Die Gartenlaube (1863)/Heft 23
In der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt Wien herrschte große Aufregung. Schon seit Wochen waren starke Transporte gefangener Ungarn, Männer theils hohen, theils niederen Ranges, durch die Straßen der Kaiserstadt gebracht und in verschiedenen Häusern eingekerkert worden. Jene Verschwörung, in der Geschichte unter dem Namen Zriny-Nadasdy’sche Verschwörung bekannt, war zum Ausbruch gekommen, hatte eine Zeit lang die Gemüther erregt, war mißglückt, verrathen und verkauft und wurde zuletzt ertränkt in dem Blute der Edlen, welche ihr Leben für eine schon bei ihrem Beginnen verlorene Sache eingesetzt hatten. Die Kerker faßten nicht mehr die große Anzahl der Compromittirten, man mußte sie in Privathäusern einquartieren, deren Fenster in der Eile vergittert wurden und die mit Wachen angefüllt, kleinen Citadellen glichen.
Die beunruhigendsten Gerüchte durchkreuzten sich. Der Kaiser Leopold I. war schwer erkrankt, es schien fast, als wolle die Vorsehung seine Hand nicht mehr zum Unterschreiben der Menge von Todesurtheilen brauchen, die voraussichtlich mit dem kaiserlichen Namenszug versehen werden mußten. Dazu regte sich mächtig der Feind jenseits des Rheines, der allgewaltige Ludwig XIV., seine diplomatischen Netze mit bewunderungswürdiger Schlauheit auswerfend, die Höfe mit gleißnerischer Freundlichkeit umnebelnd, bis zuletzt ein Blitzstrahl das Gewölk zerriß und die Kriegsfurie mit gezücktem Schwert heraustrat. Jetzt beschäftigte den französischen Herrscher lebhafter als je sein lange gehegter Plan: die Nachfolge auf den Thron der spanischen Habsburger an das Haus Bourbon zu bringen. Günstiger war nie ein Zeitpunkt für die Intriguen Ludwig’s gewesen.
Leopold war ohne männliche Nachkommen. Sein jüngerer Bruder, Carl Joseph, war 1664 bereits gestorben. Starb der Kaiser, so war ein Erbfolgekrieg wohl unausbleiblich[1], und wer hätte dem mächtigen Ludwig widerstehen können, der, mit England durch Carl’s II. Schwäche, mit Schweden und den bedeutendsten Reichsfürsten alliirt, außer den Generalstaaten keinen Feind von Bedeutung gegenüber sah? vor dessen Heeren Feldherren wie Turenne und Condé zogen, denen man damals noch keinen Eugen oder Marlborough entgegenstellen konnte? –
Das Haus Oesterreich wankte. – Zweihundertundfunfzig Streiter befanden sich zu jener Zeit in Wien. Es waren Streiter ad majorem Dei gloriam! die Patres der Gesellschaft Jesu. Sie hatten den Kaiser ganz in ihrer Gewalt, nannten ihn ihren „Leopoldus Magnus“, erhielten tausendfache Gnadenbeweise von ihm und – bereiteten durch ihre fanatische Bekehrungssucht die Empörung in Ungarn vor, die durch Ludwig XIV. unterstützt wurde. Die Magyaren mußten nun die Sündenböcke für alles Hochverrätherische und Treulose sein, was am kaiserlichen Hofe im Dunkeln sich ausbreitete. Auf ihre Rechnung arbeiteten die Väter, welche bereits seit dem Jahre 1668 im Dienste Ludwig’s XIV. standen, dessen wachsender Macht sie vor der bedrohten des Habsburgers den Vorzug gaben.
Leopold I. mußte beten – viel, sehr viel beten, und er betete gern. In jener Zeit, die allerdings mehr als jede andere den bedrängten Herrscher aufforderte, sein Gemüth zu Gott zu erheben, machten seine Gewissensräthe – die Jesuiten – Politik durch die Religion. Der Kaiser hörte knieend drei Mal des Tages die Messe. Der Pater Müller lieh ihm sein Ohr in der Beichte. Religiöse Gespräche bildeten den Haupttheil der Tagesunterhaltung. Alle Gegenstände, deren der Kaiser sich bediente, mußten durch Priesterhand geweiht sein.
Am 22. März 1670 erschien, als es bereits dunkelte, ein Mann, der einen kleinen Handwagen zog, vor dem Oekonomie-Gebäude der kaiserlichen Burg zu Wien. Die Küchenbeamten nahmen seine für den Haushalt bestimmte Ladung sofort in Empfang. Dieselbe bestand in zwei ziemlich bedeutenden Kisten. Die Begleiter des kleinen Handwagens und seines Führers waren für eine zur kaiserlichen Haushaltung gehörige Lieferung sonderbar genug. Es waren nämlich zwei in die Tracht der Jünger der Gesellschaft Jesu gekleidete Männer. Der herbeigerufene Haushofmeister verbeugte sich tief. Einer der schwarzen Herren war der Pater-Procurator, der Andere ein minder hohes Werkzeug des Ordens. Geschäftig wollten die Küchendiener sich der vom Wagen herabgenommenen Kisten bemächtigen, als der Pater sie mit sanfter Stimme zurückhielt.
„Meine Freunde,“ sprach er, „wisset Ihr auch, daß diese Kästlein mit Zartheit behandelt sein wollen? Traget sie leise in die Vorzimmer, damit ihr Inhalt nicht verderbe oder unwürdig aufgeschichtet werde.“
„Hochwürden werden mich sehr verbinden, wenn Sie mir mittheilen, was die beiden Kästchen Herrliches enthalten, damit ich meine Maßregeln zu ihrer Sicherung treffen kann, bis ich sie in die Hand des dienstthuenden Kammerherrn abgeliefert habe,“ sagte der Haushofmeister, die beiden Kasten mit ehrfurchtsvollen Blicken betrachtend.
[354] „Erfahren Sie, mein Freund,“ erwiderte der Procurator, „daß die Kisten eine Anzahl geweihter Wachskerzen enthalten, deren Flammen von nun an in den Zimmern des kaiserlichen Herrn leuchten sollen. Erhält er doch Alles, dessen er sich bedient, aus den Händen der Unsrigen, die es geweiht haben für seinen Dienst. Theilen Sie den mit der Einrichtung der Zimmer betrauten Dienern mit, daß kaiserliche Majestät dem hochwürdigen Beichtvater, Pater Müller, zu erkennen gegeben haben, wie Sie neben andern geweihten Gegenständen auch solche Kerzen in Ihren Zimmern zu brennen wünschen. Es soll also von jetzt ab aus diesem Vorrathe genommen werden.“
Nachdem der Procurator sich überzeugt, daß die Kisten in gehöriger Art und Weise abgeliefert worden, entfernte er sich mit seinem Begleiter. Noch an demselben Abende brannten in dem Gemache Kaiser Leopold’s geweihte Kerzen, welche von nun an immer in Gebrauch blieben.
Acht Tage später erkrankte der Kaiser heftig. Trotz der gesegneten Lichter überfiel ihn ein Siechthum, dessen kein Arzt Herr werden, dem keine Fürbitte Stillstand gebieten konnte.
„Die ungarischen Malcontenten haben dem Kaiser Gift beigebracht,“ hieß es in Wien. „Der Nadasdy hat’s gethan, der schon den Niclas Zriny umgebracht hat.“[2]
Auf der Landstraße, welche Schwechat mit Wien verbindet, fuhr eine leichte Reisekalesche. Der Kutscher trug einen breitkrämpigen Hut und hatte ein paar Pistolen in seinem Ledergürtel stecken. Rechts und links neben dem Fuhrwerk ritten kaiserliche Dragoner. An den Hüften der Reiter kirrten die Pallasche, über den Sattelknopf hatten sie ihre gespannten Carabiner gelegt. Diese Begleitung deutete den Vorübergehenden an, daß sich im Innern des Fuhrwerks ein Gefangener von Wichtigkeit befinde.
Der zweisitzige Reisewagen führte zwei Männer nach Wien, von denen der Jüngere die Uniform der kaiserlichen Leibgarde trug. Sein Antlitz verrieth auf den ersten Blick den Südländer und bildete durch den lebensfrohen Ausdruck, welcher auf demselben sich zeigte, einen scharfen Contrast zu der Schwermuth, die in den Zügen des neben ihm sitzenden älteren Mannes ausgeprägt war. Der Letztere, dessen Person die militärische Bedeckung galt, war in schwarzen Sammet gekleidet. Ein langer, mit kostbarem Pelzwerk verbrämter Mantel aus feinem Tuch bedeckte seinen Körper vollständig. Auf dem Haupte trug er eine enganliegende Kappe, unter deren Rändern sich graue Locken hervorstahlen. Das geistvolle, edle Gesicht hatte jene gelbliche Farbe angenommen, die dem Elfenbein eigen, wenn es Jahrhunderte alt geworden ist, die Farbe der Denker oder der Dulder. Große schwarze Augen funkelten neben der Adlernase, und ein langer Bart fiel auf die Brust herab. Der Officier war der Rittmeister Luigi Scotti von der kaiserlichen Leibguardia, sein Gefangener der gelehrte, angefeindete Adept, Arzt und Philosoph Giuseppe Franceseo Borri.
Es war ein merkwürdiger Mann, dieser Borri. Aus adeligem Geschlecht stammend, hatte er sich mit glühendem Eifer den Wissenschaften zugewendet. Seine Vaterstadt Mailand verließ er, um die ewige Stadt Rom zu besuchen. Hier, an der für solche Beschäftigung gefährlichsten Stätte, arbeitete er emsig an seiner Vervollkommnung in den geheimen Künsten der Chemie. Borri suchte, wie die meisten gelehrten Hitzköpfe seiner Zeit, den Stein der Weisen. Wenn er bis zum Grauen des Morgens vor seinem Heerde im Laboratorium stand, wenn die Retorten glühten, wenn die seltsamsten Mischungen, in Fluß gerathen, auf und nieder wogten in den wunderlich geformten Gefäßen, dann leuchtete die Freude aus den bleichen Zügen Borri’s, und wenn er nach langen Mühen eine chemische Analyse zu Stande gebracht, dann warf er sich beglückt auf das Lager und entschlummerte, um im Traume weiter zu arbeiten. Aber die erregte Phantasie des Gelehrten schweifte hinaus aus den engen Wänden des Laboratoriums; sie heftete sich an Dinge und Fragen, die nicht mit einzelnen Experimenten zu beseitigen waren. Sein reger Geist flog auch in das Gebiet der Theologie und der Kirche und rief ihm zu: „Der Papst ist nicht der Hohepriester, wenn er an seiner Stirne nicht das Gotteszeichen trägt.“
Im Traum und Wachen verfolgten ihm diese Zweifel und ließen ihm keine Ruhe, bis sich diese Marter zu Erscheinungen und Visionen steigerte. Endlich hielt er sich berufen, diese Zweifel einem Priester mitzutheilen und furchtlos zu sprechen. Er hielt Reden gegen die Herrschaft des Papstes und stützte sich dabei einestheils auf übernatürliche Eingebungen, während er auf der andern Seite wieder seine chemischen Experimente in die erste Reihe stellte und bewies, daß die heilige Dreieinigkeit, die Menschwerdung Christi und dergleichen aus den Grundsätzen der Scheidekunst hergeleitet werden müßten.
Die Jesuiten, bei denen er als Jüngling studirt hatte, verfolgten ihn heftig. Sie erlangten seine Verhaftung durch das Inquisitions-Tribunal. Borri flüchtete aus Rom nach Mailand und von da nach Straßburg. Während dessen ward sein Bildniß zu Rom am 3. Januar 1661 durch die Hand des Henkers verbrannt, sein Name an den Galgen geschlagen. Seine Schüler wurden eingekerkert. In Straßburg nicht geduldet, ging Borri nach Amsterdam. Hier war er sicher. Er hatte allerdings den Stein der Weisen gefunden, denn die umfassendsten Studien hatten einen großen Arzt aus ihm gemacht. Borri konnte die Menge kaum befriedigen, welche von ihm geheilt sein wollte. Das Geld floß ihm in großen Summen zu und erlaubte ihm, ein glänzendes Haus zu machen. Seine chemischen Versuche hatten ihm namentlich ein dunkles Gebiet der Natur erschlossen; Borri war ein genauer Kenner der Gifte, ihrer Wirkungen und deren Heilung. Nachdem er viele, fast an’s Wunderbare grenzende Curen vollendet, namentlich Augenleiden geheilt hatte, ging er nach Hamburg. Hier machte er die Bekanntschaft der Königin Christine. Wenige Monate später ward er nach Kopenhagen berufen. Er setzte auch hier alle Welt in Staunen durch seine Gelehrsamkeit. Eine Bedienten-Kabale stürzte ihn. Nach dem Tode des Königs Friedrich III. verließ er den Norden Europas, um sich nach der Türkei zu begeben. Er kam am 10. April 1670 zu Goldingen an der schlesischen Grenze in das Haus eines Edelmannes, entschlossen, von hier aus seine Reise nach der Türkei durch Mähren und Polen fortzusetzen.
Hier gerieth Borri in die Hände der kaiserlichen Gewalt.
Eines Tages befand sich in dem kaiserlichen Gemache der Hofburg zu Wien der päpstliche Nuntius in angelegentlichem Gespräch mit Kaiser Leopold begriffen. Es galt der ausgebrochenen Empörung in Ungarn. Gerade als der Priester mitten im heftigsten Redeflusse sich befand, als er gegen die Aufständischen donnerte, ward dem Kaiser eine neue wichtige Depesche überbracht. Sie enthielt Berichte von den Vorgängen. Ein langes Verzeichniß von Personen, die compromittirt waren, lag dabei. Der Secretair las die Nachrichten, dann las er die Namen. Alle ließen den Nuntius gleichgültig. Endlich kam ein Name an die Reihe, bei dessen Nennung der Priester unwillkürlich in die Höhe fuhr. Franz Borri stand auf der Liste der Verdächtigen; es sollten Anzeichen vorhanden sein, nach denen der Arzt in unmittelbarer Verbindung mit den Malcontenten stehe.
„Borri,“ rief der Nuntius mit Zähneknirschen, „Borri ist zu fangen? Majestät, sofort in Verhaft mit ihm! Es ist einer der gefährlichsten Sendlinge. Er wußte sich dem rächenden Arme des heiligen Officiums zu entziehen. Sein Fang ist ein doppelter Gewinn, für Thron und Kirche.“
Leopold hätte nie, am allerwenigsten aber im jetzigen Augenblicke, dem Andringen eines Priesters widerstanden, und so ward der Rittmeister Scotti in besonderer Mission nach Goldingen gesendet, um Borri zu verhaften.
Am 22. April erschien der Hauswirth Borri’s mit verlegener Miene im Speisesaale und kündigte dem Arzte das Eintreffen eines kaiserlichen Commissärs an, der Befehl habe, ihn zu arretiren. Offenbar hatte der Wirth die Rolle des Verräthers gespielt, wenn er auch vorgab, daß Borri’s Aufenthalt und Name durch Reisende nach Wien gemeldet sei. Der Rittmeister, ein Landsmann Borri’s, aus Florenz gebürtig, behandelte den Verhafteten mit größter Artigkeit und theilte ihm mit, daß er in Verdacht stehe, Verbindungen mit einem der Oberhäupter der Verschwörung, Stephan Tököly, zu haben. Borri nahm Abschied von seinem falschen Freunde, stieg mit dem Rittmeister in die bereitgehaltene Kutsche, die Escorte, zwei Dragoner, setzte sich in Trab, und fort ging es auf Wien zu. –
Die Unterhaltung der beiden Reisenden ward wesentlich dadurch gefördert, daß sie Landsleute waren und sich in italienischer Sprache ihre Mittheilungen machen konnten. Im Verlaufe des Gespräches äußerte Scotti:
„Lieber Freund, mich dünkt, Sie müssen große Feinde unter [355] der hohen Geistlichkeit, eben Ihrer Wissenschaften wegen, haben; denn sogar der Nuntius des Papstes zählt zu Ihren Gegnern.“
„Dann,“ entgegnete Borri, „erkenne ich die wahrhafte Ursache meiner Gefangennehmung.“
Scotti theilte dem Gelehrten ferner mit, daß der Kaiser Leopold seit längerer Zeit an einem schleichenden Uebel leide, dessen kein Arzt Herr werden könne.
„Man sagt,“ fuhr der Rittmeister fort, „der Kaiser habe Gift bekommen.“
„Sollten seine Aerzte das nicht bemerkt haben?“ sagte Borri, „und könnten sie alsdann das Gift nicht aus dem Körper jagen? Mich würde eine solche Aufgabe nicht in Verlegenheit setzen, sobald ich mich von dem Vorhandensein des Giftes überzeugt haben würde. Der Kaiser wäre in diesem Falle der Erste nicht. Vielleicht bin ich berufen, den, der mich verfolgt und gefangennehmen läßt, zu heilen. Mein lieber Landsmann, eröffnen Sie dem Kaiser, daß, wenn er wirklich Gift erhalten habe, so wollte ich ihn davon befreien, um zu zeigen, daß ich keiner Rache wegen der mir durch meinen Arrest geschehenen Beleidigung fähig bin.“
Scotti versprach, dem Kaiser von der möglichen Hülfe Nachricht zu geben.
Am 28. April Mittags kamen die Reisenden in Wien an. Borri’s Gefängniß befand sich im Gasthofe zum Schwan. Zehn Tage vorher waren in eben diesem Hause zwei Hauptführer der Verschwörung, Peter Zriny und Frangipani, eingeschlossen gewesen. Sie hatten sich nach Wien begeben, um sich dem Kaiser freiwillig zu stellen. Jetzt saßen sie zu Neustadt in enger Haft. Es liefen einige Menschen zusammen, als Borri vor dem Thore des Gasthauses ausstieg. Im Ganzen aber erregte seine Ankunft wenig Aufmerksamkeit, da die Einbringung ungarischer Gefangener bereits ein alltägliches Schauspiel für die Bewohner Wiens geworden war.
Borri ward mit großer Höflichkeit behandelt, „Herr Arrestant“ von den wachthabenden Soldaten angeredet und in das beste Zimmer geführt. Allein gelassen und eingeschlossen warf der ermüdete Gelehrte sich auf das einfache Ruhebett und verfiel in tiefen Schlummer. Er mochte bereits mehrere Stunden geschlafen haben, als ihn das Klirren der Thürschlösser weckte. Er richtete sich empor. Es war schon finster geworden. Die Thür öffnete sich, und Borri sah seinen Landsmann Scotti, der in einen Mantel gehüllt war und eine Blendlaterne trug, eintreten.
„Geschwind,“ begann der Rittmeister, „machen Sie sich fertig.“
„Soll ich schon ein Verhör bestehen?“
„Nein. Der Kaiser will Sie sprechen. Ihr Ruf als Arzt ist ihm bekannt. Bei meinem Rapporte nahm ich die Gelegenheit wahr, dem hohen Kranken Ihr Anerbieten mitzutheilen. Der Herr hofft auf Sie, mußte aber die Nacht abwarten, da er nicht will, daß Etwas davon in’s Publicum komme, denn Sie sind ihm als einer der hartnäckigsten Ketzer geschildert worden.“
„Hätte mich mein Gewissen der Ketzerei beschuldigt,“ sagte lächelnd Borri, „so hätte mich der Kaiser nicht gefangen. Meine innere Ruhe, mein Eifer, das Elend meiner Mitmenschen zu erleichtern, geben mir die Kraft, meine Verhaftung ruhig zu ertragen. Gehen wir. Meinen Dank, Scotti, für Ihre Empfehlung, mit der Sie aber sicherlich auch dem Kaiser einen Dienst erweisen.“
Arm in Arm wandelten die Beiden durch die dunkeln Gassen, bis sie vor der Hofburg angelangt waren. Hier übergab Scotti seinen Gefangenen dem Kammerdiener, der den Arzt durch eine lange Reihe von Zimmern bis in das kaiserliche Vorgemach geleitete, woselbst er ihn niederzusitzen bat; der Kaiser werde ihn rufen lassen.
Borri befand sich nicht allein. Verschiedene Personen führten eine lebhafte Unterhaltung. Der Gelehrte hatte die sein Haupt bedeckende Capuze zurückgeschlagen und zeigte sein intelligentes, edles Gesicht offen. Er bemerkte, daß er der lebhafte Gegenstand der Unterredung zweier Geistlicher war, welche sich die Ursache seiner Anwesenheit nicht zu erklären vermochten.
Nach Verlauf einer Viertelstunde trat ein Kammerherr des Kaisers in das Gemach, ersuchte die Anwesenden höflichst, sich zu entfernen, und gab Borri einen Wink, ihm zu folgen. Sie durchschritten wieder einige Zimmer und blieben vor einer mit Sammet beschlagenen Thüre stehen. Der Hofherr öffnete, hob den schweren Vorhang zurück und winkte dem Arzte einzutreten. Borri befand sich im Cabinet des Kaisers.
Das Gemach, an sich düster, ward durch zwölf Kerzen erhellt, welche auf silbernen Leuchtern, von denen jeder in drei Arme auslief, brannten. Verschiedene große Gemälde, meist Scenen aus dem Leben der Heiligen darstellend, zierten die Wände. Neben diesen Bildern befanden sich auf Consolen allerlei Kuriositäten. Zur Seite eines kleinen Arbeitstisches stand ein sehr großer Betstuhl, über welchem ein prächtig gearbeitetes Crucifix hing. Die Fenstervorhänge waren geschlossen. Das Halblicht, welches trotz der Beleuchtung im Zimmer herrschte, gestattete dem eingetretenen Arzte anfangs nicht, die Gegenstände genau zu unterscheiden. Nach und nach traten sie deutlicher hervor, und Borri erblickte einen kleinen Mann, der neben dem Arbeitstische, in einem Armstuhl sitzend, einige ungeduldige Bewegungen machte. Es war der Kaiser Leopold. Der kranke Herr trug einen grünseidnen Schlafrock, auf dem Kopfe eine Mütze, die in eine Art von Augenschirm auslief. Seine Füße waren mit Decken umwickelt. Das Gesicht zeigte eine Bleifarbe und war sehr eingefallen.
„Dort sitzen Seine Majestät,“ sagte der Kammerherr zu Borri in italienischer Sprache. Der Arzt trat einen Schritt vor und verbeugte sich.
„Ihr seid der mailändische Cavagliere?“ begann der Kaiser mit einer Stimme, die vor Frost zu zittern schien, obwohl der Kamin eine behagliche Wärme ausströmte.
„Zu dienen, Ew. Majestät!“
„Mir thut’s leid, Euch als Gefangenen hier zu sehen, aber Ihr seid es gegenwärtig nicht.“
„Ohne gefangen zu sein, würde ich nicht das Glück gehabt haben Ew. Majestät zu sehen.“
„Von Eurer Wissenschaft habe ich viel Nützliches gehört, wiewohl Ihr in anderer Hinsicht ein gefährlicher Mann sein sollt!“
„Beides glaube ich Ew. Majestät gern. Denn in der Welt folgt die Verfolgung immer dem Lobe nach.“
„Weswegen gebt Ihr Euch mit Religionssachen ab? Ueberlaßt das der Geistlichkeit.“
„Ich halte die Religion für einen großen Schatz. Warum sollte ich mich nicht mit ihr beschäftigen?“
„Ihr seid katholisch?“
„Ja, Majestät.“
„Habt aber, wie man mir sagt, Eure Religion schon einige Mal geändert, und sollt Stifter einer neuen sein.“
„So sagen meine Feinde, welche auch zugleich die Feinde Ew. Majestät sind.“
„Wie meint Ihr das?“
„Nur Diejenigen, welche weder Religion noch Menschenliebe kennen, haben mich hierhergebracht. Weil die Leute, welche dem freien Gedanken Fesseln anlegen wollen, immer die Feinde Gottes sind, so können sie nicht die Freunde Ew. Majestät sein, von der ich so Etwas nicht erwarte.“
Hier machte der Kammerherr die Bemerkung: „Dem Cavagliere steigt die Inspiration in das Gehirn!“
„Wer ist der Mensch,“ rief Borri mit verächtlichem Achselzucken, „der sich erdreistet von Inspiration zu sprechen?“
„Es ist mein Kammerherr,“ sagte begütigend der Kaiser. „Er hat zuweilen launige Einfälle.“
„Er möge sie in meiner Gegenwart hinunterschlucken,“ entgegnete der Arzt mit strengem Tone. „Es verdrießt mich schon genug, dergleichen Leute in der Umgebung Ew. Majestät zu sehen.“
„Nicht so empfindlich, mein guter Cavagliere,“ rief Leopold. „wollte ich mich über alle dergleichen Bemerkungen ärgern, wäre ich längst in die Grube gefahren.“
„Ich schweige nie, Majestät, wenn es gilt, meine Ansicht auszusprechen. Bevor ich also das Glück habe, weiter mit Ew. Maj. sprechen zu dürfen, stelle ich die Bedingung: daß jener Mensch schweige.“[3]
Der Kaiser winke dem Kammerherrn mit der Hand. Dieser trat zurück.
Von der bigotten Richtung Leopold’s zeugte diese Unterhaltung am deutlichsten. Statt den Arzt über seinen Zustand, der offenbar gefährlich war, zu befragen, ließ sich der Kaiser zunächst mit dem Philosophen, d. h. Ketzer, in religiöse Plänkeleien ein. Das Gespräch drehte sich nun um Borri’s schon oben angeführte Behauptungen in Betreff der heiligen Dreieinigkeit. Leopold prüfte die theologischen Kenntnisse des Arztes, seine Ansichten über die [356] Mutter Maria und dergleichen mehr, ein Examen, bei welchem die Dialektik Borri’s immer den Sieg davon trug.
Endlich sagte der Kaiser: „Euch steht in Rom eine Verantwortung bevor. Möge sie von keinen üblen Folgen begleitet sein. Nun aber höre ich, Ihr gebt Euch mit chymischen Heilungen ab; darüber möchte ich Euch lieber hören, als über theologische Dinge. Was habt Ihr von meinem Zustande gehört?“
„Nichts als die Vermuthung: Ew. Majestät sollen Gift bekommen haben. Um aber meine Ansichten darüber aussprechen zu können, müßte mir der Leibarzt Ew. Majestät die Ordination vorlegen, ich könnte mich dann bestimmter äußern.“
Auf Befehl des Kaisers ward nach dem Leibarzt gesendet. – Allein mit dem Kaiser geblieben, heftete der Arzt seine forschenden Blicke auf die zusammengefallene Gestalt des Kaisers, befühlte dann die Haut des Leidenden und ließ endlich seine Augen die Wände entlang, bis zur Decke des Zimmers schweifen, musterte sodann alle Gegenstände mit großer Aufmerksamkeit und blickte schließlich wieder zur Zimmerdecke empor, unverwandten Blickes mit zusammengezogenen Augenbrauen, als wollte er sich hineinbohren in die Blumen und Schnörkel, welche, in reicher Stuccaturarbeit ausgeführt, den Plafond des kaiserlichen Zimmers bedeckten. Die Augen des Kaisers folgten ängstlich den Blicken und Bewegungen Borri’s. Der arme Kranke stöhnte leise. Er erwartete den Ausspruch des Arztes, eine Vermuthung, einen Trostspruch.
„Nun, Borri,“ keuchte er. „Was meint Ihr?“
„Meine Vermuthung,“ entgegnete der Arzt mit fester Stimme, „ist fast zur Gewißheit geworden. Ew. kaiserliche Majestät haben Gift bekommen.“
„Heilige Mutter, erbarme Dich!“ schrie der Kaiser.
„Ich muß, wie gesagt, auch den Leibmedicus sprechen. Doch glaube ich, er wird meine Ansicht theilen. Ebenso kann ich auch mit Bestimmtheit die Heilung Ew. Majestät voraussagen. Es ist noch Zeit dazu.“
„Und woraus schließt Ihr auf Vergiftung? Meine nächste Umgebung speiset mit mir fast aus derselben Schüssel. Bemerkt Ihr an meinem Körper Etwas?“
„Mein Kaiser,“ sprach Borri, „nicht der Körper Ew. Maj., sondern die Luft Ihres Wohn- und Schlafzimmers ist vergiftet. Sobald der Leibmedicus gekommen ist, wollen wir Anstalten treffen, daß Ew. Majestät andere Zimmer beziehen.“
„Wie wollt Ihr das wissen, da ich Nichts davon verspüre?“
„Ew. Majestät sind zu stark an den giftigen Dunst gewöhnt, als daß Sie es bemerken könnten.“
„Und wo sollte dieser Dunst herkommen?“
Der Arzt ging langsam und feierlich auf die vergoldeten Gueridons zu, auf welchen dreiarmige Leuchter mit brennenden Kerzen standen. Er nahm die Leuchter herab, trat an den Tisch des Kaisers und stellte sie zu den andern Leuchtern. Zwölf brennende Kerzen befanden sich dicht bei einander.
„Woher der Dunst kommt?“ fagte Borri, seine Hand ausstreckend. „Von Ihren Wachskerzen, Majestät. Sehen Sie nicht das rothe Feuer der Flamme?“
In diesem Augenblicke trat der Kammerherr ein.
„Das Feuer ist lebhaft,“ entgegnete der Kaiser, „scheint mir aber nicht ungewöhnlich.“
„Sie bemerken den feinen, weißen Dunst nicht, der den natürlichen Wachskerzen nicht eigen ist?“
„Meine Augen sind so schwach. Seht Ihr es, Kammerherr?“
Der Gerufene mußte bejahend antworten.
„Ihre Augen,“ sagte Borri verächtlich, „sind besser als Ihr Gehirn, Herr Kammerherr.“
Der Leibarzt des Kaisers erschien.
„Ihr kommt recht,“ rief der Kaiser. „Hier dieser Cavagliere behauptet, die Luft meines Zimmers sei vergiftet. Habt Ihr die Ordinaten bei Euch?“
„Hier, Majestät; sie sind vom ersten Tage Ihrer Unpäßlichkeit an geführt,“ sagte der Leibarzt.
Borri durchsah die Papiere. Er fand die Verordnungen vollständig richtig und umsichtig. Der Leibarzt, erfreut über diese Anerkennung, ließ sich Borri’s Argwohn mittheilen.
„Sehen Sie,“ rief Borri. „Doctor, sehen Sie den feinen, schnellaufwirbelnden Dampf? Jetzt betrachten Sie die Zimmerdecke. Sehen Sie den Absatz, welchen der Dunst dort oben schon abgelagert hat?“
„Ich sehe Alles und beuge mich vor Ihrem Scharfblick, Cavagliere,“ sagte der Doctor. „Ich gestehe Ew. Majestät, daß ich seit einigen Tagen bereits Verdacht schöpfte.“
„Brennen Majestät überall solche Kerzen?“ fragte Borri. „Es wäre wichtig, zu wissen, ob im Gemache der Kaiserin auch derlei Lichter benutzt werden.“
Der Kammerherr mußte zwei brennende Kerzen aus dem Zimmer der Kaiserin holen. Man verglich die Flammen. Die Lichter des Kaisers brannten in düsterrother, unruhiger Flamme, ein feiner Dunst, der gleich einem Schleier den oberen Theil der Kerze einhüllte, ward durch häufige Funken zerrissen, welche von dem Dochte abspritzten und gleich elektrischen Entladungen knisterten. Die Kerzen aus den Zimmern der Kaiserin brannten ruhig, wie jede gewöhnliche Wachskerze.
„Hier steckt das Gift,“ rief Borri triumphirend, seine weiße, verknöcherte Hand auf einen Leuchter des kaiserlichen Zimmers legend. „Soll ich jetzt Ew. Majestät zeigen, daß diese Kerzen ein feines Gift auswerfen?“
„Ohne Weiteres.“
Borri schloß die Thüre des kaiserlichen Gemaches. Er und der Leibarzt löschten sogleich die verdächtigen Kerzen. Dann traten Beide in einen Winkel, nahmen eine silberne Schüssel und begannen über derselben das Wachs der Kerzen von dem Dochte abzulösen. Sobald letzterer bloßgelegt war, theilte Borri dem Kaiser seine Ansichten mit. Leopold ließ den Kammerdiener rufen und befahl, daß der ganze Vorrath von Lichtern in sein Zimmer geschafft werde. Sie wurden aus dem Schranke im Vorzimmer genommen. Ihr Gewicht betrug noch dreißig Pfund. Borri zeigte dem Kaiser sogleich eine auffallende Erscheinung: jede Kerze war oben und unten mit einem goldnen Kränzchen eingefaßt, offenbar um sie nicht zu verwechseln. – Eine genaue Untersuchung ward vorgenommen. Sie ergab, daß die Dochte der für das kaiserliche Zimmer bestimmten, besonders gezeichneten Kerzen reichlich mit Arsenik getränkt waren. Es ward ein Hund eines Küchenjungen herbeigeschafft, in ein Seitencabinet gesperrt, und es wurde ihm eine Schüssel mit Fleisch vorgesetzt, zwischen welches man kleingeschnittene Stückchen der aus den Kerzen gezogenen Dochte gemischt hatte.
Unterdessen brachte man den Kaiser in andere Gemächer. Auf Befehl des Monarchen mußte Jeder das tiefste Stillschweigen über die ganze Begebenheit beobachten. Borri und der Leibarzt gingen in die Schloßapotheke, entfernten hier alle Gehülfen und bereiteten eigenhändig ein Gegengift für den Kaiser. Borri analysirte sofort die Bestandtheile der getünchten Dochte und erhielt aus ihnen einen reichhaltigen Niederschlag von Arsenik. Er hatte angeordnet, daß man ihn rufen möge, sobald der Hund Unruhe zeige, die Wirkung des Giftes war aber so schnell, daß Borri den Hund schon todt fand, als er zum Kaiser zurückkehrte. Beide Aerzte begannen die Heilung des Kaisers noch an demselben Abende. Borri’s Medicin bestand besonders in schweißtreibenden Mitteln, er wendete diese Cur stets bei Vergiftungen an.
Leopold hatte kaum sein Zimmer geändert, als er auch den Befehl gab, den Lieferanten der Wachskerzen zu arretiren. Als solcher ward der Jesuiten-Procurator ermittelt – aber – nicht mehr in Wien angetroffen.[4] Borri blieb auf ausdrücklichen Befehl des Kaisers in der Nähe und behandelte den Monarchen, dessen Besserung täglich zunahm. Der Leibarzt unterstützte den Gelehrten auf’s Beste, und am 19. Mai konnte der Kaiser bereits wieder ausfahren.
Fortwährend hatte er Unterhaltungen mit Borri, der ihm genauen Bericht über das medicinische Verfahren erstatten mußte. Der Arzt hatte die Wirkungen des Giftes und dessen Quantum auf das Schärfste ermittelt und sogar die an der Decke befindliche Ablagerung chemisch untersucht. Er behielt zwei Kerzen als Beweise zurück, die übrigen wurden zu den Analysen verwendet. Das Gewicht der Kerzen betrug 24 Pfund, das der getünchten Dochte 3½ Pfund, woraus Borri schloß, daß die Giftmase 2¼ Pfund betragen müsse. Als der Kaiser diese Resultate vernahm, äußerte er: „Da hätten sie mich in einigen Monaten ad Patres schicken können.“ Borri speiste am kaiserlichen Tische und ward sehr ausgezeichnet, zum nicht geringen Aerger seiner geistlichen Feinde, die indessen des Kaisers Wankelmuth gut genug kannten, um zu wissen, daß ihnen ihr Opfer dennoch nicht entgehen merde. Dieselbe Ansicht herrschte unter den Eingeweihten am Hofe. Scotti betrachtete [357]
[358] seinen berühmten Landsmann nur mit Blicken des Mitleids, und der Leibarzt äußerte unumwunden: „Lieber Borri, die Stellung des Kaisers hat Ihre Feinde nur vermehrt. Wer hier den Haß der Priester sich zugezogen, ist als verloren anzusehen. Sie werden Ihr Schicksal in Rom vollendet sehen.“
„Meinen Geist,“ entgegnete Borri, „schlägt keine Verfolgung nieder.“[5]
Es dürfte kaum glaublich erscheinen, daß Leopold in der That seinen Lebensretter der Gewalt des Offciums in Rom auslieferte, wären nicht leider in der Geschichte ähnliche Beispiele genug vorhanden.
Am 14. Juni 1670 verabschiedete der vollständig geheilte Leopold seinen Arzt Borri. Er dankte ihm innig und mit Thränen in den Augen, und bedauerte (!), daß er nicht jene Erkenntlichkeit zeigen könne, die er dem Arzte nach der Empfindung seines Herzens schuldig sei. Borri habe sich aber im Punkte der Religion so weit „verstiegen, daß es nothwendig sei, ihn von seinem Irrthume zu heilen.“ Der Papst werde eine Commission niedersetzen. „Doch habe ich,“ fuhr der Kaiser fort, einen Revers durch den päpstlichen Nuntius ausstellen lassen, daß Euch in keinem Falle an Leib und Leben Etwas geschehe. Mein Gesandter in Rom wird Euch das in Gegenwart der päpstlichen Commission eröffnen. So lange Ihr lebt, wird Euch von mir oder meinen Erben jährlich die Summe von 200 Ducaten gezahlt werden, als Merkmal, was Ihr an mir gethan. Kommt Ihr in Sachen der Religion zu besserer Ueberzengung, so werde ich sehen, was zu thun ist. Gott nehme Euch in seinen Schutz – dies ist mein Wunsch. – Lebet wohl!“ – –
Er reichte dem Arzte die Hand zum Kusse, die Borri mit seinen Thränen benetzte, Thränen der Rührung und – des Bedauerns. Am folgenden Tage ward der Gelehrte unter Bedeckung nach Rom geführt. – Der Procurator war und blieb verschwunden. Die schwarze That aber ward verschleiert, und nach wie vor herrschten die Finsterlinge und ihr Einfluß. Und Borri?
Er ward zu Rom in der Engelsburg in lebenslänglicher Haft gehalten. Anfangs durfte er die Burg nie verlassen. Endlich aber erhielt er so viel Freiheit, daß er ungehindert aus- und eingehen, auch ärztliche Curen verrichten durfte. Dies verdankte er dem energischen Auftreten des französischen Marschalls d’Estrées, den er zu Rom von schwerer Krankheit heilte. Er vollendete nun später noch viele namhafte Curen und starb im Jahre 1681. Der Jesuiten-General Pater Gonzalez besuchte ihn oft in der Engelsburg und wendete Alles an, um von ihm das Arcanum zu erlangen, wodurch er die Gifte aus dem menschlichen Körper trieb. Gonzalez legte ihm sogar ein Formular seines Unschuldszeugnisses vor und versicherte ihn der vollkommenen Freilassung. Borri schlug aber die Entdeckung des Geheimmittels, immer ruhig lächelnd, mit den Worten ab: „Diese Wissenschaft verträgt sich nicht mit den Regeln des heiligen Ignatius von Loyola.“ [6] – In Wien ward die Sache bald vergessen. Die Hinrichtungen der ungarischen Rebellen verlöschten das Entsetzen, welches die düstre Begebenheit erregt hatte.
Am wahrscheinlichsten ist es wohl, daß die That auf Antrieb der französischen Partei gegen Leopold gewagt wurde. Aus welchen Gründen, ist oben angeführt. Der sogleich bei Seite geschaffte Pater-Procurator mag irgendwo eine Entschädigung erhalten haben,[7] und nach den Sätzen des Ordens war man nicht für die schlechte That eines Einzelnen verantwortlich. Am 20. September 1713 schreibt aber Prinz Eugen an Sinzendorf aus Philippsburg: „Mit der Auswahl Bentenrieder’s als politischen Adjutanten bin ich zufrieden und werde Sorge für die Gesundheit dieses vortrefflichen Mannes tragen, daß ihn keine Besorgniß selbst wegen der Aqua tofana anwandelt. Man muß über Manches einen Schleier werfen, wie es Kaiser Leopold that, als er von dem unglücklichen Borri überzeugt wurde, daß sein eingesogenes Gift von den auf seinem Tische gebrannten Wachskerzen herrühre.“ [8]
Die geschichtlichen Helden deutscher Dichter.
Neben Gustav Adolph ist keine Persönlichkeit des dreißigjährigen Krieges populärer geworden, als Wallenstein. Wenn ihm auch schon die Art, wie er endete, vorzugsweise Theilnahme verschaffte, so kam ihm doch ganz besonders die poetische Verherrlichung durch Schiller zu Gute, und wie Viele mag es jetzt noch geben, die sich den Helden so denken, wie ihn der geniale Dichter dargestellt hat. In einem weit ungünstigeren Lichte erscheint er in der Geschichte, und schon Schiller wußte dies recht wohl, wenn er auch von später zu entdeckenden Quellen eine vortheilhaftere Beleuchtung seines Charakters hoffte. Diese Quellen wurden nach Schiller’s Tode in reicher Fülle aufgefunden, aber im Gegensatz zu der Erwartung des Dichters ist „das früher in der Geschichte schwankende Bild“ des Helden zu seinen Ungunsten fixirt worden. Es ist hier nicht blos sein Verhältniß zum Kaiser Ferdinand, was in Betracht kommt, nicht blos die Frage, ob er den Kaiser habe verrathen wollen, obschon auch diese Frage jetzt zum Nachtheil Wallenstein’s erledigt ist. Wohl könnte auch ein solcher Verräther der Theilnahme werth sein, wenn er mit hohem Sinn und kühnem Wagniß auf diese Weise eine große Aufgabe verfolgt hätte, deren Lösung die Vorsehung für höhere Zwecke öfters auf solchem Wege begabten Menschen zuläßt. Davon ist aber im Leben und Charakter Wallenstein’s nichts zu bemerken. Er war von keiner höhern Idee beseelt, ohne alles Wohlwollen, zweideutig und falsch, immer nur auf seinen Vortheil bedacht, und ermangelte trotz mannigfacher Begabung, welche ihn unter günstigen Verhältnissen emportrieb, doch des festen Sinns und der energischen Kühnheit, womit die großen Egoisten der Geschichte, zunächst für sich, aber, ohne es zu wollen, auch für die Menschheit mehr oder weniger geschaffen haben.
Albrecht von Waldstein – schon von den Zeitgenossen Wallenstein genannt – der Sohn eines wenig begüterten böhmischen Edelmanns, geboren 1583 zu Hermanitz an der Oberelbe, ward nach dem frühzeitigen Tode seines protestantischen Vaters im Jesuitenseminar zu Olmütz erzogen, wo er durch den Pater Pachta, der sich seiner sehr liebevoll annahm, katholisch gemacht wurde. Darauf bildete er sich auf Reisen im Ausland und zum Kriegsdienst in Ungarn gegen die Türken.[9] Der Tod seiner ersten Frau, einer alten reichen Wittwe, verschaffte ihm nach einer sechsjährigen Ehe 1614 die Mittel, dem Erzherzoge Ferdinand, dem spätern Kaiser, im venetianischen Kriege als Oberster erhebliche Dienste zu leisten, und damit hatte er die Bahn betreten, die ihn nach dem Ausbruch des dreißigjährigen Krieges zu hohen Ehren bringen mußte. Denn nach der Niederlage der böhmischen Rebellen, die er energisch bekämpft hatte, brachte er, zum Theil auf unredliche Weise, in Böhmen einen großen Länderbesitz zusammen, der, nach dem Schlosse Friedland genannt, später zum Herzogthum erhoben und mit besondern Privilegien ausgestattet wurde.
Durch eine zweite Verbindung mit der jungen und liebenswürdigen Isabella von Harrach 1623 gewann er noch mehr Gunst bei Hofe und nützliche Verbindungen mit den angesehensten österreichischen Familien. Doch mit der Stellung eines reichen und stattlich lebenden böhmischen Herrn konnte sich der ehrgeizige Mann nicht lange begnügen. Bald bot ihm der Ausbruch des dänischen Kriegs, in welchem Ferdinand nicht länger von der katholischen Liga abhängen wollte, die günstigste Gelegenheit, der Oberfeldhauptmann eines Heeres zu werden, das er ohne Beschwerde des Kaisers aus eigenen Vorschüssen und Contributionen zu organisiren versprach. Bewunderungswürdig war das Geschick, mit dem er nicht etwa 25,000
[359] Mann, wie der Kaiser gewollt hatte, sondern nach und nach gegen 100,000 Mann zusammenbrachte und zusammenzuhalten verstand, so daß Freundes und Feindes Land fünf Jahre lang von seinen ihm ganz ergebenen Soldaten furchtbar ausgenutzt wurde. Denn er war stets aufmerksam und thätig, durch vornehme Verschlossenheit wie durch äußere Prunkentfaltung imponirend, genau und streng, aber auch freigebig und nachsichtig, je nachdem es sein Vortheil erheischte.
Den Grafen von Mansfeld zu verjagen und den bereits von Tilly geschlagenen König von Dänemark zum Frieden zu bringen, das war unter solchen Umständen keine große Arbeit. Dabei behielt der Herzog Zeit und Kraft genug, unter dem Vorwand, des Kaisers Stellung im Reiche zu sichern, den größten Theil des protestantischen Deutschlands zu besetzen und sich selber vorläufig wider alles Recht des Herzogthums Mecklenburg zu versichern. Der Kaiser war bei diesem Gebahren seines Feldherrn oft bedenklich gewesen, fügte sich aber, von den Gönnern des Herzogs beruhigt, theils aus Furcht, theils in der Hoffnung, die geschwächte kaiserliche Autorität im Reiche, besonders im Interesse der katholischen Kirche, wiederherzustellen. Dies sollte 1629 zunächst durch das Restitutionsedict, d. h. durch den Befehl, alles seit 1552 der katholischen Kirche entfremdete Besitzthum zurückzufordern, bewerkstelligt werden. Doch in Norddeutschland zögerte der Herzog mit der Ausführung desselben, weil er bei der Erbitterung der Protestanten und der Nähe Gustav Adolph’s, der schon des Herzogs Absichten auf Stralsund hatte vereiteln helfen, seine Stellung gefährdet glaubte. Denn er opferte stets das confessionelle Interesse dem politischen Vortheile auf, schien bald den Jesuiten, bald den Evangelischen gewogen, wie es die Verhältnisse mit sich brachten.
Doch plötzlich kam der Schlag von einer andern Seite. Max von Baiern und die andern katholischen Kurfürsten nöthigten jetzt, wo keine Gefahr mehr zu drohen schien, mit Hinweis auf den Ruin des Reichs 1630 in Regensburg den Kaiser zur Entlassung des Herzogs und zur Reduction des Heeres, das mit dem der Liga vereinigt unter Tilly’s Oberbefehl gestellt werden sollte. Wallenstein, der es nicht wagte, gegen den Willen des Kaisers den Reichsfürsten entgegenzutreten, fügte sich und ging voll bittern Grolles nach Böhmen zurück, wo er theils auf seinen Gütern, theils in Prag fernerhin mit mehr als fürstlicher Pracht lebte.
Während dieser Zeit war Gustav Adolph im Juni 1630 zum Schutze seiner Interessen wie zur Rettung seiner Glaubensgenossen in Pommern gelandet. Besonnen und kühn vorwärtsschreitend machte er in fünfzehn Monaten Norddeutschland frei und drang nach Tilly’s Niederlage bei Leipzig bis Ende des Jahres 1631 den Main entlang nach Mainz. Daß der Herzog während dieser Zeit seine Beamten in Mecklenburg nicht gerade im Interesse des vom König bekämpften Tilly instruirte, mag in seinem Groll gegen Max von Baiern seine Erklärung finden. Höchst auffällig aber sind die Versuche Wallenstein’s, durch geheime Agenten mit Gustav Adolph anzuknüpfen, der jedoch die Anerbietungen des Herzogs höflichst ablehnte. Auch den Sachsen, den Bundesgenossen der Schweden seit dem September 1631, hatte der Herzog insgeheim die Einnahme Prags erleichtert. Da er jedoch durch diese Umtriebe nichts gewann, so entschloß er sich, die durch die Unglücksfälle der Kaiserlichen ihm eröffneten Aussichten zu benutzen und den seit lange an ihn gestellten Bitten Gehör zu geben; er übernahm im December 1630 zur Werbung eines neuen Heeres für den Kaiser, jedoch nur auf drei Monate, den Oberbefehl. Mit wunderbarer Energie war bis zum Frühjahr ein tüchtiges Heer schlagfertig gemacht. Der Herzog versprach, dem Wunsche des Kaisers gemäß den jetzt wieder auf dem Kriegsschauplatz in Franken thätigen Tilly zu unterstützen, der von Gustav Adolph nach der Donau verfolgt wurde. Doch seine Generale bekamen geheime Contreordre, und der verlassene Tilly ward im April 1632 am Lech von den Schweden geschlagen, welche zur Freude des Herzogs siegreich in Baiern vordrangen. Kurze Zeit darauf hatte Wallenstein sich endlich zur definitiven Uebernahme des Oberbefehls entschlossen, den kein Anderer übernehmen konnte, wenn das Heer in gutem Stande bleiben sollte, aber gegen Bedingungen, die den Herzog zum Kriegsherrn, den Kaiser zum Diener machten. Daneben hatte er sich, außer der Sicherung seines Besitzthums, ein kaiserliches Erbland und den Besitz eines zu erobernden Landes mit der Kurwürde als Lohn ausbedungen. Nur die größte Mäßigung des Herzogs konnte ein solches Verhältniß dem Kaiser erträglich machen.
In der nächstfolgenden Zeit blieben Beide fast ein ganzes Jahr lang mit einander in gutem Vernehmen. Da der Herzog Sachsen bedrohte, eilte Gustav Adolph aus Baiern zurück und verschanzte sich zur Concentrirung seiner Truppen in Nürnberg. Dorthin kam auch der Herzog und wartete klüglich in der sehr festen Position bei Fürth, bis Gustav sich in der ausgesogenen Gegend nicht mehr halten konnte. Der endliche Angriff der Schweden auf das kaiserliche Lager wurde von Wallenstein kräftig abgewiesen, und Gustav Adolph ging wieder über die Donau nach Baiern. Statt nachzufolgen, wie der König hoffte, wendete sich Wallenstein nach Sachsen; er gönnte den Schweden die Winterquartiere im Lande seines Feindes. Doch Gustav Adolph eilte zurück und überraschte die Kaiserlichen bei Lützen. Der König fiel den 6.( 16.) November 1032, aber Wallenstein mußte geschlagen den Kampfplatz räumen und während des Winters sein Heer in Böhmen reorganisiren. Der ganze Feldzug hatte von Wallenstein´s besonnener Kriegführung, aber von keiner höhern militärischen Begabung desselben Zeugniß gegeben.
Die Fortschritte der Schweden im südwestlichen Deutschland während der ersten Monate des Jahres 1633 nöthigten den Herzog, dem bedrängten Max allerhand Versprechungen zu machen, die er nicht erfüllte, obgleich er sie erfüllen konnte. Er wendete sich im Frühjahr nach dem von den Sachsen besetzten Schlesien. Statt aber die demoralisirten Truppen des kursächsischen Generals Arnim nach Sachsen zurückzuwerfen, knüpfte er unerwartet mit Armin geheime Verhandlungen an, welche bis auf den Herbst hinein fortgesetzt wurden. Allerdings konnten diese zum Vortheil des Kaisers gedeutet werden, aber Mißtrauen mußten sie in Wien erregen, da Wallenstein dem Kaiser jede Auskunft darüber versagte und dem immer mehr bedrängten Kurfürsten Max jede Hülfe verweigerte. Einen bestimmten Plan hatte damals der Herzog sicherlich noch nicht gefaßt, da er überhaupt ein Zauderer war und immer schwankend günstige Gelegenheiten suchte. Jedenfalls dachte er aber schon jetzt daran, den baierischen Kurfürsten zu demüthigen und sich selbst bald einen Lohn zu verschaffen, wie ihn der Kaiser hatte in Aussicht stellen müssen. Dieser hatte bei der zweiten Bestallung auf die Rheinpfalz hingewiesen. Doch nach Gustav Adolph’s Tode hatte Wallenstein in’s Geheim vom Kaiser die Aechtung des Kurfürsten von Brandenburg und dieses Land nebst Pommern, später aber, da der Kaiser nicht darauf eingehen wollte, Würtenberg und Hessen verlangt. Da trotz der Unterstützung dieser Projecte durch die spanische Regierung der Kaiser sich vorläufig nicht entscheiden wollte, so dachte der Herzog sich selber zu helfen und suchte unter allerhand Intrigen eine vortheilhafte Situation. Doch mußte er merken, daß seine Stellung unsicher wurde, und hielt es für zweckmäßig, nach langer Waffenruhe etwas zu unternehmen. Daher überfiel er nach dem Abzuge Armin’s den 1.(11.) October bei Steinau an der Oder die noch zurückgebliebenen schwachen Feinde und suchte sich den wiederholten dringenden Forderungen des Kaiser zur Unterstützung des Max gegen die an der Donau siegreich vordringenden Schweden durch Bedrohung der Lausitz und der Mark Brandenburg zu entziehen. Da aber mit der Einnahme Regensburgs durch Bernhard von Weimar Böhmen bedroht war, mußte endlich Wallenstein im November mit dem größten Theile des Heeres nach Böhmen zurückgehen. Er sollte nach dem Wunsche Ferdinand’s an der Donau vordringend dem Kurfürsten Max Luft machen. Statt dessen vertheilte er die Truppen in die böhmischen Garnisonen: er selbst nahm sein Hauptquartier in Pilsen. Alle Vorstellungen des Kaisers, daß sich Wallenstein gegen Bernhard in Bewegung setze oder wenigstens das arg mitgenommene Böhmen durch eine andere Disposition der Winterquartiere erleichtere, wurden schnöde zurückgewiesen. Der Kaiser mußte sich dem trotzigen Willen seines Generals fügen, der damals des Heeres ganz sicher zu sein schien.
Der Herzog machte sich nach dem, was vorgefallen war, keine Illusionen über seine Stellung zum Kaiser; er wußte, daß seine Gegner, die jetzt auch von der spanischen Regierung unterstützt wurden, seine Entfernung vom Kommando durchsetzen und seine ehrgeizigen Pläne vereiteln würden. Dem mußte vorgebaut werden, und so entschloß er sich gegen Ende des Jahres 1633 zur energischen Action gegen den Kaiser. Die schon im Laufe des Sommers zwischen dem Agenten des Herzogs, Kinsky, und dem Herrn von Fonquières eröffneten, aber bald wieder abgebrochenen geheimen Unterhandlungen mit Frankreich wurden gegen Ende des Jahres energisch aufgenommen und führten zu einem für den Herzog günstigen Abschluß, nach welchem der König von Frankreich demselben, [360] wenn er sich gegen den Kaiser erheben wollte, zur böhmischen Krone zu verhelfen versprach. Die Ratification des Vertrags war unterwegs, als Wallenstein ermordet wurde. Mit Arnim wollte der Herzog in Pilsen verhandeln, angeblich um mit den Sachsen den Kaiser zum Frieden zu zwingen; doch sollte Arnim für die weitgreifenden, aber noch sehr unklaren verräterischen Pläne Wallenstein’s gewonnen werden. Auch jener näherte sich erst der böhmischen Grenze, als die Katastrophe eintrat. Während dieser Unterhandlungen waren die nach Pilsen gerufenen Obersten durch die Vertrauten des Herzogs, Trzka und Ilov, den 2. (12.) Januar 1631 mit Hinweis auf die Gefahr, den des Commandos überdrüssigen General zu verlieren, bei einem tollen Banket bestimmt worden, ohne irgend eine Clausel der Verpflichtung gegen den Kaiser durch Unterzeichnung einer Erklärung eidlich zu versichern, „sich vom General nicht separiren zu lassen und Alles bis zum letzten Blutstropfen für ihn einzusetzen.“
Manche dunkele Gerüchte von Wallenstein’s Unterhandlungen und die Berichte von dem sogenannten „Pilsener Schluß“ veranlaßten den Kaiser, zwar noch nicht sofort, wie vielfach gerathen wurde, eine scharfe Remedur eintreten zu lassen, aber doch die Entfernung des Herzogs vom Kommando in der Stille vorzubereiten. Der schon früher gewonnene General Gallas, der in Schlesien commandirte, erhielt zu beliebiger Benutzung ein kaiserliches Patent vom 14. (24.) Januar, in welchem der Herzog nicht geächtet, aber das Heer des Gehorsams gegen ihn entbunden und an Gallas gewiesen wurde. Davon machte dieser erst Gebrauch, als er sich von der Lage der Dinge in Pilsen unterrichtet hatte. Dahin hatte nämlich Wallenstein noch einmal die Officiere entboten, um etwaige Bedenklichkeiten zu beseitigen und sich ihrer nochmals zu versichern. Den 10. (20.) Februar hatte er ihnen mitgetheilt, daß er nichts gegen den Kaiser bezwecke, aber alle Truppen nach Prag beordert habe, um sich im Interesse seiner Officiere gegen seine Feinde am Wiener Hofe sicher zu stellen, und hatte von denselben die Unterzeichnung einer der frühern ähnlichen Erklärung mit einer loyalen Clausel erlangt, die er selbst mit unterschrieb; eine Abschrift derselben wurde zur Beruhigung des Kaisers nach Wien gesendet. Gallas aber und einige andere Officiere, unter ihnen der leidenschaftliche Gegner des Herzogs, Piccolomini, hatten sich bereits heimlich von Pilsen entfernt und durch energische Maßregeln mit Hülfe eines neuen kaiserlichen Patents vom 8. (18.) Februar, in welchem deutlich von der „Conspiration“ des Herzogs gesprochen war, die Garnisonen in Prag und andern böhmischen Städten für den Kaiser verpflichtet. Dies erfuhr Wallenstein am 11./21. Februar, als er nach Prag aufbrechen wollte. Da beschloß er, sich nach Eger zu werfen, und rief den Bernhard von Weimar, mit dem er kurz zuvor bereits eine Verbindung eingeleitet hatte, zu schneller Hülfsleistung herbei. Ebenso wurde von Sachsen schleunige Hülfe begehrt. Den 14. (24.) Februar traf der Herzog, körperlich sehr leidend, in der Festung ein mit etwa 1200 Mann, darunter gegen 600 Dragoner des Obersten Buttler, eines dem Kaiser ergebenen Irländers, der ihm zufällig begegnete und ihm zu folgen gezwungen wurde. Hier überredete Buttler den Festungscommandanten, den Schotten Gordon, der anfangs auf Entsatz durch die aus dem südwestlichen Böhmen heranrückenden Kaiserlichen hoffte, durch Ermordung des Herzogs und seiner Getreuen die Festung vor den sich nähernden Schweden zu retten. Den 15. (25.) Febunar, Abends acht Uhr wurden bei einem Bankete auf dem jetzt verfallenen Schlosse Ilov, Trzka, Kinsky und Neumann durch Buttler’sche Dragoner ermordet. Gleich daraus fiel in der Stadt, im Hause des Bürgermeisters Pachelbel, unter Leitung Buttler’s durch die Hellebarde des Dragonerhauptmann Deveroux der Herzog, als er vom Lärm aufgeschreckt aus dem Bette gesprungen war. Wenn auch Piccolomini solchen blutigen Ausgang wünschte – der Kaiser hatte ihn nicht befohlen und Gallas nicht angeordnet. Es war die eigenmächtige That der Obersten, die durch rohe Gewalttat die gnädige Aufmerksamkeit Ferdinand´s zu verdienen hofften. Der Kaiser ließ sich die Execution gefallen und versuchte in einer officiellen Schrift dieselbe als gerechte Strafe des Verbrechens seines Feldherrn rechtfertigen zu lassen. Von dem nach damaliger Sitte confiscirten Nachlasse Wallenstein´s behielt die Wittwe durch kaiserliche Gnade die Herrschaft Neuschloß in Böhmen, welche durch spätere Verheirathung seiner damals zehnjährigen Tochter Maria Elisabeth an die Grafen Kaumitz kam. Die jetzigen Waldsteine in Münchengratz und Dux stammen von Seitenverwandten des Herzogs.
Mit meisterhafter psychologischer Divinationsgabe hatte der große Astronom Kepler schon den sechsundzwanzigjährigen Wallenstein charakterisirt, als er ihm nach damaliger Sitte das Horoskop stellte. „Er sei emsig, unruhigen Gemüts, allerhand Neuerungen begierig, finde an gemeinem menschlichem Wesen keinen Gefallen, habe viel mehr in Gedanken, als er äußerlich spüren lasse. Der Saturn in seiner Constellation könne ihm vielen Schaden bringen. Denn der mache lieblos, selbsüchtig, hart, falsch, lassen Einen bald verschlossen still, bald wieder leidenschaftlich ungestüm, einmal kühn, das andere Mal ohne Noth ängstlich erscheinen. Doch da der Jupiter gleich mächtig sei, so würden sich wohl diese Untugenden abwetzen, und es könnte die ungewöhnliche Natur zu hohen Ehren kommen.“ Zuletzt warnt er, „daß der Herzog durch sein eigenthümliches Wesen viel Volks an sich ziehen und sich zum Rädelsführer einer unzufriedenen Rotte aufwerfen könnte.“ Diese Charakteristik findet in Wallenstein’s Leben bis an’s Ende ihre Bestätigung. Dabei sei noch erwähnt, daß sich der Herzog nicht nur, wie viele seiner Zeitgenossen, einmal das Horoskop stellen ließ, sondern daß er sein Leben lang dem mystischen Triebe seiner Seele, der in der Religion keine Nahrung suchte, zur Befriedigung seiner ehrgeizigen Träumereien in astrologischen Beschäftigungen fröhnte, welche vielfach seinen klaren Blick trübten und seine Thatkraft lähmten.
Das war der historische Stoff, den Schiller nach einer mehrjährigen wohlbenutzten Unterbrechung seiner poetischen Thätigkeit, in seinem Urtheil wie an Kenntniß gereift, seit 1790 in’s Auge faßte, seit 1796 ernstlicher vornahm und bis zum März 1799 in seinem Drama Wallenstein so zur Gestaltung gebracht hatte, wie es im Lager, in den Piccolomini und Wallenstein’s Tod als das großartigste Erzeugniß des Schiller’schen Genius dem deutschen Volke lieb geworden ist. Denn waren ihm auch viele bedeutende Quellen dieser Geschichte noch nicht bekannt, so stand doch auch ihm schon das Bild des historischen Wallenstein in den Hauptzügen klar vor Augen. Er hatte sich gerade diesen Stoff gewählt, um durch die in dem Unternehmen seines Helden objectiv vorliegende Idee zu einer objectiven Behandlung genötigt zu werden, nach welcher er in dieser neuen Epoche seiner dramatischen Thätigkeit vorzugsweise strebte. Bald aber fühlte er die ungeheure Schwierigkeit, „dieser Staatsaction in seiner Weise beizukommen und für den zwar furchtbar, aber nie edel und groß erscheinenden Helden, der nur durch Nachsucht und Ehrbegierde bewegt wurde, die Theilnahme zu erwecken.“ Die Schuld des Verrats gegen den Kaiser konnte und mußte er beibehalten: sie motivirte den Untergang des tragischen Helden. Aber die Verschuldung mußte gemindert, der Frevler durch die Verhältnisse zum Frevel gedrängt, der Held großartiger und edler gestaltet erscheinen, ohne daß die reale Grundlage des historischen Charakters ganz aufgegeben werden durfte.
Auch in der dramatischen Gestaltung der Handlung mußte Vieles verändert werden, wenn auch die wesentlichsten Thatsachen der Geschichte festgehalten sind. Was sich vom Ende Novembers 1633 bis zu Ende des Februar 1634 zugetragen hat, ist bei Schiller in beiden Dramen in einen Zeitraum von vier Tagen zusammengedrängt. Statt Gallas, der in der Geschichte die Hauptrolle spielt, tritt im Anfange des ersten Dramas Octavio Piccolomini auf, nicht, wie in der Geschichte, ein junger Mann und leidenschaftlicher Gegner des Herzogs, sondern ein gereifter und besonnener Mann, dem der Herzog in seiner astrologischen Träumerei sein Vertrauen aufgedrängt hat. Er hat von Wien einen ihm schmerzlichen Auftrag bekommen: er soll dem Herzog heimlich das Heer abwendig machen, dessen für den Kaiser gefährliche Anhänglichkeit an Wallenstein in der weiteren Entwickelung der Piccolomini bis zu der musterhaften Schilderung des Pilsener Banketes im vierten Aufzuge anschaulich gemacht wird. Doch ist diese Pilsener Verbindung im Drama nur ein vorbereitender Schritt zur Sicherstellung vor künftiger Gefahr, welche der Herzog nach entschiedener Abweisung der Forderungen des Kaisers zu fürchten hat.
Mit dem Schlusse der Piccolomini ist der Knoten geschürzt, die Exposition zu Ende. Wallenstein steht zur Abwehr bereit, Octavio rüstet sich für seinen Kaiser zur Acion. Daneben entwickelt sich das schöne Verhältniß zwischen den beiden vom Dichter geschaffenen Personen, dem Max und der Thekla, welche im Gegensatze gegen die politische Klugheit der auf der Weltbühne handelnden Charactere das unbefangene Urteil des Herzens, das rein sittliche Gefühl, des Dichters ideale Subjectivität vertreten. Auch für sie schürzt sich der Knoten zu Ende des ersten Drama’s: es [361] entwickelt sich die Collision ihrer Liebe mit dem beginnenden Kampfe der politischen Gegensätze. – Im zweiten Drama mußten zur Veranschaulichung des Kampfes der im Schauspiel unmöglichen Entwickelung des lange dauernden und versteckten diplomatischen Intriguenspieles, wie es die Geschichte darbietet, in kurze Zeit zusammengedrängte handgreifliche Begebenheiten und lebendige Situationen treten, in denen auch die Nebencharaktere scharf hervortreten konnten. Daher erdichtete Schiller zur deutlichen Motivirung des ersten verrätherischen Schrittes des Herzogs das Aufgreifen eines allerdings auch in der Geschichte vorkommenden Agenten Wallenstein’s, des Sesyma Raschin, durch die Kaiserlichen und die förmliche Verbindung des Herzogs mit den Schweden, zu welcher er nach langem Zögern von der im Drama sehr bedeutend hervortretenden Gräfin Trzka gedrängt wird. Der geschichtliche Wallenstein war in seinen Entschlüssen von Andern nicht abhängig und hat erst nach langer Vorbereitung seines Abfalls durch Verbindungen mit Frankreich und Sachsen in der höchsten Noth Rettung bei den Schweden gesucht. Gleichzeitig wird Piccolomini’s Thätigkeit anschaulich gemacht, wobei der vom Dichter aus einem sehr gewöhnlichen Charakter zu einer sehr interessanten Persönlichkeit gestaltete Buttler bedeutend hervortritt. Denn der Dichter ließ ihn, der sich aus gekränktem Stolze selbst mit Aufopferung seiner Soldatenehre an den Herzog angeschlossen hatte, wie er erfährt, daß ihn nicht der Kaiser, sondern der Herzog gedemüthigt habe, zum Todfeinde Wallenstein’s werden, den er mit der kältesten Besonnenheit eines racheglühenden Herzens meuchlings zu Grunde richtet. Weiterhin sind die allmähliche Entfernung der Obersten aus Pilsen, der Lärm im Lager auf die Nachricht vom Verlust der Stadt Prag, die Empörung der Trzka’schen Regimenter, das Auftreten der Wallonen erst zu Gunsten des Herzogs, dem sie Verrath nicht zutrauen können, dann aber die Trennung derselben von ihm und der Abschied ihres Führers Max, der seiner Pflicht getreu auf ihn und die Braut hat verzichten müssen – dies Alles sind höchst sinnreiche und mit historischem Sinn gestaltete Erfindungen des Dichters, die als lebensvolle Handlungen die endliche Katastrophe trefflich vorbereiten. Der vor dem Entschluß schwankende und von der Trzka bestimmte Herzog kommt gerade jetzt nach diesen unerwarteten Schicksalsschlägen, nach dem Verlust der beiden Freunde in entschiedener männlicher Selbstbestimmung als klarer und fester Held zur vollsten Geltung. Die Katastrophe selbst wird, abgesehen von der idealisirten Stimmung des Herzogs und vom Charakter der dabei thätigen Personen, im Ganzen der Geschichte entsprechend dargestellt. Doch waren die Schweden nicht unter dem Rheingrafen, der damals am Rhein stand, sondern unter Bernhard von Weimar. Ein Gefecht, in welchem Schiller den unglücklichen Max den Tod suchen und finden läßt, hat nicht stattgefunden.
Und nun sei zum Schluß noch kürzlich darauf hingewiesen, wie meisterhaft der geniale Dichter nicht etwa blos in dem köstlichen Vorspiel „Wallenstein’s Lager“, sondern durch beide große Dramen hindurch, theils in gelegentlichen Aeußerungen, theils in passenden Schilderungen ein historisch treues, wenn auch poetisch verklärtes Bild der Zustände jener Zeit und der wichtigsten historischen Momente des Kriegs gegeben hat, welches der von uns entwickelten Thätigkeit der handelnden Personen eine echt geschichtliche harmonische Färbung giebt. Mögen die Historiker auch hier manche Einzelheiten zu berichtigen, mögen sie die Rohheit, die Gemeinheit, das Elend der Zeit mehr hervorzuheben haben, schwerlich werden sie bei dem Volke, soweit es sich um die Vergangenheit kümmert, ein besseres Verständniß jener Zeit, eine lebhaftere Theilnahme für ihre Vertreter erwirken können, als es der Dichter vermochte.
Wieder und wieder hat man die Auswanderungslustigen gewarnt, sich bei einer Uebersiedelung nach fernen Welttheilen vor hier in Deutschland abgeschlossenen Privatcontracten zu hüten, deren Tragweite sie gar nicht übersehen können, weil ihnen eben die Verhältnisse jener fernen Länder so vollkommen unbekannt sind.
Wir haben es aber da wieder mit dem ewigen Jammer in Deutschland zu thun, daß der Ungebildete nichts liest, als was ihm in die Hand gestopft wird, und wie damals sämmtliche nach Peru angeworbene Emigranten fortzogen und nicht einen Artikel von all den hunderten gelesen hatten, in denen sie vor einer derartigen Uebersiedelung gewarnt waren, so ist mir neulich erst wieder ein ganz ähnlicher und noch mehr schlagender Beweis vor Augen gekommen, wie vollkommen willen- und rathlos der Bauer und Arbeiter auf dem Lande den Verlockungen zur Auswanderung gegenüber steht, trotz Allem, was dagegen gesagt und geschrieben ist.
Ich will den Fall hier einfach erzählen und bitte besonders alle kleinen Localblätter, diesen Artikel abzudrucken und zu verbreiten, um die Leute doch wenigstens in etwas auf die Gefahren aufmerksam zu machen, denen sie sich aussetzen, wenn sie eben toll und blind in die Welt hinein rennen. Zufällig durch eine Verwandte Eines der Auswanderungslustigen, die zu mir kam, um sich in der Sache Rath zu holen, erfuhr ich, daß in Wasungen, im Meiningischen, eine Anzahl von Familien einen Contract mit einem Agenten abgeschlossen habe, um auf irgend eine Plantage in der Provinz San Paulo in Brasilien befördert zu werden. Die meiningische Regierung hatte die ganze Verhandlung erst erfahren, als schon Alles abgemacht war – und was kann überhaupt irgend eine Regierung Privatcontracten gegenüber thun? Dennoch sollte doch wenigstens noch Alles geschehen, um den gewagten Schritt, den diese Menschen thaten, so wenig gefahrvoll als möglich für sie zu machen. Ich hatte Gelegenheit, nach Wasungen hinüber zu fahren und nicht allein mit den Leuten selber dort zu sprechen, sondern auch den Contract zu sehen, auf den allein hin sie ihr Vaterland verlassen wollten.
Wenn man dieses Schriftstück liest, so ist es in der That unglaublich, daß irgend ein mit Vernunft begabtes Wesen blödsinnig genug sein könnte, in einem solchen Wisch eine Garantie zu erblicken. Das aber ist die Geschichte aller in solcher Weise beförderter Auswanderer, daß sie sich toll und blind in das Geschirr legen, und wie ein Stier mit einem rothen Lappen gereizt und gelockt werden kann, so genügt für derartige Menschen ein beschriebenes Stück Papier – besonders wenn noch ein Siegel darauf klebt. Was darauf geschrieben ist, bleibt sich vollständig gleich. – Es ist nöthig, das Schriftstück hier abzudrucken. Es lautet:
des Landarbeiters:
mit Familie, nämlich:
gegen Herrn Theodor Wille in Hamburg.
Der Endesunterzeichnete, der die Passage für sich und die obenstehenden Familienglieder, nach unten stehender Specification mit ............. vorgeschossen erhielt, verpflichtet sich, nicht nur Herrn Theodor Wille hierselbst Vollmacht zu ertheilen, vermittelst seines Hauses in Santos, für sich und seine Familie mit einem brasilianischen Plantagenbesitzer Contract abzuschließen, zur Verdingung seiner und seiner Familie Arbeitskräfte aus eine Colonie der Provinz San Paulo, sondern macht sich auch durch Unterzeichnung dieses Contractes (!!!) für sich und seine sämmtlichen Familienglieder anheischig, durch den Theilertrag ihrer Arbeit die vorgeschossene Passage und sonstige Kostenvorschüsse abzuverdienen, dergestalt daß, da nach der Bestimmung derartiger Arbeitsverträge der Ertrag der Arbeit zwischen Arbeiter und Brodherrn getheilt wird, von der ihm als Arbeiter zufallenden Hälfte des Ertrages der Arbeit in usancemäßiger Abtragung zu ersetzen.
Indem ........... durch seine Namensunterschrift solidarisch mit seinen Familiengliedern zur getreuen Erfüllung der contractlich eingegangenen Verpflichtung sich verbindlich macht, verpflichtet er sich ferner für sich und seine Familienglieder den gesetzlichen Befehlen seiner Brodherren oder deren bevollmächtigten Vertreter getreulich nachzukommen, und während der Dauer [362] des Contractes seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit dem ihm übertragenen Dienste zu widmen.
Hamburg, den ...ten 18...
für Erwachsene ........
" Kinder unter 10 Jahren à .......
Sollte man nun glauben, daß irgend ein Mensch, der nur
einfach lesen und denken kann, einen solchen „Contract“ unterschreiben
würde? – Aber derartige Leute können auch nicht denken,
und Thatsache ist, daß sich sämmtliche Familien auf das allein
hin, was ihnen in diesem Papier geboten wurde, entschlossen auszuwandern
und ihr Gepäck voraus in die Welt hineinschickten. In
diesem „Contract“ verpflichteten sie sich zu Allem, und ihnen selbst
wurde auch nicht einmal das Nothdürftigste garantirt. Wer z. B.
steht solchen Auswanderern dafür, die sich leichtsinniger Weise verpflichten,
ihre ihnen geschenkte Ueberfahrt auf Theil abzuarbeiten,
daß sie nicht einem Herrn überantwortet werden, der eben im Begriff
ist, eine neue Plantage anzulegen? Geschähe das, so könnten
sie Jahre lang Bäume und Büsche ausroden und dann Kaffeebäume
pflanzen und nach fünf bis sechs Jahren furchtbarer Arbeit
erst darauf rechnen, wirklich zu verdienen, denn daß sie für ihre
Arbeit bezahlt werden sollen, steht nicht in dem Contract, nur ein
Antheil an dem Verdienst ist ihre, und wenn nichts verdient wird,
geht ihre Arbeit, nutzlos für sie selber, fort.
Selbst der peruanische Sclave – denn trotzdem daß in Peru die Sclaverei aufgehoben ist, existirt sie noch hie und da unter einer etwas veränderten Form – hat nur vier Tage in der Woche für seinen Herrn zu arbeiten, und drei sind für ihn selber. Diese armen Deutschen machen sich verbindlich, „während der Dauer des Contractes ihre ganze Zeit und Aufmerksamkeit dem ihnen überwiesenen Dienst zu widmen.“ – Also kein Tag in der Woche gehört ihnen, nicht einmal der Sonntag, wenn ihr „Herr“ nicht will.
Aber wie lange dauert ein solcher Contract? Das ist eine Frage, die ihnen kein Mensch beantworten kann und die ganz von der Ehrlichkeit ihres Herrn abhängt. Will er sie aber hinhalten – wie das oft und oft geschehen ist – so kann er zehn und zwanzig Jahre und noch länger dauern, und Vater und Mutter und Kinder können darüber zu Grunde gehen.
Die gewaltsam aus einem Procerie-Vertrag befreiten Menschen, die ich in Brasilien sprach, waren zehn volle Jahre bei ihrem Herrn als Sclaven gewesen und, seinen Büchern nach, ihm noch bis über die Ohren verschuldet. Es hatte sich aber zufällig herausgestellt, daß er seine Bücher falsch geführt, daß er nicht den halben Preis eingetragen, den er für seinen Kaffee bekommen, daß er ihnen, was die Unglücklichen nun einmal zum Leben nothwendig brauchten, zu unverschämten Preisen berechnete, und anderes mehr, und den Gerichten wurden solche Beweise gegeben, daß sie zuletzt nicht mehr umhin konnten, die nur für ihre Passage zehn Jahr in Sclaverei gehaltenen Menschen zu befreien.
Diese Colonieen liegen meist alle weit im Inneren – selbst die, wohin die Wasunger Auswanderer geschafft werden sollten, lag nach Aussage des Agenten selbst vierzehn Tagereisen weit von der Küste entfernt. Dorthinein muß also Alles auf Maulthieren befördert werden, was selbst die einfachsten Bedürfnisse enorm vertheuert. Kleider, Branntwein, Tabak, Schuhwerk etc. muß der Arbeiter aber von seinem Herrn in der Zeit, in welcher er für ihn arbeitet, entnehmen, und wer will den Pflanzer controliren, wenn er dem armen Teufel fünfzehn oder zwanzig Thaler für ein paar Hosen ansetzt?
Ich sage nicht, daß das immer geschieht, aber es kann geschehen, und der Deutsche, der überhaupt im Ausland vollkommen schutzlos dasteht, ist nach Unterzeichnung eines solchen Contractes vollständig und rettungslos in der Gewalt seines Herrn und hat später Niemanden weiter anzuklagen, als seine eigene Dummheit, die ihn blind und toll in ein solches Dienstverhältniß hineinspringen ließ.
Außerdem weiß er noch nicht einmal, wie tief er in Schulden sinkt, bis er nur an Ort und Stelle kommt, denn die Transportkosten werden ihm gewissenhaft annotirt. Die Seereise läßt sich leicht berechnen, aber von dem Moment an, wo er den fremden Boden betritt, ist es vollständig unmöglich auch nur eine annähernde Berechnung fortzuführen. In dem Hafen angekommen, bleibt es nämlich total ungewiß, ja sogar sehr unwahrscheinlich, daß die nöthigen Maulthiere sogleich bei der Hand sind, eine solche Anzahl von deutschen Auswanderern mit ihren unpraktischen riesenhaften Koffern und Kisten zu befördern. Vielleicht hat außerdem die Regenzeit gerade eingesetzt, und die Wege sind grundlos.
Wochen, ja Monate lang liegen die Auswanderer solcher Art dann oft in einem ungesunden Hafenort, ehe sie befördert werden können, und zehren indessen auf ihre eigenen Kosten, denn was sie brauchen, gehört natürlich Alles mit zur Reise und wird ihnen allerdings gegeben, aber auch berechnet und vermehrt von Tag zu Tag ihre Schuldenlast. In diesem speciellen Fall that die meiningische Regierung wirklich Alles, was ihr noch zu thun übrig blieb, ja mehr, als wohl noch irgend eine Regierung gethan hat, denn gewaltsam zurückhalten konnte sie die Auswanderer nicht. Sie sandte aber auf eigene Kosten einen Beamten nach Hamburg, um sich dort mit den Behörden in Vernehmen zu setzen und den armen Teufeln wenigstens jede Sicherstellung zu geben, die bei einem solchen Privatcontracte möglich war. Dort stellte es sich auch heraus, daß es die Auswanderer in diesem Fall, wie es schien, mit ordentlichen Leuten zu thun hatten, und auch der Expedient, Aug. Bolten, ein Mann sei, der sich von allen nicht reellen Geschäften fern halte. Es wurde mir geschrieben, daß seine Betheiligung an diesem Unternehmen schon eine Gewähr dafür gebe, daß man es nicht mit einem der schmutzigen Geschäfte zu thun habe, die mit Recht in der letzten Zeit die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätten.
Was aber wußten die Auswanderer in Wasungen davon, mit wem sie es dort zu thun bekamen, wem sie in die Hände geliefert wurden, als sie ihr Gepäck nach Hamburg schickten und ihm selber folgten und sich dadurch den Rückweg in die Heimath vollständig abschnitten? Eben so leichtsinnig werden aber noch in jedem Monat, in jeder Woche fast in Deutschland ähnliche Contracte abgeschlossen, ähnliche Trupps von Unglücklichen auf’s Gerathewohl in die Welt hinausgeschickt, nur zu oft dem Elend preisgegeben, und nicht eher wird dem ein Ende gemacht werden, bis man nicht daheim die Auswanderungsagenten selber durch Cautionen zwingt, für Alles das, was sie den Auswanderern versprochen, auch mit ihrem eigenen Vermögen einzustehen. Daß dann die meisten dieser Herren zu Grunde gehen würden, ist vorauszusehen, aber einem großen Krebsschaden unserer socialen Verhältnisse wäre jedenfalls damit abgeholfen.
Die Sendung der meiningischen Regierung hatte aber auch noch außerdem einen directen Erfolg für die Auswanderer, denn während dieselben, diesem Contract nach, nach irgend einem Punkt der Provinz San Paulo geworfen, irgend einem der dortigen Pflanzen- oder Sclavenhalter überliefert werden konnten, erwirkte der Bevollmächtigte für sie die Uebersiedelung nach der Plantage eines Mannes, auf der sich schon Verwandte von ihnen befanden, die sich, ihren Briefen nach, wohl befanden, und machte es ausdrücklich zur Bedingung, daß die ihnen etwa erwachsenden Kosten einer unverschuldeten Verzögerung im Hafenplatz nicht angerechnet werden durften.
Ganz unmöglich ist es, von hier aus durch einen Contract die Stellung der Arbeiter zu ihren Brodherrn zu regeln, denn die anscheinend klarsten und einfachsten Aufstellungen lassen sich, wenn der Wille dazu da ist, leicht umgehen oder gerade in das Gegentheil verkehren. Ich habe ein ähnliches Beispiel schon früher in der Gartenlaube erwähnt, wo den Arbeitern von einem dortigen Pflanzer ein Stück Land zu eigener Bearbeitung zugesichert war, das sie im Urwald angewiesen bekamen, und das sie, als sie es urbar gemacht und zwei Jahre benutzt hatten, wieder hergeben mußten, um auf’s Neue, angeblich für sich, in Wirklichkeit aber für ihren Herrn, eine neue Strecke auszuroden. Es soll übrigens jetzt von der brasilianischen Regierung ein Gesetz erlassen sein, das diese Arbeiterverhältnisse regelt, und sobald ich es bekommen kann, werde ich es Ihnen mittheilen.
Meiningen ist noch außerdem den anderen Regierungen darin mit einem guten Beispiel vorangegangen, daß allen Agenten bei Vermeidung der Concessionsentziehung untersagt ist, Auswanderer auf derartige Procerieverträge zu befördern, und das ist vor der Hand das einzige Mittel, diesem Unwesen zu steuern, so lange nicht von einer deutschen Centralgewalt deutsche Auswanderer geschützt [363] werden können. Das Unding des deutschen Bundes kann dabei natürlich nicht in Betracht kommen.
Ich will gar nicht leugnen, daß solche Procerieverträge in sehr vielen Fällen zum Segen und Gedeihen des Auswanderers ausschlagen können, und daß er, wenn er es mit einem rechtlichen Brodherrn zu thun bekommt, selbst vollständig mittellos sein Vaterland verlassen und sich in einem anderen Welttheile eine gesicherte Existenz gründen kann. Aber wer bietet ihm hier die Sicherheit, daß er es mit einem redlichen Manne zu thun bekommt? wer kann ihm in einem solchem Fall, wo er auf eigene Hand einen Privatcontract abschließt, garantiren, daß er nicht auf Schritt und Tritt betrogen wird, während er durch seine Familie schon an den Fleck gebunden und machtlos der Willkür seines Brodherrn preisgegeben ist?
Er darf sich auch die Verhältnisse des dortigen Landes selbst nicht einmal nur annähernd so denken wie die unsrigen. Er weiß noch nicht, was es heißt, vierzehn Tagereisen weit im Inneren eines wilden Landes zu sitzen, dessen Sprache er nicht einmal spricht, dessen Regierung ihn nicht schützen kann, sobald er selber freiwillig einen Privatcontract unterzeichnet hat, selbst wenn die dortigen Richter und Pflanzer nicht eigene Interessen hätten und eng befreundet wären und einander, eines deutschen Sclaven wegen, wahrlich Nichts zu Leide thäten.
Die Versprechungen hier klingen allerdings verlockend genug. Es liegt schon darin ein eigener Reiz für den armen Mann, daß er sich dort Kaffee und Zucker – hier oft unerreichbare Luxusgegenstände für ihn – selber bauen kann. Andere Lockmittel kommen dazu, Vieh und Hühner, ein eigen Hans und eigen Land, und mit dem Ziel vor Augen hält er alles Andere für Kinderspiel. – Er kann das auch in der That in fremden Welttheilen Alles erreichen, aber er muß es nur vernünftig anfangen und sich von vorn herein nicht selber die Hände binden, sonst darf er sich nachher auch nicht beklagen, wenn er sich und seine Familie dem Unglück preisgiebt.
Vor Allem möchte ich aber auch die deutschen Regierungen besonders darauf aufmerksam machen, daß sie das Verfahren nicht dulden, das durch die Agenten gegen die armen unwissenden Auswanderer angewandt wird, hinsichtlich der Unterzeichnung eines solchen Contracts.
Man läßt sie nämlich nicht etwa in ihrer eigenen Heimath einen solchen Contract unterschreiben, wo es ihnen noch möglich wäre zurückzutreten, wenn ihnen die einzelnen Bedingungen nicht gefallen. – Nein, das geschieht erst in der Hafenstadt. Der Auswanderer[WS 1] muß daheim erst sein geringes Besitzthum, was er vielleicht noch hatte, sein weniges Hausgeräth verkauft und seine übrigen Sachen verpackt und nach dem Hafen geschickt, wie mit dem letzten zusammengerafften Geld seine eigene Passage dorthin bezahlt haben – dann erst wird ihm der Contract dort vorgelegt, und er muß ihn jetzt unterschreiben, was ihm auch darin zugemuthet wird, denn er kann nicht mehr zurück. Die Brücke ist hinter ihm abgebrochen und er rettungslos den Händen derer überantwortet, die seine Beförderung übernommen haben.
Viel Unheil könnte von den deutschen Auswanderern auch abgewandt werden, wenn sich die deutschen Regierungen nur wenigstens dahin vereinigen wollten, in den Haupt-Hafenplätzen einen einzigen, von ihnen gemeinsam besoldeten und unabhängig gestellten Mann zu halten, der die Auswanderung überwachte und besonders diese Contracte controlirte. Die Regierungen fremder und überseeischer Länder könnten dann auch leicht dahin vermocht werden, mit diesen einzelnen Generalbevollmächtigten in Verbindung zu treten und sie mit allen den auf die dortige Einwanderung bezüglichen Gesetzen und Verordnungen, Erleichterungen und Begünstigungen bekannt zu machen.
Fremde Regierungen haben nämlich stets ein wirkliches Interesse an der deutschen Einwanderung und wünschen selber, daß es den deutschen Einwanderern in ihrem Lande gut gehe, damit sie mehr und mehr von ihren Verwandten und Freunden nachziehen mögen. Uebervortheilungen und Betrügereien gehen nie von den Regierungen aus – mir ist wenigstens kein einziges Beispiel bekannt – sondern immer nur von Privatpersonen und Agenten, die den Auswanderer als Werkzeug betrachten, um sich selber zu bereichern. Gegen solche Privatspeculationen brauchen derartige Leute deshalb auch nur geschützt zu werden, und man kann sie ihrem Schicksal und eigenen Fleiß dann ziemlich ruhig überlassen.
In den meisten Hafenstädten, besonders in Hamburg und Bremen, ist indessen ein Nachweisungsbureau der Auswanderer-Behörde errichtet worden, worin den Auswanderern unentgeltliche Auskunft über Alles ertheilt wird, was sie in Betreff der Auswanderung selber zu wissen wünschen. Für Hamburg befindet sich dies Nachweisungsbureau auf dem Bahnhof der Berlin-Hamburger-Eisenbahn und an der Landungsbrücke der Harburger Dampfschiffe, und in Bremen, wenn ich nicht irre, ebenfalls auf dem Bahnhofe.
Dort sind Beamte zum Schutz und Rath der Auswanderer den ganzen Tag stationirt; die ewige Klage aber ist, daß sie so wenig in Anspruch genommen werden, und entweder wissen die Auswanderer nicht, daß sie dort Leute treffen, die sich ihrer uneigennützig annehmen, oder – sie sind auch wohl von anderer Seite, aus leicht zu errathenden Gründen, vor solchen Bureaux gewarnt worden.
Im Interesse der Auswanderer liegt es nun ganz besonders, sie auf diese Nachweisungsbureaux in den deutschen Hafenstädten aufmerksam zu machen und ihnen wieder und wieder zuzurufen, derartige Plätze aufzusuchen. Sie erfahren dort nicht allein, wo sie am besten und billigsten logiren können und zu welchem Preis, sondern auch was die Bedürfnisse kosten, die sie auf der Seereise brauchen, was sie für den Transport ihres Gepäcks zu zahlen haben etc. etc. Außerdem werden den Auswanderern nicht allein gedruckte Rathschläge für ihr Verhalten bei der Ankunft an überseeischen Landungsplätzen gegeben, sondern die Beamten sind ihnen auch zur raschen Erledigung etwaiger Beschwerden behülflich. Wünschenswerth wäre es, wenn sich unsere deutschen „Gerichtsschreiber“ und andere Unterbeamte, die es besonders auf dem Land und in kleinen Städten mit den Auswanderern zu thun haben, der Sache ein wenig annähmen und die Abreisenden auf diese Nachweisungsbureaux ernstlich aufmerksam machten. Es ist ja doch das Einzige, was sie ihren bisherigen Landeskindern mitgeben können: einen wirklich guten Rath.
Ganz genau das Gegenstück zu diesen Procerieverträgen bilden in neuerer Zeit einige Ankündigungen in kleinen Städten, die zur Auswanderung nach Australien mit vollkommen freier Passage und ohne weitere Verbindlichkeit einer irgend zu leistenden Arbeit auffordern. Mit der „vollkommen freien Passage“ ist es nun allerdings nicht so ganz richtig, denn 5 Thaler Handgeld für den Agenten und andere Spesen fallen allerdings noch davon ab, wie außerdem die Reise bis zum Hafenplatz und die Einrichtung an Bord, was sich, der Angabe nach, auf circa 25 Dollars per Person beläuft, aber selbst damit bleibt die Verlockung noch eine große für den armen Mann, der sich hier in Sorgen und Noth herumquält und der plötzlich eine Gelegenheit geboten bekommt, verhältnismäßig sehr billig nach einem fernen Welttheil auszuwandern und damit der Sorgen daheim frei und ledig zu werden. Und doch möchte ich allen denen, die hier auch nur noch die Möglichkeit haben, sich zu erhalten, abrathen, selbst unter solchen Bedingungen nach Australien zu gehen.
Ich will ihnen einfach sagen weshalb. Australien ist seit der Entdeckung des Goldes das Ziel von Tausenden von Auswanderern gewesen, und noch jetzt suchen es Viele auf und befinden sich wohl dort. Weshalb aber bietet man da noch deutschen Arbeitern freie Passage? – Weil die Stationshalter dort an einzelnen abgelegenen Stellen in Busch und Wildniß keine Arbeiter freiwillig bekommen können, und nun zu diesem Mittel ihre Zuflucht nehmen. Der Einwanderer hat, dort angekommen, keine Verpflichtung weiter, als sich selber am Leben zu erhalten, aber um das zu thun, muß er Arbeit suchen, und an der Stelle, wo er gelandet wird, findet er die nur bei den dortigen Stationshaltern. Fort von da kann er nicht wieder ohne Mittel. Eine Fußwanderung in jenem Welttheil, aus einem District in den andern liegt außer jeder Möglichkeit, die Schiffe nehmen ihn nicht wieder mit fort, und er muß also dort gerade aushalten und Schäfer oder Hüttenwächter werden.
Oft und oft habe ich schon das elende Leben dieser Art Leute geschildert, zu denen der Deutsche nun einmal vor allen anderen Nationen gar nicht paßt, und bringt er gar Familie mit, so möchte die Frau im einsamen „Busch“ drinnen mit den Kindern gar verzweifeln. Aber es bleibt ihm, wie gesagt, nichts Anderes übrig, und er ist gezwungen, eine solche Stellung für sich und die Seinen anzunehmen und darin auszuhalten, bis er sich selber nach Jahren genug verdient hat, von dort wieder fortzukommen und in [364] bevölkerten Districten ein neues Leben zu beginnen. Er ist dort allerdings nicht der Gefahr ausgesetzt, von betrügerischen Pflanzern hintergangen und übervortheilt zu werden. Der englische Stationshalter giebt ihm den festen bestimmten Preis für seine Arbeit – etwa 24 Pfund Sterling jährlich und seine Ration an Mehl, Thee und Zucker, aber er wird sich trotzdem elend und unglücklich fühlen und die Stunde segnen, wo er jenen Ort wieder verlassen kann.
Australien ist auch kein Ziel für unsere deutschen Auswanderer, denen besonders daran liegt, sich mit geringen Mitteln ein kleines eigenes Besitzthum zu gründen. Das billigste Land dort, das von der Regierung abgegeben wird, kostet 1 Pfund Sterling, nicht ganz 7 Thlr. der Acker, und für den Preis sind nur große Strecken zu haben. Wo das Land irgend etwas werth ist, wird es auf das Vier-, Sechs- und Zehnfache hinaufgeschraubt, und der Deutsche bezahlt dort für ein paar Acker sehr mittelmäßigen und wasserarmen Boden den nämlichen Preis, wofür er in irgend einem Theil des südlichen Amerikas eine schöne fruchtbare Besitzung kaufen könnte – das noch gar nicht gerechnet, daß er in Australien am anderen Ende der Welt sitzt und wenigstens fünf Monate gebraucht, nur um an Ort und Stelle zu kommen.
Wer auswandern will, mag sich irgend einen Staat im südlichen Theil von Südamerika aussuchen, Chile, La Plata, Uruguay, Süd-Brasilien, ja selbst die Hochebenen um Ibarra und Quito in Ecuador würde ich für meine Person Australien vorziehen. Aber zehn und zwanzig Mal mögen es sich Alle überlegen, ehe sie hier in Deutschland einen Contract unterzeichnen, der sie irgend einem Pflanzer in Brasilien als Arbeiter überliefert.
Verschiedene Mittheilungen in den Berliner Zeitungen über das neue Engell’sche Schul- und Salon-Mikroskop und die neueste Sammlung mikroskopischer Präparate von Kalk-, Kiesel- und Chitin-Gebilden der niederen Seethiere hatten vor einiger Zeit lebhaftes Interesse erregt. Es ging daraus hervor, daß das neue Mikroskop ebenso populär wie das Stereoskop
werden müsse, ja dasselbe noch übertreffen werde, da es namentlich zu Schul- und Unterrichtszwecken benutzt werden könne. Wir kamen bald in den Besitz des Instruments und der neuen Präparaten-Sammlung, und hier erschloß sich uns ein solcher Reichthum von uns bisher unbekannten zierlichen Gebilden und wunderbaren Organismen der niederen Seethiere, daß wir uns veranlaßt sahen, mit einem gründlichen Kenner und Forscher über das Wesen und die Lebensweise jener Thiere in eine ausführlichere Correspondenz zu treten, aus der wir unseren Lesern das Interessanteste in diesen Blättern mittheilen werden.
Das neue Mikroskop, in der Form eines kurzen Fernrohrs, mit breitem Fußgestell, enthält in dem letzteren einen beweglichen sphärischen Spiegel, zur Beleuchtung opaker Gegenstände. Zwischen dem Spiegel und dem innern vorspringenden Rande wird die Glasplatte, welche in der Mitte das mikroskopische Präparat trägt, leicht mittelst einer verborgenen Spiralfeder eingeklemmt. Man schiebt dann das Mikroskoprohr möglichst nahe an die Glasplatte und rückt das Präparat selbst genau über die Mitte der Objektiv-Linse. Dann hält man das Instrument wie ein Opernglas vor das Auge, richtet es gegen das Fenster- oder Lampenlicht, und schiebt oder dreht nun, wie beim Fernglase, das Rohr in die für das Auge passende Stellung, bis das Präparat klar und deutlich hervortritt. Dann kann das Mikroskop in größeren Kreisen von Hand zu Hand gehen, und Jeder von seinem Platze aus an der Besichtigung theilnehmen, während der Vortrag oder die Unterhaltung ungestört ihren Fortgang hat.
Somit wird nun das Mikroskop aus den Zimmern der Gelehrten auch in die Schulen und in die geselligen und Familien-Kreise verpflanzt werden, um so mehr, als schon Kinder von sechs bis acht Jahren sich auf den Gebrauch bald einüben und der Preis der Mikroskope bei der einfacheren Einrichtung bedeutend billiger als bisher gestellt werden kann. Ueberdies kann man das Mikroskop leicht in der Tasche mit sich tragen.
Das neue Instrument ist hauptsächlich zur Besichtigung fertiger mikroskopischer Präparate bestimmt. Soll dasselbe aber nicht nur zur Befriedigung augenblicklicher Neugier, sondern zur wirklichen Aneignung und Verbreitung gründlicher naturhistorischer Kenntnisse dienen, so muß man sich zugleich in den Besitz systematisch und wissenschaftlich geordneter Sammlungen fertiger Präparate setzen.
Bis jetzt ist das mikroskopische Institut von Engell u. Comp. das einzige, welches solche Sammlungen aus allen Classen des Thier- und Pflanzenreiches mit beschreibenden Verzeichnissen und Broschüren zum Verkauf herausgegeben hat.[11]
Die neueste Sammlung von Kalk- und Kiesel-Gebilden niederer Seethiere ist es, die uns hier näher beschäftigen soll. Wir kannten die Polypen, Seesterne, Seewalzen, Bryozoen und ähnliche Thiere früher nur aus Zeichnungen oder in getrockneten und zusammengeschrumpften Exemplaren. Seit einigen Jahren werden uns dieselben lebend in den schönen Aquarien der zoologischen Gärten in Paris und London gezeigt, aber hier, in den mikroskopischen Präparaten tritt uns erst die wunderbare Mannigfaltigkeit von krystallhellen Organismen, von Saugfüßchen und Greifzangen, von Ankern und Rädern, von Sternen und Ornamenten vor das Auge, die uns eine ganz neue Welt von zierlichen und farbigen Gebilden aufschließen. Doch zur Sache.
Sie wünschen von uns Näheres über die Synapten zu erfahren, welche sich der Anker schon längst vor Erfindung der Schifffahrt bedienten, und über die Chirodoten, welche Tausende von krystallenen Locomotivrädern auf einmal in Bewegung setzen. – Wir ersuchen Sie, uns an das Inselgestade von Varignano in dem Meerbusen von Spezzia zu begleiten. Lagern wir uns dort auf eine der Felsenplatten, die aus dem ruhigen Becken des Meeres hervorragen, dessen sandiger Boden von Algen und Florideen bedeckt ist. Da wimmelt es von Seesternen, Seeigeln und trägen Seewalzen, die langsam tastend ihre Saugfüßchen und Tentaclen ausstrecken. Eine prächtige Seeanemone entfaltet in schimmernder [365] Farbenpracht ihren Kranz von Fühlfäden und läßt uns nicht Zeit auf den Regenwurm zu achten, den alten Bekannten vom Festlande her, der sich mit seiner gemeinen Gestalt unter diese farbenprangenden, beweglichen Gebilde drängt. Aber was ist das? Welche Verwandlung geht mit dem unscheinbaren Wurme vor? Er schwillt an, er wird größer und größer. Ein Kranz von weitverzweigten blattförmigen Fühlern tritt aus dem Mundwerk hervor und bewegt sich tastend hin und her. Er sammelt Nahrung im Sande und führt sie der Mundhöhlung zu. Der dürftige Leib wird ein weiter rosenfarbener Schlauch, durch dessen Haut, wie durch eine feine Gaze, die thätig arbeitenden Eingeweide deutlich durchscheinen. Fünf weiße Muskelstreifen ziehen sich vom Kopf bis zum unteren Ende des Thieres hinab, das bald eine Länge von 1½ Fuß und einen Durchmesser von fast einem Zoll erreicht. Jetzt schnüren sich die Muskelbänder an einer Stelle des Leibes zusammen und dehnen sich wieder aus. So hebt sich das zarte Geschöpf höher und höher und bald wiegt es sich leicht und schwebend im Wasser hin und her. Beugen wir uns leise näher zu ihm nieder. Die glasartig durchscheinende Haut gönnt uns einen Blick in das Innere. Wir sehen Muscheln und Steinchen langsam durch den Verdauungscanal niedergleiten und ihn oft von der verschlungenen Beute knotig anschwellen.
Jetzt nähert sich das Thier den breiten Blättern der Alge und heftet sich plötzlich mit einem Theile des Körpers fest an das Blatt. Nun ist es Zeit es zu fangen. Wir haben Dich, Synapta! Wir strecken unsern Hakenstock aus, wir ziehen das lange bewegliche Blatt langsam zu uns heran, wir heben es dann rasch aus dem Wasser an’s Land. Die Synapta haftet noch fest daran, aber sie schrumpft wieder zu dem unscheinbaren Wurme zusammen, der bei der ersten Entdeckung zwischen Sand und Steinen hervorkroch. Der Fühlerkranz ist eingezogen, der rosenfarbene Schlauch, die weißen Emailstreifen sind verschwunden, aber indem wir das Thier ergreifen und vom Blatte trennen wollen, bleibt uns ein Stück desselben in der Hand, das andere am Blatte zurück, von dem wir es nur mühsam losreißen und die zerstückelte Beute zu unsern andern Schätzen in ein Gefäß mit Seewasser legen, um es daheim mikroskopisch zu untersuchen.
Die nebenstehende Zeichnung der Synapta ist von der kundigen Hand des bekannten Pariser Naturforschers de Quatresages nach dem Leben entworfen, aber das wunderbar zarte, glasartig durchscheinende Geschöpf selbst vom leichten Roth mit seinem vielverzweigten Fühlerkranze bleibt unerreichbar für den Zeichner. – Bringen wir nun ein Stück der Haut des Thieres unter das Mikroskop. Da sehen wir auf einer Fläche von wenigen Linien im Quadrat, für das bloße Auge kaum als staubfeine Punktirungen erkennbar, in regelmäßigen Reihen 30–40 Krystallanker, deren jeder mit einem zierlich gegitterten Gestelle verbunden ist. Wenn wir die Haut auf chemischem Wege auflösen, so bleiben die Kalkkörperchen, welche in der Haut abgelagert sind, die Anker und Gestelle, glashell zurück und zeigen unter dem Mikroskope die Gebilde auf der nebenstehenden Zeichnung. Zunächst ziehen die Anker unsere Aufmerksamkeit auf sich. Die elegante und schöne Form dieser von der Natur auf eine einzelne Synapta zu Tausenden vertheilten Haftorgane übertrifft bei weitem die vom schöpferischen Menschengeiste zu ähnlichen Zwecken, zu Haftwerkzeugen im Meere, erdachten Schiffsanker. Ihr cylindrischer Stab ist nach unten eine Strecke weit leicht angeschwollen, um dann wieder verdünnt in die Handhabe auszugehen. Diese fällt durch ihren convexen gezähnelten Rand auf. Am oberen Ende des Ankers befindet sich stark gekrümmt der Bogen. Sein Außenrand ist oft glatt, oft in der Mitte oder gegen die Spitze hin mit feinen Zacken, vergleichbar den Zähnen einer Säge, besetzt. Man begreift leicht, wie es dem Thiere möglich wird, sich mit Hunderten von diesen Ankern zugleich so fest an einen Gegenstand zu heften, daß auch der stärkste Wellenschlag es nicht loszureißen vermag. Mit dem untern Theile des Stieles, der gezackten Handhabe, greift der Anker in die Löcher des hinteren Theiles der Krystallplatte ein, die wir neben dem Anker gezeichnet sehen. Bei den meisten Arten der Synapten erhebt sich über den hinteren Theil der Gestelle oder Platten ein Bügel, unterhalb dessen der Anker in die Locher eingreift, offenbar dazu bestimmt, den Anker in einer schrägen festen Richtung zu erhalten.
Wir haben bis jetzt neun verschiedene Arten von Synapten untersucht und bei jeder Art anders geformte Anker und Platten gefunden, die bei den größten Arten schon mit bloßem Auge erkennbar sind, weil sie eine Länge von einer Linie erreichen. Die größten Arten leben im indischen Ocean und werden mehrere Fuß lang. Häufig sind zwischen den Ankern viele unregelmäßig, oft sternförmig geformte kleinere Kalkgebilde abgelagert. Noch bei weitem zierlicher und bis in die feinsten Details kunstvoll ausgearbeitet sind die Kalkräder der den Synapten verwandten Chirodota, über die wir uns in einem andern Briefe mit Ihnen unterhalten werden.
Mit dem Jahre 1830 wurde die alte Ruhe der Welt zu Grabe getragen. Auf die Juli-Revolution folgte die belgische, dann die polnische Erhebung, beide die Trennung aus den unnatürlichen Banden erstrebend, in welche die Diplomatie sie geschmiedet hatten. Während Belgien, durch das Bürgerkönigthum unterstützt, seinen Zweck erreichte und unter dem gewählten Könige zu einem wahren Musterstaate sich ausbildete, unterlag das unglückliche Polen, von Europa verlassen, seinen Erbfeinden, denn die Regierungen von Oesterreich und Preußen, auf altes Unrecht neues häufend, halfen das unglückliche Land wieder in die alten Fesseln schlagen und überlieferten es der Rache seines Feindes. Diese Schuld trifft aber nur die Cabinete – die öffentliche Meinung hielt es mit dem verfolgten Rechte, und die polnischen Flüchtlinge, welche so glücklich waren, der russischen Rache zu entrinnen, wurden von dem deutschen Bürger überall mit offenen Armen aufgenommen.
Das bisher so stille und ruhige Deutschland wurde durch alle diese Begebenheiten nicht wenig aufgeregt: der deutsche Michel erinnerte sich wieder lebhaft, daß noch nicht alle Versprechungen erfüllt seien, welche ihm feierlich geleistet waren, und es gährte heftig vom Fuße der Alpen bis zu den Dünen der Nordsee, so daß Polizei und Bureaukratie gewaltig beschäftigt waren, einen Ausbruch zu verhüten und die aufgeregten Gemüther nach und nach wieder zu beruhigen. Aber während äußere Ruhe nach und nach wiederkehrte und die Streitpunkte nur noch auf den Rednerbühnen der deutschen Ständekammern, wo solche bestanden, und in den Spalten der liberalen Presse, soweit die Censur dies gestattete, erörtert wurden, gährte es unter der Oberfläche desto heftiger fort, und die neuen Ideen waren tiefer gedrungen, als die äußerliche Ruhe vermuthen ließ. Der 20. März 1833 schreckte die Machthaber auf: der verunglückte Angriff auf die Constabler-Wache in Frankfurt a. M. zeigte plötzlich, daß es noch Leute in Deutschland gebe, welche im Nothfall entschlossen waren, ihr Leben für ihre Ueberzeugung und für die gehoffte Freiheit hinzugeben.
Vergebliches Bemühen! Der kleine Haufen unterlag, und die jetzt beginnende Untersuchung entdeckte, wie der spätere Bericht sagte, eine weitverzweigte Verschwörung zum Umsturz der gegenwärtig bestehenden Zustände und Errichtung einer deutschen Republik! Auch nach dem gesegneten Würtemberg war das Gift dieses revolutionären Geistes gedrungen und hatte neben vielen Belialssöhnen aus allen Ständen und Altern sogar unter dem Militär Theilnehmer gefunden, ja ein Officier des königl. Armeecorps stand an der Spitze der Würtemberger Verschwornen, welche, nach der officiellen Darstellung, nichts Geringeres im Sinne hatten, als in Würtemberg die Republik zu proclamiren und bei etwaigem Widerstande Stuttgart niederzubrennen, als warnendes Beispiel für Alle, welche der neuen Bewegung sich widersetzen sollten!
Ein unruhiges, geheimnißvolles Treiben regte die sonst so zufriedenen Gemüther der guten Schwaben auf: Feldjäger trabten in der Stille der Nacht durch die Dörfer, Befehle gingen und kamen zwischen den Garnisonstädten in rascher Folge, und irgend ein ungeheures Ereigniß schien bereit, über die Welt hereinzubrechen – da kreißte der Berg, und das erstaunte Land erfuhr die Verhaftung des Oberlieutnants v. Koseritz und ungefähr eines Dutzends
[366] Soldaten und Unterofficiere, so wie einer Anzahl Civilisten, welche nichts Geringeres beabsichtigt hatten, als die Schwaben zu Republikanern zu machen.
Der Proceß wurde sehr geheim verhandelt, über seine Ergebnisse verlautete wenig im Publicum, aber die Untersuchung, obschon sie zwei Jahre dauerte, wurde menschlich geführt, und Würtemberg hielt seine Hände rein von den Schändlichkeiten, die damals einige deutsche Regierungen gegen die gefangenen Republikaner zuließen, und welche des Zeitalters der Hexenprocesse und der Folter würdiger waren, als einer deutschen Regierung des 19. Jahrhunderts. Armer Weidig! Deine Martern zeugen lauter gegen geheimes Inquisitions-Verfahren, als alle Schriften gelehrter Verfasser, und die Möglichkeit, daß in unserer Zeit so etwas geschehen konnte, wirft das grellste Licht auf die damaligen deutschen Zustände. Sorgen wir dafür, daß sie niemals wiederkehren!
Zwei Jahre waren vorüber gegangen – der Proceß war zu Ende, das Urtheil sollte gefällt sein, aber Niemand wußte etwas Näheres über die Vollziehung desselben. – Am Abend des 23. April – flüsterte mir ein Nachbar die Nachricht in’s Ohr: Morgen früh soll Koseritz erschossen werden! Das Wetter war schön, Ludwigsburg nur zwei Stunden entfernt, und ich war fest entschlossen, diese Execution mit anzusehen.
Lange vor Tagesanbruch des 24. befand ich mich auf dem Wege; es war noch völlige Nacht, als ich durch den Haardtwald ging. Zu meinem Erstaunen traf ich nur auf einen einzigen Mann, den der gleiche Zweck denselben Weg trieb. Man merkte es: es war eine politische Hinrichtung und daher möglichst geheim gehalten worden. Der Tag brach an, als wir in Aldingen den Neckar passirten, und nachdem ich mich durch ein Glas Wein und einige frische Eier gestärkt hatte, wanderte ich ganz einsam die Straße nach Ludwigsburg entlang, denn auch in der nächsten Umgegend rührte sich Niemand. Der Weg führte am großen Exercirplatze vorbei, und ein leises Grauen umzog mein Herz, als dort hinten auf dem weiten öden Platze zwei frisch aufgeworfene Gräber in meine Augen fielen und plötzlich die traurige Katastrophe vor meinem Blicke auftauchte, welche in wenig Stunden den jetzt so stillen und leeren Platz in eine Schaubühne voll Leben und Aufregung verwandeln und zwei Männer – in der Blüthe ihrer Jahre – in ein blutiges Grab betten sollte. Denn zwei Todesurtheile sahen heute ihrer Vollstreckung entgegen; außer Oberlieutnant von Koseritz war auch Feldwebel Lehr zum Tode des Erschießens verurtheilt, und dort unten beschien die aufgehende Sonne ihre harrenden Gräber.
Trotz der so frühen Tageszeit war das Thor in Ludwigsburg bereits von Militär besetzt, welches Niemand passiren ließ. Jetzt galt es, mit Geduld die vier bis fünf Stunden zu warten, bis die Execution beginnen sollte. Die entzückende Lage des Salon-Waldes verwandelte diese Stunden in Minuten. Wohl lag hier im Thale vor mir der große leere Exercirplatz mit seinen zwei einsamen offenen Gräbern; aber darüber hinaus schweifte der Blick – so muß ein Sterbender in die seligen Gefilde jenseits schauen – auf eine herrliche weite Landschaft mit reichen Fluren, grünenden Wäldern und einer Menge Dörfer, die im Halbkreise umher im hellen Sonnenlichte glänzten. – Dort winke rechts in herrlicher Beleuchtung die Solitude herunter, und über dem Nebel, der die Lage der Residenz kennzeichnete, erblickten wir die weißen Häuser von Degerloch, über das die waldigen Höhen der Alp herüberragten, flankirt von ihren starken Vorwerken, Achalm und Teck und Hohenneussen, dessen gewaltige Mauern hell in der Morgensonne glänzten. – Gerade vor uns erhob sich die Capelle auf dem rothen Berge, zu deren Füßen, wie eine Heerde um ihren Hirten, sich die blendend weißen Häuser des Dörfchens Rothenberg lagerten. – Daran reihten sich die Hügel des Remsthales und des Schurwaldes, über welche der Hohenstaufen ernst herüberblickte und deren fernste Ausläufer der Hohenkuhberg und der Rosenstein bei Heubach bildeten. Die rebenbepflanzten Hügel von Kleinheppach und Korb lagen offen da vor unsern Blicken, wie die bewaldeten Höhen des Hohreusches, und das ganze Panorama von Hügeln und Thälern, Wäldern und Dörfern, Felsen und Burgen breitete sich vor unsern Blicken wie ein Gemälde aus, getaucht in Sonnenglut und Frühlingsluft.
Aber der Mittag nahte, und die frühere Einsamkeit war einem regen Getümmel gewichen, das sich wartend umhertrieb. Landleute aus den nahen Dörfern fanden sich nach und nach zahlreich ein und besetzten die Seiten der Straße, auf welcher sich der Zug bewegen sollte. Die Militärwache am Thore war indessen von einem Zug Bürgermilitär abgelöst worden, welches Niemand mehr zurückwies, sondern Jeden passiren ließ, der den letzten Act ansehen wollte, wodurch die Verurtheilten aus dem bürgerlichen und militärischen Verbande gestoßen werden sollten! Dieses empörende Schauspiel reizte mich nicht; wie kann ein vorurtheilsfreies Herz gleichgültig zuschauen, wenn junge Männer, welche keine entehrende Handlung begangen hatten, unter schimpflichen Ceremonien ihrer Strafe überantwortet, wenn ihnen die Abzeichen ihres Standes mit roher Hand vom Leibe gerissen und mit Füßen getreten werden! Dies ist ein Anblick für den Mob, mag er im Zwilchkittel oder in Glacéhandschuhen zu dem abstoßenden Schauspiele sich eingefunden haben. –
Endlich war die traurige Ceremonie zu Ende; man konnte es aus der durch das Thor herausfluthenden Menge schließen, welche in endlosem Zuge vorüberströmte, dem großen Exercirplatze zu, der in zwei- bis dreihundert Schritten Entfernung ausgebreitet zu unsern Füßen lag und dessen drei freie Seiten sich immer dichter mit dem zudringenden Volke füllten. Die vierte Seite durfte nicht besetzt werden, da die Kugeln der Todesschützen dorthin flogen.
Jetzt naht sich der Zug – und ein stattlicher war es, der die beiden Hauptverbrecher auf ihrem letzten Gange begleitete. Voraus zog ein Reiterregiment in voller Ausrüstung, hierauf der Gouverneur von Ludwigsburg, umgeben von seinem Stabe, und hinter ihm ein Regiment Infanterie. Jetzt wieder ein Zug Reiterei, und dann, in der Chaise neben dem Geistlichen sitzend, die Hauptperson des heutigen Dramas, Oberlieutnant von Koseritz. Wahrlich, wer nicht wußte, was dieser feierliche Zug bedeute, der konnte beim Anblick des Fuhrwerks unmöglich denken, daß der Mann, der da neben dem geistlichen Herrn saß, in wenigen Minuten einem schnellen Tode verfallen sei. Koseritz saß in aufrechter Haltung neben seinem Seelenhirten; seine glatten Wangen waren mit einem etwas starken Roth überhaucht, und das schwarze Bärtchen auf der Oberlippe gab dem jugendlichen Gesichte einen etwas kecken Ausdruck. Seine Hände, mit Glacéhandschuhen versehen, begleiteten in anmuthigen Bewegungen das Gespräch, das er mit seinem Nachbar führte, und nichts ließ ahnen, daß die beiden Leute in der Chaise ein zum Tode Verurtheilter und sein Beichtvater waren. –
Einen desto grelleren Gegensatz hierzu bildete das zweite Gefährt, welches den Feldwebel Lehr seinem letzten Augenblick entgegentrug. Der Mann gewährte einen wahrhaft bedauernswürdigen Anblick: die Blässe des Todes auf seinem entstellten Antlitze, lehnte er geschlossenen Auges und hängenden Hauptes in seinem Sitze, ein trauriges Bild von Todesangst und Hoffnungslosigkeit. Der neben ihm sitzende Geistliche verschwendete seinen Trost an taube Ohren, denn Lehr schien alle Besinnung verloren zu haben und seinem letzten Augenblick ohne klares Bewußtsein entgegenzugehen. Sie waren vorüber, und die Menge drängte eifrig nach, um keinen Blick von dem interessanten Schauspiele zu verlieren. Aber hier oben hatte man einen ganz offenen Ueberblick, und der Schauplatz des beginnenden Trauerspiels lag wie ein Schachbret vor uns ausgebreitet. Der Zug war auf dem weiten Exercirplatze angelangt, und die Regimenter bildeten ein gegen die beiden Grabhügel geöffnetes Viereck, in dessen Mitte die beiden Delinquenten gestellt wurden, ihnen gegenüber der Commandirende mit seiner Begleitung zu Pferde. –
Horch! – Langer Trommelwirbel: der General verliest mit lauter Stimme das Urtheil mit seinen Motiven, und weitere zehn Minuten dürfen die Verurtheilten die schöne Welt anblicken, die sie nach wenig Augenblicken auf ewig verlassen müssen. Jetzt war er zu Ende; neuer Trommelwirbel, nach dessen Beendigung die Delinquenten ihre „Plätze“ einnahmen. Jeder ward vor sein offenes Grab gestellt, und zwei Abtheilungen Schützen traten vor, auf zehn Schritte ihnen gegenüber! Todesstille rings herum! Ueberall hörbar tönte das Commando: „Achtung! Schlagt an!“ Zwölf Todesschlünde sind auf die Brust der beiden Verurtheilten gerichtet; Koseritz breitet seine Arme aus in Erwartung der tödtlichen Kugeln, und Lehr liegt auf den Knieen, nur noch halb dem Leben und dem Bewußtsein angehörend. – Statt des tödtlichen Knalles ertönte aber plötzlich das Wort: Pardon! und Tausende von Herzen athmeten auf, und die bisherige Ruhe und Stille ging in ein Getümmel über und in ein Lebehochrufen auf das gnadespendende Haupt, daß einem ganz schwindlig ward, und Alles wirbelte durcheinander, [367] und Jedem sah man die Freude an, daß die traurige Frage sich so unblutig und so freundlich gelöst hatte, denn den Verbrechern war alle Strafe erlassen, und sie wurden, mit Reisegeld versehen, vom Richtplatz weg dem nächsten Seehafen zugewiesen, um in der andern Hemisphäre sich ihr Glück ungehindert zu suchen.
Die Regimenter kehrten wieder in ihre Kasernen zurück, die Menge verlief sich, und nach kurzer Zeit war der Exercirplatz wieder so einsam, wie er heute am frühen Morgen gewesen war, sogar die beiden offenen Gräber fehlten, denn sie waren zugeworfen, ohne ein blutiges Opfer zu decken, und keine traurige Erinnerung haftet auf dem schönen großen Raume, auf den die Sonne noch einmal so freundlich niederblickt, und an dem der Wanderer fröhlicher vorüberzieht, nicht gedrückt durch den Gedanken einer blutigen Hinrichtung!
Würtemberg wird dem Jahrhundert keine Schande machen, und wenn vierzehn Jahre später Rastatts Wälle von edlem Blute rauchten, so darf Süddeutschland kein Vorwurf treffen – es wurde von jener Partei vergossen, die heute noch, wie vor anderthalb Decennien, ihre eigene Willkür und Herrschsucht dem Wohle und der Einheit Deutschlands entgegensetzt und auf ihrer unheilvollen Bahn noch heute fortwandelt.
Pferd, Esel und Eland. In England, dem wahren Himmelreiche für Katzen, giebt’s auch viele Tausende von Menschen, die blos vom Handel mit Katzenfleisch, d. h. Fleisch für Katzen leben. Die „Tom’s“ und „Pussies“ und wie diese weichen, „zwirnenden“ und schmeichlerisch-gutmüthigen (weil gut behandelten) „Mietzchen“ sonst heißen, kennen die Zeit, wenn der „Lieferant“ kommen muß, und dessen schrille Ausruferstimme: „Cat’s meat! Cat’s meat!“ (Kätz’ miet!) auch ganz genau und werden unruhig, wenn er mal länger als gewöhnlich ausbleibt, und laufen nach der Thür und miauen so herzrührend und steinerweichend, daß die Köchin Alles stehen und liegen lassen muß, nur um so schnell als möglich diesen wahrhaft schreienden Hunger zu stillen. Der Händler ist ein gewandter Geschäftsmann und giebt die übliche Portion, auf ein spitzes Stückchen Holz gespießt, ebenso schnell, als er seinen Penny dafür erhält. So geht’s jeden Tag zu einer bestimmten Stunde, so daß jede anständige Familie mindestens zehn Thaler jährlich für Hauskatzen oder Stubenkatzen ausgiebt. Dafür sind’s aber auch gesunde, brave, gutherzige, fette Katzen. Auch die Hunde (in der Regel zärtliche, treue Freunde der Katzen in England) gedeihen dabei vortrefflich. Uns war einmal ein Köter in London zugelaufen, der nicht wieder fort wollte, so daß wir ihn endlich als Hausgenossen duldeten und bald lieb gewannen. Aber als Engländer war er mit unserer Hausmannskost nicht zufrieden, so daß er in der Regel Frühstück und Mittagsessen ganz verachtete und überhaupt zu Hause wenig zu sich nahm. Dabei wurde er alle Tage dicker und stärker. Wir konnten uns das lange nicht erklären. Zwar ging er alle Tage regelmäßig aus, und zwar so regelmäßig, daß, wenn ihm etwa um 10 Uhr die Thür nicht geöffnet ward, er sich dahinter aufstellte und mit scharfem Klaffen so lange drum bat, bis ihm aufgemacht ward. Aber auf der Straße war bei der vielen Concurrenz von Hunden und Menschen um Abfälle und Schnapphäppchen nicht viel zu holen.
Hatte er sich etwa einem schlechten Lebenswandel hingegeben und war glücklicher, geschäftlicher Dieb in offenen Fleischerläden geworden? Höchst unwahrscheinlich, da alle Fleischer sich scharfe, starke, unbarmherzige Wächter halten. Nein, er ernährte sich redlich von einem anständigen Geschäft. Er hatte eine Anstellung gefunden, war Beamter geworden. Er ging regelmäßig alle Morgen um 10 Uhr in’s Geschäft und kam regelmäßig etwa um 4 Uhr wieder, Jeden von uns persönlich mit Schwanzwedeln begrüßend und dann ruhig zusehend, wie wir Mittagsbrod aßen. Seine Anstellung blieb uns lange ein Geheimniß, bis endlich sein Arbeitgeber und Brod- oder Fleischherr die Sache selbst verrieth. Eines Nachmittags kam er nämlich mit diesem seinem Herrn nach Hause. Dieser sagte, er sei ein Cats-meat-man, Katzenfleischhändler, bei welchem sich dieser Hund einmal, wie so viele, als Bettler um seinen Karren herum eingefunden. Er habe diesem wegen seiner gefälligen Manieren den Vorzug und einen Spieß voll Fleisch gegeben, auch sonstige Zeichen seines Wohlwollens. Dafür habe er viel Dankbarkeit gewedelt und weitere Anhänglichkeit, ebenso entschiedene Feindschaft gegen andere Hunde kund gegeben. Der Hund sei ihm gefolgt und ohne Weiteres zum treuen Wächter seines Katzenfleischkarrens geworden, was sehr viel werth sei, da ihm sonst die Hunde, während er die einzelnen Portionen in die Häuser getragen, sehr viel Schaden gethan. Nun möchte er den Hund aus Liebe kaufen, wenn er nicht zu theuer sei.
Nun kannten wir auf einmal das Geschäft unseres Findlings und wußten, warum er so gut aussah und unsere Hausmannskost verachtete. Er speiste viel besser und nahrhafter, nämlich Katzen- d. h. Pferdefleisch. Die Katzenfleischer machen ihre Portionen fast ausschließlich aus Pferdefleisch zurecht. Und deshalb sehen Hunde und Katzen so wohlgenährt und gesund aus. Und so ist Pferdefleisch gewiß überhaupt ein gutes Nahrungsmittel und als solches endlich auch für Menschen aller gebildeten Völker mehr oder weniger anerkannt worden. Es verdient aber noch einen größeren Spielraum in unserer Wirthschaft.
Wir haben aus einem Buche des Franzosen Geoffroy St. Hilaire erfahren, daß eine große Menge Völker und Stämme in Asien ebenso regelmäßig Pferdefleisch essen, wie wir Rinder- oder Kalbsbraten, und dabei stärker sind als wir. Während der großen französischen Revolution bekamen die Pariser ein halbes Jahr lang blos Pferdefleisch zu essen und befanden sich sehr wohl dabei. Ein berühmter Lazaretharzt Lorrey verordnete den Kranken, die Fleisch essen durften, Pferdefleisch, wodurch eine ganze ansteckende Krankheit aus dem Lazarethe verschwunden sein soll.
Unzählige Beweise haben festgestellt, daß Pferdefleisch ebenso gut, gesund und nahrhaft ist, als das beste Rindfleisch. Aber ist es auch so wohlschmeckend? Auch darauf antwortet reichliche Erfahrung günstig. Viele Festessen von Pferdefleisch, gehalten in Deutschland und Frankreich, ergaben das beste Zeugniß für Suppen, Braten, Filets und Steaks von Pferden. Im Jahre 1841 bekam Pferdefleisch zuerst offenes Bürgerrecht als Verkaufs- und Nahrungsartikel in Ochsenhausen. Jetzt wird’s in ganz Würtemberg mehr oder weniger allgemein (und unter Polizeiaufsicht) verkauft. In Baden ist es seit 1846 überall zulässig. Ein Jahr später endeten ein paar Pferdefleischfestessen zu Karlsbad und Detmold mit entschiedenem Hippophagismus (d. h. Pferdefleisch-Appetit). In Zittau verspeist man jährlich eine große Anzahl von Pferden. Um es kurz zu machen, ist der Verkauf des Pferdefleisches als Nahrungsartikel für Menschen jetzt gebräuchlich in Oesterreich, Preußen, Sachsen, Hannover, Schweiz und Belgien. Die fünf Pferdeschlächtereien in Berlin haben sich während der letzten zehn Jahre mehr als verdoppelt und machen gute Geschäfte.
Diese Thatsachen sind schlagend und durchweg günstig. Ein großes Vorurtheil des Magens und der Gewohnheit ist wirklich überwunden worden und zwar durch die Tugenden der Nahrhaftigkeit und des rindfleischartigen Wohlgeschmacks gut gekochten oder gebratenen, nicht zu alten oder mageren Pferdefleisches. Pferdefleischsuppe ist sogar oft von Gutschmeckern der besten Rinder-Bouillon vorgezogen worden.
Freilich gute, gesunde Pferde sind lebendig kostbarer und nützlicher, als gebratene. Das ist richtig; aber die Pferdeschlächtereien bestehen, mehren sich und machen gute Geschäfte, so daß sie unmöglich mit Schaden arbeiten können. Das ist auch natürlich, da viele gute, gesunde, junge Pferde oft plötzlich als solche unbrauchbar werden. Früher holte sie der Schinder, jetzt macht man eine gute, gesunde, verhältnißmaßig wohlfeile Nahrung für Menschen davon. Pferde sind uns lieb vor unserm Wagen und werden uns nun auch immer nützlicher und angenehmer im Magen.
Sind wir so auf’s Pferd gekommen, kommen wir auch auf den Esel. Warum nicht auch Esel braten? Die Italiener und die Feinschmecker aller Nationen essen Salami gern und für hohe Preise. Salami aber ist Eselswurst. Ich sehe nicht ein, warum wir den Esel, wenn er einmal gut schmeckt, von Italienern erst in Gedärme packen lassen sollen, um ihn zu essen. Er schmeckt auch so. Mr. Lewes, der berühmte englische Physiolog, tractirte einmal mehrere Gäste mit einer geheimnißvollen gebratenen Keule. Es wurde davon heruntergeschnitten und herumgereicht. Allen schmeckte es, und Einige baten um eine neue Auflage. Die Keule aber war das Hinterviertel eines Esels. – Also immer heran mit dem Graurock und Langohr auf den Mittagstisch, wenn er sich im Leben nicht nützlicher machen kann. Man spart ihm damit zugleich ein armseliges, verachtetes Alter und manchen Schimpf und Schlag.
Der brave Esel verdient wenigstens, daß man sich seiner ebenso annehme, wie des Pferdes. So viele Hufthiere sterben plötzlich in Ausübung ihrer Pflicht: sie stürzen, zersprengen sich eine Ader u. s. w., erlahmen oder erblinden unheilbar, zeigen Laster, lebensgefährlich für den Menschen. Sie alle sind gute Nahrung für den Menschen und wohlfeile obendrein, so daß man gar nicht leicht in den Fall kommt, gute und theure Pferde oder Esel besonders zu schlachten. Irgendwie unbrauchbar gewordene Pferde oder Esel sollte man freilich, wenn’s irgend geht, vorher noch 6–8 Wochen gut füttern und mästen, um ihr Fleisch nicht nur zu vermehren, sondern auch wohlschmeckender und zarter zu machen. Auch ist es gut, wie bei allem Fleisch, es nicht zu frisch in den Kochtopf oder in die Bratpfanne zu bringen. Je kälter die Witterung, desto älter muß man das Fleisch vor dem Gebrauche werden lassen, um ihm Zeit zu chemischen Wandelungen zu geben, die Wohlgeschmack, Verdaulichkeit und Zartheit vermehren. Man läßt Wild „wild“ werden, warum nicht auch zahmes Fleisch? Nur darf’s selbstverständlich nicht zum wirklichen Anfaulen kommen.
Zum Pferd und Esel kommt nun wohl auch bald das schönste und feinste Hufthier als Bereicherung unserer Tafelfreuden, das Eland, die größte und fleischreichste aller Antilopen-Arten. Die Elands werden ziemlich so groß und schwer wie Kühe, haben aber ein viel zarteres, nahrhafteres, wildpretartiges Fleisch. In England haben verschiedene Aristokraten angefangen, Elands zu acclimatisiren, einzubürgern, wie dort überhaupt die großen, reichen, lordlichen Grundbesitzer alle andere Aristokratie in nützlicher, Beispiel gebender, volksthümlicher Thätigkeit übertreffen, namentlich in Einbürgerung fremdländischer Pflanzen, Früchte, Blumen, Bäume, Gemüse und Thiere.
Die Elands gedeihen in England sehr gut als Haus- oder vielmehr Packthiere. Im nördlichen Deutschland würden sie während des Winters besonderen Schutz bedürfen. Aber diesen gewähren wir ja auch unseren Schafen und Kühen. Wer von großen, gebildeten Grundbesitzern Deutschlands Unternehmungsgeist und Vervollkommnungstrieb hat, sollte mit Einbürgerung von Elands einen Versuch machen. Deutschland muß nicht warten, bis ihm Fortschritt im eigenen Interesse aufgezwungen wird, wenn alle Andern schon vorausgegangen sind, sonst folgen wir mit Reue dem hinkenden Boten.
Berliner Plaudereien. Aus einer königlichen Residenz ist Berlin
eine volksthümliche Fabrikstadt geworden. Die großartigen Maschinenbauanstalten
von Borsig, Egels etc., die Cattun- und Wollenwebereien
[368] und Druckereien von Reichenheim, Liebermann und Goldschmidt wetteifern mit denen des Auslandes, so daß ein großer Berliner Fabrikant dem Könige, als dieser ihn bei einer offiziellen Vorstellung nach seinem Namen frug, mit Recht sagen durfte: „Ew. Majestät, ich bin ja der Commerzienrath L....., der da hat die Engländer vom Continent verdrängt.“ Eigenthümlich für Berlin sind zwei kleinere Industriezweige, welche sich in kurzer Zeit zu einer kaum glaublichen Höhe emporgeschwungen haben: der Handel mit Stickmustern und das sogenannte Confectionsgeschäft mit hier angefertigten Mänteln und anderen Kleidungsstücken. Berliner Mantillen, Hüllen und Paletots wandern nach Dänemark und Schweden bis hoch nach dem Norden, sowie nach dem Süden bis in die Donauländer und in die Türkei, während die holde Miß und die stolze Lady, die Londoner und New-Yorker Damen nach Berliner Mustern und mit Berliner Wolle sticken, wenn sie es nicht vorziehen die bereits vollendeten Arbeiten zu kaufen und mit fremden Federn sich zu schmücken. Der Grund für den Aufschwung dieser Industrie liegt in den hiesigen Verhältnissen, besonders in der Billigkeit des Arbeitslohnes. Sehr viele Berliner Damen, selbst aus den sog. besseren und höheren Ständen, verschmähen es nicht, sich in ihren Mußestunden mit verschiedenen weiblichen Handarbeiten zu beschäftigen, um sich dadurch ein kleines Taschengeld für ihre Nebenausgaben, Toilette und sonstige Liebhabereien zu verschaffen. Holde Geheimrathstöchter, welche mit ihren zarten Händen so emsig an einer zierlichen Zigarrentasche oder an einem sanften Ruhekissen sticken, haben diese sauberen Kunstwerke nicht für einen poetischen Anbeter, einen gehalttosen Referendar oder Assessor, sondern für einen prosaischen, aber sicheren Kaufmann gegen baare Bezahlung bestimmt. Dagegen wird so mancher John Bull und Yankee von seiner holden Braut oder der zärtlichen Gattin mit einem reizenden Angedenken überrascht, das nicht sie, sondern eine fleißige Berlinerin heimlich auf Bestellung angefertigt hat. Das sind die Fortschritte des internationalen Verkehrs!
Die Kunst und das Theater gehen auch hier wie anderswo nach Brod und ziehen einen stets gedeckten Tisch der hungernden Unsterblichkeit vor. Große Historienmaler besitzt Berlin nicht, außer Cornelius, der immer noch auf die Vollendung des Campo Santo wartet, das er mit seinen Fresken schmücken sollte. Zuweilen begegnet man im Thiergarten in der Nähe des Raczynski’schen Palais einem kleinen Mann, welcher der große Cornelius ist. Wer ihn aber genauer kennen lernen will, der muß ihn in München aufsuchen, wo sich sein Genius in Kirchen und Museen offenbart. Dort weilt sein Geist, in Berlin nur sein Schatten, der aber immer noch groß genug ist, um alle übrigen Künstler zu verdunkeln. Es giebt hier auch, wie man von Zeit zu Zeit aus den Zeitungen durch verschiedene Ankündigungen erfährt, eine Akademie der Künste mit mehreren Professoren, die kein Mensch kennt. Desto berühmter sind die Herren Menzel, Knaus, Richter, Becker, Magnus, Hildebrand in ihrem Genre. Letzterer weilt gegenwärtig in Indien, von wo er, reich beladen mit Landschaftsstudien und Motiven, zurückerwartet wird. Eduard Hildebrand ist der größte Farben-Virtuose, dessen Palette vor keinem Wagnis, vor keinem noch so kühnen Lichteffect zurückschreckt; Morgenroth, Alpenglühen und Nordlicht sind ihm nur Kleinigkeiten und die Gluth des tropischen Sonnenuntergangs eine wahre Lumperei. Seine Farben brennen, leuchten, blitzen und zünden, obgleich er auch den bescheidenen Reiz und den stillen Zauber einer minder glänzenden, nordischen Natur mit bewunderungswürdiger Feinheit und Sinnigkeit in sich aufzunehmen und wiederzugeben weiß. Ein geistreicher Freund nennt ihn nicht mit unrecht den „Freiligrath der Malerwelt“. – Auf dem Theater herrscht die Berliner Posse, die zwar witzige, aber entartete Tochter der komischen Muse, eine kecke Dirne, der nichts heilig ist und die aller Welt ein Schnippchen schlägt. Sie hat ihren Hauptsitz im Wallner’schen Theater aufgeschlagen, das von der besten Gesellschaft besucht wird und in der That ein vorzügliches Ensemble bietet. Der urkomische Helmerding, der überraschende Reusche, der drastische Neumann und die reizende Soubrette Fräulein Schramm bilden ein vierblättriges Kleeblatt, wie es nur selten zum zweiten Mal befunden werden dürfte. Das kleine Theater in der Blumenstraße ist jetzt das Rendezvous für Fremde und Einheimische, für Aristokratie und Volk. Selbst Herr von Bismarck verschmäht es nicht mit fremden und einheimischen Diplomaten in der Prosceniumsloge zu erscheinen und über die Ausfälle und Anspielungen auf die neueste Aera und ihre Conflicte zu lachen. Als bei der letzten Anwesenheit des Ministerpräsidenten im Theater der Komiker Helmerding stürmisch gerufen wurde, sagte derselbe mit seinem eigenthümlichen Lächeln zu dem Publicum gewendet: „Ich höre schon, auch wenn ich hinter der Thüre stehe.“ –
Eine Ballnacht und ihre Folgen. Kürzlich erschien in New-York vor Richter Kelly im Jefferson Market ein junges, schönes Mädchen und suchte um einen Verhaftsbefehl gegen ihre Mutter nach. Es gab an, daß es am Abend vorher mit einem jungen Mann auf einen Ball gegangen und dort geblieben, bis der Ball vorüber war, worauf es nach Hause zurückgekehrt sei, aber die Thür verschlossen gefunden habe und außer Stand gewesen sei, hineinzugelangen. Sie sei dann, fuhr die junge Dame fort, in das Haus einer Freundin gegangen und dort bis zum Morgen geblieben. Um elf Uhr Vormittags sei sie dann nach dem Hause ihrer Mutter zurückgekehrt, von dieser aber eine Lügnerin gescholten worden, indem sie (die Mutter) die ganze Nacht aufgeblieben sei und vergebens auf ihre Tochter gewartet hätte. Ihre Mutter habe sie dann so arg geschlagen, daß die Spuren davon an ihrem Körper zu sehen seien, und hätte ihre guten Kleider weggenommen und ihr nichts als Lumpen übrig gelassen. Auf eine Frage des Magistrats erwiderte sie, sie sei 18 Jahre alt. „Well,“ sagte Richter Kelly, „ich kann nicht zwischen Ihnen und Ihrer Mutter einschreiten; sie hatte ein vollkommenes Recht, Sie dafür zu züchtigen, daß Sie die ganze Nacht ohne ihre Erlaubniß ausgeblieben waren. Ich rathe Ihnen, nach Hause zu Ihrer Mutter zu gehen oder sofort zu heirathen.“ Das Mädchen zog sich auf einen Augenblick zurück und besprach sich mit dem jungen Mann, welcher zugegen war, worauf Beide das Gerichtszimmer verließen, indem die Schöne erklärte: „sie würde um 5 Uhr verheirathet sein.“
Für die treue Pflegerin Theodor Körner’s gingen in den letzten Wochen wieder bei mir ein: 2 Thlr. von Dr. W. K. in München – 5 Thlr. von einigen Verehrern Körner’s in Kirn – 1 Thlr. von einer deutschen Frau – 1 Thlr. Ein deutsches Mädchen aus H... – 3 Thlr. 16 Ngr. von G. W. L-w und Freunden in L-n mit nachfolgendem Gedicht:
Ich grüße Dich, Mütterlein.
Er liegt auf Mecklenburger Grund,
Der süße deutsche Liedermund,
Den Du gepflegt so fein.
Drum grüßt Dich Mecklenburg
Durch mich mit Herzensinnigkeit,
Du Zeugin großer deutscher Zeit,
Einst unseres Sängers Burg.
Gott segn’ Dir Seel’ und Leib!
Und gehst Du eher heim, als ich,
Den schönsten Gruß von mir ihm sprich,
Du edles, deutsches Weib.
2 Thlr. von Carl Niezold in Bamberg – 1 Thlr. R. R. in Dresden – 1 Thlr. 7½ Ngr. von L. K. in Danzig – 2 Thlr. 13 Ngr von † † † Ritter.
- ↑ Die Ansprüche der einjährigen Tochter Leopold’s, Marie Antoinie, stießen zusammen mit denen seiner Schwestern, Marie Anna von Spanien und Eleonore, Gemahlin des Polenkönigs Michael Wisniowiecki.
- ↑ Zriny wurde auf der Jagd erschossen, wahrscheinlich von dem sehr übelberüchtigten Nadasdy.
- ↑ Wörtliche Unterredung des Borri mit Leopold I. u. d. Bericht des Cardinals Passionei.
- ↑ Bericht des Cardinals Passionei.
- ↑ Bericht des Cardinals Passionei.
- ↑ Bericht des Cardinals Passionei.
- ↑ Bericht des Cardinals Passionei.
- ↑ Politische Schriften des Prinzen Eugen Band 7. S. 45.
- ↑ Wallenstein hat nicht in Altorf studirt und ist nicht in Burgau katholisch geworden, das sind von Schiller benutzte Sagen, wie sie in der Geschichte jedes bedeutenden Mannes vorkommen.
- ↑ Die Redaction ertheilt auf Wunsch des Herrn Gerstäcker ausdrückliche Erlaubniß zum Nachdruck. D. Red.
- ↑ Die Herren Schäffer und Budenberg in Buckau bei Magdeburg haben den Generatdebit für die Sammlungen des Instituts von Engell u. Comp. und zugleich das Patent und den alleinigen Debit der Engell’sche Schul- und Salon-Mikroskope.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Auswandererer