit dem Alten das Haus.

Eine Weile noch saß der Alte, wie in tiefen Gedanken den Kopf gesenkt. „Nur aus Furcht vor ihrem ausgebliebenen Manne soll sie nicht mit ihm zusammengetreten sein“, brummte er endlich mit leisem Kopfschütteln. „Sie machen sich Alles nach ihrer eigenen nüchternen Seele zurecht und wundern sich nachher, daß es noch Hoffnungen giebt, wo sie längst damit zu Ende sind. Armes Kind! Als ob sie nicht ein noch schwereres Kreuz hätte auf sich nehmen wollen, wie es ihr alter Freund getragen, als ob zwischen den beiden Kindern ein einziger böser Gedanke aufgestiegen wäre – und da soll eine Sache aufgegeben werden, die gar nicht verderben kann, wenn nicht Alles, was irdische und ewige Gerechtigkeit heißt, zur Lüge werden soll!“

Trotz einer Art leichten Unwillens aber, welcher in den letzten Worten klang, trat dennoch ein sorgenvoller Ausdruck auf seine Stirn, und er erhob sich, wie in aufsteigender innerer Unruhe. „Gott gebe nur, daß sie zur rechten Zeit stark genug ist, um Zeugniß abzulegen, sei es auch nur des moralischen Eindrucks halber!“ fuhr er dann fort, einige Male rasch das Zimmer durchmessend, und öffnete hierauf die Ausgangsthür. „Jakob, das Pferd!“

Nach einer halben Stunde bereits hatte er das Gut des Amtsraths erreicht; in dem Hofe stand der Justitiar im Gespräch mit einer jungen Frauensperson, welche bei dem Klange der Pferdetritte sich rasch umwandte und sodann davon eilte, und die Augenbrauen des Ankommenden zogen sich bei ihrem Erblicken dicht zusammen. Mit einer plötzlichen Leichtigkeit schwang er sich aus dem Sattel, warf den Zügel über die Eisenstangen des Gitters und schritt hastig auf den ihn erwartenden Gerichtsmann zu. „Wissen Sie, Herr Justitiar,“ sagte er, während ein leichtes Roth in die welken Backen trat, „wenn Sie mir die Christine hier in voller Thätigkeit lassen, so stehe ich Ihnen nicht für das Leben der Kranken. Ich halte es, gerade heraus gesagt, mindestens für eine Taktlosigkeit, bei den bewandten Umständen die Frau vom Hause unter die Obhut ihrer Anklägerin zu stellen; die Amtsräthin weiß schon aus dem kurzen Verhör, das an jenem unglücklichen Tage mit ihr vorgenommen wurde und sie auf’s Krankenlager warf, was die Creatur wider sie ausgesagt, und jeder Laut aus deren Munde, welcher zu der Kranken dringt, muß Gift für diese werden!“

Der Justitiar neigte mit einem kalten Lächeln leicht den Kopf. „Ich entschuldige Ihre Ausdrucksweise, Herr Doctor, mit Ihrem Interesse für die junge Frau,“ erwiderte er gemessen, „indessen sollten Sie bedenken, daß meine eigenen Pflichten diesem nicht nachstehen können. Im Augenblicke bin ich den Verwandten des Verstorbenen für den gesammten Nachlaß verantwortlich, denn Sie werden einsehen, daß, wenn die Untersuchung irgend einen bestimmten Antheil der Frau an dem begangenen Verbrechen herausstellen sollte, ihre Erbansprüche, welche aus dem Ehe-Contracte erwachsen, sehr in Frage gerathen dürften, Christine ist nun nicht allein die Einzige, welche seit der Verheirathung des Amtsraths einen großen Theil der Wirthschaft bereits unter sich gehabt, sondern sie hat durch ihre Aussage auch nur ihrer Pflicht genügt, um die sie am wenigsten eine Hintenansetzung erleiden darf –!“

„Ah – schön – ah!“ unterbrach ihn der Arzt, dessen Brauen und Mundwinkel wunderlich zu zucken begonnen hatten und dessen Gesichtsfarbe in raschem Wechsel gekommen und gegangen war; „die Verwandten halten es ihrem Vortheil angemessen, die junge Frau ohne Weiteres mit dem Verbrechen zu identificiren, und Sie machen sich zum getreuen Diener derselben! Schön – ich werde heute noch bei dem Gerichte in Person darauf antragen, daß die Kranke nach meinem Hause geschafft wird, damit wenigstens ein auf diese Weise voraussichtlicher zweiter Mord vermieden wird –!“

Der Justitiar wurde bleich und biß sich auf die Lippen, der Doctor schien aber kaum auf die Wirkung seiner Worte zu achten, drehte sich weg und schritt in das Haus, hier rasch die Treppe hinaufsteigend. Erst als er den oberen Corridor erreicht und ein Blick ringsum ihm Sicherheit vor fremder Beobachtung gegeben, zog sich seine Stirn in tiefe Falten, und seine Augen voll schwerer Sorgen wandten sich durch das Fenster dem Freien zu. Nur ein kaum merkliches Kopfschütteln verrieth seinen Gedankengang, und als er sich nach kurzer Weile der nächsten Zimmerthür zudrehte, kostete es ihm sichtliche Anstrengung, seinen Zügen einen Ausdruck von Ruhe zu geben.

Es war ein kleiner, eleganter, durch die zugezogenen dichten Gardinen vor dem hellen Tageslicht geschützter Raum, welchen er betrat, und das weiße Bett im Hintergrunde, von dem sich das bleiche Gesicht der darin ruhenden Gestalt fast nur durch die unter dem Spitzenhäubchen hervorquellende Fülle blonden Haares abzeichnete, ließ das Schlafzimmer der Hausherrin sofort errathen. Vom Ende des Bettes erhob sich eine ältliche Frau und winkte dem Eintretenden, vorsichtig aufzutreten. „Meine Tochter ist kaum erst eingeschlafen,“ sagte sie mit gedämpfter Stimme, „es scheint indessen nur die gänzliche Abmattung zu sein, welche ihr die Augen geschlossen!“

Der Arzt nickte, trat zu dem Bette und schien die Kranke zu beobachten, aber sein unruhiges Auge, das kaum auf ihrem Gesichte haftete, deutete die völlige Abwesenheit seiner Gedanken an. Nach einer kurzen Weile erhob er den Kopf, rieb sich die Stirn und sagte, sichtlich zerstreut: „Ich werde das Nöthige verschreiben!“ Sein Blick durchlief das Zimmer, als suche er nach den nöthigen Materialien dazu; dann aber, wie sich seiner erst recht bewußt werdend, schritt er rasch nach der Thür zu dem anstoßenden Zimmer und öffnete diese in augenscheinlicher Vertrautheit mit der Localität. Und er hatte den Raum, welcher ihn empfing, auch so oft betreten, daß er sich darin im tiefsten Dunkel zurecht gefunden haben würde. Hierher hatte sich der Amtsrath mit den Beschwerden, welche ihm als Bodensatz einer leichtsinnig vergeudeten Jugend und der kaum mehr haushälterisch verbrachten Mannesjahre übrig geblieben waren, immer zurückgezogen, so lange er noch unverheirathet war, und hierher hatte er nach geschehener Verheirathung sein Schlafzimmer verlegt.

Das Zimmer war noch genau in demselben Zustande, in welchem es der Amtsrath bei seinem letzten Ausgange verlassen hatte; außer den Bequemlichkeiten für den Aufenthalt eines Leidenden zeigte es nur einen kleinen Tisch für die nothwendigste Schreiberei, und die Gerichts-Commission, welche sich zur Voruntersuchung des Falles an Ort und Stelle eingefunden, hatte hier nirgends etwas Bemerkenswerthes zu entdecken vermocht.

Der Doctor nahm sichtlich nur mechanisch an dem Tische Platz und stützte, anstatt nach Feder und Papier zu greifen, wie von seinen Gedanken übermannt, den Kopf in die Hand. Mehrere Minuten vergingen so, ohne daß er nur ein Augenlid bewegt hätte; da schien endlich sein Blick von einem kleinen Stück groben Papiers, welches in dem Zugloche der Ofenthür hing und jedenfalls durch einen Windstoß aus dem Innern des Ofens geweht worden war, angezogen zu werden. Es hing da, von dem leisen Luftzuge zitternd bewegt, und noch immer wie sich seines Handelns nicht völlig bewußt, erhob sich der Arzt leicht und griff danach. Gleichgültig betrachtete er es, dem schwarzen Brandrande nach war es der Rest eines größeren verbrannten Stücks, und seine Hand zeigte sich schon bereit, es ohne Umstände wieder zu beseitigen, als sich plötzlich sein Blick schärfte und einige deutlich darauf erkennbare plumpe Schriftzüge entziffern zu wollen schien. Dann schnellte der Betrachtende, wie von einem jäh aufschießenden Gedanken belebt, in die Höhe und öffnete hastig die Ofenthür, dort, ohne Rücksicht auf seine wohlgepflegten Hände, in der sich ihm zeigenden Asche umherwühlend; aber nicht das kleinste weitere Fragment zur Ergänzung des Gefundenen ließ sich entdecken; nur einzelne emporflatternde Aschenflocken zeigten durch ihre besondere Leichte, daß sie einst Papier gewesen waren, und kaum mochte der Alte sich von der Fruchtlosigkeit seiner Nachsuchung überzeugt haben, als er auch von Neuem den wenigen Worten auf dem erhaltenen Papierstück seine volle Aufmerksamkeit zuwandte.

„ – rothe Schenke erwar – arne dich wohl nicht ausz – chts wieder von mir hören und Ruhe – lbst heirathen und von hier weg – eier.“ Das war Alles, was das Feuer verschont; dennoch schien der Doctor, dem eigenthümlichen Leuchten nach, das von Secunde zu Secunde heller in seinem Gesichte aufging, ganz besondere Entdeckungen darin zu machen. Er zog endlich sein Notizbuch, verwahrte sorgfältig seinen Fund darin, rieb sich mit scharf zusammengezogenen Brauen kräftig die Stirn und schritt dann nach dem anstoßenden Zimmer zurück. Jetzt war es ein langer Blick voll wundersamer Milde, welchen er auf der Kranken ruhen ließ; er bog sich hinab zu ihr, um einen Augenblick auf ihren Athem [403] zu horchen, und sagte dann halblaut zu der daneben sitzenden Mutter: „Ich will selbst gehen, um die rechte Medicin für sie zu suchen, und Gott wird helfen, daß ich sie finde!“ Und ohne auf den Ausdruck von leichter Befremdung, mit welchem die Angeredete zu ihm aufsah, zu achten, verließ er das Zimmer.

Als er mit fast jugendlichem Schritte die Treppe hinabstieg, sah er den Justitiar im Hofe auf und ab gehen und diesen, sobald er seiner ansichtig ward, auf sich zuschreiten. „Wenn Sie durchaus meinen, Herr Doctor,“ begann der Herantretende, sichtlich eine leichte Verlegenheit überwindend, „daß es vom medicinischen Standpunkte aus nöthig ist –“

„Ich denke, Herr Justitiar, ich habe Ihnen bereits meine Meinung deutlich genug mitgetheilt, als daß noch ein weiteres Wort darüber erforderlich wäre,“ schnitt ihm der Angeredete das Wort ab, „handeln Sie nun, wie Sie wollen! In Ihrem Privatinteresse aber möchte ich Ihnen rathen, sich nicht zu tief mit Leuten einzulassen, welche die natürlichen Feinde der jetzigen Besitzerin des Guts sind, in sehr kurzer Zeit aber von ihren sonderbaren Einbildungen geheilt sein werden!“ Damit kehrte er sich kurz ab, schwang sich auf sein Pferd und verließ in scharfem Trabe den Hof.

Jetzt aber nahm er die seinem Heimweg entgegengesetzte Richtung, hinunter nach dem zum Gute gehörenden Dorfe und achtete kaum auf die bereitwilligen Grüße der ihm Begegnenden und die verwunderten Blicke, welche seinem ungewohnten schnellen Ritte folgten. Erst als die Häuser hinter ihm lagen, und er den Fuß der jenseitigen Anhöhe erreichte, ließ er seinen oft unwillig den Kopf schüttelnden Klepper einen langsamen Schritt annehmen, und als er oben die Bäume der sich dort vorüber ziehenden Chaussee, dahinter aber ein aus rohen Backsteinen ausgeführtes Haus auftauchen sah, zog er wie unwillkürlich den Zügel an. Dort oben lag die ihres Aeußeren halber sogenannte rothe Schenke, und dem Reiter war es bei ihrem Erblicken plötzlich wie das Bangen vor einer schweren Entscheidung überkommen, das sich auf seine helle Stimmung wie ein dichter Nebel legte – erst jetzt drängte sich ihm ein Gefühl wie eine geschehene Ueberschätzung seines Fundes auf, und mit einem raschen Griffe holte er sein Notizbuch hervor, das darin verwahrte Papierstück und die Bruchstücke von Sätzen darauf einer neuen Prüfung unterwerfend. Ein Kopfnicken der Selbstermuthigung endigte diese indessen, und als er auf der Höhe, die Chaussee kreuzend, eine breite Figur, die Hände in den Hosentaschen geborgen, in der Thür des Wirthshauses lehnen sah, vermochte er es, dieser schon von Weitem einen launigen Gruß zuzuwinken. Langsam, aber in sichtlichem Behagen über den Besuch, trat der Mann dem Ankommenden entgegen.

„Lange nicht hier gewesen, Herr Doctor – hätte beinahe gesagt, Gott sei Dank!“ lachte Jener, als der Arzt sich aus dem Sattel schwang, und ergriff den Zügel, um das Pferd anzubinden; „man sieht Sie ja eben nur hier, wenn der Teufel in der Nachbarschaft irgendwo sein Spiel hat, und so hoffe ich jetzt wenigstens, daß Sie sich aus irgend einer andern Ursache heraufgemacht haben!“

Der Doctor lüftete den Hut und fuhr mit der Hand durch das buschige, graue Haar. „Will einmal Euer Bier hier oben versuchen und nebenbei eine Frage thun,“ sagte er, „da es sich aber nach abgemachten Geschäften ruhiger trinkt, so mag die Frage vorweg gehen. Wissen Sie wohl noch den Tag,“ fuhr er fort, langsam, von dem Wirthe gefolgt, nach dem Felde hinaus tretend, „als der unglückliche Amtsrath das letzte Mal hier war?“ Er hatte seinen Schritt angehalten, und ließ das Auge groß und erwartend auf seinem Gesellschafter ruhen.

„Der unglückliche Amtsrath?“ wiederholte dieser, sich mit der Hand hinter das Ohr fahrend, „das muß eine gute Weile her sein, denn ich möchte’s nicht einmal unternehmen, genau den Monat zu bestimmen!“

„So!“ versetzte der Alte gezogen, während sein Gesicht einen Schatten bleicher wurde, „ich hörte, er sei in derselben Nacht, in welcher er zum Tode kam, hier oben gesehen worden, und es liegt mir viel daran, die Wahrheit zu ermitteln!“

„Nicht in meinem Hause,“ erwiderte der Wirth kopfschüttelnd, „es wäre mir sonst, als die Nachricht von dem Morde kam, gewiß zuerst beigefallen.“

Der Arzt nickte langsam, den Blick zu Boden senkend. „Da ist nun eine Charlotte Meier, oder kurzweg Meier-Lotte, aus unserm Dorfe drüben, die Sie ja wohl kennen, diese soll ebenfalls an jenem Abend sich hier gezeigt haben.“

Das ist in Richtigkeit,“ war die eifrige Erwiderung, „sie war ihrem Schatze, dem Fleischergesellen, nachgegangen, der am selben Tage ein Kalb bei mir geschlachtet hatte – sie haben Beide bis spät bei einander gesessen.“

„Und können Sie sich dabei auf nichts Besonderes in dem Benehmen Beider besinnen? Strengen Sie Ihr Gedächtniß an, Mann, Sie wissen nicht, wie wichtig jeder kleine Umstand werden kann.“ sagte der Doctor fast ängstlich; „ich muß Ihnen sagen, ich glaube den sichern Beweis in der Hand zu haben, daß die Meier den Amtsrath, mit dem sie es verschiedene Jahre gehalten, an jenem Abend hier heraus bestellt hat – möglich, daß der Mann aus einer natürlichen Rücksicht gegen sich selbst das Haus nicht betreten; es würde dies auch erklären, daß alle Nachforschungen über seinen Verbleib an jenem Abend fruchtlos blieben –“

Der Andere hatte wie in plötzlicher Spannung den Kopf gehoben. „Sie haben doch nicht etwa Gedanken, Dortor, daß – um Gotteswillen, lassen Sie mich dabei aus dem Spiele, ich mag mit keinem Gerichte in derartigen Sachen etwas zu thun haben –“

„Und auch nicht, wenn es gälte, einen unschuldigen Menschen zu rerten?“ rief der Alte mit aufblitzenden Augen und faßte kräftig den Arm des sich halb wegwendenden Wirths; „wenn Ihr Sohn ein ansteckendes bösartiges Fieber hätte, dann würden Sie vom Doctor verlangen, daß er auf die Gefahr hin, das eigene Leben daran zu setzen, zu Hülfe eilte; ihr Menschen auf unsern Dörfern hier aber könntet einen Nebenmenschen ruhig zu Grunde gehen sehen, nur um nichts mit dem Gerichte zu thun zu bekommen.“

Der Andere zog das Gesicht in wunderliche Falten. „So ganz schlimm ist es nun nicht mit mir,“ versetzte er mit einem Lachen, das zwischen Humor und Verlegenheit mitten inne stand, „aber der Teufel allein mischt sich gern in Dinge, die ihn nichts angehen. Mag’s denn in Gottes Namen drum sein,“ fuhr er fort, sich dem Arzte wieder voll zuwendend und zugleich seine Stimme dämpfend, „es ist mir bei Ihren Worten da allerdings Einzelnes durch den Kopf gefahren, was mit Ihrer Vermuthung wegen des Amtsraths stimmen könnte. Wir hatten denselben Abend bis spät Gesellschaft hier, es waren mehrere von den Verwaltern aus der Umgegend da, und die Meier-Lotte saß mit dem Fleischer in einer Ecke, anscheinend in ganz gutem Einvernehmen. Ich hatte ein Auge auf sie, da ich solche Frauenzimmer nicht gern hier sehe und nicht wußte, was sie hier so lange zu suchen habe; auch ihr Liebster hätte längst auf dem Heimweg sein müssen; er ist eine Stunde von hier, drüben im Flecken zu Hause. Da sah ich also, daß die Lotte, als es spät wurde, öfters durch das Fenster sah, als erwarte sie Jemand – es war heller Mondschein – und anfing, unruhig zu werden, daß sie aber nach einer Weile aufsprang und aus der Stube ging. Der Fleischer mußte jedenfalls um ihre Sache wissen, denn er blieb ruhig allein sitzen und bestellte auch noch für Beide zu trinken. Es dauerte aber wohl eine halbe Stunde, und das war schon nach zwölf, gerade als die Verwalter ihr letztes Spiel anfingen, ehe sie wiederkam, und nun ging zwischen den Beiden in der Ecke ein hastiges, kurzes Gespräch los; der Fleischer stand mit einem Male von der Bank auf, als wolle er nichts mehr mit ihr zu reden haben, bezahlte mich kurz und ging; sie aber machte ein wüthendes, freches Gesicht, packte, was um sie her lag, in ihren Handkorb und schoß dem Andern nach; ich meinte erst, sie werde ihn draußen noch fassen wollen, und sah durch’s Fenster; aber der Fleischer ging ruhig die Chaussee fort, und die Meier-Lotte kam mir nicht wieder vor die Augen. – Das ist aber Alles,“ schloß der Erzähler, „was ich selbst auf dem Todtenbette aussagen könnte – und nun machen Sie damit, was Sie wollen!“

Der Arzt rieb sich mit zusammengezogenen Augenbrauen die Stirn. „Und wie heißt der Fleischer?“ fragte er nach einer kurzen Weile.

„Wir nennen ihn nur Christian, aber er ist die einzige Hülfe des alten Krause drüben, gleich das dritte Haus, wenn Sie von hier nach dem Flecken kommen, wo Sie ihn jedenfalls finden können!“

Um den Mund des Alten zuckte es, als wolle er noch eine Frage thun, aber er schien sie zu unterdrücken. „Das Bier probiren wir, wenn ich zurückkomme, und sorgen Sie auch, daß ich dann etwas zu essen finde,“ sagte er, dem Wirthe die Hand reichend, „danken will ich Ihnen später, wenn Sie erst selbst wissen werden, wofür!“

In der nächsten Minute hatte er bereits sein Pferd wieder [404] bestiegen und folgte in raschem Trabe der Chaussee. Vor seinem innern Blicke stand schon seit dem letzten Theile der gehörten Erzählung nur die breite Todeswunde des Ermordeten, und daneben wollte das gebräuchliche Messer des Fleischers nicht aus seiner Vorstellung weichen; nirgends in dem Berichte des Wirths aber fand sich der geringste Grund, daran zu denken, und selbst die Annahme, daß der Amtsrath von dem besprochenen Weibe zu einer Zusammenkunft nach der rothen Schenke in jener Nacht bestellt worden sei, ließ sich kaum ihrerseits mit dem Aufsuchen ihres erklärten Bräutigams an demselben Orte zusammenreimen. Zum ersten Male tauchte in dem Dahintrabenden der Gedanke empor, ob nicht das aufgefundene Brief-Fragment aus einer früheren Zeit stamme. Er aber schüttelte, als wolle er durch die Bewegung die peinigenden Zweifel von sich werfen, energisch den Kopf. „Wenigstens soll jede Spur verfolgt werden, so lange sich auch nur eine Vermuthung rechtfertigen läßt und die alten Knochen aushalten!“ brummte er vor sich hin, und wie gestärkt durch den Entschluß, richtete er sich straffer im Sattel auf und ließ den Klepper die Gerte fühlen.

Es war Mittag, als er den ihm bezeichneten Marktflecken erreichte, und schon von Weitem zeigte ihm der an dem Thürpfosten eines keinen Hauses angehakte Ochsenkopf mit weit heraushängender Zunge die Wohnung des Gesuchten. Eine Nothwendigkeit war seinem Verstande sofort klar: den Burschen nicht scheu zu machen, falls dieser wirklich die Anwesenheit des Amtsraths in jener Nacht bestätigen konnte. Der Reiter hielt, ohne abzusteigen, vor dem Hause an und ließ ein lautes „He!“ ertönen. Ein junges Weib erschien in der Thür. „Ist der Christian daheim, Frauchen?“

„Ich denke, er wird hier herum sein; können’s aber auch mir gleich sagen, wenn es wegen einer Bestellung ist.“

„Habe nur einen kurzen Auftrag im Vorbeireiten an ihn selber; es ist besser, Sie rufen ihn!“

Die Frau verschwand, und nach kurzem Warten erschien ein rothes, dickbäckiges Gesicht in der Thür, in sichtlicher Neugierde den Reiter musternd.

„Kennt mich wohl nicht, Christian?“ begann der Alte, als Jener langsam und breitbeinig sich ihm genähert, „ich bin der Doctor, drüben aus dem Bruche, und ich wollte nur fragen, ob Ihr noch etwas mit der Meier-Lotte zu thun habt.“

Ein Ausdruck von Mißtrauen ward plötzlich in dem Gesichte des Angeredeten bemerkbar. „Mit der Meier-Lotte?“ versetzte er, den Kopf halb abwendend. „habe eigentlich noch niemals was Rechtes mit ihr zu thun gehabt!“

„Rechtes oder nicht, Christian! ich möchte Euch nur sagen, daß der Doctor nicht der Advocat ist, gegen den man sich am besten vorsieht. Habt noch denselben Abend, wo sie auf den Amtsrath wartete, mit ihr bis nach Mitternacht in der rothen Schenke gesessen und für sie bezahlt –“

„Und gerade deshalb habe ich niemals etwas mit ihr zu thun gehabt,“ unterbrach ihn der Bursche, während ihm das Blut in das Gesicht schoß. „Sie hat mich gelockt und gesagt, der Amtsrath müsse ihr noch eine große Summe Geld zahlen, damit solle ich in der Stadt Meister werden und sie dann heirathen; ’s ist aber Alles erlogen gewesen; der Amtsrath hat sich wohl da eingestellt, wohin sie ihn bestellt gehabt, ich habe ihn selbst gesehen, aber er hat ihr nur gesagt, daß er sie einsperren lassen würde, wenn sie ihn noch länger verfolge. Damit war die Geschichte aus und blieb aus – das mögen Sie ihr nur sagen, wenn Sie etwa von ihr abgeschickt sein sollten.“

„Und der Amtsrath soll nach Mitternacht noch dort gewesen sein?“ fragte der Alte, in welchem es zitterte, als könne ihm die endliche Bestätigung seiner Vermuthung wie ein scheuer Vogel bei ungeschickter Berührung unter der Hand wieder entschlüpfen, „es gehört jedenfalls ein guter Glaube für den Fremden dazu, Chrtstian!“

„Möchte sie vielleicht die Sache jetzt anders drehen, da er todt ist?“ erwiderte der Bursche mit einem plötzlichen Ausdrucke von Pfiffigkeit, halb zu dem Reiter aufblickend; „ich habe ihn selbst gesehen, wenn sie auch nichts davon weiß, und sie wird wissen, daß er, der Gäste wegen, erst spät hat kommen wollen. Im Uebrigen kann Ihnen der Wirth in unserm Gasthofe, wo er den ganzen Abend mit dem Domänenpächter gesessen hat, sagen, daß er erst um eilf von hier weggegangen ist. Damit sind wir fertig, und sie braucht sich keine weitere Mühe zu machen!“

Der Sprechende wollte sich bei den letzten Worten mit einem kurz gebundenen Gruße dem Hause wieder zudrehen, aber der Doctor, dessen ganzes Gesicht sich mit einem leichten Roth gefärbt, rief, als mangele ihm einen Augenblick der Athem: „Noch Eins, Christian! ist Euch nicht an besagtem Abend Euer Messer abhanden gekommen?“

Der Bursche wandte sich rasch zurück. „Mein Messer? – verdammt, nun weiß ich selber, wo es geblieben ist; ich hatte es in den Handkorb der Meier-Lotte gelegt – wenn sie das als Entschädigung behalten will, so mag sie es haben!“ Und als wolle er jedes fernere Wort abschneiden, drehte er dem Doctor den Rücken, dem Hause wieder zuschreitend.

Der Alte aber warf plötzlich sein Pferd mit einer Kraft herum, daß dieses wie erschreckt einen Satz that und im Galopp seinen Reiter der Chaussee wieder zutrug; dort aber schlug dieser hastig den Weg nach der Stadt ein, und der Wirth in der rothen Schenke wartete den langen Nachmittag vergebens auf seine Rückkehr.




Es war am Nachmittage des folgenden Tages, als der Doctor langsam in den Hof des Rotheschen Besitzthums einritt; aber wie Sonnenschein zwischen zerrissenen Wolken stand ein Zug heller Laune in den faltigen Zügen seines Gesichts.

„Erschrick einmal nicht, Johann,“ sagte er, dem herbeikommenden Knechte das Pferd übergebend, „wenn sie von Gerichts wegen nach Dir fragen, und gieb fröhlichen Bescheid. Du weißt doch noch, wann an jenem Unglücks-Abend der Fritz heimgekommen ist?“

„Ob ich es weiß!“ erwiderte der Angeredete, den Arzt mit dem Ausdrucke leichter Verwunderung anblickend, während sich dennoch in seinem derben Gesichte ein scheuer Ansatz bildete, die launige Miene des Alten widerzuspiegeln; „ich mußte alle zwei Stunden nach dem kranken Pferde sehen und war gleich nach zwölf in den Stall gegangen. Gerade als ich wieder in’s Bett kriechen wollte, kam der junge Herr!“

„Richtig, das gieb nur gerade so an!“ nickte der Alte und wandte sich nach dem Hause. Ohne anzuklopfen, öffnete er hier leise die Thür des Parterre-Zimmers und steckte den Kopf hinein. Drinnen saß der alte Rothe, eine hohe, breite Gestalt, regungslos in einem ledernen Sorgenstuhle, während die Frau unweit von ihm, eine Nätherei im Schooße, den umflorten Blick nach seinem Gesichte gehoben hatte. Beide schienen soeben eine Pause in einem trüben Gespräche gemacht zu haben.

„Darf man hinein kommen?“ fragte der Arzt, indem es trotz des leichten Zuges von Humor um seinen Mund wie eine stille Erregung in seiner Stimme bebte.

„Da ist er, Vater! siehst Du, daß er uns nicht verlassen hat?“ fuhr die Frau auf. „Es ist seit vorgestern Niemand hier gewesen, Doctor, auch der Advocat nicht, und da hat er gleich an das Schlimmste gedacht.“

„Dummes Zeug, gleich von Verlassen zu reden, wenn Unsereins auch einmal das schöne Wetter genießen will,“ erwiderte der Eingetretene mit einem wunderlichen Zucken in den alten Zügen. „Es thät’ hier auch gut, die Fenster aufzumachen, damit etwas frische Luft in den Trübsalsnebel kommt!“

Der Mann im Sorgenstuhle hatte aufmerksam den Kopf gehoben, während die Frau den Blick in sichtlicher Befremdung auf dem Gesichte des Sprechenden haften ließ. „Haben Sie etwas erfahren, Doctor?“ fragte der Erstere zögernd, „etwas – Tröstliches?“

„O, ich war nur eben dabei, als die Scheide und der Riemen von einem Fleischermesser gefunden wurden –“

„Von einem Fleischermesser?“ wiederholte Rothe, sich langsam gerade setzend und die Augen groß öffnend.

„Ja, das heißt unter den Sachen der Meier-Lotte, die soeben abgeholt werden sollte; es hat sich indessen herausgestellt, daß die Person schon seit vier oder fünf Tagen nicht mehr in ihr Quartier gekommen ist!“

„Und was ist das mit der Meier-Lotte, Doctor?“ klang die neue Frage des Mannes, welcher jetzt den Blick starr in des Arztes Gesicht geheftet hielt.

„Ja, das ist allerdings eine sonderbare Geschichte, wenn man auch schon längst selbst darauf hätte fallen können,“ erwiderte der Arzt, sich in den Haaren krauend und steif durch das Fenster in den blauen Himmel hinaus blickend; „Sie wissen ja, daß der Amtsrath es mit der Person bis zu seiner Verheirathung gehalten hat, [405] und es scheint, daß sie sich noch Rechnung auf ein gehöriges Abstandsgeld gemacht, sich darauf hin auch schon einen Fleischer zum Liebsten geangelt hatte, der sie um der schönen Thaler willen zu heirathen versprochen. Eines Abends indessen, als sie unter Drohungen den Amtsrath zu einer Zusammenkunft mit ihr bei der rothen Schenke veranlaßt, droht ihr dieser bei einem neuen Erpressungsversuche mit gerichtlicher Haft, der neue Liebste, der im Hause nur auf das Resultat der Unterredung gewartet, giebt ihr kurz gefaßt den Laufpaß, und sie stürzt mit Rache im Herzen dem Amtsrath nach. Der Fleischer aber hat sein Messer in ihrem Korbe aufbewahrt gehabt, ohne wieder, als er sie verlassen, daran zu denken – ja – Alles dies ist aber nun zu derselben Zeit geschehen, als der Fritz in jener Nacht nachgewiesenermaßen sich längst auf dem Heimwege von des Amtsraths Gute befunden hat –“

„Dortor, um Gotteswillen martern Sie uns nicht – mein Sohn kommt frei?!“ schrie Rothe aus, von seinem Sitze emporschnellend.

„Nun ja, und wenn Sie jetzt nach der Stadt fahren wollen, bringen Sie ihn möglicherweise gleich mit heim!“ erwiderte der Arzt, der erst jetzt den Kopf wandte, mit einer Bewegung in seinem Tone, die er vergeblich durch ein plötzliches, glückliches Lachen zu verdecken suchte – und: „Lisbeth – Doctor, sehen Sie nach der Frau!“ brach es aus des Vaters Munde, während er gleichzeitig zur Thür hinaus in den Hof stützte. Und von dort klang es im nächsten Momente in voller Kraft der Stimme: „Johann, die Pferde, den kleinen Wagen, rasch!“

Als aber der Doctor sich in einem leichten Schrecken nach der Frau gewandt, sah er, wie diese leichenblaß neben ihrem Stuhle stand und sichtliche Anstrengungen machte, sich daran festzuhalten. „Lisbeth, fassen Sie sich!“ rief er, rasch auf sie zutretend, „ich wollte ja mit meiner Nachricht recht vorsichtig sein!“ – sie aber streckte beide Arme, als vergingen ihr die Sinne, nach ihm aus. „Maiwald, Maiwald, das haben Sie gethan!“ flüsterte sie, dann fiel ihr Kopf haltlos an seine Brust.

Eine Secunde lang hielt der Alte den Blick in den sonnenhellen Himmel hinaus gerichtet, und ein wundersamer Strahl ging fast verklärend durch seine welken Züge, dann bettete er die Frau leise in den von ihrem Manne verlassenen Großvaterstuhl und rief nach frischem Wasser.




Der Stoff zu der vorliegenden einfachen Erzählung ist dem wirklichen Leben entnommen. Die „Meier-Lotte“, welche in einem verrufenen Haue der großen Stadt aufgegriffen ward und nach kurzen Versuchen zu leugnen ein ausführliches Geständniß ablegte, wurde unter Berücksichtigung der Aufregung, in welcher sie den Mord vollbracht und welche ihr nach ihrer eigenen Angabe für eine Zeit lang völlig den Verstand genommen, zu lebenslänglichem Zuchthause begnadigt, ein Umstand, welcher dem Doctor, der „Niemand an’s Beil hätte liefern mögen“, zur sichtlichen Erleichterung gereichte. Die „Amtsräthin“ hatte der Erbschaft zu Gunsten der durchgängig armen Verwandten des Ermordeten entsagt und sich damit unter den Klatschmäulern der beiden Dörfer einen ruhigen Weg nach Rothe’s Hause, in welchem sie nach länger als Jahresfrist als neue junge Frau einzog, gebahnt.

Heute, wo dies geschrieben wird, lebt von den Alten nur noch „Vater Rothe“ als rüstiger Greis; der Doctor starb kaum neun Monate nach dem Hingange seiner ersten Liebe ohne auffällige Krankheit; sein Andenken ist aber noch lebendig, soweit seine Wirksamkeit gereicht.




Menagerie-Bilder.
Nr. 6. Das Raubthierideal.


Das Modell.


So wird in der Naturgeschichte von Pöppig der Tiger genannt, und er verdient diesen Namen in der That, denn wenn der Löwe mehr den Eindruck des Großartigen, Gewaltigen macht, so ist es hingegen der Tiger, welcher das Gierige, nach Beute Spähende, und doch auch Eigenschaften des Kraftvollen und Gewandten am meisten in sich vereinigt. Nächst dem Löwen ist er es daher auch, welchen eingesperrt zu sehen das Publicum immer von Neuem interessirt. Selbst in Japan macht man gute Geschäfte mit [406] ihm. Vor einigen Jahren wurde eine solche Bestie dorthin gebracht, um für Geld gezeigt zu werden. Da man nicht wußte, welcher Einfuhrzoll für die noch nicht dagewesene „Waare“ zu fordern sei, so weigerten sich die japanischen Beamten, das Thier aufzunehmen, bis der englische Gesandte erklärte, dann müsse er den Tiger laufen lassen, da dem Capitain das Zurücknehmen und Füttern nicht zuzumuthen sei. Jetzt gaben die biedern Japanesen nach, und mit dem Tiger wurde ein ausgezeichnetes Geschäft gemacht.

Für eine große wandernde Menagerie ist daher, wie der Löwe, so auch der Tiger ein nothwendiges Thier, und sein etwaiges Fehlen eine unangenehme Lücke. In der großen Kreuzberg’schen Menagerie kam denn auch, so viel ich sie kennen lernte, dieser Fall nur ein einziges Mal in früheren Jahren vor. Dafür war aber wenigstens ein „Löwentiger“ zu sehen. Es war dies ein Bastard von Löwe und Tigerin, welcher noch aus der Aken’schen Menagerie herstammte. In der Gestalt, Haltung und Kopfform glich dieses Thier seiner Mutter, während die Färbung die des Löwen war, indem besonders außer einigen schwarzen Flecken am Kopfe alle schwarze Abzeichnung fehlte. Ich sah dieses schöne Thier 1843 zuerst in einer kleinen Menagerie, welche nur noch aus den Trümmern der großen Aken’schen bestand, aber immer noch deren vollen Titel führte, und 1850 erblickte ich dasselbe Thier im Kreuzberg’schen Besitz, und es war kraftvoller und schöner noch geworden als vorher. Es war dies ein seltenes Beispiel von vollkommener Entwickelung und langem Leben eines im Käfig geborenen Thieres.

Bei der vorgezeigten Dressur der Bestie trieb dieselbe ihren Widerstand mitunter so weit, daß Herr Kreuzberg das Vorführen der beabsichtigten Kunststücke aufgeben mußte, was ich übrigens nie bedauert habe, denn gerade dann waren die vorhergegangenen Scenen am interessantesten, da sie das Thier am meisten in seinem Charakter zeigten.

Noch anziehender mußte natürlich ein Kampf werden, welcher eines Tags in den Blättern angekündigt wurde, und zwischen dem Bastard und dem daneben logirenden „Riesenlöwen“, einem alten phlegmatischen Burschen, stattfinden sollte.

Es war ein tragischer Tag. Der Himmel war von Wolken umdüstert, und ein strömender Regen durchnäßte die Wenigen, welche sich trotzdem nicht abhalten ließen, das großartige Schauspiel zu sehen. Zuerst begann die gewöhnliche Vorstellung mit den Thieren, dann ging die Fütterung vor sich, und den Schluß sollte dann der blutige Kampf ausmachen. Wir wenigen Zuschauer hatten alle Ursache das schlechte Wetter zu preisen, da wir dadurch um so bequemer das gewaltige Schauspiel genießen konnten.

Der Löwe hatte gefressen und lag in einer Ecke seines Käfigs; der Bastard schien noch unschlüssig, was er thun solle, als der Wärter endlich erschien, um die Zwischenwand, welche die Käfige trennte, herauszuziehen und dadurch das Zeichen zum Kampfe zu geben. Jetzt wendete sich der Löwentiger um, und als durch das beginnende Herausnehmen des Schiebers eine Lücke entstanden war, trat er hinzu und grinste durch diese den Löwen an. Schnell sprang ein Wärter zu Herrn Kreuzberg, welcher ruhig an der Casse saß, und meldete ihm das schreckliche Grinsen. Aber dieser, in seiner Gewissenhaftigkeit offenbar erwägend, daß der bei dem schlechten Wetter gezeigte Enthusiasmus der wenigen Zuschauer verdiene, das gegenseitige Zerfleischen der Bestien nun auch ungeschmälert zu genießen, winkte ruhig zum Gewährenlassen. Jetzt wurde der Schieber völlig herausgezogen. Ich wagte kaum hinzusehen. Doch ich war ja deswegen gekommen. So sah ich denn, wie der Bastard zurückging, wie um zum Sprunge auszuholen, sich aber in seine Ecke legte und – gähnte. Der Löwe, welcher in der ganzen Zeit auch nicht die geringste Notiz von seinem Nachbar genommen hatte, that ein Gleiches, und wir? nun, wir besahen uns sehr aufmerksam die noch lange gähnenden Bestien, uns mitunter umsehend, ob wir etwa schadenfroh beobachtet würden. Zuletzt, da man so schonungsvoll war, uns nicht auszulachen, thaten wir dies selber, wobei wir übrigens dem Verstande der beiden Thiere unsere Anerkennung nicht versagen konnten. Sie waren jedenfalls alte Bekannte.

In der äußern Erscheinung war natürlich dieser Bastard bei weitem nicht so prächtig, als es der eigentliche Tiger ist. Zwar kann man vom künstlerischen Standpunkt aus die lebhaft gefleckten oder gestreiften Thiere nicht immer so schön finden, wie die schön einfach gefärbten, weil durch diese Abzeichnung der Genuß an der eigentlichen Schönheit der Form und des Muskelspiels oft beeinträchtigt wird; für das Auge an sich hingegen, welches nun einmal Farbenglanz verlangt, ist der Tiger ein so recht passendes Thier. Ist eine solche Bestie nun ohnedies noch nicht durch lange Haft abgestumpft und von wildem Naturell, so gewährt sie dann gerade mit durch den Glanz ihres Felles eine furchtbar schöne Erscheinung. Ich erinnere mich eines solchen Exemplars, welches sich gleichfalls, aber zu anderer Zeit, in der Kreuzberg’schen Menagerie befand. Schon ein scharfes Ansehen genügte, um diesen Tiger in Grimm zu versetzen; kam man ihm aber näher, so setzte er sich sofort in Vertheidigungsposition; auf den Hinterbeinen kauernd und den Rachen weit aufreißend, grinste er den vermeintlichen Gegner mit so furchtbarer Wuth an, daß er einen wahrhaft diabolischen Anblick darbot. Ich benutzte diese Reizbarkeit zu einer Studie, zu welcher ich mir schon längst die Gelegenheit gewünscht hatte. Ein Wärter stellte sich auf meine Veranlassung vor den Käfig und hob einfach den Arm in die Höhe, in Folge dessen die Bestie so beharrlich in der Stellung ihrer Wuth verblieb, daß ich ein verhältnißmäßig sehr bequemes Zeichnen hatte, denn das Modell „saß“ wirklich besser, als manches menschliche.

Ich kenne in der That kein anderes Raubthier, welches in der Wuth einen so dämonischen und grauenhaften Ausdruck hat, sodaß mir dies schon hinreichend erklärt, daß gerade der Tiger in den Ruf der „Grausamkeit“ gekommen ist.

Einen noch anziehenderen Anblick, als der eben besprochene Tiger, bot ein anderer in der Renz’schen Menagerie befindlicher, da derselbe, außer der auch ihm inwohnenden Wildheit, noch von gewaltiger Größe und Stärke war. Mit ihm in demselben Käfig war noch ein anderer, etwas kleinerer Tiger zusammengesperrt, wurde aber von seinem stärkeren Genossen so vollständig beherrscht, daß er in seiner unterwürfigen Rolle gar nicht mehr den Eindruck eines Tigers, eines Raubthiers machte. Ein Kampf zwischen Beiden hätte allerdings auch keinen Augenblick zweifelhaft sein können. Selbst den Wärtern graute es vor dem größern der beiden Thiere, was ich sonst nie wieder beobachtet habe.

Bei der Natur des Tigers ist es erklärlich, warum man gezähmte und dressirte Thiere dieser Art seltener sieht, als Löwen; sie sind unzuverlässiger als dieses gewiß edlere Raubthier. Der erste Besuch in einem Tigerkäfig mag daher schon manchem Thierbändiger Herzklopfen verursacht haben. So ging es wenigstens auch dem von mir schon früher erwähnten Brandel in der Schreier’schen Menagerie, obgleich es sich hier keineswegs um Dressur handelte. Es mußte eine nicht mehr aufschiebbare Ausbesserung im Innern des Käfigs vorgenommen werden, ohne daß man den Tiger, ich weiß nicht genau warum, absperren konnte. Brandel wählte zu dem Wagniß die frühe Morgenstunde, wo die Thiere noch halb schlafend in ihrem Stroh liegen. Der Tiger, ein allerdings mehr ruhiges Exemplar, ließ auch wirklich den Wärter seine Arbeit ungestört vollenden, so daß dieser wohlbehalten wieder herauskam und sich nicht wenig darob freute.

Die Leistungen der gezähmten Tiger sind in der Regel sehr einfache; sich aufrichten am Gitter oder am Thierbändiger, herumgehen oder sich hinlegen, und das bekannte Papa-, und Mamasagen (wobei allerdings der Zuschauer den Unterschied erst heraushören muß), das sind gewöhnlich die Kunststücke des gebildeten Tigers, wobei übrigens den Verdiensten einzelner, mit größerem Talent begabter nicht zu nahe getreten werden soll. Daß übrigens jedes einzelne Exemplar seinen eigenen Charakter hat und sich manche Eigenthümlichkeit angewöhnt, wird manchmal die Ursache von einzelnen neuen Dressurstücken. Es ist daher eine genaue Beobachtung von Seiten des Thierbändigers erforderlich, um die besonderen Neigungen des Thieres zu erkennen und sie zu einem Kunststück zu benutzen, und dies gilt von allen derartigen Thieren.

Ueber dieses Dressiren ist schon viel gesagt und geschrieben worden, und ich kann es mir daher ersparen, hier noch Wasser in den Brunnen zu gießen. Das möchte ich aber doch bemerken, daß hierüber sehr viel irrige Vorstellunen umlaufen, denn nicht nur werden sehr viel derartige Erzählungen erfunden, sondern die Leute selbst sind immer geneigt, das romantisch Klingende eher zu glauben, als die einfache Wirklichkeit.

Wie irrig z. B. die Vorstellung ist, daß die Thierbändiger immer todbringende Waffen bei sich tragen, mag folgendes Beispiel beweisen.

Als Herr Kreuzberg, so erzählte mir derselbe nach seiner Zurückkunft aus Rußland, in Petersburg fast alle seine Thiere durch den Tod verloren hatte, war er genöthigt, die Neuangekommenen [407] möglichst schnell zu dressiren. Eine Löwin, in zehn oder zwölf Tagen angelernt, hatte nur noch eine Hauptprobe zu bestehen, um dann vorgeführt zu werden. Bei dieser Probe aber wurde dieselbe durch deren lange Dauer zuletzt so confus, daß sie den Gehorsam vergaß und ihren Herrn am Arm packte. Er riß sie los, wurde aber von dem aufgeregten Thier jetzt am Knie gefaßt, und nur schwer gelang es ihm, dasselbe zu überwältigen. Noch zur Zeit der Erzählung litt er an der Wunde, aber er hatte sich derselben lieber ausgesetzt und das Thier erhalten, als gleich an Todtschießen oder Todtschlagen gedacht. Ein dressirtes Thier ist eben dem Besitzer viel zu werthvoll, um es gleich bei eintretender Gefahr zu tödten.

Ich will zum Schluß noch eine selbst mit angesehene Dressurscene erzählen, bei welcher allerdings der angestrebte Zweck verfehlt wurde.

Eines Morgens in die Kreuzberg’sche Menagerie eintretend, fand ich zur ungewöhnlichen Stunde die Raubthiere in dem großen Centralkäfig vereinigt. Eine Probe wurde abgehalten, und es galt also Neues einzustudiren. Besonders handelte es sich darum, den einen Leoparden zu bewegen, sich auf den Schooß der jungen Dame, welche bei den Vorstelligen mitwirkt, zu setzen. Dieselbe saß auf einem Klappstuhl dicht vor dem Leoparden, welcher auf seinem am Gitter aufgehängten Bret kauerte. Durch Herrn Kreuzberg’s freundliches Zureden, und durch den von dem jungen Mädchen vorgehaltenen Teller mit Fleisch gelockt, entschloß sich endlich auch das Thier, mit den Vordertatzen auf den Schooß des Mädchens zu treten, aber immer fuhr es wieder zurück und war nicht weiter zu bringen. Ich ging daher zuletzt hinweg und fing an zu zeichnen. Nach einiger Zeit hörte ich plötzlich ein Poltern, ein zorniges Aufbrüllen und die donnernde Stimme des Menageriebesitzers, welcher rief: „Das Lamm hinaus!“ Damit war ein niedliches Schäfchen gemeint, welches inzwischen in den Centralkäfig gebracht worden war. Es kam, als ich hinzueilte, bereits unter dem Wagen hervorgesprungen, am Kopfe blutend, aber sonst ganz munter. Offenbar war beim Anblick des Wiederkäuers die wilde Natur des Leoparden, denn wohl nur dieser war der Attentäter, erwacht, und hatte den Angriff und damit den Schluß der Probe herbeigeführt.

L.



Ein Besuch bei Theodor Körner’s Pflegerin in Groß-Zschocher.

Die vielen thatsächlichen Beweise der Theilnahme für Theodor Körner’s Pflegerin nach seiner Verwundung bei Kitzen gaben dem Herausgeber der „Gartenlaube“ Veranlassung, die hochbetagte Frau Häußer in ihrem Wohnorte selbst aufzusuchen, um ihr die bis jetzt für sie gesammelten Gaben an Geld und freundlichen Zuschriften zu überreichen.

Es ist natürlich, daß die trotz ihrer nun fast 80 Jahre noch immer geistig muntere Frau, erfreut durch die dargebrachten Geschenke einer dankbaren Gegenwart, gern und ausführlich jener gefahrvollen Tage gedachte, in welchen ein Theodor Körner unter ihrem Schutze lebte, und es wurde dabei so manches Neue, unsers Wissens bis heute Unbekannte über des Sängerhelden Auffindung und Bergung in der Erinnerung der Frau Häußer geweckt, das wir einer Mittheilung um so mehr werth halten, als jetzt, wo man bald den Gedächtnißkranz eines halben Jahrhunderts auf sein Grab legt, die allgemeine Theilnahme der Deutschen sich auch dem Kleinsten zuwendet, das mit diesem lieben großen Todten in Verbindung steht.

Die napoleonische Schandtat bei Kitzen geschah bekanntlich am 17. Juni. In der Nacht nach jenem für die Lützower so blutigen Tag standen zwei Männer (der eine ein Zimmermann, Namens Haugk) an dem Mühlwehr bei Großzschocher, und zwar am rechten Ufer der Elster, um das Bauholz zu bewachen, mit welchem damals das Wehr ausgebessert wurde. Sie hatten sich ein Feuerchen angeschürt und waren eben beschäftigt, Kaffee zu kochen, als sie mit einem militärischen „Wer da?“ angerufen wurden und zu gleicher Zeit zwei dunkle Gestalten zu ihnen herantraten, in denen sie Officiere von der schwarzen Schaar erkannten. Diese fragten, ob Franzosen im nächsten Dorfe seien, und als das bejaht und mit einem „sehr viel“ bekräftigt worden, baten sie die Männer, sobald der Morgen anbreche, über den Fluß hinüber in das Gehölz zu gehen, wo sie einen ihrer Cameraden verwundet an einer Eiche liegend finden würden. Sie möchten, fänden sie ihn noch am Leben, ihm ärztliche Hülfe verschaffen und vor Allem ihn nicht in die Hände der Franzosen fallen lassen. Die beiden Männer mußten das wiederholt versprechen, worauf die Officiere sich entfernten.

Mit dem ersten Morgengrauen gingen sie an die Ausführung ihres Auftrags. Die Frau Häußer erzählt, daß jene Eiche nicht sehr weit vom Wehr entfernt gewesen, denn sie hätten in der Stille der Nacht das Schnaufen von Körner’s Pferde gehört. Da aber das Wehr zum Theil abgerissen war, so mußten die Beiden den Umweg über die nächste Brücke machen, der allerdings längere Zeit gekostet habe. Im Gehölz (es war „im Schönen“ genannt) fanden sie, eben durch das Schnaufen des Pferdes geführt, ohne langes Suchen die bezeichnete Eiche und darunter den verwundeten Officier.

Als sie sich ihm näherten, hielt Körner ihnen in jeder Hand eine Pistole entgegen und rief: „Wer da?“ Die Männer beruhigten ihn mit der Nachricht von ihrem Auftrage und sicherten ihm ihre bereitwillige Hülfe zu. Nur war es, nach der Erzählung jenes Zimmermanns Haugk, nicht sofort möglich, den Verwundeten nach Groß-Zschocher zu bringen, eben weil es darin von Franzosen gewimmelt, und erst als um 4 Uhr ein starkes Trommeln vom Dorfe her den Abmarsch des Feindes anzudeuten schien und sie sich vom wirklichen Abmarsch desselben genau überzeugt, habe man noch mehrere Leute vom Dorfe geholt, um „den Officier, der sich Körner nannte“, in Sicherheit zu bringen.

Die Haugk’sche Erzählung berichtigt jedoch Frau Häußer, indem sie als sicher behauptet, daß damals gar keine Franzosen im Dorfe gewesen seien, daß aber ihr seliger Mann, den man zunächst zum Beistand aufgerufen und ohne welchen die andern Männer ihre Beihülfe nicht gewagt hätten, trotzdem alle möglichen Sicherheitsmaßregeln getroffen habe, um auch in’s Dorf keine Kunde von der Anwesenheit eines Lützow’schen Officiers gelangen zu lassen. Er habe von seinen Kleidern einen Anzug zusammengepackt, habe sogleich den alten Chirurg Dietze aus Klein-Zschocher herbeiholen lassen und sei dann zum Pächter[1] Schurig geeilt, um sich von diesem eine Flasche Wein zur Stärkung für den Blessirten zu erbitten, und so ausgerüstet habe er den Weg zum Walde eingeschlagen.

Nachdem man Körner vom Blut nothdürftig gereinigt und er sich an einem Schluck Wein gelabt, kleidete er sich um, Uniform und Waffen wurden sorgfältig verpackt, und dann führte Häußer ihn allein und, um nirgends Aufsehen zu erregen, um das Dorf herum in seine beim Rittergute gelegene Gärtnerswohnung. Die Entfernung von der Eiche bis dahin betrug ungefähr eine Viertelstunde. Außer dem Pächter Schurig, der es sich zur Freude machte, Körner manche kleine Erquickung durch den Gärtner zu schicken, dem Chirurgen Dietze und den wenigen Männern am Wehr, die Alle das treueste Stillschweigen schwuren und hielten, erfuhr im Dorfe Niemand etwas von dem stillen Gaste, selbst die Schwester der Frau Häußer nicht, „denn,“ sagte sie, „wenn’s verrathen worden wäre, wären wir ja Alle erschossen worden, und die Franzosen hätten ja gleich das ganze Gut demolirt“ – und daß diese Befürchtung nicht übertrieben war, dafür zeugen Beispiele genug aus jener Zeit der deutschen Erniedrigung – und Erhebung.

Um so höher müssen wir den Heldenmuth achten, den diese deutsche Frau bei den gefahrvollen Aufträgen bewährte, die ihr noch geworden sind. Während sie die von Blut starrende Uniform Körner’s wusch, hatte dieser, nachdem er vom Chirurg Dietze verbunden und ein wenig der Ruhe überlassen war, sich wenigstens soweit erholt, daß er seinem Drange, seinen Eltern und Freunden Nachricht voll sich zu geben, folgen konnte. Da saß er denn, mit verbundenem Haupte, in dem Dachstübchen des Hauses, und mag aus dem kleinen Fenster, das unser Bildchen uns zeigt, manchen besorgten Blick auf das Dorf und die Flur geworfen haben, während er an dem bescheidenen Tischchen neben seinem Bette die Briefe schrieb, die wir auf S. 119 (Nr. 8) mitgetheilt haben. Wer es aber übernahm, diese Briefe an Körner’s Vater und an den [408] Kaufmann Kunze durch das streng bewachte Thor von Leipzig in die Stadt zu bringen, war nicht „ein zuverlässiger Bote“, sondern eine aufopferungsfähige Bötin, unsere Frau Häußer.

Wer bedenkt, wie unerbittlich streng die französischen Gewalthaber damals jede deutsch-patriotische Handlung straften, wer ferner bedenkt, daß Frau Häußer damals Mutter von zwei lieben Kindern war, die ihr das Leben doppelt theuer machten, und daß sie nicht etwa von irgendwelcher

Das Gärtnerhaus in Groß-Zschocher.

Begeisterung für den „gefeierten Dichter“ zu jenem Wagniß emporgehoben sein konnte, da sie von diesem Dichterruhm gar nichts gewußt, sondern blos und allein den „blessirten Officier“, den „braven jungen Mann“, den „Lützower in der Noth“ vor sich hatte, der wird es ihr doppelt hoch anrechnen, daß sie den Gang für ihn wagte. Sie verbarg beide Briefe in ihre Strümpfe und brachte sie glücklich zu Kunze. Wir glaubten es ihr, als sie hier ihrer Erzählung hinzufügte: „Wie ich da die Briefe los war, da können Sie denken, daß ich recht froh war.“

In seinem Bodenstübchen, „wo er den ganzen Tag schrieb“, verweilte Körner, nach der Aussage der Frau Häußer, 8–9 Tage. Nachdem sie die von Kunze besorgten Kleider und die Perrücke, durch welche die fernere Flucht Körner’s gesichert werden sollte, nach Groß-Zschocher gebracht, kam der Tag der Uebersiedelung desselben zu Dr. Wendler nach Leipzig. Am hellen Mittag verließ der Gärtner Häußer mit seinem verkleideten Gaste das Haus und führte ihn durch den Park, wiederum ohne das Dorf zu berühren, nach Schleußig, bis wohin er ihm auch die Kriegscasse (von mehr als tausend Thaler, wie Frau Häußer sagte) trug, die Körner gerettet hatte.

„Wie’s wieder ruhig war,“ erzählte Frau Häußer weiter, „kamen die Eltern Körner’s und besuchten uns. Mein seliger Mann mußte den Vater an die Eiche im Gehölz führen, aber die Mutter blieb bei mir, und ich sollte ihr von ihrem Sohne erzählen. Draußen an der Eiche gab Körner’s Vater meinem Mann den silbernen Becher, den ich durch alles Kreuz und Elend, das über mich kam, glücklich erhalten habe bis heute.“ Auch einige Bilder und die Gedichte Körner’s in ältester Ausgabe werden als Andenken der Eltern des Dichters von der Familie Häußer aufbewahrt.

Leider sucht der Verehrer Theodor Körner’s heute vergeblich nach der Eiche; sie ist sammt dem ganzen Walde verschwunden, es ist Ackerfeld aus dem Waldboden geworden, und selbst die Elster hat ihr altes Bett, das nun „das stille Wasser“ heißt, verlassen müssen und kann nicht mehr als Wegweiser für den dienen, der die ehemalige Stätte des Holzes „im Nesselwinkel“ und des Gehölzes „im Schönen“ sucht. Nur der Sohn und die Tochter der Frau Häußer sind im Stande, annähernd den Platz anzudeuten, wo die schöne Eiche emporragte und wo Theodor Körner, selbst dem Tode nah noch Dichter, in der schlimmsten Nacht seines Lebens lag. Diese Stelle soll jetzt durch einen Denkstein bezeichnet werden.

H.



Pariser Bilder und Geschichten.
Von Sigmund Kolisch.
Eine Stunde bei Michelet.

Am 13. Juni zurückkehrend, aus der Madeleinekirche, wo die Todtenfeier zu Ehren des Grafen Cavour stattgefunden hatte, begegnete ich auf dem Boulevard des Italiens vor dem Café Cardinal meinem Freund und Landsmann D., der langsam dahinschlendernd umherspähte, wie Jemand, der etwas sucht.

„Wohin des Weges?“ redete ich ihn an.

„Ich sehe mich nach einem Wagen um, der mich nach meiner „Erholung“ bringen soll.“

„Sie haben also Ihr Sanssouci wie ein Fürst?“

„Warum nicht?“

„Darf man wissen, wo Ihr Lustschloß steht?“

„Rue de l’Ouest Nr. 44, hart an dem Luxembourg-Garten.“

„Sehr empfehlend fürwahr!“

„Wenn Sie mitkommen wollen, so steht es Ihnen frei, und ich stehe dafür, daß auch Sie einige Befriedigung finden werden.“

„Ich nehme Ihre Bürgschaft an; wissen aber möchte ich doch, wohin Sie mich eigentlich bringen wollen.“

„Nun denn,“ entgegnete D., „zu Michelet,[2] wo ich, wie nirgends, die drückenden Sorgen abthue, die mir meine verwickelten Geschäfte verursachen, wo ich meinen Geist in eine Sphäre tauche, die reinigend und erfrischend zugleich wirkt, wo ich die Unerquicklichkeiten und Gemeinheiten vergesse, mit denen ich mich herumzuschlagen habe. Sie bedürfen zwar nicht in dem Maße, wie ich, der Luftveränderung; denn Sie, nachdem Sie der Sturm, wie mich, hierher verschlagen, blieben, trotz der harten Kämpfe, die Sie zu bestehen hatten, bei Ihren Büchern und Schriften, während ich es mit Bankiers, mit Commissionären, mit Fabrikanten und Kaufleuten, mit der türkischen Finanzkrise und dergleichen zu thun habe; allein Michelet ist ein politisch-literarischer Charakter von besonderem Interesse, und es ist eigentlich unrecht von Ihnen, daß Sie ihn nicht längst kennen zu lernen suchten. Sie haben vor einigen Jahren der verbreiteten „Gartenlaube“ Schilderungen französischer Berühmtheiten geliefert, und ich denke, daß in dieser Gallerie der berühmte Professor nicht hätte fehlen, daß er neben Béranger, Lamennais, George Sand, Thiers einen Platz hatte finden sollen.“

„Der Vorwurf ist vollkommen gegründet,“ versetzte ich, „doch ist der Fehler leicht gut zu machen. Ich folge Ihnen.“

Ein Wagen wurde genommen, und wir fuhren zu Herrn Michelet.

Der Mann, der so viele Kämpfe mit den „Schicksalsmächten“, mit Irrthum, Aberglauben und Unrecht bestanden, der gearbeitet, geforscht und gelehrt hat, an dessen Lebenswandel der eifrigste Widersacher keine Makel finden kann, dessen Ueberzeugung stets ein Fels war, von dem keine Brandung etwas abzulösen vermochte,

[409] und der nie zur Unterhandlung mit der Lüge zu bewegen war, verdient in der That von Allen, die sich an der Lauterkeit und Würde eines Charakters erfreuen, gesucht und gekannt zu werden.

Der berühmte Geschichtschreiber und Professor Jules Michelet stammt aus der französischen Heroenzeit, in der ein gewaltiges Geschlecht viel Schwierigeres ausgeführt hat, als die Halbgötter, von denen die griechische Sage, als die Helden, von denen Homer erzählt. Er ist am 21. August 1798 zu Paris geboren.

Sein Vater hatte eine Druckerei, in welcher der Knabe von seinem zwölften Jahre an als Setzer verwendet wurde, da die drückenden Verhältnisse seiner Familie die Bezahlung eines Arbeiters schwer, wo nicht unmöglich machten. Erst zwei Jahre später gelang es mit den äußersten Anstrengungen, den jungen Menschen in einem Collège unterzubringen. Als Michelet seine Studien beendet hatte, verschmähte er es, von seiner Feder zu leben, und wollte einen wirklichen Beruf, er widmete sich dem Lehrfach. Drei Jahre lang gab er Lectionen theils in Privathäusern, teils in Privatlehranstalten, bis er 1821 in Folge einer Mitbewerbung Professor am Collège St. Barbe wurde.

Neben seinen Berufsgeschäften betrieb er unausgesetzt und mit unermüdlichem Eifer die Wissenschaften: Geschichte, Philosophie und classische Literatur. In den Jahren 1825 und 1827 erschienen seine ersten geschichtlichen Werke, in welchen sich der unabhängige Geist, das Wissen und die Darstellungsfähigkeit des Verfassers kund gaben und die Aufmerksamkeit erregten. Man merkte bereits, daß er die Philosophie des großen deutschen Denkers Kant in sich aufgenommen. Von da ab steigert sich der Ruf des Geschichtschreibers und Lehrers immer mehr und mehr. Nach der Julirevolution wird Michelet zum Vorsteher der geschichtlichen Abtheilung des königlichen Archivs ernannt und in die Lage gebracht, wie die andern liberalen Schriftsteller zu jener Zeit, nach politischem Einfluß, nach den höchsten Aemtern zu langen. Allein Michelet verschmäht die Stellenjagd und die Intrigue. Bescheiden und stolz bleibt er bei seinen Büchern und Schülern.

Die Werke meist historischen Inhalts, die Michelet nun in verhältnißmäßig rascher Aufeinanderfolge an’s Licht treten läßt, zeichnen sich vor Allem durch Originalität der Anschauungen aus, die manchmal gesucht erscheinen, die aber aus der allzu lebhaften Phantasie des Verfassers, aus dem Tumult der Gedanken, die sich in seinem Kopfe drängen, entspringen. Ferner ist an dem Geschichtschreiber zu rühmen, daß er viel gesucht und geforscht und neue Quellen gefunden hat, aus denen er geschöpft, daß er manches Dunkel aufgehellt, Ereignisse, die falsch aufgefaßt und falsch beurtheilt wurden, auf ihren wahren Grund zurückgeführt und ihnen ihren wahren Charakter zugewiesen hat.

Als Lehrer zeigt Michelet noch ganz andere Eigenschaften, denn als Schriftsteller. Er hat unter seinen Schülern Sympathien gewonnen, die an Fanatismus grenzen und die keine Zeit zu überwinden vermag. Er unterrichtete nicht nur, er erhob, er begeisterte. Alles, was sich des Bessern vorfand in den jungen Herzen und Seelen, das belebte, das bewegte er. Alles, was hoch steht in der Welt, Alles, was unvergänglichen Werth hat, das brachte er der Jugend nahe, er lehrte seine jungen Zuhörer vor Allem denken, erkennen, Götzen stürzen und Götter erheben. Seine Vorträge waren ungeregelt, wie seine Bücher sind, die Wirkungen aber, die sie hervorbrachten, waren außerordentlich. Sie boten keine systematische Belehrung, allein sie regten zum Bessern an, sie bildeten Geist und Gemüth und traten den schädlichen Einflüssen des Pariser Lebens, denen die Jugend ausgesetzt ist, sie traten den Einflüssen eines nach der Herrschaft strebenden gemeinen Materialismus, dem Aberglauben und dem Vorurtheil siegreich entgegen.

Die Maßregeln, welche von zwei Regierungen gegen den Professor ergriffen wurden, sind leichter zu erklären, als zu entschuldigen. Im Jahre 1834 ließ sich Herr Guizot, der die Schule gegen den politischen Tummelplatz vertauschte, auf dem Lehrstuhl der Facultät der schönen Wissenschaften ersetzen. Ein Jahr darauf bekundete unser Professor durch die Herausgabe der „Memoiren Luther’s, geschrieben von ihm selbst“ (Mémoires de Luther écrits par lui-même) seine Hinneigung zum Protestantismus. Dieses Werk ist aus Stellen, die sich in Briefen, Reden und Schriften des deutschen Reformators finden, zusammengesetzt.

Im Jahre 1838 gelangt Michelet auf den Lehrstuhl für Geschichte und Moral am Collège de France, der sich durch den Tod des Herrn Daunon erledigt fand. Kurz darauf wird er als Nachfolger des dahingeschiedenen Grafen Reinhard in die Akademie aufgenommen.

Bezeichnend ist es, daß der König Ludwig Philipp seiner Tochter Clementine von Michelet Unterricht in der Geschichte ertheilen ließ, doch ging der Professor nicht in die Tuilerien, sondern die Prinzessin kam zu ihm. Oefters wartete sie geduldig, wenn ihr Lehrer, durch Geschäfte veranlaßt, aus dem Hause war und sich später als zur festgesetzten Stunde einfand. Michelet hätte durch diese nahe Beziehung zum Hofe die größten Vortheile erreichen können; allein er hat es verschmäht, sie auch nur im Geringsten zu benutzen; er sah in der Prinzessin nichts weiter als seine Schülerin, die er in seiner Weise zu belehren, aufzuklären suchte. Er hat sogar das Anerbieten, ihn dem König vorzustellen, zurückgewiesen.

Am Collège de France bekämpfte Michelet mit Edgar Quinet um die Wette die Jesuiten, welche in Frankreich neue Niederlassungen und Schulen gründen wollten. Der Streit wurde heftig. Die beiden Professoren schlagen und treffen fürchterlich. Die erschreckten Väter, denen es an das moralische Leben geht, greifen ihrerseits mit allem Ungestüm die Professoren an, in wüthenden Hirtenbriefen und anderen frommen Schriften, sie erregen Michelet Stürme im Lehrsaal, außerdem wissen sie durch ihren weit reichenden und weit verzweigten Einfluß die Sache vor die Pairskammer und vor die Versammlung der Abgeordneten zu bringen Die Juliregierung, von allen Seiten durch diesen tausendköpfigen, tausendarmigen Einfluß bestürmt, sah sich bewogen, mit der Gesellschaft durch einen Abgesandten an den General derselben zu unterhandeln, und es wurde die Vereinbarung getroffen, daß die Jesuiten ihr Vorhaben, in Frankreich neue Gemeinschaften zu gründen, aufgäben und den Feindseligkeiten des Collège de France gegen die Gesellschaft Jesu Zügel angelegt würden. Edgar Quinet verließ den Lehrstuhl am Collège de France, weil sich das Ministerium herausnahm, ihm ein Wort in dem vorgelegten Programm zu streichen. Und Michelet setzte allein, unerbittlich, unerschütterlich den Kampf fort, ohne sich um das getroffene Abkommen zu kümmern, das er verachtet, ohne die Stürme zu beachten, die gegen ihn von allen Seiten heraufbeschworen werden. Er läßt (1844) das Buch: „Von dem Geistlichen, der Frau und der Familie“ erscheinen, welches heute eine bedeutende Rolle spielt und das ein besonderes Schicksal hat, wie weiter unten erwähnt wird.

Doch auch gegen die Regierung, die sich auf schlechtem Wege befand und den eben so dringenden als bescheidenen Forderungen der Nation einen starren Widerstand entgegensetzte, waren die Angriffe in den Vorträgen Michelet’s gerichtet. Und die verblendeten Staatsmänner am Ruder erblickten in einer Propaganda, die bereits im ganzen Lande gemacht war, eine Gefahr, sie hatten Angst vor Worten, die nichts weiter als ein beredter Ausdruck der allgemein vorherrschenden Stimmung waren, und schlossen 1847, den Tag vor ihrem Fall und vor dem Fall des Thrones, den sie stützten, dem Professor den Mund.

Im lateinischen Viertel entsteht eine Aufregung, so wie die Maßregel bekannt wird, die zu einem Aufstand anzuwachsen droht. Zweitausend Studenten vereinigen sich und rücken vor die Kammer der Abgeordneten, um von dieser die Wiedereinsetzung ihres Meisters in sein Lehramt zu verlangen. Die Schaar ward auf ihrem Zuge in allen Straßen von der Menge jubelnd begrüßt und durch Zuruf ermuthigt. Ein Blinder konnte sehen, daß Paris, und also Frankreich, zu den Studenten hielt. Die Kammer widersteht, wie die ausübende Gewalt, und überläßt es der Februarbewegung, Michelet seinen Lehrstuhl und der französischen Nation das verlangte Recht zurückzugeben.

Daß der Präsident Ludwig Napoleon einen öffentlichen Lehrer wie Michelet nicht dulden konnte, ist wohl nicht nöthig anzuführen, eben so wenig, als daß Michelet dem Kaiser Napoleon nicht den Schwur der Treue leisten wollte. Nach dem Staatsstreich gab er seine Stelle im Archiv auf. Seit jener Zeit lebt er zurückgezogen seiner Familie und seinen Arbeiten. –

Wir fuhren also, mein Freund und ich, zu Herrn Michelet. Wir traten in ein ganz gewöhnliches Haus, dem Luxembourg-Garten gegenüber, stiegen zwei Treppen hoch und klingelten. Eine Magd öffnete und wies uns, ohne uns anzumelden, in den Salon. Kannte sie meinen Freund, oder wird Jeder, der kommt, in dem Hause des Gelehrten gastlich aufgenommen, ich weiß es nicht.

[410] Der Salon besteht aus einer geräumigen Stube in geviertelter Form, mit anständiger Einrichtung, ohne allen Aufwand, mit zwei gut gemalten Bildern, das Ehepaar, welches wir besuchten, darstellend. Kaum hatte ich Zeit, mich etwas umzusehen, um aus den Gegenständen den Charakter der Bewohner herauszulesen, als Madame Michelet eintrat. Sie ist eine Frau von etwa 28 bis 30 Jahren, eine anmuthige, gewinnende Erscheinung; sie begrüßte D., der kürzlich aus Constantinopel zurückgekehrt ist, mit Herzlichkeit und empfing mich, den Vorgestellten, in ungezwungener, liebenswürdiger Weise.

Bald darauf kam Herr Michelet. – Er ist unter mittlerer Größe. Trotz der grauen Haare ist etwas jugendlich Belebtes in seinem Wesen. Die Züge seines Gesichts sind beweglich und einnehmend, sie folgen den Gesprächen, sie geben rasch die verschiedenen Eindrücke wieder, wie sie der „poetische Gelehrte“ empfängt. Aus seinem grauen Auge spricht ein tiefer Ernst, Aufrichtigkeit, Wohlwollen und Schwärmerei. Er ist sehr angemessen, weder nachlässig, noch allzu sorgsam gekleidet. Die ganze Weise, sein Auftreten und Benehmen, ist französisch, und es fiel mir auf, daß in dem Knopfloch seines Rockes das rothe Bändchen fehlte, das Abzeichen des Ehrenlegionordens, der ihm 1833 verliehen worden war.

D. stellte mich ihm als einen deutschen Schriftsteller vor, der ihn um Etwas zu bitten hätte.

„Ich bin zu Ihren Diensten,“ rief Michelet, und sein ganzes Wesen schien von dem Wunsche beseelt, mir gefällig und nützlich zu sein. Michelet ist nämlich der dienstfertigste Mensch, den man finden kann. Ganze Tage läuft er umher, klopft bei Freunden und Bekannten an, beutet all’ seine Verbindungen aus, wenn es gilt irgend Jemandem, der ihm empfohlen ist oder sich ihm selbst empfohlen hat, behülflich zu sein, eine Anstellung oder sonst ein Unterkommen zu verschaffen. Und was er nie für sich gethan hat, das thut er für Andere. Und er genießt eines solchen Ansehens, selbst bei seinen politischen Gegnern, daß seine Empfehlung sogar in der amtlichen Welt einen Werth hat, besonders seitdem die Regierung mit der Klerisei zerfallen ist und man von oben herab den abgesetzten Professor hat wissen lassen, daß er nun die zweite Auflage des Buches „Von dem Geistlichen, der Frau und der Familie“ ungehindert erscheinen lassen könne, das seit dem Staatsstreich verpönt gewesen war.

Ich sprach die Bitte aus, von ihm selbst über sein Leben Etwas zu erfahren, um es der verbreitetsten Zeitschrift auf dem Festlande mitzutheilen.

„Unsereiner“, versetzte Michelet mit natürlicher Offenheit, „hat kein Leben, was man eigentlich so nennt. Ich stehe des Morgens zeitig auf, frühstücke und gehe in die Bibliothek. Um zwei Uhr Nachmittags komme ich nach Hause und empfange meine Freunde, wie Sie sehen. Ich bin zweimal von meinem Lehrstuhl entfernt worden. Meine Werke sind mein Leben.“

„Also wie unsere deutschen Gelehrten,“ bemerkte ich.

„Ganz so. Nicht wahr, Kant ist aus Königsberg nicht über sieben Meilen weit herausgekommen?“

Ich nickte bejahend. – „Wenn Sie kein äußeres Leben haben, so haben Sie doch ein inneres,“ bemerkte ich.

„Fragen Sie, und ich werde Ihnen antworten,“ sagte zuvorkommend Michelet.

„Ein solches Vornehmen ist zu zarter Natur, und ich kann mir es nicht erlauben. Ich weiß, daß es Dinge in dem inneren Leben eines Menschen giebt, von denen man nicht sprechen will.“

„Warum denn nicht? Ich bin bereit Alles zu sagen.“

Es war diese Versicherung so natürlich vorgebracht, daß sie einen tiefen Eindruck auf mich machte. Mir dünkte dieses eine Wort hinreichend, um einen bedeutenden Menschen anzuzeigen. So fremd wie ich dem Gelehrten bei einer ersten Begegnung war, hätte ich es aber für unangemessen gehalten, von dem außerordentlichen Anerbieten Gebrauch zu machen.

„Uebrigens,“ erklärte Michelet, als er meine Zurückhaltung bemerkte, „findet sich in der Vorrede zu meinem Büchlein „Das Volk“, welches 1846 erschien, ein kurzer Abriß meines Lebens. Es ist diesen Angaben nur Weniges hinzuzufügen, etwa: daß ich mich wieder verheirathet habe, daß ich durch meine Frau zum Studium der Naturwissenschaften geführt wurde. Wir haben „die Insecten“, „das Meer“ und „den Vogel“ geschrieben. Diese Werke haben mich neben meinen historischen Arbeiten beschäftigt.“

Frau Michelet bemerkte, daß Biographien ihres Gatten von Hippolyte Castille und – sie lachte – von Herrn Mirecourt vorhanden seien.

„Von Herrn Mirecourt!“ rief der Gelehrte. „Der gute Mann hat in seiner Freundlichkeit versichert, daß ich beichte und regelmäßig jeden Monat das Abendmahl genieße. Ich habe nie gebeichtet und nie das Abendmahl genossen; als ich zur Welt kam, waren die Kirchen in Frankreich geschlossen oder in Werkstätten umgewandelt, die Druckerei meines Vaters befand sich in einer Kirche, und ich habe gearbeitet, wo man sonst betet.“

Michelet wandte sich, da der besprochene Gegenstand erschöpft war, an D. mit der Frage nach den Zuständen von der Türkei, „die wohl recht krank sei“.

D. äußerte die Meinung, daß die Türkei mehr Lebensfähigkeit besitze, als man in Europa annehme.

„Wohl möglich,“ versetzte Michelet; „denn krank ist dieses Reich so lange es besteht,“ und er erinnerte an das Factum, daß die Türken in ihrer Blüthezeit Knaben raubten, um sich durch äußere Anhäufung wie die Steine zu vermehren.

„Es bringt wohl die social-politische Einrichtung, wie sie durch den Koran festgestellt ist,“ bemerkte ich, „diese Krankheit mit sich. Die Vielweiberei, durch welche die Bildung der Familie unmöglich gemacht wird, ist wohl an der chronischen Schwäche der Mohamedaner schuld, weil sie mit einer Herabwürdigung der Frau, mit der Herabwürdigung der Mütterlichkeit selbst zusammenhängt.“

„Wunderlicherweise,“ bemerkte er, „sind die Türken wegen der Neugierde unserer Soldaten, die gar zu gern von den Gartenmauern aus die türkischen Frauen lustwandeln sehen, uns abgeneigter, als den Engländern, obgleich unser Benehmen viel angenehmer, als das der Engländer ist.“

„O die Engländer sind hart,“ rief Frau Michelet, „man sehe nur, wie sie ihre Frauen behandeln.“

Obgleich gewohnt, von Franzosen aller Bildungsstufen alles Englische mit Ungerechtigkeit behandelt zu sehen, konnte ich doch nicht unterlassen, dieser Ansicht mit einiger Lebhaftigkeit entgegen zu treten.

„Meines Wissens,“ versetzte ich, „behandeln die Engländer ihre Frauen mit einer Rücksicht, die der Franzose, seiner eigenen Ehehälfte gegenüber, nicht selten außer Acht läßt.“

„Weiht der Engländer seine Frau doch nicht einmal in den Gang der Geschäfte, in den Stand des Vermögens, kurz in die wichtigsten Angelegenheiten der Familie ein,“ entgegnete Michelet.

„Er läßt sie aber dafür,“ versetzte ich, „im Hause unumschränkt gebieten, ja, in vielen Stücken sich von ihr lenken, er liebt und ehrt sie mehr, als es der Schroffe zeigen mag. Daß er sie dem Drange und den Sorgen der Geschäfte fern hält, gereicht ihm vielleicht eher zum Lobe, als zum Vorwurf; es spricht sich darin vielleicht eher eine zarte Schonung als Geringschätzung aus. Wie es der angelsächsische Stamm mit den Frauen hält, zeigt sich in den Vereinigten Staaten, wo der Mann, wer es auch sein mag, den Frauen den Platz räumen muß.“

„Im Grunde,“ gestand Michelet zu, „versteht der Engländer die Heiligkeit der Familie, und es gefällt mir an ihm, daß er sein Haus geschlossen hält. Bei uns Franzosen haben die Hauser gar keine Thüren. Man tritt ein und man ist da.“

Noch viele andere ebenso interessante Fragen regte der Gelehrte an, und sprach über dieselben in eben so origineller, als anziehender und belehrender Weise. Sein Ausdruck ist kräftig, seine Stimme hell und wohltönend. Durch die Einfachheit, die Lebendigkeit, die höhere Anschauung des berühmten Mannes gewonnen, eine Gedankenbewegung im Kopfe, verließ ich das schlichte Haus.

Michelet hat seit dieser Zeit noch zwei Bücher erscheinen lassen: „die Liebe“ und „die Frauen“, beide voll feiner und tiefer Blicke in das weibliche Herz, obwohl ich auch hier nicht Alles als unangreifbare Wahrheit unterschreiben möchte. Namentlich für deutsche Leser ist Vieles verletzend. Aber auch in diesen Büchern hat er seine große Kunst bewährt, den Leser zu fesseln, das Gefühl und die Einbildungskraft anzuregen und durch schlagende Behauptungen zu überraschen. Jedenfalls sind beide Bücher nicht ohne Beihülfe seiner liebenswürdigen Frau entstanden.



[411]
Eduard Vogel und die Versuche zur Aufhellung seines Schicksals.

Nahezu sieben Jahre sind nunmehr verflossen, seit die ersten dunkelen Gerüchte von dem Tode des muthigen Afrikareisenden nach Deutschland gelangten. Am 7. März 1853 – seinem vierundzwanzigsten Geburtstage – hatte Eduard Vogel bei Tripoli den Boden des afrikanischen Continents betreten und war Mitte Januar 1854 in Kuka, der Hauptstadt des großen Reiches Bornu, am Tsadsee angekommen. Das Jahr 1854 benutzte er zu Ausflügen nach dem Westen und war dann, nach Kuka zurückgekehrt, daselbst vom 29. December 1854 bis zum 20. Januar 1855 mit dem auf der Rückreise begriffenen Dr. Barth zusammen, der ihm ein kurzes Geleit auf seinen weiteren Ausflug nach Südwesten gab. Kuka, sein Standquartier, das er am 1. December 1855 wieder erreicht, verließ er am 1. Januar 1856, um über Wadai, Darfur und Kordofan bis zum Nil vorzudringen und so auf einem noch nie von Europäern betretenen Wege nach seiner Heimath zurückzukehren.

Seiner Heimkehr aber wurde seitdem umsonst gewartet. Noch in demselben Jahre 1856 verbreitete das Ausbleiben sicherer Nachrichten eine allgemeine Bangigkeit unter den Freunden des kühnen Reisenden, wie unter allen Deutschen, die mit Stolz auf die wissenschaftlichen Errungenschaften ihres Landsmannes geblickt hatten. Den ersten ungewissen Zweifeln und Vermuthungen kamen bald allerlei Gerüchte zu Hülfe, welche, so verschiedenartige Nebenumstände sie auch berichteten, doch darin fast sämmtlich übereinstimmten, daß Vogel bis Wadai vorgedrungen und dort ermordet worden sei.

Es ist unsern Lesern bekannt, wie mit dem Beginn des Jahres 1860 die „Gartenlaube“ die erste Anregung zur Ausrüstung einer deutschen Expedition nach Innerafrika zur endlichen bestimmten Aufklärung von Vogel’s Schicksal gab,[3] wie diese Anregung eine weitere Stütze in dem Aufrufe des Dr. Ule in Halle fand, und wie sich am 15. Juli 1860 unter dem Vorsitz des Herzogs von Coburg-Gotha ein eigenes Comité bildete, welchem hauptächlich Dr. Petermann und die Perthes’sche geographische Anstalt in Gotha ihre Kräfte widmeten; wie darauf die durch freiwillig aufgebrachte Mittel in’s Werk gesetzte Expedition unter Leitung Th. v. Heuglin’s, begleitet von den Wünschen der ganzen Nation, ihre Thätigkeit begann, und welches Mißgeschick seitdem die reich ausgesteuerten Kräfte zersplitterte und trennte, so daß wir bald nicht mehr eine, sondern drei verschiedene deutsche Expeditionen nach Innerafrika vordringen sahen. [4]

So werthvoll nun auch die wissenschaftlichen Arbeiten unserer Afrikareisenden bisher waren – ihre nächste Aufgabe, deren Lösung ganz Deutschland erwartungsvoll entgegensah, haben sie noch nicht erfüllt. Noch ist es keinem von ihnen gelungen, den verhängnißvollen Ort zu erreichen, wo das traurige Schicksal unseres Landsmannes Vogel erfüllt ward, und wir müssen uns da, wo wir auf den sicheren, überzeugenden Bericht eines deutschen Mannes hofften, immer noch auf Aussagen und Gerüchte fremder Abenteurer verlassen.

Wichtiger nun als Alles, was über Vogel’s Ende auf solchen im Allgemeinen wenig zuverlässigen Wegen erfahren worden ist, ist der neuerdings erstattete Bericht eines Mannes, der mit Eduard Vogel als dessen Diener nach Wara gekommen und dort Augenzeuge seines Schicksals gewesen zu sein vorgiebt. Ende Januar d. J. nämlich kam ein verbannter Prinz von Wadai, Namens Edrisi, ein naher Verwandter des jetzigen Sultans, der als Kronprätendent auftritt und sich zu diesem Zwecke mit der türkischen Regierung in Verbindung setzen will, nach Tripoli. Er hatte einen Empfehlungsbrief an den britischen Generalconsul daselbst, Oberst G. F. Herman, von M. v. Beurmann, mit welchem er am 12. August 1862 beim Brunnen Agadem (zwischen Bilma und Bornu) zusammengetroffen war, und in seiner Begleitung befand sich ein aus Bornu gebürtiger Mann, Namens Mohammed-Ben-Suleiman, der die Reise nach Tripoli zu dem Zwecke unternommen hatte, um Bericht über den Tod Eduard Vogel’s zu erstatten.

Nun war es zwar verdächtig genug, daß dieser Mann erst jetzt, sieben Jahre nach dem traurigen Ereignisse, daran dachte, sich seiner Pflicht zu entledigen, und daß er auch nach seiner Ankunft in Tripoli nicht eher zur Ablegung seines Zeugnisses schritt, als bis er nach mehreren Wochen auf das britische Generalconsulat beschieden wurde. Gleichwohl haben es die sorgfältigen Kreuzverhöre, denen er von dem Oberst Herman unterzogen wurde, außer Zweifel gesetzt, daß Mohammed sich wirklich im Dienste Vogel’s befunden haben und mit ihm in Wadai gewesen sein muß; sein Schweigen nach seiner Ankunft in Tripoli erklärt sich außerdem durch den Einfluß eines Menschen Namens Gagliuffi, bei dem er wohnte und der früher behauptet hatte, Vogel sei infolge der in Bengasi erfolgten Beschlagnahme der Karawane des Königs von Wadai von diesem aus Rache getödtet worden.

Die Einzelnheiten der Aussagen Mohammed’s gehen aus den actenmäßigen Protokollen hervor, wie sie der Consul Herman dem Dr. Heinrich Barth brieflich mitgetheilt hat. Der Berichterstatter war danach aus der Stadt Kuka in Bornu gebürtig und hatte schon vor der Reise nach Wadai Vogel auf seinen Ausflügen nach Mandara, Adamana und Jakoba als Diener begleitet. Am 1. Januar 1856 brach er von Kuka nach Wadai mit Dr. Vogel und drei andern Dienern auf. Die Richtung ihres Marsches war über Kabar, Dahiki, Ungarno, Marte, Gharf Shohad, Creda, Bahar-el-Ghazal, Bled Onled Rasched, Bahar-el-Fitri, Iao, Barkit, Baroit, Darel-Mabu und Wara. „Wir waren“ – fährt Mohammed in seiner Erzählung fort – „einschließlich kurzer Halte, 26 Tage unterwegs. Am Morgen nach seiner Ankunft machte der Doctor dem Sultan seine Aufwartung, der ihn sehr freundlich empfing und Befehl gab, für ihn und sein Gefolge im Hause des Hagig (d. i. ein Kaid) Kheighama, eines Mannes von Rang und des Chefs der Reiterei in Wara, Quartier zu bereiten. Vom Sultan nach dem Zweck seines Besuchs befragt, sagte ihm der Doctor, dieser sei einfach, das Land zu sehen. Am vierzehnten Tage nach unserer Ankunft schickte der Sultan nach dem Doctor und zeigte ihm an, er müsse augenblicklich sein Land verlassen. Dr. Vogel kehrte daher in sein Quartier zurück und begann Vorbereitungen zur Abreise zu machen, als der Diener des Sultans kam und uns befahl, das Haus nicht zu verlassen. Darauf entschloß sich der Doctor, zum Sultan zu gehen, und steckte einen Revolver in seinen Gürtel, was ich ihm widerrieth. Wir gingen darauf zum Sultan, welcher Befehl gab, auch die drei anderen Diener des Doctors – Masahoud, Dunkout und Maddi – vor ihn zu bringen. Bei ihrer Ankunft sagte er dem Hagig Kheighama: „Wir müssen diesen Christen tödten!“ Dem widersetzte sich jedoch Kheighama. – Der Sultan gab nun Befehl, uns allen die Hände auf den Rücken zu binden, und Dr. Vogel fiel, zweimal von einer Lanze durchbohrt, mit einem tiefen Seufzer heftig zu Boden, und sein Kopf wurde augenblicklich abgeschlagen.. Seine drei Diener theilten dasselbe Schicksal. Ein ähnliches Loos war mir selbst vorbehalten; nachdem ich aber mit meinem wieder frei gewordenen Arme drei Säbelhiebe parirt hatte, beschwor der Hagig Rhuma, da er mich noch am Leben sah, den Sultan, mein Leben zu schonen. Da rief der Sultan aus: „Laßt ihn fortschaffen und als Sclaven verkaufen!“ Danach blieb ich noch einige Monate in Wara, bis meine Wunden geheilt waren; worauf ich an einen Hirten verkauft wurde, der mich nach einem vier Tage von Wara entfernten Ort schickte, um seine Heerden und Schafe zu weiden. Nach Verlauf von fünf Monaten stahl ich einen Ochsen und eine Kuh und entfloh auf dem Thiere.[5] Nach acht Tagen ließ ich das Thier im Stich, damit seine Fußspuren meinen Weg nicht verrathen sollten. Nachdem ich einige Zeit in der Wüste gewandert war, mich von Wurzeln nährend, erreichte ich endlich Bornu, wo ich seitdem gewohnt habe.“

Sonach muß Eduard Vogel um die Mitte des Februar 1856 den Tod gefunden haben. – Die von Mohammed in dem speciellen Verhör angeführten Details veranlassen auch Dr. Barth zu dem Schlusse, daß „diese Aussagen unbedingten Glauben zu verdienen scheinen.“ Der Mann wußte genau Vogel’s äußeres Aussehen zu beschreiben: „kleine Figur, sehr helle Gesichtsfarbe, mit hellen Haaren und blauen Augen“; „sein gewöhnlicher Anzug bestand aus einer Tobe und einem Turban, nur einmal auf dem Wege, zu Gharouna [412] legte er europäische Tracht an, bestehend aus einer goldverbrämten Mütze, einem dunkeln bordirten Rock und schwarzen Ueberrock“. [6] Nach der Beschäftigung Vogel’s während seines Aufenthaltes in Wara befragt, gab Mohammed an: „Einen großen Theil des Tages schrieb er und des Nachts sah er mit seinem Glas nach den Sternen.“ – „In der Nähe von Wara befindet sich ein sehr hoher Hügel; der Zugang zum Gipfel desselben ist nur dem Sultan und seinen Großen und solchen Personen, denen er die Erlaubniß ertheilt, gestattet; Dr. Vogel suchte vergebens um diese Erlaubniß nach, hat aber nie versucht, den Hügel heimlich zu besteigen.“ (Hieraus mag sich das u. a. verbreitere Gerücht, der Reisende sei zur Strafe für die Besteigung eines „geheiligten Berges“ hingerichtet worden, erklären.) Als Gründe des Sultans, Vogel zu tödten, gab er an: „Da Bornu und Wadai damals im Kriege begriffen waren, mochte der Sultan glauben, Dr. Vogel sei ein Zauberer, den der Sultan von Bornu geschickt habe, das Land zu behexen.“

Aus einem zweiten Verhör ergab sich, daß der Familienname des Kheighama (d. i. der Bornu-Titel des Seraskiers) Djerma sei, was mit der Aussage von Munzinger’s Gewährsmann stimmt. Mohammed-Ben-Suleiman blieb aber dabei, daß nicht Djerma, sondern der Sultan selbst Eduard Vogel und seine Diener habe umbringen lassen, und fügt hinzu, daß nach vollbrachter That der Sultan anfänglich alle Habseligkeiten des Ermordeten verbrennen wollte, welchem Vorhaben sich aber Djerma widersetzt hätte, worauf er das Teleskop und zwei Mantelsäcke in Besitz nahm; ferner, daß er in Folge mit Djerma über den Besitz von Vogel’s Pferd in Streit gerieth und es trotz Djerma’s Widerspruch für sich behielt. Daraus erklärt sich das Gerücht, daß jenes Pferd die Veranlassung zu Vogel’s Tod gewesen sei. –

Soweit reichen im Wesentlichen die gänzlich unerwarteten, wie es scheint, durchaus zuverlässigen Aussagen eines Augenzeugen. Sehen wir nun, wie es mit dem Verlaufe der deutschen Expedition steht, deren hauptsächlichste Aufgabe eben die Aufklärung von Dr. Vogel’s Schicksal, sodann aber die Vollendung seines Forschungswerkes war.

Die Reisenden von Heuglin und Dr. Steudner kommen – so verdienstlich auch ihre bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten über die Gegenden, die sie nicht besuchen sollten, gewesen sind – bekanntlich nicht mehr in Betracht; sie sind vom Comité aufgegeben, das ihnen schon seit Jahr und Tag keine Geldunterstützung mehr hat zukommen lassen. Seit langer Zeit fehlen alle Nachrichten von ihnen, so daß das übrigens vollständig unverbürgte Gerücht von Heuglin’s Tode hie und da Glauben gefunden hat.

Werner Munzinger und Th. Kinzelbach fanden, nachdem sie sich von dem anfänglich bestellten Leiter der Expedition getrennt und nach langem Krankenlager in Kassala auf nördlichem Umwege den Atbara entlang über Damer nach Chartum gewandt hatten, hier das Mandat vor, selbstständig weiter zu gehen. „Ich hatte,“ so heißt es in Munzinger’s Bericht, „immer den Weg von Tripoli hinein für den fast allein möglichen gehalten, da die Expedition aber einmal von Osten eingedrungen war, konnte daran nichts mehr geändert werden. Um den Bahr-el-Ghazal westlich zu verfolgen, dazu reichten die Mittel bei weitem nicht hin, da bei den jetzigen Zuständen des Weißen Flusses militärische Bedeckung nothwendig ist. Es blieb also nur der directe Weg über Darfur. Es ist bekannt, daß ich auf die Antwort des dasigen Sultans ein Vordringen nicht räthlich glaubte. Der Brief des Sultans erlaubte uns zwar einen Besuch am Hofe von Tendelti, aber erst auf ein neues Schreiben vom österreichischen Consul in Chartum, was uns jedenfalls mehrere Fiebermonate noch in Kordofan aufgehalten hätte. Hoffnung auf Umherreisen in Darfur selbst war keine da, die zum Vordringen gegen Westen kurz abgeschnitten, also war keine Aussicht auf einen wissenschaftlichen Erfolg. Ferner gab uns der Sultan gar keine Garantie für unser Leben, und nach allen Erfahrungen setzten wir uns einer langen, wenn auch ehrenvollen Gefangenschaft in Darfur aus. Ich durfte also um so eher den Rückzug antreten, da ich vernahm, daß der Weg von Tripoli hinein versucht wurde, und zwar von einem ebenso gebildeten, als wahrhaftigen und energischen Gentleman, Herrn v. Beurmann, von dem ich mir Alles verspreche.“ Munzinger und Kinzelbach sind nun schon seit geraumer Zeit, jener nach Stuttgart, dieser nach der Schweiz, zurückgekehrt. Der Erstere gedenkt die vollständigen Resultate seiner letzten Reise in zwei Bänden herauszugeben.

Die Aufgaben, welche der ursprünglich aus so reichen Kräften zusammensetzten und mit namhaften Geldern unterstützten Expedition zufielen, ruhen also gegenwärtig nur noch auf den Schultern des Herrn v. Beurmann. Die letzten Nachrichten über ihn datiren vom 12. August 1862. Derselbe Mohammed, der über Vogel’s Ende berichtet hat, gab auf die an ihn gerichteten Fragen zur Antwort, daß er Herrn v. Beurmann zu Agadem (s. oben) getroffen habe. „Seine ursprüngliche Absicht war, nach Wara zu reisen; als er aber von mir die Einzelheiten von Dr. Vogel’s Tod erfuhr, beschloß er, in Kaskaua – einem am Nordufer des Tsadsee’s gelegenen Orte – an der Grenze zu halten und von jenem Punkte aus dem Sultan zu schreiben und die Herausgabe von Vogel’s Effecten zu fordern. Er wünschte, ich sollte ihn begleiten, aber ich schlug es ab, weil ich einem gewissen Tode entgegen gegangen wäre. Ich sagte ihm, daß sein Leben in Gefahr sein würde, wenn er nach Wara ginge.“ Die beiden Packete, die v. Beurmann dem Mohammed zur Besorgung nach Tripoli mitgegeben, wurden diesem unterwegs des Nachts, als er schlief, mit einem Sacke, in dem sich außerdem noch Kleidungsstücke befanden, von einigen zur Karawane gehörigen Tibbu geraubt. So kam nur der dem Prinzen Edrisi von v. Beurmann mitgegebene Empfehlungsbrief richtig an, der aber Nichts über seine Reisen und Pläne enthielt.

Daß Hr. v. Beurmann dem menschenfreundlichen Sultan von Wadai keine persönliche Visite machen werde, ist wohl nach alledem als sicher anzunehmen; der Wunsch, von Neuem das Leben eines Landsmannes auf’s Spiel gesetzt zu sehen, kann sicherlich keinem Deutschen in den Sinn kommen, jetzt um so weniger, da uns der lange ersehnte Aufschluß über Vogel’s trauriges Schicksal endlich geworden ist. Dagegen steht es zu erwarten, daß die v. Beurmann’sche Expedition sich der von Vogel begonnenen Erforschung der östlich und südöstlich vom Tsadsee gelegenen Gegenden nach Kräften annehmen wird, ohne weitere Rücksichtnahme auf das verhängnißvolle Wara.

Vergessen wir übrigens nicht, daß sowohl die Munzinger-Kinzelbach’sche, als die v. Beurmann’sche Expedition zur Herbeiführung des Aufschlusses über Vogel’s Schicksal wesentlich beigetragen haben; denn die von der ersteren in El Obeid eingezogenen Nachrichten stimmen in der Hauptsache mit den Aussagen Mohammed-Ben-Suleiman’s überein, die letztere hat das Andenken an Vogel in Tripoli wieder geweckt, und wer weiß, ob es ohne diese Anregung dem überlebenden Diener je Ernst mit der Ablegung eines ausführlichen Zeugnisses geworden wäre. Vermuthlich ist v. Beurmann mittlerweile mit dem Sultan von Wadai wegen der Herausgabe von Vogel’s Hinterlassenschaft par distance in Unterhandlung getreten, so daß wir, wenn seine Bemühungen von Erfolg waren, immer noch recht werthvollen Enthüllungen entgegensehen dürfen.

G. Hth.


Die Beguinen in den Niederlanden.
Von Ludwig Storch.
(Schluß.)


Die charakteristische Eigenthümlichkeit des Beguinenwesens ist die Freiheit der Schwestern, zu jeder Zeit und ohne alle nachhaltige Verpflichtung in die bürgerliche Gesellschaft zurückzutreten. Daraus erklärt sich, daß man nur ältere Frauen in den Beguinenhäusern sieht und es gleichsam feststehende Regel geworden ist, daß ein unverehlichtes Weib nicht vor dem 40. Lebensjahre Beguine wird, eine Regel, die sogar durch päpstliche Bullen sanctionirt worden ist. Dieses Lebensalter und das ruhige Temperament der Niederländerinnen [413] bewirken, daß galante Unordnungen jetzt nicht mehr in den Beguinenhöfen vorkommen, wie zur Zeit ihrer Blüthe im 13. und 14. Jahrhundert, wo auch junge Mädchen in die Beguinengemeinschaft traten. Schon in der Mitte des 15. Jahrhunderts kam die Beguinage in Verfall, und jetzt gehört sie zu den wunderlichen Exuvien des Mittelalters, die, gleich Fetzen einstiger Prachtgewänder, am Staatskörper hängen geblieben sind und ohne Bedeutung für die Gewandung der Gegenwart in der Luft flattern.

Ein Gäßchen im Beguinenviertel in Gent.

Die Beguinen gehören heute mit zu den auffallenden Gegensätzen, die in constitutionellen katholischen Staaten sich immer schärfer herausbilden und den letzten schwachen Kampf einer untergegangenen Zeit mit der Gegenwart und der Zukunft repräsentiren. Die Freiheit der Verfassung gestattet den Resten mittelalterlicher Institutionen, sich bis zum vollständigen Marasmus auszuleben, und das kümmerliche Flämmchen verlischt nicht eher, als bis es das letzte Tröpfchen Oel verzehrt hat. In keinem Lande der Welt tritt dem Fremden dieser Contrast auf jedem Tritt und Schritt in die Augen springender entgegen, als in Belgien, das in dieser Beziehung ein wahrer Januskopf ist, dessen jugendliches, vorwärtsschauendes Antlitz von den großartigen Fortschritten der Neuzeit, von Preßfreiheit, Glaubens-, und Cultusfreiheit, Redefreiheit, Eisenbahnen und von einem auf republikanische Grundlagen erbauten Königsthron mit allen aus solchen Staatseinrichtungen entspringenden Pertinentien erzählt, und dessen gealtertes, rückwärtsschauendes Gesicht noch von einer nicht geringen Anzahl mittelalterlicher matt und schwach gewordener Lebenseinrichtungen weiß, von conservirten und restaurirten Institutionen, Mumien und Versteinerungen aus längst vergangener Zeit, denen nur noch ein Scheinleben beiwohnt.

Ein solcher versteinerter Zug im Greisenantlitz des Landes ist das Beguinenthum. Daß es sich bis jetzt, wenn auch nur kümmerlich, erhalten hat, läßt sich nur aus dem germanischen Volkscharakter der Niederländer erklären, der die Freiheit für das höchste Gut hält und an althergebrachten bewährten Lebensformen mit Zähigkeit hängt. Ein kritisches Urtheil des Bischoff Malderus von Antwerpen, vom Jahre 1630, paßt noch heute: „Das Beguineninstitut ist freilich kein geistlicher Orden, aber doch eine fromme Genossenschaft, und in Beziehung auf jenen vollkommneren Stand als eine Vorschule zu betrachten, in welcher das zur Andacht geneigte weibliche Geschlecht in Belgien auf eine der Sinnesart und dem Charakter des Volkes sehr angemessene Weise lebt. Denn dieses Vok ist eifersüchtig auf seine Freiheit und will sich lieber leiten, als zwingen lasten. Obgleich es ohne Frage verdienstlicher ist, sich durch die feierlichen Gelübde der Keuschheit, des Gehorsams und der Armuth dem Himmel zu weihen, und es auch sehr viele fromme Frauen in Belgien giebt, die diese Gelübde der That nach zu halten geneigt sind, so scheuen doch die meisten das unwiderrufliche Versprechen. Sie wollen lieber unverbrüchlich keusch sein, als unverbrüchliche Keuschheit geloben; sie wollen wohl gehorchen, aber ohne sich zum Gehorsam förmlich zu verbinden; lieber in mäßigem Genuß ihres Vermögens der Armuth sich befleißigen, als ihr Eigenthum auf einmal gänzlich aufgeben, wodurch sie sich auch die Möglichkeit nehmen würden, den Armen, die es verdienen, nach Kräften wohlzuthun. Sie wollen sich lieber in freier Knechtschaft stets von Neuem unterwerfen, als sich ein für allemal gefangen geben, um so durch die täglich wiederholte freiwillige Entsagung das mangelnde Verdienst der ewigen Einschließung einigermaßen zu ersetzen.“

Im Beguinenhof in Gent.
Die Kirche ist aus.

Die heutigen Beguinenhöfe, die auch hinsichtlich der Anzahl ihrer Bewohnerinnen sehr heruntergekommen sind (der große Hof in Löwen, der in seiner Blüthe über 400 Bewohnerinnen zählte, hat jetzt deren kaum 60, und der kleine gar nur 7), sind eigentlich nur Hospitäler, Versorgungsanstalten für alte Jungfern und Wittwen, und derjenige würde sehr irren, der da meinte, es ginge darin besonders idyllisch oder heilig zu.

Noch verdient bemerkt zu werden, daß man Jahrhunderte lang bemüht gewesen, auf den Grund von (falschen) Urkunden das Beguineninstitut von der heiligen Begga, Fürstin von Brabant, als Stifterin (gegen Ende des siebenten Jahrhunderts), herzuleiten. Dieser Irrthum ist in unserer Zeit mit deutscher, kritischer Gründlichkeit von Dr. E. Hallmann in Berlin erschöpfend nachgewiesen worden.

Die Beguinenhöfe in Deutschland (fast jede bedeutendere Stadt hatte einen solchen) erhielten sich unter mancherlei Bedrückungen und Verfolgungen von Seiten der Bettelorden, doch eben so oft von Päpsten, Landesfürsten und Synoden beschützt, bis über das Zeitalter der Reformation hinaus. Merkwürdiger Weise wurden die Beguinen frühzeitig Anhänger der neuen Lehre und hießen dann Seelweiber, weil sie die Seelsorge des weiblichen Geschlechts sich aneigneten. Schon im 13. und 14. Jahrhundert hatten sie die verfolgten Spiritualen der Franziskaner, die sogenannten Fratricellen [414] so wie die Brüder und Schwestern des freien Geistes in sich aufgenommen und wurden von der Inquisition als ketzerische Secte verfolgt. Diese Verfolgung von Bischöfen, Concilien und Päpsten erstreckte sich über Frankreich, Italien und Deutschland. Die niederländischen Beguinen waren ausdrücklich davon ausgenommen. Wo jetzt noch in einzelnen deutschen Städten sogenannte Beguinenhäuser bestehen, da sind es nur Hospitäler oder Armenhäuser für hilfsbedürftige, unverheirathete Frauen aus dem Bürgerstande.

Nach dem Vorbilde der Beguinen entstanden zu Anfang des 13. Jahrhunderts auch ähnliche Männervereine, welche sich Begharden nannten, sich ebenfalls nach Deutschland und Frankreich verbreiteten, aber schon gegen das Ende des Jahrhunderts als verächtliche und ketzerische Müßiggänger von päpstlichen Bullen, wie von der öffentlichen Meinung verfolgt wurden. In den Niederlanden erhielten auch sie sich reiner, doch verschwinden sie auch hier schon im 14. Jahrhunderte wieder.

Ein Beghardencollegium war eine Gesellschaft eheloser Männer, die zusammen beteten, arbeiteten und aßen, aber keine Gütergemeinschaft hatten. Sie standen unter einem Magister, dem sie Gehorsam versprachen, insofern es das Wohl der Gesellschaft erforderte. Sie hatten ebenfalls keine Regel und konnten, wenn es ihnen beliebte, die Gesellschaft verlassen. Ihre Tracht war einfach, braun, weiß, schwarz oder grau. Viele dieser Gesellschaften traten im Laufe der Zeit in die dritte Regel der Franziskanermönche, andere bestanden fort bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts, wo sie vom Papst Innocenz X. den Tertiariern beigesellt wurden. In Deutschland waren sie schon längst wieder verschwunden. Eine ganz ähnliche Verbindung waren die Lollharden, ebenfalls in den Niederlanden und Deutschland zumeist und um dieselbe Zeit blühend, wie die Beguinen und Begharden, oft mit diesen zusammenschmelzend und zuletzt ebenfalls im dritten Franziskanerorden aufgehend.

Alle diese Erscheinungen im kirchlichen Leben des Mittelalters sind Versuche des deutschen Geistes, gegenüber dem Andrängen und Eindringen des Orientalismns in die germanische Bevölkerung des Abendlandes in Gestalt des Klosterwesens, seinem ursprünglichen nationalen Freiheitsgefühl zu genügen und selbst im religiösen Vereine sich frei zu bewegen. Sie verdienen daher als Manifestationen des Germanismus gerechte Beachtung und Würdigung.


Nach der großen Künstlerversammlung in Antwerpen 1861 bereiste ein deutscher Maler die alten flandrischen Städte und wurde in Brügge wie in Gent von der Erinnerung an einige in neuester Zeit bekannt gewordene Geschichten der Beguinen bestimmt, einen Blick in die alten seltsamen Wohnsitze dieser Körperschaft zu thun.

In hohem Grade gespannt auf die Einrichtungen und das Wesen dieser Halbreligiosen, von dem man ihm so Eigenthümliches berichtet hatte, fragte er sich in Brügge nach dem abgelegenen Quartier durch, wo die Beguinen hausen, und folgte dann den Schritten einer in eigenthümliche dunkle Gewänder gekleideten Frau, die er der Beschreibung nach als eine Beguine erkannte. Sie ging endlich einem alterthümlichen Gebäude zu, welches, jenseits des Flüßchens liegend, mit der Stadt durch eine ziemlich bedeutende Steinbrücke verbunden war, und verschwand in einem großen Thorwege. Der Maler stand vor dem „Prinselyk Beggynhof“ und trat hinein, ohne von einer Pförtnerin oder einem sonstigen einköpfigen Cerberus belästigt zu werden. Ebenso unbehindert durchschritt er die engen Straßen der keinen Stadt mit ihren alterthümlichen Häuschen.

Sie machte zwar wegen ihrer großen Sauberkeit keinen verletzenden, aber doch wegen der überall herrschenden schrecklichen Oede einen unheimlichen und schläfrigen Eindruck auf unsern lebensfrohen Künstler. Die hellen Strahlen einer vollen Augustsonne reflectirten von den schneeweißen Mauern der engen Gäßchen, wo von Zeit zu Zeit eine düstere Mönchsgestalt auftauchte, die eben so schnell wieder in die Thüre eines der Häuschen huschte. Das war eine Todtenstadt, in welcher das Gespenst des Mittelalters, verbleichend im Sonnenstrahl der Neuzeit, umherschlich oder sich vielmehr scheu verkroch.

Wenn unser kunstbegabter Landsmann auch gerade nicht auf galante Abenteuer ausgegangen war und nicht erwartet hatte, classischen Schönheiten zu begegnen, die er in sein Skizzenbuch aufnähme, so wurde er doch durch den Anblick der einzelnen frommen Schwestern, der ihm in sehr spärlicher Weise zu Theil wurde, dermaßen frappirt, daß der Begriff „schönes Geschlecht“ in Gefahr kam, gänzlich in ihm zu Schanden zu werden, und er behauptete: wenn ihre Keuschheit und Tugend ihrer Form angemessen sei, wie zu erwarten stände, so müßten sie wahre Musterbilder eines heiligen Lebens sein. Der Maler stand von jedem Versuch ab, sich mit diesen Brügger Antiquitäten in Berührung zu setzen.

Im großen Beguinenhofe in Gent sah er bald darauf die Baulichkeiten denen des Brügger sehr ähnlich, aber die schmalen Gänge der Gäßchen belebt; denn die Kirche war eben aus, und dem kleinen Ausgange entquoll die große Anzahl der schwarz-weißen Beterinnen. Wie die Fünkchen auf der Kohle eines soeben verbrannten Papiers, eilten sie einige Minuten hierhin und dorthin, theilten sich, verschwanden, und die Ruhe des Kirchhofs lagerte sich auch über dieser seltsamen kleinen Stadt, die, eine Schöpfung längst vergangner Zeit, so gespenstisch belebt und so fremdartig in unsre Tage hereinragt, und in welcher ein deutscher Künstler der Gegenwart wie in einem räthselhaften Irrgarten der religiösen Romantik, die uns „ein Buch mit sieben Siegeln“ geworden ist, herumstieg, um für die „Gartenlaube“, dieser weitverbreiteten Leuchte der Gegenwart, einige Skizzen zu zeichnen, die uns zu den Illustrationen unsres Aufsatzes gedient haben.




Blätter und Blüthen

Die wohlverdiente Aussteuer. Schill, der unerschrockene Soldat, war ganz in der Nähe der Festung Colberg und frühstückte mit einigen Freunden. Da trat ein junges frisches Bauermädchen in’s Zimmer und fragte nach dem Lieutenant v. Schill. „Der bin ich!“ rief Schill, „was wünschest Du, mein Kind?“

„Ich wünsche nichts, aber mein Herr in ...tz läßt Sie heute Nachmittag einladen, Karten zu spielen und Wein zu probiren, Sie würden auch Gesellschaft dort finden – gute Gesellschaft, sagte er.“

„Nun, das sind ja sehr gute Aussichten! Aber was hast Du, Kind?“ frug Schill theilnehmend, „Du siehst verweint aus, hat man Dir etwas zu Leide gethan?“

„Ach ja, Herr Lieutenant!“

„Wer könnte einem so schmucken jungen Mädchen wehe thun?“

„Ach Herr, wenn Sie wüßten – –“

„Sprich, mein Kind, Du darfst mir Alles sagen, ich helfe Dir, wenn ich kann.“

„Sie können mir aber nicht helfen.“

„Wenn nicht helfen, doch rathen!“

„Mein Herr hat mich geschlagen!“ sagte sie schluchzend.

„Pfui doch! Das muß aber doch seinen Grund haben, was hast Du denn verbrochen?“

„Mein Schatz hat mich gegen seinen Willen besucht. Er ist der Kutscher auf dem Hofe und wir sollen einander nicht heirathen, weil wir beide arm sind.“

„Ah! Das ist sehr unfreundlich gegen ein so braves Mädchen. Ich begreife das um so weniger, als Dein Herr doch sonst so freundlich ist und es namentlich mit uns Officieren so gut meint.“

Das Mädchen sah den Lieutenant forschend an. „Meint er es auch wirklich gut, lieber Herr?“ fragte es dann zögernd.

„Du fragst mich, und hast mir erst eben selbst eine so freundliche Einladung gebracht?“

„O Herr Lieutenant, wenn Sie wüßten!“

„Nun, was hast Du denn noch?“

„Ich möchte Ihnen wohl etwas sagen, nur nicht hier!“

„Soll ich Deine Geheimnisse erst in ...tz erfahren?“

„Um Gottes Willen dort am wenigsten! aber jene Herren –“

„Nun, so erzähle mir leise hier in der Ecke, was Dich so schwer drückt.“

Schill, welcher in rosiger Laune war, warf einen schelmischen Blick auf seine Begleiterin und ließ sich bis zur Stubenthür führen. Die anderen Officiere lächelten und wünschten im Stillen ihrem Kameraden Glück zu einem kleinen Abenteuer.

„Herr Lieutenant,“ flüsterte ängstlich die Dirne, „Ihnen droht Gefahr!“

„Giebt es noch eine andere Gefahr, als die für mein Herz?“ sprach Schill, mehr zu seinen Cameraden als zu dem Mädchen gesprochen.

„Kein Scherz mehr, Herr, ich bitte Sie! Bin ich gleich nur eine arme Dirne, und hat mich auch mein Herr ungerechter Weise gemißhandelt, Rache ist es nicht, die aus mir spricht. Aber, Herr Lieutenant, Sie sollen ein so guter menschenfreundlicher Mann sein, und sehen auch so gut und ehrlich aus, daß ich es unmöglich leiden kann, wenn man Sie verrathen – verkaufen will.“

[415] Schill zuckte zusammen und wurde ernst. „Was sagst Du“ frug er leise.

„Nun, die beiden Herren, mit denen Sie zum Spiel- und Trinkgelag eingeladen sind, sind nicht die, für die sie sich Ihnen ausgeben. Ich habe Uniform unter ihrer Oberkleidung bemerkt; als ich das Zimmer verließ, verschloß es leise der Herr hinter mir. Ich wurde dadurch noch aufmerksamer, ich bemerkte, daß man das Schlüsselloch an der Thür verstopfte, ich kannte aber eine kleine Spalte in der Thür.“

„Neugier! o Eva’s Töchter!“

„Und doch war es gut, Herr Lieutenant, daß ich horchte, ich hörte Ihren Namen flüstern.“

„Verliebte haben scharfe Ohren!“

„Nun, ich sah auch 200 Geldstücke auf den Tisch zählen, die der Herr in seine Schatulle verschloß, und dabei wurde wieder Ihr Name genannt. Herr Lientenant, ich irre wohl nicht, das war der Preis für Ihren Kopf, es war das Blutgeld.“

„Also 200 Goldstücke bin ich noch werth?“ sagte Schill gedankenvoll, fast bitter; „nun, mein Kind, ich danke Dir herzlich, das Gold werde ich Dir, will’s Gott, zum Hochzeitgeschenk machen. Sage Deinem Herrn, ich würde mich prompt einstellen!“

„Sie werden doch nicht?“

„Jedenfalls, sei ruhig, ich fürchte nichts.“

Schill schüttelte dem jungen Mädchen die Hand und drängte sie, zu gehen. Zur bestimmten Stunde ritt er den Weg nach ...tz zu, zehn seiner Getreuen, beritten und bewaffnet, folgten ihm so lautlos wie möglich und blieben im Gehölz vor dem Gute zurück. Schon vor dem Hofe kamen ihm der Herr des Gutes und dessen beide Gäste entgegen. Die fremden Herren wurden Schill als ein Viehhändler und ein Kaufmann sehr artig vorgestellt, und man geleitete ihn zuvorkommend in die Wohnung, wo bereits mehrere Flaschen Wein und die nöthigen Gläser bereit standen. Man trank und stieß auf’s Wohl des neuen Gastes an. Da auf einmal bemerkte Schill, daß sein Wirth leise die Thür abschloß, und in demselben Augenblick warfen auch die fremden Herren ihre Ueberröcke ab, und die Uniformen zweier holländischer Officiere wurden sichtbar. Alle Drei gingen auf Schill zu und Einer rief: „Ergeben Sie sich, Sie sind Gefangener!“ Schill wußte, vorbereitet wie er war, Schreck, Entsetzen, Ueberraschung, Wuth vortrefflich darzustellen. Lautlos stand er da, wie verweifelnd zog er den Degen und legte ihn zwischen Gläser und Flaschen auf den Tisch, – „So bin ich denn doch verloren,“ rief er und hielt das Taschentuch vor’s Gesicht. In diesem Augenblick aber, indem er sich umwandte, als wolle er den Schweiß von der Stirn trocknen, schoß er mit der Pistole, die er stets im Busen bei sich trug, durch’s Fenster; dies war das verabredete Signal, und im Nu sprengten seine muthigen zehn Reiter aus dem Gebüsch, schlugen mit ihren Gewehrkolben die Thür ein und umringten Schill. Jetzt waren Schreck und Entsetzen an der Reihe der Verräther.

„Bindet mir die Drei da!“ donnerte Schill, „aber zuvor soll mir mein sauberer Wirth die schönen blanken Goldstücke für meinen Kopf herausgeben.“

„Gnade, Gnade!“ jammerte der Wirth und fiel ihm zu Füßen.

„Heraus mit dem Blutgeld! und Sie,“ wandte er sich an den vermeintlichen Viehhändler, „haben wohl die Gefälligkeit, mir Ihre Geldkatze dafür zu borgen; unser einer“, setzte er verächtlich hinzu, „ist bei seinen Kreuz- und Querzügen nicht auf solche Dinge eingerichtet.“

Gebunden führte Schill die drei Gefangenen auf einem großen Erntewagen nach Colberg. Der Kutscher auf dem Bock hätte sich gewiß gern einmal umgeschaut, weniger um seinen Herrn, der bleichen Gesichtes vor sich hin starrte, als um seine Braut einmal zu sehen, die neben Schill auf einem Heusacke saß. „Wir wollen die Sache gleich in Richtigkeit bringen,“ sagte Schill.

Ob sich das junge Paar bekommen, wie es mit dem Heirathsgut und mit den Gefangenen weiter verlief, ist dem Referenten unbekannt. Ein alter, noch jetzt lebender Veteran, welcher unter Schill diente und einer jener zehn Berittenen war, welche den Strauß in ...tz ausfechten halfen, hat mir diese vorstehende Thatsache oft erzählt. Er lebt als Gärtner dürftig in unserer Mitte und erzählt, wenn man ihm eine kleine Erfrischung reicht, am liebsten aus alten Zeiten und von seinen Heldenthaten unter Schill, namentlich war ihm der Schluß ergötzlich, wo Schill seine drei Gefangenen nach Königsberg sandte und dem König sagen ließ, er sende ihm da „drei schöne fette Braten“.

Aus Mecklenburg.

Fr. L. Graff.



Berliner Plaudereien. Wenn ein Fremder bei seinem Aufenthalt in Berlin an gewissen Tagen der Woche solche öffentliche Vergnügungslocale wie das Odeum, Sommer’s Salon, die Tonhalle u. s. w. besucht, so wird er nicht wenig überrascht sein, daselbst von einem Orchester die Meisterwerke eines Haydn, Mozart und Beethoven in wahrhaft classischer Vollendung zu hören und zwar für das beispiellos billige Entrée von 2–3 Silbergroschen. Der Dirigent dieser ausgezeichneten Capelle ist der Musikdirector Liebig, ein schlichter Mann, der sich jedoch größere Verdienste um die Kunst erworben hat, als mancher berühmte Musiker. Ohne Uebertreibung darf man von ihm behaupten, daß er der Hauptbeförderer der classischen Richtung in Berlin ist und daß ihm die Residenz hauptsächlich ihre musikalische Bildung zu verdanken hat, indem er die genialen Schöpfungen der großen Componisten zu popularisiren und gleichsam zum Gemeingut Aller zu machen wußte. Von Saal zu Saal, von Garten zu Garten wandert der wackere Musikdirector Liebig mit seiner trefflichen Capelle und verkündigt, gleich einem Apostel, das Evangelium der Kunst nicht nur den Reichen, sondern dem ganzen Volk. Um ihn sammelt sich die andächtige Gemeinde der Musikfreunde, Männer und Frauen, Jünglinge und Mädchen, um den göttlichen Offenbarungen des Genies zu lauschen. Seitdem Liebig seine billigen Symphonie-Concerte veranstaltet, schwindet immer mehr der rohe Geschmack an der sonst allgemein verbreiteten Tanzmusik oder an dem haßlich faden italienischen Melodiengedudel. So hat dieser einfache Mann allmählich in der That eine förmliche musikalische Revolution herbeigeführt und ohne jede Unterstützung und Förderung von oben mehr geleistet, als so manches reich ausgestattete Conservatorium und manche auf ihre Classicität stolze Akademie.

Dasselbe Streben, die Kunst allgemein zugänglich zu machen und zu popularisiren, finden wir in Berlin auch auf dem Gebiete der Malerei und Plastik. Durch den hier immer mehr in Aufnahme kommenden Oelfarbendruck ist es auch dem minder Wohlhabenden gestattet, für einen verhältnißmäßig sehr billigen Preis seine Wohnung mit Bildern auszuschmücken, welche einen wahren Kunstwerth haben. Aus der berühmten Anstalt der Herren Storch und Kramer sind einzelne Blätter, Landschaften und Genrebilder in Oelfarbendruck hervorgegangen, die fast die Schönheit der von den ersten Künstlern herrührenden Originale erreichen. Ebenso liefern die im Verlage der Reimer’schen Sortiments-Buchhandlung erschienenen lebensgroßen Portraits des Herzogs von Sachsen-Coburg-Gotha und des bekannten Geheimen-Ober-Tribunal-Raths Waldeck den Beweis, welchen Aufschwung dieser neue Kunstzweig genommen hat. Beide Bilder zeichnen sich durch ihre täuschende Aehnlichkeit und ihre treffliche Ausführung aus, abgesehen von dem Interesse, welches die dargestellten Personen selbst erregen müssen. Mit welcher Sorgsamkeit die Copie des Herzogs von Coburg nach dem bekannten Originale von dem Maler Lauchert gearbeitet ist, geht schon aus dem Umstand hervor, daß zur Herstellung derselben nicht weniger als 25 Steinplatten benutzt wurden, wodurch allerdings die Copie der Lebensfrische des Originals nahe kommt. Dasselbe Lob gilt für das Bild des berühmten Volksfreundes Waldeck, das der Maler Francke in sprechend ähnlicher Weise vollendet und das Kunst-Institut von Lichtenberg durch Oelfarbendruck vervielfältigt hat. Beide Bilder werden gewiß den Freunden und Verehrern des populären Fürsten und des preußischen Demokraten eine willkommene Gabe sein, zumal der Preis verhaltnißmäßig nur ein unbedeutender zu nennen ist. Auch das Bild eines conservativen Staatsmannes der Gegenwart ist vor Kurzem erschienen; beim Anblick desselben äußerte ein wegen seiner Sprachfehler bekannter Banquier: „Dieser Minister ist der Typhus (Typus) der Reaction.“

Wie die Malerei durch den Oelfarbendruck, so wird die plastische Kunst durch den Zinkguß immer mehr verbreitet und populär gemacht. Architektonische Ornamente und Statuen, welche fast nur die Paläste unserer Fürsten schmückten, findet man jetzt an den Häusern und in den Wohnungen unserer reicheren Privatleute. Die Billigkeit des Materials und die Leichtigkeit des Gusses gestattet jetzt die Vervielfältigung und Anschaffung der bedeutendsten Kunstwerke des Alterthums und der modernen Zeit für einen kaum glaublichen geringen Preis. Statuen, die in Bronze oder Marmor Tausende von Thalern kosteten, werden jetzt für 50–100 Thaler in vorzüglichen Abgüssen geliefert. In dem Institut des Herrn Geiß in Berlin findet man ein völliges Museum der vorzüglichsten antiken Bildwerke, den berühmten Knaben mit dem Dorn, das Knöchel spielende Mädchen, die schöne Diana aus dem Louvre, die herrliche Gewandstatue der Muse, die classischen Götter und Helden Griechenlands nach den berühmtesten Originalen mit einer bewunderungswürdigen Treue und technischen Vollendung gearbeitet. Der Einfluß einer solchen Popularisirung der Kunst auf den Geschmack und die Bildung des Volkes kann nicht ausbleiben, und schon jetzt macht sich der gesteigerte Schönheitssinn in allen Schichten der Gesellschaft bemerkbar. Auch die Kunst, die früher nur das ausschließliche Privilegium der bevorzugten Classen war, wird jetzt demokratisch, das heißt wirklich volksthümlich und populär.




Das große Schweizer Schützenfest 1863 wird am 12. Juli beginnen, am 21. Juli enden. Bekanntlich hat das Organisations-Comité in La Chaux-de-Fonds die deutschen Schützen zum eidgenössischen Feste eingeladen, und der Vorstand des deutschen Schützenbundes hat die Frankfurter, auf ihren Wunsch, damit betraut, „die nöthigen Anordnungen zu treffen, um sämmtliche an dem Feste theilnehmende Bundesmitglieder zu einem gemeinsamen Schützenzuge zu vereinigen und denselben zum Festorte zu führen.“

Wir freuen uns dieses Beschlusses und wünschen ihm eine ebenso große als würdige Theilnabme. Es ist eine nette und bedeutende Erscheinung unserer Zelt, daß Völker sich zu Gaste laden, und diese Erscheinung erhält eine besondere geschichtliche Wichtigkeit durch die Stammverwandtschaft der Völker, die sich zu diesem Feste die Hände reichen, „denn“, sagt das Comité für den deutschen Schützenzug nach der Schweiz mit vollem Rechte, „wenn die bei dem Frankfurter Schützenfeste gehörten herrlichen Worte kein leerer Schall waren, wenn Freundschaft und Verbrüderung zwischen den Schweizer und deutschen Schützen Ernst und Thatsache ist: dann sind die Schweizer Feste auch die unserigen, wie unsere die ihrigen; dann haben wir deutschen Schützen so das Recht wie die Pflicht, unsere schwarzrothgoldene Fahne auch bei den eidgenössischen Nationalfesten zu entfalten, Ehrengaben dahin zu senden und dort persönlich zu zeigen, daß auch bei uns starke Arme und feste Augen zu finden, daß wir auch befähigt sind, der Schweiz, im Falle der Noth, als treue Freunde zur Seite zu stehen, und ihre Freiheit und Unabhängigkeit vertheidigen zu helfen.“ – Dazu wird jeder brave Deutsche sein „Ja und Amen“ sagen. Von den vielen guten Anordnungen des Comité’s ist besonders wohlthuend die in §. 8 ausgesprochene. „Der Zug marschirt nur unter einer einzigen Fahne, der deutschen; besondere Fahnen von Ländern, Städten, Vereinen etc. werden nicht zugelassen.“ So wird denn Deutschland zum ersten Male draußen als ein Ganzes sich vorstellen und nicht, wie auf so mancher Weltausstellung und bei so vielen Weltvorgängen, das traurige Bild seiner inneren Zerrissenheit auch in’s Ausland tragen.

H.



Ein Freund auf dem Sterbebette. Dem Briefe eines im Unionistenheere dienenden Landsmannes entnimmt der N. K. die nachstehende rührende Scene. „Schon seit längerer Zeit ist meine Wunde soweit hergestellt, daß [416] ich zwar das Bett, aber nicht das Hospital habe verlassen können. Ich versehe seitdem den Dienst eines Wärters, leiste Beistand, wenn Glieder abgenommen und Wunden verbunden werden, und Du magst es mir glauben, ich könnte Bände schreiben von den herzbrechenden Geschichten, die ich hier gesehen und erlebt habe. Doch bestand das schwerste Stück Arbeit, welches ich habe verrichten müssen, darin, daß ich meinen Daumen von dem Oberschenkel eines Verwundeten zurückzog. Du wirst nicht begreifen, aber höre und beurtheile. Unter einer Menge von Verwundeten wurde ein junger Mann in das Krankenhaus gebracht Die Kugel war durch den Oberschenkel gegangen, und es mußte zur Amputation geschritten werden. Das Bein wurde dicht am Leibe weggeschnitten, die Arterien wurden unterbunden. Der Kranke befand sich erträglich, und man glaubte gewiß, ihn am Leben erhalten zu können. Nach einigen Tagen sprang eine der kleinen Arterien. Es wurde ein Einschnitt gemacht und dieselbe wieder unterbunden. Der Wundarzt sagte, es sei ein Glück gewesen, daß nicht die Hauptarterie gesprungen, sonst wäre der Mann todtgeblutet, ehe ihm hätte Beistand geleistet werden können. Es besserte sich dann erheblich mit Charley, und wir freuten uns alle über ihn. Eines Nachts, wo ich im Krankenhause zu thun hatte, sagte er plötzlich, als ich an seinem Bette vorbeikam, zu mir: „Heinrich, mein Bein blutet wieder.“ Ich warf die Betten zurück und das Blut spritzte in die Luft. Der Schurf der Hauptarterie hatte sich abgetrennt. Glücklicherweise wußte ich, was zu thun war, im nächsten Augenblick drückte ich meinen Daumen auf die Stelle, und stopfte die Blutung. Es war so dicht am Leibe, daß kaum Raum für meinen Daumen blieb, aber es gelang mir, ihn daselbst festzuhalten. Ich weckte einen der Reconvalescenten und sandte denselben zum Wundarzt, der in der nächsten Minute erschien. „Ich danke Ihnen, A–,“ sagte er zu mir, als er mich sah, „daß Sie zur Stelle gewesen sind und wußten, was zu thun sei, denn außerdem wäre er verblutet, bevor ich hier sein konnte.“

Als er aber die Stelle untersucht hatte, nahm sein Gesicht einen sehr ernsthaften Ausdruck an, und er sandte zu den andern Wundärzten mit der Bitte, sie möchten sogleich kommen. Es erschienen alle, die im Hause waren, und sie gingen zu Rathe über den armen Burschen. Ihre Entscheidung war einstimmig. Es war kein Raum da, wo sie operiren konnten, außer der Stelle, auf welcher mein Daumen lag; unter dem Daumen konnten sie nicht arbeiten, nahm ich denselben fort, so würde er zu Tode geblutet sein, bevor die Arterie unterbunden werden konnte. Es gab keinen Weg, sein Leben zu retten. Armer Charley! Er war sehr ruhig und gefaßt, als ihm sein nahe bevorstehendes Ende verkündigt wurde, und bat, daß sein Bruder, der gleichfalls im Hospital lag, geweckt und zu ihm gerufen würde. Diese kam, setzte sich an der Bettseite nieder, ich stand drei Stunden und hielt durch den Druck meines Daumens das Leben von Charley auf, während die Brüder zum letzten Male auf Erden mit einander sprachen. Gewiß, es war eine ganz eigenthümliche Lage, in der ich mich befand, zu fühlen, daß ich das Leben eines Mitmenschen in der Hand hielt, und noch sonderbarer das Gefühl, daß eine geringe Bewegung meinerseits dessen Tod nothwendig zur Folge haben werde. Der Gedanke war für mich ein schmerzlicher und drückender, um so mehr, da ich den armen Burschen lieb gewonnen hatte, aber es gab keinen Ausweg. Die letzten Worte waren gesprochen, Charley hatte seine Angelegenheit mit seinem Bruder geordnet und gab demselben zärtliche Bestellungen an seine Lieben in der Ferne, die wohl wenig ahnten, wie nahe am Rand des Grabes ihr treuer Freund und Verwandter stand. Thränen füllten meine Augen, als ich diese Abschiedsworte vernahm. Als er damit geendet hatte, wandte er sich an mich und sagte: „Jetzt, Heinrich, denke ich, wäre es am besten, Du nähmest den Daumen fort.“ „Ach, Charley“ entgegnete ich, „wie kann ich das?“ „Es muß sein,“ erwiderte er freundlich. „Ich danke Dir für Deine große Gefälligkeit, und nun lebe wohl.“ Er wandte sein Haupt ab, ich hob den Daumen, noch einmal floß der Strom des Lebens, und in drei Minuten war Charley eine Leiche.“




Der Weihnachtsbaum für arme Kinder, auf welchen die „Gartenlaube“ in Nr. 23 des vorigen Jahrgangs ihre Leser aufmerksam machte, hat zu seiner einundzwanzigsten Christbescheerung in 82 Städten und Ortschaften abermals nahe an 4000 der armen Kleinen geladen und die jungen Herzen mit jener höchsten Freude der ganzen Kindheit erfüllt, die ohne solche menschenfreundliche Sorge der großen Mehrzahl dieser Kinder gar nicht und allen nicht so zu Theil geworden wäre. Das alljährliche Christfestgeschenk des Bibliographischen Instituts zu Hildburghausen (eine Stiftung des unvergeßlichen Joseph Meyer und Friedrich Hofmann’s, der den Gedanken und seitdem die geistige Arbeit dazu gab) gehört recht eigentlich der Schule an. Ueberall, wo der „Weihnachtsbaum“ in die Hand der Lehrer gelegt wurde, hat er doppelte Frucht des Segens getragen; das Wort des Lehrers: „Wer von Euch Kindern recht brav ist, dem bescheert der heilige Christ auch Etwas hier in der Schule“ bewährt stets eine ganz besondere Kraft, und da nach der elterlichen Wohnung die Schule, nach den Eltern die Lehrer im Aug’ und Herzen des Kindes Allem voranstehen, so liegt auch in der Verpflanzung des Christbaumes in die Schulstube für die kindliche Auffassung nichts Störendes. Die Eltern wohnen der Bescheerung bei, die von Gesang und Rede begleitet wird. Ein frommes Schaustück sollte nirgends daraus gemacht werden. Wo aber im Laufe der Zeit eine neue Art Volksfestes daraus geworden ist, da hat auch die größere Oeffentlichkeit der Bescheerung keinen schädlichen Einfluß mehr. Nur in der Hand der leider sogenannten „Frommen“ verunstaltet man das schöne Fest in jenes Zerrbild, von welchem uns in Nr. 21 der „Gartenlaube“ Fr. Brunold eine Copie gegeben hat.

Die segensreiche Wirksamkeit des „Weihnachtsbaumes“ für die Schule muß zu dem Wunsche anregen, daß demselben eine noch größere Ausbreitung zu Theil werde, als er bisher durch die so sehr ehrenwerthe Munificenz des Bibliographischen Instituts bereits erlangt hat. Deutschland ist reich genug an wohlhabenden und wohlwollenden Buchhändlern und Buchdruckern, die den Hildburghäuser Weihnachtsbaum für ihre Stadt oder ihren Kreis, ihren Bezirk ebenfalls gratis herstellen und vertheilen könnten. Die geistige Arbeit würde durch Fr. Hofmann ja dann für alle ebenfalls gratis gemacht sein. Vielleicht erleben wir die Freude, daß noch vor dem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum des „Weihnachtsbaumes“ dieser Wunsch für einen großen Theil von Deutschland in Erfüllung gegangen ist. Zu diesem Behufe soll der Weihnachtsbaum künftig schon im Monat August im Druck vollendet sein, um so rechtzeitig anderen Officinen zur Herstellung und Ausstattung des Werkchens für ihre Bescheerungskreise zugesandt werden zu können. Möchten sich möglichst bald recht viele dazu erbieten!

Für den „Weihnachtsbaum von 1862“ haben, in Folge des erwähnten Artikels in Nr. 23 der „Gartenlaube“, 182 deutsche Dichter und Dichterinnen aus Deutschland, Holland, der Schweiz, Ungarn, Rußland und Nordamerika poetische Gaben eingesandt. Davon konnten nur 76 Aufnahme in den 10 Druckbogen des Werkchens finden; ihr Honorar besteht in einem Freiexemplare des „Weihnachtsbaumes“ und in der Mitfreude am Erfolg des Ganzen.

Hinsichtlich des neuen „Weihnachtsbaumes“ (für 1863) mögen die poetischen Theilnehmer an demselben folgende Bemerkungen freundlichst beachten: Niemand schicke der Redaction des Weihnachtsbaumes (Dr. Fr. Hofmann in Reudnitz bei Leipzig) von Gedichten mehr als 3, von Erzählungen in Prosa mehr als 2 zu; Jedermann behalte von den Gedichten Abschrift, weil die Zurücksendung des Unbenutzten unterbleiben muß; Niemand sende der Redaction ganze Stöße von Gedichten mit dem Anliegen ein, sie zu prüfen, brieflich zu beurtheilen und Verleger für sie zu suchen, denn das ist zu hart; endlich frankire Jedermann seine Sendung, denn sie geschieht für arme Kinder, für deren „Weihnachtsbaum“ der Einzelne schon auch sein Antheil Kosten tragen darf. Frist der Einsendung: bis Ende Juli.



  1. WS: Im Original Pachter
  2. WS: Hochkommasetzung sinngemäß korrigiert.
  3. S. „Gartenlaube“ Jahrg. 1860 Nr. 4 S. 49: „Eine Mahnung an die Deutschen.“
  4. S. „Gartenlaube“ 1862 Nr. 5 S. 72: „Die deutsche Expedition nach Mittelafrika und ihre Gegner“ von A. Brehm, und „Gartenlaube“ 1862 Nr. 43 S. 682: „Die deutsche Expedition nach Innerafrika und M. v. Beurmann“ von Dr. H. Lange.
  5. Nach der Versicherung des verbannten Edrisi, des Bruders des Sultans, soll es in Wadai eine Art Ochsen geben, die so schnell wie die Pferde sind und beschlagen werden.
  6. Die nähere Beschreibung dieser Kleidungsstücke paßte genau auf diejenigen, welche Dr. Barth an dem Reisenden gesehen hatte.