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Die Gartenlaube (1863)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[337]
Ein Bild.
Novelle von F. Brunold.
(Schluß.)

Nordheim durcheilte in Hast die Straßen der Stadt nach seiner Wohnung zurück, um seine Recension in Bezug der Copie von Elisens Hand zu sichten und im Einzelnen umzuändern. Er hatte nicht seine Ansichten, nachdem er die persönliche Bekanntschaft der Künstlerin gemacht, geändert, dieselben waren vielmehr noch fester in ihm geworden, als dies vordem der Fall; während aber vor Stunden mehr herablassendes Wohlwollen, mehr Güte und Nachsicht die Feder geführt, hatte jetzt die fester gewordene Ueberzeugung von dem wirklichen Vorhandensein künstlerischen Talents die Worte durchwärmt, die Kritik durchsichtet und geläutert.

Nachdem dies geschehen, wurden die Blätter zur Redaction befördert, um Tages darauf durch die Zeitung in alle Welt zu fliegen. Es ist ein eigenes Gefühl, sein Geschriebenes nach wenigen Stunden bereits gedruckt, von Tausenden gelesen zu wissen. Und wenn dies Gefühl bei dem Schriftsteller von Profession sich mit der Zeit auch mehr und mehr abstumpft, so taucht es dennoch immer wieder bei einzelnen Gelegenheiten mehr denn je hervor. Auch Nordheim empfand, nach schlafloser Nacht, dies Gefühl nach langer Zeit wieder einmal in verstärktem Maße. Elisens Erscheinen, die Art und Weise ihres Handelns und Redens, hatte einen eigenthümlichen Eindruck auf ihn gemacht. Er mußte unausgesetzt an sie denken, während doch auch zugleich das Bild Alexandrinens sich, wie verletzt fühlend, immer wieder zwischen die Gedanken drängte. Elise war schöner, voller, Alexandrine lieblicher. Erstere braun gescheitelt, die Andere blond gelockt; Jene schmerzbewußt, nicht ohne Bitterkeit, aber stolz, lieber darbend, als sich beugend, wenn auch echter Weiblichkeit nicht entbehrend; Diese kindlich, vertrauend, sich anschmiegend, unbewußt, ohne Ahnung, daß es anders sein könne. Elise trug ihr Gefühl tief verschleiert in der Brust, Alexandrine ließ es, gleich einem Schmetterling, im Sonnenlichte des Tages um Rosen gaukeln.

Es war Tag geworden, die Stunden des Vormittags waren bald vorüber. Es wurde ihm zu eng im Zimmer. Die Gedanken kamen und gingen in ihm auf und nieder. Es hielt ihn nicht länger, er mußte zu Alexandrinen; er mußte sehen, was sie thu’ und treibe, ob sie wirklich so lieblich sei, wie er sie, im Vergleich zu Elisen, in seinen Träumen und Vorstellungen gefunden.

Und er kam. – Aber wie doch wieder so ganz anders fand er sie, als er sie sich gedacht! Hatte denn aus der Rosenknospe, die an seiner Seite gleichsam täglich mehr und mehr erblüht war, sich wirklich seit gestern ein wunderliebliches Mädchen entwickelt? Oder waren seine Augen nur bisher gehalten gewesen? – Es war Alexandrine – und doch wieder eine Andere! –

Sie saß nicht fern des Fensters und las. Es war die Zeitung, welche sie vor sich hatte. Aber wie blickte sie so wehmüthig ernst, so schmerzlich fremd, fast fragend auf, als er eintrat! Er kam so froh, so freudig erregt und fühlte sich beglückt, als er sie lesend fand, in dem Gedanken, daß sie wohl seine Kritiken lese, sich also mit ihm beschäftige – und nun, nun fand er sie scheu, zurückhaltend, wie er sie noch nie gesehen, wie er sie noch nie gefunden. Es war etwas Fremdes zwischen sie getreten, von dessen Dasein er bisher noch keine Ahnung gehabt hatte.

Die Mutter war nicht zugegen, sie war ausgegangen, und dennoch wollte kein heiterer Fluß in die Rede kommen; Alexandrinens Antworten blieben einsylbig, gedrückt, Nordheim fühlte es, und sich keiner Schuld bewußt und doch von dem Drückenden des Augenblicks gepreßt, ergriff er endlich ihre Hand, und ihr in das Auge sehend, rief er: „Alexandrine? was ist’s! was haben Sie nur?“

Sie sah ihn fragend an und drängte mühsam mit Gewalt die Thränen zurück. „O nichts!“ sagte sie scheinbar gelassen, „mir ist nichts! – Ich bin ja ruhig!“ Aber mit diesen Worten war es auch, als ob der Thränenstrom den Damm durchbrochen habe, als sei es nicht möglich, sich länger zu halten: sie weinte laut!

Nordheim war erschüttert; er legte seinen Arm sanft um ihren Leib, er zog sie unwillkürlich näher zu sich heran; er beugte mit der andern Hand ihr Gesicht zu sich herüber und sagte, ihr sanft die Wangen streichelnd, wie man einem lieben, weinenden Kinde zu thun pflegt: „Alexandrine, Sie schienen so ruhig, als ich kam, Sie lasen – und nun?“

Sie glühte auf, sie wollte nicht mehr weinen und wollte sich erheben. „Ich bin ein Kind!“ sagte sie, „was geht es mich an! Ich weine auch nicht.“ Dabei aber rannen die Thränen auf’s Neue, und sie mußte sich setzen und ihr Angesicht in beide Hände bergen.

Nordheim hob die Hände sanft von ihren Augen. „Was geht Sie nichts an, Alexandrine?“ frug er. Und dabei lächelte er schalkhaft, schelmisch, denn in seiner Brust hatte das Geheimniß ihrer Schmerzen zu keimen begonnen. „Hat meine unschuldige Recension Sie gekränkt?“ fragte er. „Schmerzt es Sie, wenn ich ein anderes junges Mädchen lobe, das der Stütze, der Hülfe, der Anerkennung bedarf?“ Und ohne eine Gegenrede abzuwarten, legte er ihr Köpfchen sanft auf seine Schulter, sah ihr leuchtend in das Auge, indem er sie fest umfing – und rief und sagte nichts, als nur den Namen „Alexandrine!“ Es mußte in dem Tone, mit dem der Name gesprochen wurde, wohl ein eigener mächtiger Wohllaut, ein Zauber liegen, wie sie es noch nie empfunden, gefühlt oder gehört hatte; sie konnte nicht anders, sie mußte glückselig, aufglühend [338] das Augen heben, mußte die Arme ausbreiten, ihn umfangen, sie konnte nicht anders – und ihre Lippen ihm zum ersten Kusse bieten.

Wie heilig still, wie schön war es im Zimmer! Zwei Herzen hatten sich gefunden.

Jetzt begann Alexandrine von selbst nach der Malerin zu fragen; und Nordheim erzählte seine Begegnisse, seine Erlebnisse mit derselben und deren Mutter. Er sprach von dem Unglück der Familie so beredt, so überzeugend, daß Alexandrine den Wunsch nicht unterdrücken konnte, die Familie zu besuchen, Elisen kennen zu lernen. Sie kam mit diesem Ausspruche dem Wunsche Nordheim’s entgegen.

Bald darauf kehrte die Mutter von ihrem Ausgange zurück. Nordheim empfahl sich. Er that es wie sonst, wie immer, freundlich zuvorkommend. Er hatte der Mutter Alexandrinens nichts gesagt, auch die Tochter hatte geschwiegen. Die Liebenden hatten es unter sich abgemacht, ihr Geheimniß noch einige Zeit für sich zu behalten.

Sie waren der Billigung ihrer Liebe von Seiten der Mutter gewiß – und dennoch schwiegen sie! Wer kennt nicht die heilige, süße Scheu der Liebe? Nordheim eilte zur Ausstellung. Es war ihm jetzt Bedürfniß, das Bild Elisens noch einmal zu betrachten. Er fand den Saal gedrängt voll.

Der Kunsthändler bemerkte sein Eintreten, und ihm freundlich entgegenkommend und ihm die Hand zum Gruße reichend, sagte er: „Besten Dank! das Bild ist verkauft – Banquier Wallbot –“

Mehr sagte er nicht, denn der Genannte trat soeben selbst heran, und den Assessor erkennend, rief er lachend, mit dem Finger drohend:

„Nun, Sie Sünder und Verführer des Volks! Ist’s auch recht, Jemandem das Geld so aus der Tasche zu locken? He! Was sollte anders die Recension? Hab’s gekauft, damit ein aufkeimendes Talent ermuntert werde. So hieß es ja wohl in Ihrer Beurtheilung? Aber kommen Sie nur und trinken ein Glas Wein mit mir. Können für das Bild mir daheim den besten Platz aussuchen.“

Wallbot sprach Alles in Hast, kurz abgebrochen; und Nordheim, der wohl fühlte, daß mit diesem kurzen Abbrechen der Sätze mehr Gefühl unterdrückt, als zu Tage gefördert werden sollte, und dem selbst daran lag, mit dem Banquier in nähere Berührung zu kommen, ging natürlich sofort auf seine Einladung ein. Gemeinsam verließen sie die Ausstellung.

Wallbot fand auch in seinem Hause im Anfange die gewünschte notwendige Ruhe nicht. Unruhig rückte er auf seinem Sessel, seinem Gaste gegenüber, umher. Endlich sagte er, einen neuen Blick auf das Bild werfend, welches der Diener gebracht und ihm gegenüber hatte aufstellen müssen: „Was ist es nur, das mich beim Anblick des Gemäldes so tief ergreift? Ihre Worte allein können dies nicht gemacht haben. Sie haben warm, anerkennend gesprochen, aber dies macht es nicht. Das Bild ist mehr als Copie. Aber aus dem Gesicht der Tochter, zur Seite der Mutter, heimelt es mich an, als hätte ich dies Gesicht einmal schon früher gesehen.“

Der Assessor hatte bis jetzt geschwiegen; nun sagte er: „Giebt der Name der Künstlerin Ihnen vielleicht einen Anhaltpunkt?“

Wallbot blickte bei diesen Worten verwundert auf, und die Augen seines Gastes auf sich ruhen sehend, rief er, sich mit der Hand über die Stirn fahrend und wie aus ernstem Sinnen erwachend: „Der Name: Elise Sandow! – Sandow! Hat die Künstlerin sich vielleicht auf dem Bilde in der Tochter selbst gezeichnet? – Sie müssen’s wissen! Und Sandow! Sandow heißt sie?“

Der Banquier schien wieder in sein nachdenkendes Sinnen verfallen zu wollen, doch Nordheim, der den Zeitpunkt gekommen meinte, wo er für die Genannte handeln und eingreifen müsse, sagte ruhig, bestimmt: „Sie mögen im Einzelnen Recht haben! Aber nicht die Tochter, die Künstlerin selbst, hat zu jenem Bilde gesessen; ich denke mir. so muß die Mutter vor Jahren ausgesehen haben. Vielleicht wurde sie als junges Mädchen gezeichnet, und die Tochter hat jetzt diese Zeichnung zu ihrem Bilde benutzt. – Aber hatten Sie nicht einen Bekannten, einen Freund, der Sandow hieß? – Es ist mir, als hörte ich einmal davon!“

Der Banquier schnellte bei dieser Frage auf, schlug sich, wie sich selbst anklagend, mit der Hand vor die Stirn und rief, den Assessor zugleich beim Arme erfassend: „Herr, Sie wissen mehr, als Sie mir sagen wollen. Sie haben Recht! Wo war ich nur mit meinen Gedanken? Daher also die mir unerklärliche Zuneigung zu dem Bilde! – Ich hatte einen Freund, der Sandow hieß, Geschäftsfreund – war Fabrikant. Wir traten in Verbindung. Sie wissen, Banquiers und Fabrikherren müssen zusammenhalten. Er war ein ehrenwerther Mann, liebte seine Arbeiter und that mehr für sie, als sich mit seiner Casse vertrug. Das Sturmjahr 48 brachte sein Geschäft in’s Stocken, ihn bei seinen Ansichten und Ideen in Conflict mit der Meinung Höherer. – Ging mit nach Baden, war dumm! – Und das Uebrige wissen Sie!“

„Ja, ich weiß!“ sagte Nordheim ernst. Entschiedener setzte er hinzu: „Aber wollen Sie mir nicht dennoch das Weitere mittheilen?“

Wallbot lachte, nicht ohne Bitterkeit. Er stand auf und durchschritt einige Male unruhig das .Zimmer. Plötzlich jedoch blieb er stehen. „An Ihnen ist ein Pfaffe verdorben,“ sagte er sich wieder niederlassend; „sitz’ ich zur Beichte? Herr, ich wollte fast wünschen, das Bild nicht gekauft zu haben! Aber warum schreiben Sie auch solche Recensionen?“ setzte er nach einigem Schweigen, gezwungen lachend, hinzu. „Und nun kommen Sie noch und regen Gedanken auf –“

„Die doch gekommen wären!“ fiel Nordheim gelassen ein. „Hätten meine Worte und das Bild diese nicht schon hervorgerufen, würde mein Besuch, der ohne Ihre heutige Einladung Ihnen doch geworden wäre, sie geweckt haben. Warum sich einer Erinnerung entschlagen, die sich nicht abweisen läßt?“

Der Banquier blickte finster, fast erzürnt, grollend auf und sagte, seinen Verdruß unter wildem Humor verbergend: „Der Knabe Karl fängt an, mir fürchterlich zu werden! – Was wollen Sie?“

Nordheim that, als höre er die Frage nicht. „Sie sind mir noch die Fortsetzung Ihrer Erzählung schuldig,“ sagte er gelassen. „Mich dünkt, Sandow floh nach der Schweiz. Und seine Frau?“

„Folgte nach,“ entgegnete Wallbot grollend, wie im Innern noch verletzt. Plötzlich jedoch sprang er auf und rief, wie zu sich selber redend: „Hol’ Alles Dieser und Jener! Was hilft das Drehen und Wenden, es muß doch zu Tage!“ und sich zu dem Assessor wendend, lachte er: „Warum sind Sie nicht ein Pfaff geworden? Aber Sie thun Recht. mich an die Frau zu erinnern. Brave Frau! Muß sie achten. Frau von Werner, die Dame „comme il faut“, deren Mann Reichstagsabgeordneter war. Wusste sich besser zu betten. Die Sandow folgte ihrem Gatten treu in’s Exil und –“ Er vollendete den Satz nicht. Erregt, wüthend lief er umher und schrie: „Zum Teufel, Herr, warum kamen Sie nur, um mich an den schuftigsten Tag meines Lebens zu erinnern? Sandow starb arm in der Fremde. Das sagt Alles, er und seine Frau aßen das Brod der Verbannung! Sandow hatte mir vor seiner Flucht ein Capital übergeben, oder es lag vielmehr noch, von unserer Geschäftsverbindung her, in meiner Casse. Er ließ es dort. Und als sich im fremden Lande nichts Passendes für ihn fand, er vielmehr fürchten mußte, dies Wenige noch zu verlieren, ließ er es mir, bis – bis – ich selber in die Brüche kam und endlich fallirte. Warum ließ er auch sein Capital bei mir? Es waren schlechte Zeiten. Herr, glauben Sie mir, wenn man so jahrelang redlich geschafft und gewirkt hat und sich dann plötzlich um alle seine Mühe und Anstrengung betrogen sieht, wenn man, wo man noch vor Kurzem stolz durch die Straßen fuhr, nun demüthig zu Fuß, um Gnade bettelnd, von einem Gläubiger zum andern laufen muß – das Herz versteint, man wird hart, ja momentan schlecht. O Herr, man sollte Verbrecher nicht zu hart beurtheilen, der Augenblick kann den Besten fallen machen! Und solch ein Tag, solch eine Stunde war es, wo die Sandow kam, um das Capital zu heben. Ihr Mann war gestorben, sie war in die Heimath zurückgekehrt. Noch seh’ ich im Geiste die Frau vor mir, wie sie so ruhig, durch Schmerz geläutert, von dem Verstorbenen sprach. Nur die innigste Liebe redete aus ihren Worten, und wie bleich, wie marmorbleich wurde sie, als ich ihr sagte, daß ich bankerott, daß ihr Geld verloren sei! Ihre letzte Hoffnung war vernichtet. Arm, bettelarm ging sie von mir. Wohin? ich habe es nie erfahren. Herr, warum betrog ich damals nicht, warum gab ich der Unglücklichen, die so treu, so gewissenhaft, so menschlich rein an der Seite ihres Gatten ausgeharrt und geduldet hatte, und die keinen Fluch, kein böses Wort mir gesagt, daß ich ihr das Geld nicht gerettet, nicht das Capital vorweg, bis zum letzten Heller! Hätte es den übrigen reichen Gläubigern geschadet, wenn sie einige Procente weniger aus der Masse erhalten? Sie, die Arme, ging gänzlich leer aus, denn ihr Vermögen stand nur in meinem Privatbuche [339] verzeichnet, sie hatte keinen Theil an dem Ganzen! Herr, dies Gesagte hat oft und vielfach an meiner Brust genagt, warum nur konnte ich es nie vergessen? Wo mag die Frau nur sein?“

Der Banquier schwieg; er hatte den Kopf auf die Hand gestützt und starrte gedankenvoll vor sich nieder.

Nordheim überließ ihn einige Zeit seinem Sinnen. „Sie kamen später zu neuem Wohlstande,“ sagte er dann, „Sie siedelten hierher über, Ihr Name hat an der Börse einen guten Klang; wenn die Sandow jetzt käme, würden Sie derselben noch das kleine Capital vorenthalten?“

Wallbot reichte seinem Gaste die Hand. „Werden Sie Rechtsanwalt, Herr,“ sagte er lachend, „an Praxis kann es Ihnen nie fehlen! Wüßt’ ich nicht, daß die kleine Alexandrine Ihr Herz gefangen hält, ich würde meinen – – na, ich schweige schon, werden Sie nicht roth!“

Und auf’s Neue einen Blick nach dem Bilde werfend, rief er: „Die Elise war dazumal schon ein talentvolles Kind, und nun sehe ich es klar: es sind die Züge der Mutter, die ich dort erblicke. Wie konnte nur Herz und Auge so in mir gefangen gehalten sein! Aber kommen Sie, Herr, die Sandow ist hier. Nicht das Capital allein soll sie haben, auch – – Doch was rede ich, was sich von selbst versteht! Kommen Sie, Herr, sind Sie der Frau, der Tochter Fürsprecher gewesen, müssen Sie auch der meine sein. Lassen Sie uns gehen!“ Mit diesen Worten schritt er zur Thür. Nordheim folgte. –

Alexandrine aber saß während dieser Zeit ihr Köpfchen so recht schwer auf die Hand gestützt; sie wollte gern fröhlich sein und konnte es doch nicht. Das kleine Herz war ihr so übervoll, sie hätte aufjauchzen mögen vor innerer Freude, vor überseliger Lust und mußte doch zugleich sich zusammennehmen, daß nicht die Thränen ihr aus den Augen stürzten.

Die Mutter, die ab- und zugegangen war, sah ihr Töchterlein träumend sitzen. Es kam ihr seit Kurzem so ganz anders vor, so sinnend, so daß sie oftmals sich selber fragen mußte: ist dies meine Alexandrine oder nicht? Jetzt ging sie hin, legte ihren Arm um der Tochter Nacken und zog sie sanft, mütterlich zu sich hinan.

Alexandrine, wie aus tiefem Träumen aufblickend, sah das Auge der Mutter fragend auf sich ruhen. – Das Herz war ihr so übervoll, und in diesem Augenblicke es gleichsam wie ein Unrecht bereuend und empfindend, daß sie der Mutter ein Geheimniß noch vorenthalten habe, konnte sie sich nicht halten, sie mußte ihre Arme um die Mutter schlingen, mußte ihr Köpfchen an ihre Brust bergen und ihr unter aufjauchzender Freude mit feuchtverklärtem, weinendem Auge ihre Liebe gestehen.

War diese der Mutter ein Geheimniß gewesen? Gewiß nicht. Sie hatte der Tochter Sinnen und Träumen längst verstanden, sie hatte den Wohllaut bemerkt, der in der Stimme Nordheim’s lag, wenn er zu Alexandrinen sprach.

Freudig hielt sie die Tochter umschlungen. Aber diese preßte ihre Arme nur fester und immer fester um den Hals der Mutter und lachte und weinte wieder. Der Damm war gebrochen, das Herz strömte ihr über.

„Werde ich ihn glücklich machen?“ rief sie, „werde ich denn sein Herz ganz ausfüllen? Ich bin so nichtig, so unbedeutend, und er, er steht so fest, so gediegen, so hoch über mir! O Mutter, und dennoch liebe ich ihn so sehr! Ich hab’ es ja selber nie gewußt und geahnt, was Nordheim mir ist. Aber als ich der Malerin gedachte, als er mir so begeistert von ihrem Talente sprach, als ich seine Worte über sie las, da fühlte ich es, wie der Boden unter mir mehr und mehr versank, fühlte es, wie glücklich ihn ein so hochbegabtes, schönes Mädchen machen müsse, wie diese ebenbürtig an seiner Seite stehen würde, eine Gehülfin, eine Mitarbeiterin seines Strebens, fühlte, wie ich nichts, nichts dagegen einzusetzen hätte, als meine Liebe. Konnte ich da fröhlich sein und kann ich’s noch?“

Die Mutter lächelte und streichelte ihrem Liebling die Wange. „Tröste Dich!“ sagte sie freundlich. „Ist nicht die Liebe das Höchste, was ein Menschenherz einzusetzen hat? Kannst Du Schöneres, Besseres einem Manne darbringen, als ein Herz voll Liebe?“

Sie vermochte nichts mehr zu sagen. Es klopfte.

Frau von Werner trat ein, unangemeldet, rasch, entschieden, erregt, und darum nicht fühlend und bemerkend, daß sie vielleicht niemals mehr zur Unzeit gekommen, als eben jetzt. Aber, wie gesagt, sie sah und fühlte nichts. Sie dachte nur an sich selbst, wie sie dies stets während ihres ganzen Lebens zumeist gethan. Auch jetzt rief sie sogleich nach ihrem Eintreten: „Wie schön, wie gut, daß ich Sie treffe, meine liebe Frau Waldow! Sie müssen mir Ihre kleine Alexandrine schon für eine Stunde erlauben! Es ist eine wahrhaft lächerliche Geschichte, aber das hat man davon, wenn man sich mit den Armen in Berührung bringt. Ich würde mich ärgern, wenn’s nicht eben zu toll, zu absurd wäre. Nein, denken Sie sich, meine liebe keine Alexandrine, Sie entsinnen sich noch der fatalen Geschichte bei der Weihnachtsbescheerung. Nichts für ungut. Aber Herr Nordheim hat durch sein unzeitiges Eingreifen mir einen recht fatalen Streich gespielt! Freilich, er konnte vorher nicht wissen, daß es so kommen würde. Aber denken Sie sich meinen Aerger, meinen Verdruß, die Stadt ist voll davon, man hat Alles erkundet, erforscht, die Fama hat es vergrößert, in’s Unendliche ausgesponnen. Die Schwester jenes Kindes ist Malerin. Ihr neuestes Bild hängt bei Sohr. Nordheim hat’s gelobt; er hat die Malerin dort getroffen, und alle Welt läuft hin, es zu sehen, um sich dabei die dumme, lächerliche Geschichte mit der Schwester zu erzählen! Die Malerin ist en vogue – ich blamirt. Aber die Sache muß ein Ende nehmen! Bitte, Alexandrine, nehmen Sie Hut und Mantel und lassen Sie uns zu der Malerin gehen. Ich muß diese Geschichte todt machen, ich darf nicht zögern. Rasches Handeln ist richtiges Handeln!“

Alexandrine glühte auf, und die Mutter wie um Beistand und Hülfe anflehend, rief sie: „Ich, ich soll mit? Ich weiß nicht – –“

„Wo die Person wohnt, werden Sie doch nicht sagen wollen?“ fiel Frau von Werner ein. „Sie und Nordheim sind Eins! Oder wie, hätte er vielleicht für gut befunden, nichts zu sagen?“ Mit diesen Worten suchte sie das eingeschüchterte junge Mädchen gleichsam bis auf das Herz auszuforschen, sie zugleich fragend anschauend.

Alexandrine wußte vor Schreck und Verlegenheit nicht zu antworten, doch die Mutter kam ihr zu Hülfe und sagte entschieden: „Allerdings wissen wir durch Herrn Nordheim, wo die Dame mit ihrer Mutter wohnt, und wir hatten bereits die Absicht ausgesprochen, dort einen Besuch zu machen, wenn auch nicht heute.“

Frau von Werner schien die letzteren Worte gar nicht beachtet oder gänzlich überhört zu haben. Unruhig ging sie im Zimmer auf und nieder. „Bitte, Kind,“ sagte sie endlich, „machen Sie sich fertig, ich muß hin! Unangenehmes muß man so rasch als möglich beseitigen. Ueberdies verlangt mich nach Gewißheit! Es wäre ridicül, wenn Alles einträfe! Bitte, was sehen Sie mich an, liebe Frau Waldow? Es hilft nun einmal nichts, Vergangenes zu vertuschen. Ich fürchte, die Sandow und ich sind alte Bekannte. Sie wissen, mein Mann tagte mit als Abgeordneter in Frankfurt. Er war Thor genug, mit dem Rumpfparlament nach Stuttgart zu gehen, und wurde in Folge dessen seines Adels für verlustig erklärt und zu einer entehrenden Strafe verurtheilt. Er entzog sich derselben durch die Flucht. Sollte ich es wie die Sandow machen, und mit in’s Exil laufen? Dummheit! Sollte ich dem Staate das Vermögen lassen und in der Fremde am Hungertuche nagen? Einfalt! Mein Sohn soll Carriere machen. Ich machte Gebrauch von dem, was das Gesetz gestattet, ich ließ mich scheiden und nenne mich wieder nach meinem Geburtsnamen, nach dem Namen meiner Ahnen: von Werner. Meinem Sohne, dem Lieutenant, wurde es gestattet, den Namen seiner Mutter zu führen. Für ihn ist und muß der Vater todt sein. Ich rettete meine Ehre und mein Vermögen. That ich unrecht?“

Alexandrine und ihre Mutter schwiegen; sie fühlten durch diese Worte sich eisig kalt berührt. Endlich sagte Letztere: „Und die Familie wäre Ihnen von früher her bekannt?“

Frau von Werner hielt in ihrem Gehen inne und sagte gedehnt: „Ich fürchte – ich war mit einer Sandow bekannt. Sie hatte damals nur eine Tochter; das Kind, die Marie, müßte in der Fremde geboren sein – so ein rechtes, echtes Elendskind! Aber kommen Sie, Alexandrine.“ rief sie wieder, ihre Rede kurz abbrechend, „es ist horribel, daß ich dem Kinde eine Armenjacke schenken mußte! Aber, mein Gott, warum folgte die Frau auch ihrem Manne! Kommen Sie, ich muß für die Frau Etwas thun, der Leute wegen!“

Alexandrine hörte das Letztere nicht mehr. Es drängte sie selbst, die Familie jetzt kennen zu lernen. Die Mutter lobte ihren Entschluß. „Recht, Kind, geh’,“ sagte sie leise. „Der Besuch wird, [340] denke ich, auch Deine Befürchtungen zerstreuen. Geh’ und suche die Worte Deiner Begleiterin zu mildern.“

Letzteres war nicht möglich. Der Anblick, der Empfang, der ihnen im Hause der Malerin zu Theil wurde, schlug jede gehegte Erwartung und Voraussetzung nieder. Elise stand vor ihrer Staffelei. Sie war mit ihren Gedanken, mit ihren Ideen bei ihrer Arbeit. Wie unwillig, ob der Störung, starrte sie die Eintretenden an. Wie kalt, wie majestätisch ernst blickte sie auf! Nur als Alexandrine mit ihrer kindlich, scheu mädchenhaften Freundlichkeit ihr nahe trat und sagte: „Herr Nordheim sprach von Ihnen; es drängte mich, Sie kennen zu lernen!“ glitt ein Hauch milder Freude über ihr Angesicht.

Als Alexandrinen bei Nennung des Namens eine feine liebliche Röthe unwillkürlich die Wangen überzog, ein leises Zittern in der Stimme sich bemerkbar machte, wurde ihr ernstes, dunkles Auge größer, und es war, als ob sie das Herz der Sprecherin bis auf den Grund erforschen wollte. Es war ein kurzer, aber peinlich-entscheidender Augenblick. Bei Beiden hatte der Name eine Fluth von Gedanken hervorgerufen; jede von ihnen schien erforschen und fragen zu wollen: was ist Dir der Genannte?

In diesem Augenblick trat die Mutter ein. Sie sah die Fremden, sie erkannte aber sofort die Aeltere und sagte, einen Schritt vortretend und Frau von Werner erstaunt ansehend: „Fanny!“ Es lag in diesem Worte unendlich viel.

Die Angeredete antwortete nicht; sie, die sonst nie um Worte verlegen war, die stets das Rechte, wenn auch schroff und entschieden, zu finden meinte, hatte verlegen, bleich den Blick gesenkt; sie, die kostbar, elegant Gekleidete, die stets Dominirende, stets Befehlende, stand vor der Kleinen, ärmlich Gekleideten, die in diesem Augenblick aber so hoch, so erhaben, so menschlich rein, voll weiblicher Würde und Größe, und doch mit gramdurchfurchten Zügen vor ihr stand, mit niedergeschlagenen Augen. Diese Minute zeigte, wer von Beiden im Leben das Rechte gethan.

Und wieder sprach die ärmlich Gekleidete, die Arme zur Reichen: „Fanny, müssen wir uns so wieder sehen? Denkst Du der Zeit, wo wir mitsammen Freude und Leid, als glückliche, nachbarlich zusammenwohnende Frauen, getheilt? Denke der Stunde, wo Du zum ersten Mal Dein Landgut betratest, das Dein Gatte Dir heimlich zum Geburtstagsangebinde gekauft hatte, und wo die transparenten, mit Blumen umkränzten Inschriften Dir entgegenleuchteten: „Willkommen, Fanny!“ Es ist anders geworden! Du stehst vor mir reich, vornehm, eine Andere, des Namens Deines Gatten Dich schämend. Er lebt im Exil. Der adlige Mann, der treue, liebende Gatte, der einst reiche Gutsbesitzer, fühlt sich glücklich, als unbedeutender Commis eines Handlungshauses sein Leben zu fristen, während Du – –! Laß mich schweigen! O Fanny! Du hast mich geschmäht, als ich treu, entschieden zu meinem Gatten hielt, unbekümmert um die Meinung der Welt, nur meinem Herzen, meiner Pflicht folgend. Wie hattest Du Deinen Gatten auf die Bahn des Fortschritts mit geleitet, als derselbe Aussicht auf Erfolg hatte – und wie nanntest Du es Thorheit, als er auch im Unglück seiner Ueberzeugung treu blieb! Ist dies Eure gerühmte Politik, Euer adliges Sein und Wesen?“

Die kleine Marie, die bislang scheu, verschüchtert an der Thür gestanden, während Alexandrine, keines Wortes mächtig, mit leuchtendem Blicke auf die Sprechende geschaut hatte, tief im Herzen den eigenen Muth wachsen fühlend, die Größe und Macht der Liebe erkennend, hatte sich herangeschlichen und die Mutter am Rock zupfend, während sie ihr Auge scheu, verschüchtert auf die Präsidentin gerichtet hielt, flüsterte sie laut, vernehmlich: „Mutter, das ist die Frau, die nach der Schule kam. Will sie uns doch in’s Armenhaus bringen?“

Frau Sandow zuckte bei diesen Worten heftig zusammen, ein unsagbarer Schmerz lagerte sich um ihren Mund, und rasch sich niederbeugend und ihren Liebling aufhebend, sagte sie bitter: „Fanny, spricht der Anblick dieses Kindes nicht mit Flammenschrift zu Dir? O Ihr reichen Leute, Ihr meint den Armen mit Eurem Gelde seine Schmerzen vergessen zu machen und wißt es nicht, wie tiefe Wunden Ihr damit schlagt. Gedenke, wenn Du wieder am Weihnachtsbaum stehst, daß auch der Arme ein Herz, eine Ehre hat, daß ein Wort der Liebe mehr Balsam enthält, als eine Jacke, mit der Du mein Kind für das Armenhaus einzukleiden gedachtest. Frau von Werner, unsere Wege trennen sich!“

Die Genannte, noch immer keines Wortes mächtig, trat einen Schritt näher; es war, als wolle auch sie das Kind erfassen, als wolle sie sprechen – doch die Thür ging auf, und Banquier Wallbot und der Assessor traten ein.

Alexandrine athmete freudig auf; alle Scheu überwindend, nur froh, daß sie einen Schutz, einen Beistand habe, eilte sie dem Geliebten entgegen und flüsterte, sich leise an ihn schmiegend: „Wie gut, daß Du kommst!“ Elise hatte dies Entgegenkommen bemerkt, sie hatte es gesehen, mit welcher Innigkeit, mit welcher zutraulichen Herzlichkeit Nordheim das junge Mädchen umfing, und in ihrer Brust zuckte es, als ob ein Messer durch ihre Seele ginge. Rasch fuhr sie sich mit der Hand über das Auge, als müsse sie einen schönen Traum, liebliche Bilder und Gedanken von hinnen scheuchen.

Wallbot aber hatte mit einem Blick das ganze Verhältniß der beiden Frauen, die sich in diesem Augenblick so kalt, so fragend gegenüberstanden, errathen. Er sah aber auch den unwilligen, ernsten Blick, mit dem er selbst von der Mutter der keinen Marie empfangen wurde, und rief, ihr seine Hand hinhaltend: „Schlagen Sie nur immer ein, meine liebe Frau Sandow. Herrn Nordheim habe ich bereits gebeichtet, und er wird gelegentlich meinen Fürsprecher machen. Ich komme als Mann, der ein begangenes Unrecht nach Kräften wieder gut machen will. Ihr Capital liegt für Sie bereit – und die Zinsen –“

Der starke, kräftige Mann, er konnte nicht weiter sprechen, er mußte sich mit der Hand über die Augen fahren, um seine Rührung zu verbergen. Er hatte das Aermliche der Wohnung erkannt – und fühlte, was die Frau bereits gelitten haben mußte. Rasch wendete er sich zu Elisen und sagte, gezwungen lachend: „Ihr nächstes Bild gehört mir, ich lege feierlich Beschlag darauf! Dem Assessor aber müssen wir den Kopf waschen, er allein hat mich verleitet, Ihren Navez von dem Sohr zu kaufen. Er ist der Urheber der ganzen Geschichte! – Ich würde sagen, Kind, fragen Sie ihn nicht allein bei Ihrer Kunst um Rath, sondern wenden Sie sich auch in allen andern Lebensverhältnissen an ihn; müßte ich nicht fürchten, daß seine kleine Nachbarin, die ihn so fest hält, als fürchte sie ihn zu verlieren, dagegen Einspruch thun würde. Die kleine Schelmin hat sein Herz gefangen!“

Alexandrine ließ den Arm ihres Begleiters rasch fahren und eilte hocherröthend zu Elisen. Sie umfing sie stürmisch und rief: „Wir wollen Freundinnen, herzinnige Freundinnen sein!“

Elise sagte nichts; sie umfing lautlos, still das junge Mädchen und drückte es fest an ihre hochklopfende Brust, indeß ihr Auge groß, sinnend, wie in eine endlose Leere hinstarrend, ausschaute.

Frau von Werner, die dem Ganzen mit wachsendem Interesse zugeschaut und längst ihre frühere Ruhe und Energie wieder erlangt hatte, wendete sich kalt, spöttisch lachend zur Thür und sagte hinausschreitend, wie zu sich selber sprechend: „Ridicül! Das hat man davon! Solche Leute wissen nichts von Ehre, Anstand; – Liebe – und immer Liebe! – Ridicül! – Der Wallbot ist ein Narr!“

Der Banquier sah sie gehen; er hörte seinen Namen und sagte, sich zu Nordheim wendend: „Kommen Sie, Frau von Werner hat das Weite gesucht. Lassen Sie uns ein Gleiches thun. Spätere Besuche werden Alles regeln!“ Und der Mutter und Elisen die Hand zum Abschiede reichend, sprach er. „Ade! Gott erhalte Sie. Auf Wiedersehen!“

Draußen aber sprach er zu Nordheim und seiner Begleiterin, der kleinen, still gewordenen, glücklichen Alexandrine: „Welch einen Schatz hat der Sandow an dieser Frau und seinen Kindern gehabt! Dagegen die Werner!“

Er sagte nichts weiter; Jeder dachte sich das Seinige. Drinnen im Zimmer aber ließ Marie ihre Puppe tanzen, fröhlich derselben erzählend, daß sie nun nicht in’s Armenhaus kämen. Die Mutter hatte wie betend die Hände gefaltet, und sich zu ihrer ältesten Tochter wendend, sprach sie: „Elise! es wird besser werden! Nun kannst Du froher, freudiger Deiner Kunst leben!“

Die Tochter umfaßte die Mutter, sie wollte nicht weinen und mußte es doch, leise, tiefgepreßt. Endlich sagte sie, mit Kraft sich aufrichtend und zu ihrer Arbeit gehend: „Es war ein Traum! – Ich habe ja noch Dich, Dich meine Kunst! – Ich will weiter schaffen!“


[341]
Aus dem Leben deutscher Schauspieler.
1. Ludwig Dessoir.


Ludwig Dessoir als Richard III.

Im Jahre 1825 erschien bei dem Theaterdirector Couriol in Posen ein armer, schmächtiger Knabe mit der Bitte, ihn an dessen Bühne zu beschäftigen. Der Herr ließ sich erweichen und gab dem aufgeweckten Burschen eine Anstellung als Rollenschreiber, Theaterdiener und Billetverkäufer. Aber der Ehrgeiz ließ demselben nicht Ruhe, bis er selbst die Breter betreten durfte, welche die Welt bedeuten. Er quälte seinen Director so lange, bis ihm dieser gestattete, in dem Körner’schen Drama „Tony“ als Negerknabe „Nangki“ aufzutreten. Der angehende Künstler, der merkwürdiger Weise später als Mohr in Shakespeare’s Othello seine größten Triumphe [342] feiern sollte, hieß Ludwig Dessoir, jetzt ein Stern ersten Ranges an dem deutschen Theaterhimmel. Nachdem er noch so glücklich gewesen war, in einigen kleinen Rollen zu debütiren, machte der Herr Director in Stettin, wohin derselbe von Posen sich begeben hatte, Bankerott, und der junge Schauspieler sah sich gezwungen, sein Bündel zu schnüren und ein ferneres Engagement in der weiten Welt zu suchen. Von edlem Ehrgeiz schon damals erfüllt, beabsichtigte der fünfzehnjährige Künstler nichts Geringeres, als auf der königlichen Hofbühne und zwar in der Rolle des „Wilhelm Tell“ aufzutreten, wovon er sich einen ganz außerordentlichen Erfolg versprach. Natürlich wurde sein kühnes Anerbieten zurückgewiesen, aber er ließ sich nicht so leicht abschrecken, indem er sich mit demselben Anliegen an die damals in ihrem höchsten Glanze stehende Königsstädtische Bühne wendete. Der Regisseur derselben, Herr Nagel, gab ihm nach einer kurzen Prüfung den Rath, noch zu wachsen und sich erst bei einem kleinen Theater auszubilden, indem er ihn zunächst nach Spandau wies, wo der Director Krausnick, ein Bruder des bekannten Oberbürgermeisters von Berlin, mit seiner Truppe Vorstellungen gab. Hier fand Dessoir ein Engagement und spielte trotz seiner Jugend Liebhaber, Helden, komische Rollen und Bösewichter gegen ein äußerst bescheidenes Honorar.

Eines Tages befand sich ganz Spandau und besonders das Theaterpersonal in keiner geringen Aufregung. Es hatte sich nämlich wie ein Lauffeuer die Nachricht verbreitet, daß der gefürchtete Kritiker Saphir, der damals in Berlin ein satirisches Blatt herausgab, mit einigen jungen Schriftstellern in Spandau eingetroffen sei, um sich einen Jux zu machen. Am Abend besuchte natürlich die lustige und ziemlich angeheiterte Gesellschaft den Tempel Thalia’s, wo die „Ahnfrau“ von Grillparzer gegeben wurde. Hinter den Coulissen herrschte Heulen und Zähneklappern, und selbst den Muthigsten pochte das Herz. Mit Hohngelächter wurden von den verwöhnten Berlinern die Leistungen der „Bande“ aufgenommen, die erste Liebhaberin, die Tochter des Herrn Directors, trotz ihrer Schönheit verspottet, so daß sie weinend von der Bühne eilte. Jetzt kam die Reihe auch an Dessoir, der den „Jaromir“ gab und rückwärts auf die Scene stürzte, um sein Gesicht wenigstens beim ersten Auftreten den Spöttern zu entziehen. Alles ging auch gut, bis er sich im Verlauf der Rolle gezwungen sah, seine Vorderseite dem Publicum zu präsentiren. Da erschallte ein entsetzliches Gelächter über den jungen Künstler, so daß er nicht zu Worte kam und fast besinnungslos in den Stuhl niedersank, bis ihn der ehrwürdige Castellan mitleidsvoll beim Arm ergriff und mit sich fortzog. Hinter der Coulisse empfing ihn die Frau Directorin und löste ihm das Räthsel, indem sie auf seine weißen, durch einen häßlichen Fleck entstellten Tricots deutete. Trotz dieses Unfalls gelang es Dessoir im ferneren Verlaufe seiner Darstellung die Theilnahme und den Beifall des gefürchteten Saphir in dem Maße zu gewinnen, daß dieser in einer humoristischen Beschreibung seiner Fahrt nach Spandau folgende Aeußerung that: „Unter den Schauspielern befindet sich ein junger Mann, der den Jaromir mit vielem Feuer spielte. Es wäre traurig, wenn ein solches Talent in diesem Wust und Treiben untergehen sollte!“

In Spandau machte Dessoir auch die interessante Bekanntschaft des Uhrmachers Naundorf, der sich später für den Sohn des unglücklichen Ludwig XVI. von Frankreich ausgab und Ansprüche auf den Thron von Frankreich erhob. Derselbe war damals ein eifriger Theaterfreund und lebte unter ziemlich beschränkten Verhältnissen in Spandau, durch nichts ausgezeichnet, als durch seine Fertigkeit in der französischen Sprache. Nie sprach er mit Dessoir über seine hohe Abkunft, obgleich der damals ungefähr vierzig Jahre alte Naundorf den jungen Schauspieler sehr lieb gewonnen hatte und täglich mit ihm verkehrte. Oefters machten Beide einen Spaziergang von Spandau nach Berlin, um einer Vorstellung im königlichen Schauspielhause beizuwohnen, wobei sie aus ökonomischen Gründen die Gallerte besuchten und ihr mitgebrachtes frugales Abendbrod dort verzehrten, ein Beweis, daß der Erbe Frankreichs sich damals nicht eben in glänzenden Verhältnissen befand. Auf dem Rückwege nach Spandau in später Nacht spielte dann Dessoir das eben gesehene Stück seinem Begleiter vor, der, je toller jener schrie und gesticulirte, um so stärker applaudirte und seinen Beifall zu erkennen gab. Nach langen Jahren, in denen er nichts von seinem Freunde gehört, war Dessoir nicht wenig erstaunt, aus den Zeitungen zu erfahren, welche Ehre ihm in Spandau zu Theil geworden. Damals hoffte er durch die Verwendung seines hohen Gönners mindestens eine Anstellung am „Theatre Français“ zu finden, wenn erst Naundorf den Thron seiner Väter bestiegen. Leider aber gingen diese Träume nicht in Erfüllung, indem der arme Prätendent bekanntlich im Schuldgefängnisse endete.

Bei einer solchen Wanderung nach Berlin mit Naundorf oder einem andern Freunde that auch Dessoir das Gelübde, daß er es dahin bringen wolle, noch einmal auf der königlichen Bühne aufzutreten und zwar über die große Freitreppe seinen Einzug in das Berliner Schauspielhaus zu halten. Obgleich von seinem Begleiter verspottet und ausgelacht, hat Dessoir seinen Schwur treulich erfüllt und sein Wort mit der ihn charakterisierenden Energie gehalten. Im Jahre 1847, wo er von dem damaligen Intendanten, Herrn von Küstner, zu einem Gastspiel eingeladen worden war, betrat er, wie er sich vorgesetzt, die königliche Bühne, indem er zugleich in Erinnerung an sein früheres Gelübde sich das gewöhnlich verschlossene große Portal öffnen ließ und über die nur ausnahmsweise benutzte Freitreppe zu dem Tempel seines Ruhms emporstieg, so daß er wörtlich sein sich selbst gegebenes Versprechen erfüllte.

Ehe er aber zu diesem hohen Ziel gelangte, wurde der Künstler von dem launenhaften Schicksal vielfach herumgetrteben; Jahre lang führte er das wechselvolle Leben des wandernden Komödianten an verschiedenen kleinen umherziehenden Bühnen und sogenannten „Schmieren“. So irrte er durch Pommern, Sachsen und Schlesien, allerlei komische und mitunter auch tragische Abenteuer erlebend. In einer kleinen Stadt gab er zu seinem Benefiz den „Hamlet“, obgleich ihm der praktische Director und alle Welt abgerathen und das damals sehr beliebte „Donauweibchen“ empfohlen hatten. Aber Dessoir wollte den Hamlet spielen, und wenn er auch keinen Groschen darauf einnehmen sollte. Nach hergebrachter Sitte mußte er die Honoratioren des Städtchens selbst einladen und von Haus zu Haus herumwandernd die Billete abzusetzen suchen. Es hatte die vorangehenden Tage zufällig stark geregnet, und die schlecht oder gar nicht gepflasterten Straßen glichen einem Sumpf. Aus Vorsorge hatte er sein einziges und bestes Paar Beinkleider hoch aufgestreift, um sie nicht zu beschmutzen. Seine Stiefeln jedoch trugen, da er, wie sich denken läßt, den Luxus der Ueberschuhe noch nicht kannte, deutlich die Spuren des langen, schlechten Weges. Eine ganze Wagenladung von Straßenschmutz heftete sich an seine Absätze und hinterließ, wohin er trat, die deutlichen Spuren seiner Gegenwart. In diesem Aufzuge trat er in das Zimmer einer begüterten Matrone, um sein Anliegen vorzubringen und sie zum Besuch des Hamlet einzuladen. Aber ehe er noch ein Wort sprechen und seine Wünsche ihr vortragen konnte, fielen ihre scharfen Blicke auf die unglücklichen Stiefeln, welche die weißen, sorgsam gescheuerten Dielen verunreinigten. „Will Er wohl ’raus!“ schrie ihm die zornige Frau entgegen. „Will Er wohl ’raus. Er Schw…d!“ Und als Dessoir zögerte, hetzte sie ein Rudel von Hunden, mit denen sie umgeben war, auf den armen Künstler, der schleunig die Flucht ergriff. Nicht viel besser erging es ihm bei seinen übrigen Besuchen, so daß er nach Abrechnung der Tageskosten auf seinen Antheil siebzehn Silbergroschen und zehn Pfennige erhielt. Dennoch hätte er mit keinem Könige getauscht; hatte er doch den Hamlet gespielt!

Auch nach Muskau, wo der berühmte Fürst Pückler residirte, wurde die Bande verschlagen, aber Niemand wollte sie aufnehmen, bis die Wirthin des Rathskellers, eine zärtliche Wittwe, sich der armen Künstler erbarmte und ihnen ein Unterkommen gewährte, gerührt von der kräftigen Schönheit des ersten Liebhabers. In der Hoffnung, vor dem Hofe spielen zu dürfen, lebten die ausgehungerten Jünger Thaliens auf Kosten der verliebten Wirthin in Saus und Braus, bis diese selbst sammt ihren Gästen von ihren unerbittlichen Gläubigern eines Tages an die Luft gesetzt wurde. Zu dieser Verlegenheit wendete sich der Herr Principal de- und wehmüthig an die Fürstin, da der Fürst selbst abwesend war, mit der Bitte, einige Vorstellugen in dem kleinen reizenden Hoftheater geben zu dürfen. Die Erlaubniß wurde ertheilt, und an dem bestimmten Abende erschien auch die Fürstin, eine Tochter des bekannten preußischen Ministers Hardenberg, die „angebetete Julie“ in den „Briefen eines Verstorbenen“, mit ihrem ganzen Hofstaat und sämmtlichen Beamten. Dessoir, welcher im letzten Act erst auftrat, hatte sich zu dieser festlichen Gelegenheit mit Aufopferung seines ganzen Vermögens einen neuen blauen Leibrock mit gelben Messingknöpfen anfertigen lassen und erwartete, damit Aufsehen zu erregen. Wer aber beschreibt seine Gefühle, als sich die Fürstin [343] schon nach dem zweiten Act erhob und mit ihrem Gefolge das Theater verließ! Am nächsten Tage erhielt der Director eine angemessene Summe und den Rath, Muskau so schleunig als möglich zu verlassen, den er auch so pünktlich erfüllte, daß er seine Gläubiger zu bezahlen vergaß.

Endlich gelang es dem vagabundirenden Künstler, ein Engagement bei einer festen Bühne und zwar beim Theater in Lübeck zu finden, aber auch hier war seines Bleibens nicht lange, weil nur im Winter gespielt wurde und im Sommer die Gesellschaft auseinander stiebte. Wieder mußte Dessoir zum Wanderstabe greifen und von Stadt zu Stadt pilgern, um ein Unterkommen zu suchen. So gelangte er auf dem Wege nach Wiesbaden in das Städtchen Höchst, wo er müde vom Wege im Wirthshause ausruhte und sich mit einem Schoppen sauren Aepfelweins stärkte.

Als er darauf zum Thor hinaus mit dem Ränzchen auf dem Rücken wieder weiter zog, begegnete er auf der Landstraße einem Herrn in eleganter Kleidung, der ihm wunderbar bekannt vorkam. Unwillkürlich sah er ihn an, und auch der Fremde, vielleicht von einem ähnlichen Gefühl ergriffen, blickte ihm forschend in’s Gesicht. Ohne zu grüßen, eilte Dessoir an ihm vorüber, aber wie gezwungen drehte er sich noch einmal um und wieder begegnete er den nachstarrenden Blicken des Unbekannten, die eine magnetische Gewalt auf ihn auszuüben schienen. Noch einmal, wo der Weg sich theilte, wendeten sich Beide gleichzeitig nach einander um, dann schritten sie jeder seiner Straße. Erst nachdem der Fremde aus seinen Augen geschwunden war, machte sich Dessoir Vorwürfe, daß er ihn nicht angeredet, da er in ihm seinen älteren Bender, den er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen, erkannt zu haben glaubte. Dieser Bruder war ebenfalls Schauspieler, aber damals bereits ein berühmter und durch seine Genialität ausgezeichneter Künstler am Hoftheater zu Braunschweig. Als Dessoir nach Wiesbaden kam und bei dem dortigen Director Haake sich wegen eines Engagements meldete, erfuhr er, daß sein Bruder daselbst in einigen Gastrollen aufgetreten sei und augenblicklich als Gast bei einem adligen Gutsbesitzer, Baron Schweitzer, in der Nähe verweile. So sehr er sich aber auch sehnte, den Bruder an sein Herz zu drücken, so wollte er sich ihm in seinen jetzigen traurigen Verhältnissen und abgerissenen Kleidern nicht präsentiren, am wenigsten aber ihn bei seinen vornehmen Bekannten aufsuchen. Erst als der Director Haake nach wiederholter Weigerung ihm ein Engagement mit einem monatlichen Gehalt von 36 Gulden, eine für ihn bis dahin unerhörte Summe, anbot, entschloß sich Dessoir, seinem Bruder zu schreiben und ihn zu seinem Debut in Wiesbaden einzuladen.

An dem Abend, wo er den „Brausen“ in den „humoristischen Studien“ gab, meldete ihm der Theaterdiener kurz vor der Vorstellung die Ankunft eines fremden Herrn, der ihn zu sprechen wünschte. Obgleich er wußte, daß es sein Bruder war, ließ er ihn bitten bis nach der Vorstellung zu warten, da er die allzugroße Erschütterung für sein entscheidendes erstes Auftreten mit Recht fürchtete. Nachdem er glücklich und nicht ohne Beifall seine Rolle, mehr das Urtheil des ebenfalls gegenwärtigen Bruders und berühmten Künstlers als des Publicums fürchtend, zu Ende gespielt hatte, verließ er mit klopfendem Herzen die Bühne. Draußen an der Treppe erwartete ihn ein hoher, schöner Mann, der ihn lautlos umarmte, während die heißen Thränen über seine Wangen rollten. Auch Dessoir weinte, und so hielten sich die Brüder nach langer Trennung fest umschlungen, zu ergriffen, um ein Wort zu sprechen.

Endlich führte der ältere Bruder den jüngeren mit sich fort in ein nahegelegenes Weinhaus. Was hatten sich Beide nicht Alles zu erzählen von ihrer Vergangenheit, von der Heimath und von ihrem Künstlerleben! Dessoir war besonders darauf gespannt, das Urtheil seines Bruders über seine heutige Leistung zu erfahren. Dieser lobte sein Spiel, setzte jedoch hinzu: „aber Du hast bei dieser Scene zu viel gelacht.“ Wieder verging einige Zeit, und sie sprachen von ganz anderen Dingen, als der ältere Bruder von Neuem rief: „aber Du hast zu viel gelacht.“ Nach einer Weile wiederholte er dieselben Worte immer stärker, immer heftiger, wohl mehr als funfzig Mal, sodaß jener sich eines unheimlichen Gefühls nicht zu erwehren vermochte. Schon früher hatte er ein dumpfes Gerücht gehört, daß der geniale Künstler an periodischem Wahnsinn leide und deshalb das Hoftheater in Braunschweig verlassen habe. Er konnte nicht mehr an der Wahrheit zweifeln, sein hochbegabter Bruder, den er erst wiedergefunden – war wahnsinnig.

Dessoir blieb in seinem Engagement und folgte seinem Director nach Mainz, wo er bald ein Liebling des Publicums wurde, während sein unglücklicher Bruder sich von ihm trennte, in Deutschland herumirrte und bis nach Laibach an die äußerste Grenze ging, überall mit Beifall gastirend, aber wegen seiner Krankheit kein festes Unterkommen findend. Nach längerer Wanderung kehrte er endlich verarmt nach Mainz zurück, wo er ein Asyl bei dem jüngeren Bruder suchte und auch fand. Dieser spielte damals mit großem Beifall den „Fahnenjunker Schrankenau“ in dem bekannten Drama „die Soldaten“ von Arresto. Nach der Vorstellung ging der Unglückliche, dessen Lob Dessoir verdient zu haben glaubte, schweigend neben ihm her, ohne sich über seine Leistung zu äußern, bis jener ihn dringend um seine Meinung fragte. „Du bist ein Komödiant geworden,“ sagte der wahnsinnige Künstler, „ein bloßer Komödiant, ohne Wahrheit und Natur, die Du als Anfänger noch besessen hast.“ Und nun entwickelte er ihm mit schneidender Kritik die Mängel seines Spiels, so daß Dessoir gestehen mußte, daß sein Bruder Recht habe. Derselbe wurde von nun an in seinen klaren Stunden der Lehrer Dessoir’s, der ihm einen großen Theil seiner Bildung und seines nachherigen Künstlerruhms zu verdanken hatte. Auf Dessoir’s Verwendung gestattete der Director Haake dem Unglücklichen, auf dem Theater in Mainz aufzutreten; er gab den „Lear“ und zwar mit so großartigem Erfolge, daß der Herzog von Nassau ihn in derselben Vorstellung in Wiesbaden zu sehen wünschte. Dies geschah auch, aber schon im zweiten Acte überfiel den armen Künstler sein altes Leiden; der Wahnsinn Lear’s war nicht mehr vollendete Kunst, sondern grauenvolle Wahrheit und Natur, so daß der Vorhang plötzlich fallen mußte und die Vorstellung nicht zu Ende gegeben werden konnte.

Traurige Tage und furchtbare Nächte verlebte jetzt Dessoir mit seinem Bruder, der fortwährend mit Selbstmordgedanken umging und den er keinen Augenblick unbewacht lassen durfte. Eines Tages stürzte der Wahnsinnige sich auf einen österreichischen Officier, der in Begleitung eines großen Hundes, welcher sein Mißfallen erregt hatte, über die Mainzer Brücke ging. Der so plötzlich angegriffene Militär griff nach seinem Degen, um den Beleidiger seiner Ehre zu durchbohren. Nur durch Zeichen war es Dessoir möglich, den Officier zu belehren, daß er es mit einem Wahnsinnigen zu thun habe, und so den Unglücklichen vor dem sicheren Tode zu retten. Später, als Dessoir ein Engagement in Leipzig bei dem bekannten Director Ringelhardt angenommen hatte, führte sein genialer Bruder seinen längst gehegten Vorsatz aus, indem er sich im Wahnsinn unter den seltsamsten Umständen selbst das Leben nahm.

In Leipzig gefiel Dessoir dem Publicum mit jedem Tage mehr und mehr, indem er die größten Fortschritte machte, wie die höchst anerkennenden Kritiken Heinrich Laube’s, der damals die Zeitschrift „Europa“ daselbst redigirte, hinlänglich bekundeten. Trotzdem gab er schon nach kurzer Zeit seine angenehme Stellung auf, um der höchst talentvollen und reizenden Liebhaberin Fräulein Reimann zu folgen, welche bald seine Gattin wurde. Das junge Ehepaar fand in Breslau ein vortheilhaftes Engagement und wurde in kurzer Zeit der Liebling des dortigen Publicums. Beide wurden allgemein geachtet und geliebt, verehrt und auf den Händen getragen. Leider sollte dies Glück nur von kurzer Dauer sein, die aus Liebe geschlossene Ehe wurde durch häusliche Zwistigkeiten vielfach gestört und endlich getrennt. Unter diesen Umständen konnte und wollte Dessoir nicht länger in Breslau bleiben, aber die Theilnahme für ihn war im Publicum so groß, daß sein letztes Auftreten auf der dortigen Bühne zu einer in der Geschichte des Theaters nie erlebten Scene die Veranlassung wurde. Am Schlusse erhob sich ein nie erhörter Sturm, den der Künstler nur durch einige passende Worte und durch das Versprechen seiner baldigen Wiederkehr zu beschwichtigen vermochte.

Von Neuem begann der indeß zum wahren Künstler herangereifte Mann ein herumschweifendes Wanderleben, doppelt beschwerlich nach solchen Vorgängen. Zunächst wandte er sich nach Berlin, wo ihm die Aussicht zu einem Gastspiele an der Hofbühne eröffnet worden war. Aber ein eigener Unstern vereitelte seine Pläne; auch in Prag, wo er einige Mal mit Beifall auftrat, mußte er dem bekannten Affenspieler Klischnig weichen, für den der auf seine Casse bedachte Director Stöger und das Publicum schwärmten. Nicht glücklicher war er in Wien, wo er auf Empfehlung von Laroche und Peche auf dem Hofburgtheater unter der Direction des Dichters Deinhardstein gastirte. Er hatte den „Ferdinand“ in Schiller’s „Kabale und Liebe“ gewählt, eine seiner besten Rollen, [344] die er in Breslau mit dem größten Beifall gegeben hatte; aber seine eigene Befangenheit und vor Allen der Rath Deinhardstein’s und der Wiener Schauspieler, Maß zu halten und die Traditionen des Burgtheaters zu beachten, wirkten so erkältend auf seine Darstellung, daß er dem Publicum keinen Beifall abzugewinnen vermochte. Endlich gelang es ihm in Pesth ein eben so vortheilhaftes, als auch für seine künstlerische Entwickelung wichtiges Engagement abzuschließen. Hier fand er bald die verdiente Anerkennung und Bewunderung seines sich immer glänzender entfaltenden Talents. Zugleich lernte er daselbst Fräulein Pfefer, die Tochter einer der angesehensten und wohlhabendsten Familien, kennen, die den allgemein geachteten Künstler später mit ihrer Hand beglückte. Ein Gastspiel, wozu er nach Karlsruhe eingeladen war, führte, trotzdem er von dem Publicum daselbst mit dem größten Beifall aufgenommen wurde, nicht zu dem gewünschten Resultat, das er bald darauf nach dem Abgang des ersten Liebhabers Carl Devrient unter den glänzendsten Bedingungen erlangte. Bis zum Jahre 1849 verblieb Dessoir als Mitglied des dortigen Hoftheaters, hochgeachtet als Mensch und Künstler, anerkannt von der Kritik und von der großherzoglichen Familie. Sein Leben und Wirken gestaltete sich immer freundlicher, sein Ruf verbreitete sich durch ganz Deutschland, so daß ihm zuletzt von der Berliner Hofbühne unter dem Generalintendanten von Küstner ein Gastspiel angeboten und somit sein Herzenswunsch erfüllt wurde, in der Stadt der Intelligenz aufzutreten.

Leider geschah dies zu einer höchst ungünstigen Zeit und zwar im Jahre 1847, während des sogenannten Kartoffel-Aufstands in Berlin. Die Straßen waren mit tobenden Volkshaufen gefüllt, so daß der Künstler nur mit Mühe durch die wogende Menge bis zum Schauspielhause dringen konnte, wo er, getreu seinem Schwur als Jüngling, über die große Freitreppe seinen Einzug hielt. Trotzdem unter diesen Verhältnissen die Vorstellung nur schwach besetzt war, feierte Dessoir gleich den ersten Abend einen glänzenden Triumph. Unter den Zuschauern, die den fremden Künstler durch ihren Beifall ehrten, befand sich der damalige Prinz von Preußen, der jetzige König Wilhelm I., der mit am lebhaftesten ihm applaudirte. Mit jeder neuen Rolle stieg seine Beliebtheit, und bei der letzten Gastrolle, welche Shakespeare’s Othello war, verlangte das Publicum so stürmisch seine Anstellung in Berlin, daß er sich genöthigt sah, gegen das ausdrückliche Verbot, einige Worte an die aufgeregte Menge zu richten, um dieselbe zu beschwichtigen. Wurde auch Dessoir damals noch nicht engagirt, weil alle Fächer besetzt waren, so hinterließ er doch ein so ehrenvolles Angedenken, daß die Intendanz ihr Augenmerk für den Fall einer Vacanz auf ihn gerichtet hielt. Reich an Anerkennung und Lob kehrte der Künstler nach Karlsruhe zurück, wo im Jahre 1849 der badische Aufstand ausbrach. Der Großherzog mußte flüchten, das Hoftheater wurde aufgelöst, und Dessoir gastirte in Hamburg, als in Berlin der bekannte Hofschauspieler Hoppé starb, an dessen Stelle er sogleich berufen wurde.

Seitdem zählt Dessoir zu den beliebtesten und angesehensten Mitgliedern des Berliner Schauspiels; vorzugsweise gilt er für den würdigen Repräsentanten und Vertreter des classischen Drama’s. In den Tragödien Shakespeare’s, Schiller’s und Goethe’s befriedigt er in gleicher Weise den Kenner wie das Publicum durch die Tiefe seiner Auffassung, die innere Kraft seiner Darstellung und die Energie des leidenschaftlichen Pathos. Sein Richard III., Othello, Coriolan, Hamlet, Brutus, Butler etc. sind in jeder Beziehung Meisterwerke, in denen er den Zuschauer überrascht und mit sich fortreißt. Nicht minder glänzt er in den Werken neuerer Künstler als „Caligula“ in Halm’s „Fechter von Ravenna“ und als „Narciß“ in dem gleichnamigen Drama von Brachvogel, eine Rolle, die er geschaffen hat und die kein zweiter Darsteller in Deutschland mit ähnlicher Vollendung giebt. Diese Erfolge sind um so höher zu veranschlagen, da Dessoir, wie sein berühmter Vorgänger Seydelmann, von der Natur nicht besonders begünstigt ist; sein Organ klingt rauh, seine Gestalt ist für den Heldenspieler zu klein und gedrungen. Wie Seydelmann hat auch er Alles sich selbst und seinem Geiste zu verdanken. Von den meisten seiner Collegen unterscheidet er sich durch das geistige Gepräge, das er jeder seiner Rollen zu geben weiß, und selbst da, wo der Kenner mit seiner Auffassung nicht einverstanden sein kann, wird er doch der immer interessanten Leistung mit Spannung folgen und den echten Künstler, auch wo er irrt und sich vergreift, sogleich erkennen. Dessoir verschmäht die kleinen Hülfsmittel, die gewöhnlichen Theaterkunststücke; stets ergreift er seine Rolle in ihrer Totalität, in großen Zügen, indem er jede kleinliche Detailmalerei und Effecthascherei mit Absicht vermeidet. Seine Charaktere sind aus einem Guß, historische Bilder von mächtiger poetischer Wirkung und Wahrheit, keine Genregemälde der modernen Schule, die den Sinn für das höhere Drama und die classische Tragödie verloren zu haben scheint. Er dringt in die Tiefe seiner Aufgabe mit seltenem Scharfblick und läßt sich nicht wie die Mehrzahl seiner Collegen an der Oberfläche genügen. Deshalb tragen alle seine dramatischen Gebilde den Stempel der Innerlichkeit und Gediegenheit. Immer sind seine Intentionen groß und von einem idealen Hauch durchweht, wenn auch zuweilen das Maß seiner Kräfte ihre vollendete Ausführung nicht zuläßt. Man erkennt zu jeder Zeit in ihm den philosophischen Künstler, der mit dem Dichter Hand in Hand geht und den Schatz der Poesie zu heben sucht, wodurch er einen besondern Reiz auf jeden gebildeten Zuschauer ausüben muß. Die männliche Energie, welche ihn auch als Menschen charakterisirt und gleichsam das Geheimniß seiner Erfolge enthält, bewahrt ihn jedoch vor der gewöhnlichen Schwäche der sogenannten denkenden Schauspieler und verleiht seinen Leistungen die nöthige plastische Kraft und Leidenschaft. Deshalb gelingen ihm auch solche Rollen am besten, in denen eine dämonische Natur gewaltsam hervorbricht und die tiefe zurückgehaltene Leidenschaft plötzlich emporschießt, wie im Othello Shakespeare’s und in dem Schiller’schen Butler, oder die Helden des Gedankens, wie Hamlet.

Diesen Eigenschaften verdankt Dessoir seine Stellung am Hoftheater und die Anerkennung des Publicums und der Kritik, welche in ihm den würdigsten Darsteller Shakespeare’s und der deutschen classischen Dichter erblickt. Ganz besonders war es der ausgezeichnete Dramaturg Rötscher, der die Verdienste des Künstlers in ausführlicher Weise gewürdigt und die einzelnen Rollen Dessoir’s eingehend besprochen hat; weshalb wir auf ihn verweisen müssen, da der uns gestattete Raum eine weitere Behandlung der verschiedenen Rollen nicht erlaubt. – Im Jahre 1853 erhielt Dessoir die Aufforderung, sich einer Gesellschaft der vorzüglichsten deutschen Schauspieler anzuschließen, die in London eine Reihe von Vorstellungen mit großem Beifall eröffnete. Hier in der Heimath Shakespeare’s gab der Künstler den Othello; kein geringes Wagstück, nachdem der berühmte Edmund Kean in dieser Rolle die höchsten Triumphe gefeiert hatte, so daß kein Schauspieler, selbst nicht der eigene Sohn Kean’s, es wagte, nach ihm in derselben Rolle aufzutreten. Trotzdem Dessoir mit solchen fast unüberwindlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, gelang es ihm, das von traditionellen und nationalen Vorurtheilen erfüllte Publicum nach und nach zu begeistern und in dem Maße zu befriedigen, daß die englische Kritik und besonders Lewes, der berühmte Verfasser von „Goethe’s Leben“, ihn als den würdigen Nachfolger Kean’s, des besten englischen Schauspielers, anerkannten und ihm an die Seite stellten. – In dem Atelier des ausgezeichneten Hofphotographen L. Haase ist vor Kurzem ein Album erschienen, welches Dessoir in seinen Hauptrollen darstellt. Diesem Album ist das der Gartenlaube zu diesem Zwecke überlassne Bild des Künstlers als Richard III. entlehnt.

Max Ring.



Vor- und Rathschläge zu Sommercuren.

Wer’s irgendwie möglich machen kann, mag er kank oder gesund sein, der sollte es auch stets thun, nämlich in schöner Jahreszeit sein Haus und Geschäft auf einige Zeit verlassen, um in Gottes schöner freier Natur seinen Körper recht ordentlich abzumausern und zu restauriren. Denn nichts fördert die Reinigung unseres Körpers von unbrauchbaren, durch ihre widernatürliche Anhäufung im Blute sogar gefahrbringenden Stoffen (Organenschlacken) mehr, als eine zweckmäßige Bewegung bei passender Kost und erquickender Ruhe (des Geistes, Gemüthes und Körpers) in reiner (zumal sonniger Wald-) Luft.

[345] Durch die Entfernung jener Gewebsschlacken aus unsern Organen und dem Blute, die sich in Folge der Lebensthätigkeiten durch Abnutzen der thätigen Organe fortwährend bilden, kann sich sodann das gereinigte Blut bei Aufnahme passender Nahrungsstoffe und hinreichender Lebensluft recht ordentlich mit dem Neubau (der Verjüngung) unserer Körpergebilde beschäftigen, vorausgesetzt natürlich, daß wir seinen Lauf durch alle Theile unseres Körpers nicht nur nicht erschweren, sondern soviel als möglich fördern.

Die auf Badereisen in flottern Gang gebrachten Mauserungs- und Verjüngungs-Processe innerhalb unseres Körpers, die sind es nun auch, welche in den allermeisten Fällen bei den sogen. Badecuren das eigentliche Heil bringen, nicht aber die Mineralstoffe des gebrauchten Trink- oder Badewassers. Ja, fast stets werden Badecuren erfolglos oder sogar schlecht ablaufen, sobald dabei Etwas gethan wird, was jenen Processen hindernd in den Weg tritt. Und weil das sehr oft der Fall ist, darum eben nützen die meisten Badecuren so wenig. Die Behauptung ist gewiß nicht zu kühn, daß, wenn diejenigen, welchen eine Badecur nichts genützt oder sogar geschadet hat, gerade so den Erfolg dieser Cur ausposaunten, wie diejenigen, welche angeblich Vortheil davon gehabt haben, daß dann sicherlich in Bälde die Mineralquellen, – nicht aber die Bade- und rationellen Heilorte, wo man sich’s nicht nur wohl sein lassen, sondern auf naturgemäße Weise auch gesunden kann, in Verruf kämen.

Wie komisch ist es nicht, wenn ein von seinem Arzte in’s Bad geschickter Kränklicher aus weiter Ferne auf seiner Reisetour, gewissermaßen um die Probe auf seinen heimischen Arzt zu machen, in allen größern Städten, die er passirt, die verschiedenen Heilpäpste consultirt und von diesen das für ihn zweckmäßigste Bad zu wissen wünscht! In der Regel empfiehlt dann fast jeder dieser Heilheroen ein anderes Lieblingsbad, und zwar mit einer Wichtigkeit, als ob wenigstens das Leben des Patienten davon abhinge, so daß diesem schließlich, wenn er aus der Ungewißheit über seine Badezukunft herauskommen will, nichts weiter übrig bleibt, als nach dem Gebrauche mehrerer Trink,- und Badewässer zu guter Letzt außer Fichtennadel- und Seebädern noch eine Traubencur durchzumachen.

So ziemlich in jedem Badeorte kann nun aber der Gesunde wie Kranke seinen Zweck, nämlich die Kräftigung oder Wiederherstellung seiner Gesundheit, erreichen, nur muß er dort auch consequent alles das thun oder lassen, was sein Zustand verlangt oder vermieden wissen will. Und da nun vor allen Dingen eine behagliche Gemüthsruhe das wichtigste Erforderniß bei Curen außer dem Hause ist, so lasse der Bade- und Gesundheitsreisende alle Arten von Grillen und Sorgen, von Wehen und Suchten hübsch zu Hause und suche sich zur Mauserung und Verjüngung seines Ichs entweder ein behagliches, seinen Wünschen entsprechendes gemächliches Plätzchen in gesunder schöner Gegend, aber freilich mit den nöthigen Bequemlichkeiten aus, oder wandere sich die versetzten unnützen Abreibsel seiner Organe tüchtig weg. – Die Wahl eines Bades für Erholungsbadende läßt sich am besten nach den Bedürfnissen und Sympathien des Badereisenden treffen, z. B. nach der Vorliebe desselben für eine bestimmte (ebene, bergige, waldige) Gegend, ferner für eine gewisse Kost, sowie für eine besondere Gesellschaft und Unterhaltung. – Wir würden nun den bade- und reiselustigen Lesern mit Rücksicht auf ihren Gesundheits- und Krankheitszustand etwa folgende Vor- und Rathschläge ertheilen.

Für das übrigens gesunde, nur durch seinen Beruf etwas abgespannte Mehrheitsgeschöpf giebt es nichts Besseres als eine Wandercur; denn mit College Richter (welcher in Nr. 4 des Jahrgangs 1862 der Gartenlaube treffliche praktische Regeln zu dieser Cur gegeben hat) behaupten wir: „so ein paar Wochen Freiheit, welche man, in Land und Flur herumstreifend, am besten in den Bergen umherkletternd, zubringt, das ist eine Medicin, köstlicher und heilsamer als irgend eine aus der Apotheke.“ Aber auch diese Wandercur des Gesundheits-Reisenden will mit der nöthigen Vorsicht gebraucht werden, wenn sie wirklich Nutzen schaffen soll. Denn man kann leider auch das Gegentheil davontragen, sich durch eine solche Reiseart krank, ja zeitlebens untüchtig machen. Darum beachte man die Richter’schen Rathschläge.

Die sonst gesunden, aber durch anstrengende, besonders geistige Arbeit geschwächten Geschäftsleute, Diplomaten und Gelehrte, deren Köpfe so voll Zahlen, Speculationen und Definitionen, voll Anträgen und Adressen, voll Plänen zu Erfindungen und Entdeckungen stecken, daß ihnen das Gehirn brummt und alle Nerven zittern, deren Schlaf und Appetit unordentlich zu werden anfängt, denen im Hause nichts mehr recht gemacht wird und die an der Grenze der sogenannten Nervosität stehen, die werden am besten durch eine Ausruhecur mit Ausflügen in einem gemüthlichen, ihnen zusagenden Aufenthaltsorte – ob mit oder ohne Frau ist sehr zu überlegen, jedenfalls aber ohne Courszettel, Kreuzzeitung und Kammerberichte – erfrischt und gekräftigt. Wer von diesen Geschäftsmatten es dahin bringen kann, daß er sich bei dieser Cur zeitweilig alles ernstlichen Denkens zu enthalten im Stande ist, der wird seinen Apparat für die geistige Arbeit (das Hirn-Nervensystem) ziemlich schnell wieder auf die Beine bringen. Bei dieser Ausruhecur ist der Aufenthalt in freier, reiner (besonders sonniger Wald-) Luft und eine nicht zu anstrengende Bewegung (nur Excursionen in die Nachbarschaft), während welcher die Lebens- und Gesundheitspumpe (der Athmungsapparat; s. Gartenl. 1859. Nr. 20) gehörig spielen muß, nicht zu entbehren. Dagegen sind alle erregenden Einflüsse, zu denen nicht blos körperliche (wie Kälte, Spirituosa, starker Kaffee, Thee und Tabak, Sinnesanstrengungen), sondern auch geistige und gemüthliche (wie Leidenschaften aller Art, Spiel, größere Gesellschaften etc.) gehören, fern zu halten. Die äußere Anwendung des kalten Wassers (als Bad, Uebergießung, Abreibung) muß, weil Kälte eines der stärksten Reizmittel für die Nerven ist (s. Gartenl. 1856. Nr. 40), streng untersagt werden, ein warmes Bad von Zeit zu Zeit ist aber zu empfehlen.

Nervenschwachen, Blutarmen und Kraftlosen, die sich durch große Magerkeit und Schwäche, widernatürliche Blässe der Haut und Schleimhaut (der Lippen, des Zahnfleisches, der Zunge, der Innenfläche des Augenlides) und leicht erregbares Nervensystem (mit allerhand unangenehmen Empfindungen und vorübergehenden Zuckungen allerwärts) charakterisiren, kann nur eine kräftigende Ruhecur in behaglicher Abgeschiedenheit helfen. Diese besteht aber in der Anwendung der allergrößten Ruhe (in körperlicher, geistiger, gemüthlicher und geschlechtlicher Hinsicht), des unausgesetzten Athmens einer reinen (sonnigen Wald-) Luft, einer guten Milch (nicht Molken, denen gerade das kräftigende Nahrhafte fehlt) und der Wärme. (Ausführlicheres s. Gartenl. 1862. Nr. 39.) Das kalte Wasser in seiner äußern Anwendung (Bäder, Waschungen etc.) ist für diese Patienten geradezu Gift. Möchten sie doch das, was wir schon früher sagten, recht beachten: „Die hauptsächlichsten Verstöße, welche kraftlose, blutarme und nervenschwache Personen bei der Heilung ihrer Leiden machen und welche auch die Schuld davon tragen, daß derartige Kranke trotz aller Curen doch nur äußerst selten ihre volle Lebenskraft wieder erlangen, sind folgende: die Patienten setzen auf die eisenhaltigen Trink- und Badewässer mehr Vertrauen, als auf eine zweckmäßige Nahrung (Milch); sie halten kalte Bäder (Seebäder) für Stärkungsmittel; sie meinen sich durch vieles Spazierengehen kräftigen zu können; sie streben, um die Gedanken von ihren Beschwerden abzuziehen, nach aufregenden Zerstreuungen und Vergnügungen. Und so kommt es denn, daß das, was bei einer solchen Cur die Milch und die Luft gut machen, das kalte Wasser, übermäßiges Spaziergehen und ermattende Gesellschaften (nicht selten auch die gesundheitswidrige Kleidung der Patientinnen) wieder verderben. Kurz, nur äußerst selten werden bei den Kräftigungscuren diejenigen diätetischen Gesetze beobachtet, welche stets, aber nur wenn sie alle zusammen gehalten werden, zur Heilung führen.“

Der bleiche, magere Hustekranke, der von den Aerzten in der Regel nach Salzbrunn, Ems oder Soden etc. dirigirt wird, kann seiner Brust überall, wo er sich in einer gegen Nord- und Ostwind geschützten, sonnigen und waldigen Gegend der kräftigenden Athmungscur mit rechter Gemüthsruhe (besonders ohne Heimweh) und ohne Verstöße gegen die hierbei streng zu beobachtenden diätetischen Gesetze unterwirft, aufhelfen. Eine Athmungscur muß diese Cur insofern sein, als sie einestheils auf die einzuathmende Luft, welche bei Tag und bei Nacht eine reine und warme sein muß, den größten Werth zu legen, und anderenteils den Act des Athmens mit in ihr Bereich zu ziehen hat. Das Einathmen geschehe nämlich behutsam (nicht eilig und gewaltsam) und werde durch Uebung allmählich immer tiefer; die eingeathmete reine, warme Luft werde so lange, als es ohne Anstrengung und Beschwerden möglich ist, in den Lungen zurückbehalten und dann ganz langsam (vielleicht durch ein feines Röhrchen oder durch die Nase bei geschlossenem Munde, wieder ausgeatmet. Alles, was das Athmen sehr beschleunigt und Herzklopfen veranlaßt, schadet. Die Kräftigung bei [346] dieser Cur wird natürlich am besten durch gute und zwar fette Milch (nicht Molken) besorgt; die übrige Nahrung sei gehörig fett- und salzhaltig. (Ausführlicheres s. Gartenl. 1859. Nr. 47.)

Wer am Magen leidet, der kann als seinen Curort nur den betrachten, wo er die passende Magendiät führen und warmes Wasser ohne großen Salzgehalt genießen kann, denn jede Arznei, sowie jedes kalte und mineralreiche Wasser ist dem kranken Magen äußerst nachtheilig. Diese Magendiät wurde in der Gartenlaube 1860 Nr. 7 ausführlich besprochen und besteht aus dem Vermeiden kalter, reizender und harter Genußmittel.

Dem fettleibigen, mit Unterleibsunbehaglichkeiten aller Art oder mit hartnäckiger Verstopfung Behafteten, sowie dem hypochondrischen Hämorrhoidarius empfehlen wir die Warmwasser-Wandercur mit obligater Tiefathmung. Wie diese Cur und ihre Hülfsmittel zu hand- und fußhaben sind, lasse man sich aus der Gartenlaube 1863, Nr. 14; 1862, Nr. 4; 1859, Nr. 20 und 1860, Nr. 21 erklären. – Wer mit dem Stuhle viel Blut verliert, beruhige sich nicht mit dem Worte „hämorrhoidalisch“, sondern unterwerfe seinen Mastdarm einer ganz genauen Untersuchung, die aber vom Arzte sofort nach einer Entleerung des kranken Mastdarmes anzustellen ist.

Bei Frauenkrankheiten, wenn sie mehr örtlicher als allgemeiner Natur (mit Blutarmuth, Nervosität) sind, können Badecuren nur wenig helfen, denn hier muß die Behandlung auch eine vorzugsweise örtliche sein. Wo in einem Badeorte das passende örtliche Mittel (mit einem geübten Heilkünstler) angetroffen wird, da ist dieses allerdings dem zu Hause vorzuziehen.

Daß die sogenannten scrophulösen Kinder in Soolbäder u. dergl. geschafft werden müssen, das finden Aerzte wie Eltern ganz unvermeidlich; daß aber eine gute Luft und eine zweckmäßige Nahrung, vorzugsweise die Milchdiät, weit wichtiger noch als die warmen Bäder (meinetwegen denn mit Soole oder Mutterlaugensalz) sind, das wird nicht genug beachtet.

Ueber Sommercuren bei spezielleren Leiden später.

Bock.



Deutschlands Nationalturnfest im Jahre 1863.
Von Georg Hirth.

„Als nun die Botschaft in das Reich ging,
Da fuhr ein reger Geist in alles Volk.“

Die letztverflossenen Jahre haben einen großen, vorher kaum geahnten Aufschwung des deutschen Volksbewußtseins erstehen sehen. Nach den Schrecknissen der Schlacht bei Solferino zog ein neuer, heilbringender Geist in ganz Europa ein; in unserem Vaterlande hatte er schon kurz vorher Wurzeln gefaßt mit dem Eintritt der damals vielverheißenden Regentschaft in Preußen. Nun regte sich’s überall zu Gunsten des lange gehemmten Fortschritts, der deutsche Einheitsgedanke, der fast erdrückt schien von der Last einer zehnjährigen Gedankenlosigkeit, wurde mächtiger und mächtiger, zündete immer mehr und dehnte sich, genährt durch eine friedliche, aber consequente Agitation, auf die Massenschichten der Bevölkerung aus.

Die Nationalfeste der letzten Jahre waren es namentlich, die solch neues Leben hervorzaubern halfen; jene großen Versammlungen, die Hunderte und Tausende aus allen Gauen des Vaterlandes in froher Festgemeinschaft vereinigten und die volksthümliche Idee, so zu sagen, erst wirklich populär machten und verkörperten. Denn zu dem Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit kam hier das einheitliche Streben auf verschiedenen praktischen Gebieten des Volkslebens; beide ergänzten sich, das eine wuchs mit dem andern und richtete sich an ihm empor.

Den Anfang machten die Turnvereine, von denen eine größere Zahl, als man allgemein annimmt, in rühmlichem Festhalten an der Sache die Reactionsperiode der fünfziger Jahre überstanden hatte. Wenigstens zeigte das erste, in den Tagen vom 16.-18. Juni 1860 zu Coburg unter dem Schutze eines freisinnigen Fürsten abgehaltene Turnfest einen gesunden, kräftigen Kern, wohl geschaffen, dem nun folgenden großartigen Aufschwung des Turnwesens einen sicheren Halt, eine gedeihliche Entwicklung zu geben. Das über alles Erwarten günstige Gelingen dieses ersten deutschen Turnfestes ermuthigte die Gesangvereine zu gleichem Thun, und so sahen wir einen Monat später in den Mauern derselben Stadt und unter derselben Theilnahme des Volkes Deutschlands Sänger ein aus allen Theilen des Vaterlandes beschicktes erstes Gesangfest feiern. Im Jahre 1861 folgte das erste deutsche Schützenfest zu Gotha, das zweite Sängerfest zu Nürnberg und das zweite Turnfest zu Berlin, im Jahre 1862 auch ein zweites Schützenfest zu Frankfurt a. M. – großartige nationale Feiertage, wie das deutsche Volk seit lange keine begangen.

In Berlin hatte die Turnsache wiederum einen glänzenden Triumph gefeiert. Die Bevölkerung der zweitgrößten Stadt Deutschlands war der Turnerjugend mit einer Herzlichkeit entgegengekommen, die am Schluß des Festes zum einstimmigen Jubel wurde; die Presse war voll vom Lobe der herrlichen Tage, „eines Festes, wie Berlin noch keines gesehen,“ und selbst die Kreuzzeitung konnte nicht umhin, einen gelinden Weihrauch zu streuen. Damit war nun zwar die Zukunft der deutschen Turnfeste vollständig gesichert, zugleich aber war es offenbar geworden, daß sich von nun an nur große Städte zu Festorten eigneten. Die Wahl der Turnvereine fiel zuerst auf Nürnberg, doch entschied sich später der in Berlin gebildete „Ausschuß der deutschen Turnvereine“ dafür, daß das dritte allgemeine Fest im Sommer 1863 in Leipzig und erst ein viertes im Sommer 1865 zu Nürnberg abgehalten werden solle. Für Leipzig sprach mehr als ein triftiger Grund. Schon am 18. September 1861, noch ehe die deutsche Turnerschaft über die Wahl des nächsten Festortes im Klaren war, beschlossen die Stadtverordneten eine Zuschrift an den Stadtrath des Inhalts: „Das Collegium, welches die Wahl Leipzigs zum Festorte des dritten allgemeinen Turnfestes mit Freuden begrüßen würde, erklärt sich bereit, die zu einer würdigen Feier desselben erforderlichen Kosten zu verwilligen, und giebt dem Wunsche Ausdruck, daß die Behörden die Wahl Leipzigs in jeder Hinsicht begünstigen möchten.“ Und der Rath antwortete am 16. October: „Er sei dem Beschlusse der Stadtverordneten, daß sie die Wahl Leipzigs zum Festorte mit Freuden begrüßen würden, einstimmig beigetreten, sei bereit, die Wahl der Stadt in jeder Weise zu begünstigen, und werde die seitens der Stadtverordneten ausgesprochene Bereitwilligkeit, die zu einer würdigen Feier des Festes erforderlichen Kosten zu verwilligen entsprechend benutzen.“ Dazu kam der Umstand, daß der sehr zahlreiche Leipziger Turnverein seit einer langen Reihe von Jahren die erste Stelle unter allen deutschen Turnvereinen eingenommen hatte, daß die Turnsache bei der Bevölkerung und den Behörden Leipzigs mehr als irgend anderswo in Ansehen stand.[1] Endlich sprach für die Wahl Leipzigs die Erinnerung an den vor fünfzig Jahren dort entschiedenen Befreiungskampf.

Die Aufgabe, welche nun den Leipzigern zufiel, war keine geringe. Zwar hatte man voraussichtlich nicht mit Vorurtheilen gegen die Turnsache zu kämpfen, die z. B. die Vorbereitung des nachmals so wohlgelungenen Berliner Festes schwierig gemacht; im Gegentheil, es fehlte nicht an Entgegenkommen seitens der Bevölkerung und der Behörden der Stadt, auch die sächsische Regierung hatte bereitwillig die Abhaltung des Festes gestattet. Die Schwierigkeit lag in dem großartigen Umfang, den das Fest annehmen mußte, und in der Eigenthümlichkeit der zu treffenden Anordnungen. Nach dem erneuten Aufschwunge des Turnvereinwesens in allen deutschen Gauen, namentlich im Königreich Sachsen und den benachbarten Ländern, mußte man von vornherein auf eine Zahl von 10–15,000 auswärtigen Festtheilnehmern rechnen, die nicht nur alle gemeinschaftlich verkehren und jubeln, sondern auch turnen und wohnlich untergebracht sein wollten. Aehnliches [347] hatte kein einziges der bisher abgehaltenen Volksfeste aufzuweisen; man mußte also einen selbständigen, ganz neuen Plan entwerfen.

In voller Würdigung dieser Umstände und mit rühmlicher Hingabe und Umsicht nahm der Turnrath des Leipziger Turnvereins die vorläufigen Beratungen schon Anfang vorigen Jahres auf, in der Absicht, seine Vorschläge einem später zu gründenden großen Festausschuß, gebildet aus angesehenen und einflußreichen Bürgern der Stadt Leipzig und Freunden der Turnsache, vorzulegen. Denn der Turnrath war, wie er selbst ausgesprochen, von vornherein der Ueberzeugung, daß die ihm unmittelbar zur Verfügung stehenden Mittel und Kräfte nicht hinreichen würden, das Fest so zu gestalten, daß es den Erwartungen der Turnerschaft wie der Stadt Leipzig gleicherweise genüge. Diese Erwartungen gingen ja nicht auf ein Fest hinaus, wie es eine einzelne Gesellschaft einigen Gästen, sondern wie es ein großes bürgerliches Gemeinwesen der gesammten Jugend der Nation giebt. So versammelten sich denn am 17. Januar d. J. auf Einladung des Turnraths über 150 Männer, die sich einmüthig bereit erklärten, dem Gelingen des Festes ihre Kräfte zu widmen. Damit waren die Festvorbereitungen in ein neues, wichtiges Stadium ihrer Entwickelung getreten, die Lösung der schwierigen Aufgabe um ein Bedeutendes gesicherter.

Nach dem von der constituirenden Versammlung einstimmig angenommenen Organisationsplan bestand der nun gebildete Gesammtfestausschuß aus einem Centralausschuß und sieben Specialausschüssen. Wir wollen die Zusammensetzung und die Aufgaben derselben hier kurz andeuten, um ein übersichtliches Bild von der Art und Weise zu geben, wie die mannigfachen Vorarbeiten zum Feste vertheilt sind. Voraus bemerken wir, daß jeder der Unterausschüsse sich selbstständig zu organisiren, sein eigenes Bureau zu wählen und das Recht hat, sich nach Bedürfniß durch eigne Wahl zu ergänzen. Also:

Der Centralausschuß bestehend aus 6 Mitgliedern, und zwar Bürgermeister Dr. Koch, Stadtrath E. Sander, Stadtverordnetenvorsteher Dr. Joseph, Turnvereinsvorstand Kaufmann P. Bassenge, Vorsitzender, Banquier A. Mayer (Firma Frege u. Co.), Advocat F. v. Zahn II. – hat die oberste Leitung sämmtlicher Festanglegenheiten und vertheilt die Geschäfte an die Specialansschüsse nach Maßgabe ihrer Bestimmung; er wird von allen Ausschußbeschlüssen vor deren Ausführung in Kenntniß gesetzt.

Dem Finanzansschuß (14. Mitglieder, Vorsitzende Bürgermeister a. D. Berger und Kaufmann J. C. Cichorius) sind angewiesen: Die Beschaffung der erforderlichen Gelder, Aufstellung eines allgemeinen Budgets, Druck, Ausgabe und Verkauf der Fest- und Eintrittskarten, Einrichtung eines auf dem Festplatze anzulegenden Wechselcontors, Berichtigung sämmtlicher Rechnungen, Stellung der allgemeinen Schlußrechnung.

Dem Bauausschuß (22 Mitglieder, Vorsitzende Stadtrath R. Härtel und Baudirector Dost) fällt die Herstellung und Beseitigung sämmtlicher durch das Fest nöthig werdender baulicher Einrichtungen und unbeweglicher Decorationen zu.

Der Wirthschaftsausschuß (20 Mitglieder, Vorsitzende Advocat P. v. Zahn I. und Stadtrath W. Felsche) hat die Verträge mit den Wirthen abzuschließen, die Aufsicht über die Wirthe und die allgemeine Aufsicht in der Festhalle.

Der Wohnungsansschunß (55 Mitglieder, Vorsitzende Adv. J. Tscharmann und Adv. Th. Winter) hat die Aufsuchung und Prüfung der für die Gäste erforderlichen Wohnungen, die Verhandlungen mit den Verkehrsanstalten, den Empfang der ankommenden Gäste und die Ausgabe der Wohnungszettel zu besorgen.

Dem Turnausschuß (17 Mitglieder, sämmtlich Turnlehrer und Vorturner; Vorsitzende Director Dr. Lion und Kaufmann O. Faber) kömmt die Ausstattung des Festturnplatzes mit den nöthigen Geräthschaften, die Vorbereitung des allgemeinen und besonderen Leipziger Schauturnens, die Verkündigung und Aufrechterhaltung der Turnordnung, die Anordnung und Aufstellung der turnerischen Festzüge zu.

Der Festordnungsausschuß (33, Mitglieder, Vorsitzende Goldarbeiter J. Müller und Adv. Dr. H. Mayer) hat die Beschaffung der beweglichen Decorationen (Festzeichen, Vorturnerbinden, Schärpen, Standarten, Preiskränze etc.), die Besorgung eines Locals für die Begrüßungsfeierlichkeit und den Turntag, Veranstaltung etwaiger Lustbarkeiten auf dem Festplatze, die Anordnung der Festlichkeiten am vierten Tage des Turnfestes.

Dem Festpolizeiausschuß (25 Mitglieder, Vorsitzende Adv. Max Rose und Prof. Dr. Winter) endlich sind zugewiesen die Besorgung der angemessen erscheinenden ärztlichen Hülfe und die feuerpolizeilichen Vorkehrungen auf dem Festplatze, die Handhabung der allgemeinen Sicherheitspolizei und der Ordnung daselbst, sowie die polizeiliche Unterstützung sämmtlicher Ausschüsse.

Man sieht auf den ersten Blick, daß der Haushalt des Festausschusses mit Geschick angelegt ist und Nichts zu wünschen übrig läßt. Selbstverständlich bestehen nun innerhalb der einzelnen Unterausschüsse so und so viele größere und kleinere Commissionen. Tüchtige Kräfte sind reichlich vorhanden und entsprechend vertheilt; so ist es fast selbstredend, daß die Spitzen der Kaufmannschaft ihren besten Wirkungskreis im Finanzausschuß, Architekten, Baubeflissene und Maler im Bauausschuß, Turnlehrer im Turnausschuß, Schriftsteller und Künstler im Festordnungsausschuß, Aerzte und Beamte im Festpolizeiausschuß gefunden haben.

Seit ihrer Gründung am 17. Januar herrschte reges Leben in der großen, vielgegliederten Körperschaft. Selten verging wohl ein Tag, an dem nicht irgend einer der acht Ausschüsse oder irgend eine Untercommission berathen hätte. Herüber und hinüber floß der Meinungsaustausch, und nicht selten bedurfte es angestrengter, wenn auch friedlicher Debatten, um über diesen oder jenen zweifelhaften Punkt in’s Klare zu kommen. Da waren es Hunderte von Kleinigkeiten, die reiflich erwogen werden mußten; wollte man doch nicht nur ein glänzendes, sondern auch ein in jeder Beziehung vollendetes und solides Fest vorbereiten. – Eine der Hauptfragen bildete das Budget, das, bevor an größere Ausgaben zu denken war, möglichst genau festgestellt und von den städtischen Behörden genehmigt sein mußte – ein schwieriger Punkt, von dessen Entscheidung das Wohl und Wehe des ganzen großartigen Unternehmens abhing. Anfang April d. J. konnte dies Budget dem Stadtrathe und den Stadtverordneten vorgelegt werden und einstimmig wurde in beiden Instanzen eine Summe von 75,000 Thlrn. verwilligt; ja es wurde sogar ein Antrag des Stadtverordneten Bassenge, des Vorsitzenden des Centralausschusses, wonach dessen Mitglieder für etwaige Ueberschreitungen jener Summe persönlich zu haften sich bereit erklären sollten, abgeworfen! – (Nach den Budgetanschlägen würde nach Abzug allermuthmaßlichen Einnahmen ein Deficit von ca. 29,000 Thlrn. bleiben.)

Unter den allgemeinen Festkosten stehen in erster Linie die Ausgaben für die baulichen Einrichtungen auf dem Festplatze. Dieser Platz, circa fünfhundert Schritt von der Stadt vor dem Zeitzer Thore, zwischen der Chaussee nach Connewitz und der baierischen Eisenbahn gelegen, wurde schon zu Anfange vorigen Jahres von der Stadt für die Zwecke des Turnfestes eingeräumt. Daß man gerade dieses Ackerfeld und nicht einen der näheren Wiesengründe im Westen und Südwesten der Stadt zum Festplatze ausersehen, erklärt sich aus den häufigen Ueberschwemmungen, denen die letzteren im Sommer ausgesetzt sind. – Auf die nach der baierischen Bahn zugekehrte Seite des 1½ Million Quadratfuß haltenden Platzes kömmt die Festhalle zu stehen. Bestimmt, einen Mittelpunkt für den geselligen Verkehr der ganzen Festgenossenschaft abzugeben, mußten ihre räumlichen Einrichtungen auf das gleichzeitige Unterkommen von Tausenden berechnet sein; andererseits mußte dem äußeren Eindruck Rechnung getragen werden – und dies war, wollte man nicht das Festbudget mit unerschwinglichen Summen belasten, eine schwierige Klippe. Den in jeder Beziehung ansprechenden und zweckmäßigen Entwurf, der nunmehr bestimmt zur Ausführung kömmt, verdankt der Bauausschuß seinem thätigen Mitglied Architekten Lipsius. Die Festhalle, die den Bauunternehmern an 70,000, dem Festausschuß nach Rückgabe der Baumaterialien 28,000 Thaler kostet, bildet ein längliches Rechteck von 60 Ellen Breite und 324 Ellen Länge; zwei an den Breitseiten angebrachte vieleckige Ausbauten (Polygonen) geben der Halle eine Gesammtlänge von vierhundert Ellen. In seiner Längenrichtung besteht das Gebäude aus einem Mittelschiff (30 Ellen breit, bis zum Dach 28, bis zum First 34 Ellen hoch) und zwei Seitenschiffen (je 15 Ellen breit und 16½, bez. 20 Ellen hoch). Die Vorderfaçade[2] wird durch einen großen Mittelbau ausgezeichnet, der die Hauptzugänge zur Halle weithin sichtbar macht. Dieser Mittelbau trägt zwei Thürme von 55 Ellen Höhe, zwischen denen sich auf geschmackvollem Fußgestell eine Germania erhebt. An jedem der [348] beiden mittleren Thürme befindet sich ein großes, Abends transparentes Zifferblatt, auf deren einem die Stunden, dem anderen die Minuten von 5 zu 5 angegeben werden. Zwei Eckthürme auf den Seiten der Halle haben je eine Höhe von fünfzig Ellen und sind mit Treppenhäusern und Gallerien zur Umsicht versehen. An der vorderen Seite der Bedachung des Mittel- und Seitenschiffes vom Hauptbau sowohl als den Anbauten sind in gleichen Abständen 114 Fahnen mit den Farben und Wappen der deutschen Staaten und größeren Städte angebracht. Die Hauptfahnen auf den Thürmen (auf den beiden mittleren derselben bis zur Spitze 85 Ellen

Vorderansicht der Festhalle zum dritten deutschen Turnfest zu Leipzig.
Nach dem Entwurf des Architekten Lipsius gezeichnet von Sprosse.

hoch) tragen die deutschen Farben; die Fahnen auf den Ecken der Thürme dagegen die der Stadt Leipzig und Sachsens. Die Vorderseite des Mittelbaues hat 9 durch Fahnentrophäen ausgezeichnete Portale, von denen sich drei im Vorbau, je zwei unter den mittleren Thürmen befinden. Außerdem sind auf den Seiten der Vorderfaçade noch zehn, an den Eckthürmen noch je zwei Eingänge. – Der innere Raum der Halle gewährt Sitzplätze für sechstausend Personen. Die Tafeln laufen in der Längenrichtung des Gebäudes. In derselben Richtung gehen drei Gänge zwischen durch, von denen der mittlere zu acht, die beiden zur Seite zu vier Ellen Breite angenommen sind. Der Raum unter dem Mittelbau enthält nur die Rednertribüne und Plätze für den Festausschuß. Das Innere der beiden polygonischen Anbauten wird durch zwei Orchester für Instrumental- und Vocalmusikaufführungen ausgefüllt. Gegenüber den vorderen Eingängen befinden sich in der Halle vier große Büffets, welche mit den dahinter liegenden zwei Küchen – jede ca. 50 Ellen lang und durchschnittlich 15 Ellen breit – in Verbindung stehen. Jede dieser Küchen hat in ihrer Mitte einen 9 Ellen langen, 3½ Ellen breiten Kochheerd, ferner 4 eingemauerte Kessel à 350 sächsische Meßkannen und 4 Bratöfen mit doppelten Röhren, je 1½ Elle breit, 2 Ellen tief. Zwischen beiden Küchen ist ein 60 Ellen langer Raum zum Reinigen des Geschirrs etc. gelassen, mit ihnen in Verbindung stehen 2 Eishäuser, eine Halle für die Tischwäsche, ein Contor für die Wirthe etc. Die Beleuchtung der Halle geschieht durch Gas, das aus der Stadt auf den Festplatz geleitet wird. Lediglich für den Bedarf der Küchen werden hinter der Festhalle zwei Brunnen (außer zwei anderen auf dem Festplatz) gegraben. (Die gesammte Schank- und Speisewirthschaft in der Halle ist gemeinschaftlich von vier Leipziger Wirthen übernommen worden. Soviel uns von dem bisherigen Uebereinkommen dieser Herren bekannt ist, werden allein für den Dienst in der Festhalle ca. 250 Kellner angestellt, 2000 Dutzend Teller, 2000 Schüsseln, 6000 Paar Messer und Gabeln, ca. 10,000 mit auf das Fest bezüglichen Sinnbildern versehene Biergläser, eine entsprechende Zahl von Weingläsern etc. angeschafft werden.)

Der Festturnplatz, den bei Weitem größeren Theil des Festplatzes einnehmend, bildet in der Mitte einen 252,000 Quadratfuß [349] großen Raum lediglich zur Ausführung von Massenfreiübungen (durch ca. zehntausend Mann) dar. Die vier Eckplätze, jeder ca. hunderttausend Quadratfuß enthaltend, sind für das Geräthturnen bestimmt. Im Ganzen werden hier sechshundert Turngeräthe aufgestellt, und zwar 200 Recke, 200 Barren, 200 Sprunggeräthe, darunter 80 Pferde, 40 Böcke, 40 Freispringel und 40 Sturmspringel. Auf jeden einzelnen der vier Plätze kommen 50 Recke, 50 Barren, 20 Pferde, 10 Böcke, 10 Frei- und 10 Sturmspringel zu stehen. (Die Kosten für Beschaffung und Aufstellung dieser Geräthe, die durchweg neu und zum großen Theil schon jetzt fertig sind, hat der Turnausschuß auf 3142 Thaler veranschlagt.) Auf der Westseite des Festplatzes sind zwei Zuschauer-Tribünen errichtet, je 325 Ellen lang und 37 Ellen breit, die zusammen Raum für zehntausend Personen gewähren. Der Freiübungsplatz, der außer der für das Turnen angesetzten Zeit dem geselligen Verkehr übergeben ist, enthält eine Tribüne für die Leiter des Turnens und die Festredner; außerdem noch vier Tanzplätze und ebenso viele Orchester, unter denen sich unterirdische Privets befinden.

Der vom Turnplatz und der Festhalle nicht eingenommene Raum des Festplatzes wird von Buden und Zelten besetzt werden. Die Zahl derer, die sich um Ueberlassung kleiner Stücken Platzes beworben haben, ist nicht unbedeutend; Schankwirthschaften, photographische Ateliers, kohlensaure Trinkhallen, Kaufläden etc. werden sich hier in buntem Gemisch zusammendrängen. Dazu kommen noch die verschiedenen Büreaux des Festausschusses, ein Wechselcontor, ein telegraphisches, ein Post- und ein Festzeitungsbüreau u. s. w. – Der ganze Festplatz ist in einer Länge von neunzehnhundert Ellen, soweit ihn nicht die Tribünen begrenzen, durch eine 4 Ellen hohe Planke aus übergedeckten Bretern eingeschränkt. Eine zweite Einplankung, über siebenhundert Ellen lang und nur 1½ Elle hoch, grenzt den eigentlichen Turnplatz vom Zuschauerraum ab. Für die Festzüge wird eine eigene Ehrenpforte erbaut, für den täglichen Verkehr besondere Ein- und Ausgänge offen gehalten; für Droschken und Omnibusse ist ein Halteplatz außerhalb der Umplankung bestimmt.

Alles das, was wir in gedrängter Kürze hier mitgetheilt haben, umfaßt aber nur einen, wenn auch nicht den geringsten Theil der Arbeiten, die der Festausschuß zu vollbringen hatte. Wir erinnern nur an die schweren Pflichten des Wohnungsausschusses, der „fürsorglichen Mutter“ der zum Feste erwarteten Turngenossen. Wahrlich, es ist keine kleine Aufgabe, zehntausend und wer weiß wie viel mehr Leuten Quartier, und noch dazu freies Quartier zu schaffen. Ein Glück, daß man sich in Leipzig unter einem Turner kein vorweltliches und urwäldliches Ungethüm mehr vorstellt. Die Turnsache und ihre Jünger werden, wie es ja bei vernünftigen und praktischen Leuten gar nicht anders sein kann, von der wackeren Leipziger Bevölkerung hochgehalten, und mit Freuden wird sie die deutsche turnende Jugend aufnehmen, die es, sollte die Noth an den Mann gehen, wohl auch nicht verschmähen wird, ein schlichtes [350] Nachtlager auf einem der nahen Dörfer zu beziehen. – Auch dafür, daß die Turner mit möglichst geringen Kosten ihre Reise nach Leipzig machen können, hat der treffliche Wohnungsausschuß gesorgt. Auf Antrag des „mitteldeutschen Eisenbahnverbands“, an den man sich deshalb wandte, hat die Direction des deutsch-österreichischen Eisenbahnverbandes an alle Bahnverwaltungen das Ersuchen ergehen lassen, den Besuchern des Leipziger Festes freie Rückfahrt zu gewähren, und es ist dies, soviel uns bekannt, bisher vom besten Erfolg gewesen. (Zur Erlangung der Fahrpreisermäßigung ist an den betreffenden Abfahrtsstationen die Festkarte vorzuzeigen, welche schon vor dem 1. Juli – im Falle der Inhaber auf freie Einquartierung Anspruch macht – gegen Zahlung von 1 Thaler bestellt sein muß.)

Damit es schon vor dem Feste nicht an Gelegenheit fehle, zwischen dem Festausschuß und den Festtheilnehmern vermittelnd und anregend zu wirken, werden von Mitte Juni an beim Verleger der Gartenlaube „Blätter für das dritte deutsche Turnfest zu Leipzig, herausgegeben von G. Hirth und Ed. Strauch“ erscheinen – eine Festzeitung, die, im Ganzen etwa 12 Nummern haltend, auch noch während und nach dem Feste ausgegeben werden und nach ihrer Vollendung ein würdiges Gedenkbuch zur Erinnerung an das Fest sein soll. Sie wird alle Bekanntmachungen des Festausschusses, Originalaufsätze über Leipzig und seine Schlachtfelder, eingehende Festbeschreibungen etc. enthalten.

Soweit das Festprogramm sichergestellt ist, mag hier noch Einiges über den Verlauf des Festes und bezügliche Einrichtungen gesagt sein; die „Gartenlaube“ wird von nun an regelmäßig über alle weiteren Schritte des Festausschusses so schnell als möglich Bericht erstatten.

Sonnabend, den 1. August. Empfang der fremden Gäste auf den fünf Bahnhöfen der Stadt und Geleitung derselben nach dem Schützenhause, wo der Wohnungsausschuß seine Quartierbüreaux, für jede Landsmannschaft eines, aufschlagen wird. Abends Begrüßung der Festgäste seitens der städtischen Behörde und Uebertragung des formellen Festpräsidiums an den Ausschuß der deutschen Turnvereine im Schützenhaus. Hierauf in den festlich decorirten Räumen desselben Locals Concert und geselliger Verkehr. (Sonnabend Nachmittag Sitzung des Ausschusses der deutschen Turnvereine im Turnrathszimmer der Leipziger Turnhalle.)

Erster Festtag, Sonntag, 2. August. Morgens Reveille. Um 11 Uhr Vormittags Beginn der Verhandlungen des Turntags (d. i. einer Versammlung von etwa 300 gewählten Vertretern der deutschen Turnvereine) im großen Saale des Schützenhauses. Während dem findet von 10 Vormittags an ein Eröffnungsconcert auf dem Festplatze statt; ob gleichzeitig auch ein Schauschwimmen in der Elster angesetzt werden wird, ist noch nicht bestimmt. Mittags 1 Uhr Essen in der Festhalle; Nachmittags Unterhaltungsmusik auf dem Festplatze, beziehendlich in der Festhalle; von 7 Uhr an Instrumentalconcert mit Männergesangsaufführungen (von den sämmtlichen Leipziger Liedertafeln unter Leitung des Festausschußmitgliedes Director Dr. Langer) in der Festhalle.

Zweiter Festtag, Montag, 3. August. Morgens Reveille. Vormittags elf Uhr Aufstellung, um zwölf Uhr Abmarsch des Festzugs, der, lediglich aus Festtheilnehmern und Mitgliedern deutscher Turnvereine gebildet, sich in einer Stärke von circa fünfzehn- bis zwanzigtausend Mann durch die Straßen der Stadt nach dem Festplatze bewegen wird. (Die Aufstellung geschieht auf dem Augustusplatz und in den benachbarten Anlagen in der Ordnung nach Landsmannschaften, die einander so folgen werden: Preußen, Schlesier, Pommern, Märker, Mecklenburger, Holsten und Hamburger, Friesen, Hannoveraner, Kurhessen, Niederrheiner, Mittelrheiner, Oberrheiner, Schwaben, Baiern, Thüringer, Sachsen, Oesterreicher.[3] Jeder Landsmannschaft wird eine Standarte, den Abgesandten jedes einzelnen Ortes ein Schild mit betreffenden Inschriften vorangetragen.) Um drei Uhr Nachmittags beginnt auf dem Festplatze das allgemeine Schauturnen, eingeleitet durch eine Rede, gehalten von Dr. Goetz aus Lindenau. 1. gemeinsame Freiübungen, gleichzeitig von circa 10,000 Mann unter der Leitung des Dr. Lion ausgeführt. 2. Riegenturnen, mit möglichster Sonderung der einzelnen Landsmannschaften und Vereine. Nach Schluß des Schauturnens Unterhaltungs- und Tanzmusik auf dem Festplatze und in der Halle. Von neun Uhr Abends Nachtmanöver der Leipziger Feuerwehr.

Dritter Festtag, Dienstag, 4. August. Morgens acht Uhr Zug der Turnvereine Leipzigs und der umliegenden Dörfer (zusammen mit circa 4500 Mitgliedern) nach dem Festplatze und Specialschulturnen derselben von zehn Uhr an. Mittags Festmahl in der Halle. Nachmittags allgemeines Kür- und Wettturnen. (Das letztere beschränkt sich auf Uebungen im Laufen, Werfen und Springen; das Werfen geschieht mit 1/3 Zollcentner schweren Steinen. Für jede der drei Uebungen werden drei Ehrenkränze, zusammen also neun, als Preise an die Ausgezeichneten gegeben; die Rede bei der Preisverteilung wird Rechtsanwalt Georgii aus Eßlingen halten.) Von Abends 7 Uhr an Unterhaltungsmusik in der Festhalle, zu gleicher Zeit vielleicht auch eine Festvorstellung im Theater.

Vierter Festtag, Mittwoch, 5. August. Morgens 8 Uhr Zug der Festgenossen nach dem Festplatze, woselbst eine Feier zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig stattfinden soll, bestehend in einer Festrede (gehalten vom Dr. von Treitschke) und Männergesangsaufführungen. Nach gemeinschaftlichem Mittagsessen finden getrennte Züge nach den wichtigsten Punkten des Schlachtfeldes (auf dem übrigens, wie wir bemerken, der Festplatz mitten innen liegt) statt. Von Abends sechs Uhr an Concertmusik auf dem Festplatze. Den Schluß des Tages und des Festes überhaupt bildet ein großartiges Feuerwerk auf dem Festplatze.

So ist für den würdigen und großartigen Verlauf des dritten deutschen Turnfestes reichlich gesorgt. Leipzig wird es sich zur Ehre rechnen, Deutschlands turnende Jugend gastlich zu empfangen, und das gesammte Vaterland wird der wackeren Stadt dafür Dank wissen. Es bleibt nur zu wünschen, daß auch der Himmel mit freundlichem Auge auf das Fest herabblicken und Leipzig in den Tagen vom 1–5. August auf eine Stunde im Umkreis mit Regengüssen freundlich verschonen möge!



Geistesepidemien
Ein Vortrag, gehalten in der naturforschenden Gesellschaft zu Görlitz
von Hermann Reimer
Nr. 1.


Innerer Grund der Geistesepidemien – Die Gesetze unseres Seelenlebens – Der Reiz der Nachahmung – Fortpflanzung von Bewegung zur Empfindung – Das Gähnen – Die Krämpfe – Der Veitstanz – Die Kreuzzüge.


In den Werken unserer Dichter begegnet uns öfters eine alte Legende, in der wird uns von einem wunderbaren Spielmann berichtet, der durch das Land gezogen sei und mit geheimnisvollen Melodien die Herzen und Sinne der Menschen gefesselt habe. Und so unwiderstehlich sei die Macht seiner Töne gewesen, daß die Hörer, alles Andere vergessend, ihnen hätten folgen müssen, erst Einige, dann mehr und immer mehr, bis sie endlich schaarenweise dahingetrieben worden seien. Wenn je eine Sage aus dem Leben herausgeschöpft wurde, so ist es diese, ein Spiegelbild wirklicher Begebenheiten, die im Strome der Zeiten immer von Neuem auftauchen und wieder verschwinden und die man deshalb füglich unter dem Namen „Geistesepidemien“ zusammenfassen kann, weil sie, so verschiedenartig sie ihrem Umfange und der Art und Weise ihrer Erscheinung nach auch sein mögen, denselben Gesetzen unseres geistigen Lebens ihren Ursprung verdanken und nach Art ansteckender Krankheiten von Kopf zu Kopf sich weiter verbreiten. Während solche Bewegungen im Volke bisweilen Dimensionen annahmen, welche sie zu weltgeschichtlichen Ereignissen erhoben, trat andere Male in der krampfhaften Form der Bewegung das Gesundheitswidrige so deutlich hervor, daß sie von den Schriftstellern geradezu als Volkskrankheiten aufgefaßt wurden. Geschichtsschreiber und Aerzte haben diesen großen Epidemien ihre Aufmerksamkeit zugewendet, und wir besitzen eine reichhaltige Literatur, in welcher wir sie nach ihren äußeren Umrissen beschrieben finden. Ueber den innern Grund der

[351] Erscheinung hat man sich bisher wenig gekümmert. Man hat übersehen, daß jene großen Seuchen des Mittelalters, deren ich später zu erwähnen habe, nur die natürlichen Folgen von Vorgängen sind, die sich fast tagtäglich vor unsern Augen wiederholen; man hat, wo man um eine Erklärung in Verlegenheit war, statt auf die innere Natur des Menschen zurückzugehen, es vorgezogen, den Zeitgeist zum Urheber der Erscheinungen zu erheben. Indem ich einen andern Weg einzuschlagen versuche, erinnere ich an das bekannte Goethe’sche Wort:

„Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigener Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.“

Dieses Wort des Dichters steht mir zur Seite, wenn ich bei der Betrachtung der Geistesepidemien von den einfachsten Gesetzen unseres Seelenlebens ausgehe und an dem Grundsatze festhalte, daß nur durch richtige Würdigung unserer geistigen Anlage eine Einsicht in jene sonst räthselhaften Phänomene gewonnen werden kann. Die Neugier, mit welcher man bisher den Geistesepidemien gefolgt ist, erlangt damit eine ernstere, wissenschaftliche Basis, und hierin glaube ich vom Standpunkt des Naturforschers eine genügende Entschuldigung zu finden, wenn ich für wenige Augenblicke Ihre Aufmerkfamkeit für einige Grundlehren des Seelenlebens in Anspruch nehme. Das erste Glied unserer Geistesthätigkeit ist bekanntlich die Sinnesempfindung, oder schlechtweg die Empfindung. Wir verstehen darunter das Bewußtwerden eines äußern Reizes, der, mit Hülfe der Sinnesorgane, durch die Sinnesnerven zum Gehirn geleitet wird. So erhalten wir durch die Sehnerven Lichtempfindungen, durch die Hörnerven Schallempfindung u. s. w. Alle fünf Sinne sind in fortwährender Thätigkeit, um dem Gehirn neue Reize, neue Bilder zuzuführen, eine Empfindung drängt die andere, und unser Gehirn würde förmlich mit Empfindungen überladen werden, wenn nicht ein Ausweg für diese fortwährende Zufuhr vorhanden wäre, und diese Ausgabe, diese Entladung unsers Gehirns besteht in der Bewegung. Bewegung, als einen Theil unsers Seelenlebens, nennen wir einen vom Gehirn ausgehenden Reiz, der sich einem sogenanten Bewegungsnerven mittheilt und durch diesen irgend eine Muskelpartie unseres Körpers in Thätigkeit setzt. Wir können uns also das Gehirn vorstellen als eine elektrische Batterie, die geladen wird mit Empfindungen und sich entladet in Bewegungen. Betrachten Sie nur das Kind in seinen ersten Lebensmonaten. An seinen Bewegungen, und zwar an ganz bestimmten Bewegungen, bemerkt man, daß die Sinne anfangen, Eindrücke aufzunehmen. Sehen und danach greifen, Musik hören und taktförmig die Beine in Bewegung setzen. Geruch empfinden und niesen, das sind Vorgänge, die wir beim Kinde überall als zusammengehörige auftreten sehen.

Beim Erwachsenen freilich gestaltet sich die Sache anders. Zwischen Empfindung und Bewegung schiebt sich allmählich ein anderes selbstständiges Gebiet, auf welchem die eigentliche Seelenthätigkeit zur Erscheinung kommt, das Gebiet der Vorstellungen. Die Empfindungen dürfen nun nicht mehr so ohne weiteres passiren, sie werden mit anderen bereits früher dagewesenen verglichen und müssen sich über ihren Werth und über ihre Berechtigung ausweisen. Wir lassen sie nicht mehr ohne weiteres in irgend eine Bewegung ausschlagen, wir werden zurückhaltend, oder zugeknöpft, wie es die Diplomaten zu nennen pflegen. Wie oft hemmen wir unsere Schritte, besinnen uns eines Besseren und kehren auf halbem Wege wieder um, wie manche Ohrfeige, die schon als natürlicher Ausdruck einer frischen Empfindung in vollem Gange war, bleibt uns im Gehirn stecken, oder wir lassen es höchstens bis zu einem Jucken in den Fingerspitzen kommen, und wie manches Wort, zu dem wir schon die Stimmbänder gespannt hatten, wird im Kehlkopfe zurückgehalten! Diesen Zustand, in welchem wir also jede neue uns durch einen der fünf Sinne zugeführte Empfindnug gehörig abzuwägen und den dadurch hervorgerufenen neuen Gehirnreiz richtig zu verwenden im Stande sind, nennen wir den Zustand der Besonnenheit. Die Besonnenheit kann aber durch verschiedene Umstände aufgehoben werden, und dann tritt jener ursprüngliche innere Zusammenhang zwischen Empfindung und Bewegung wieder in sein volles Recht ein. Ist ein Sinneseindruck außerordentlich stark, so können wir, selbst im Zustande vollständiger Besonnenheit, den sofortigen Uebergang in Bewegung nicht verhindern. Wird unser Ohr z. B. plötzlich von dem Schall eines Kanonenschlages getroffen, so erfährt der ganze Körper eine erschütternde Bewegung, wir fahren zusammen. Jede Empfindung, die das Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen in starkem Maße hervorruft, treibt uns zugleich an, uns derselben in irgend einer Weise zu entäußern, wie es die Sprache ganz richtig in den Ausdrücken: sich ausweinen, sich ausschütten vor Lachen, bezeichnet, und bei allen stärkeren Erregungen unseres Gemüths werden wir die äußere Form selten vermissen, in welcher diese oder jene Empfindung sich ausspricht. Es ist keineswegs Zufall, wenn der Betende die Hände faltet, wenn der Reuige in die Kniee sinkt, wenn der Zornige die Fäuste ballt; hier kommen keine Verwechselungen vor, sondern mit innerer Nothwendigkeit geschieht hier das Eine, dort das Andere.

So kommt es denn auch, daß wir häufig das Eine für das Andere setzen, und wenn wir von Jemand sagen, er lasse den Kopf hängen, oder er trage die Nase hoch, er krieche oder er mache einen krummen Buckel, so wollen wir damit das gewöhnliche Maß seiner Empfindungen bezeichnen, das sich eben in einzelnen Bewegungen vorwiegend zu erkennen giebt. Gleichartigkeit des Eindrucks und Ausdrucks, der Empfindung und der Bewegung, das ist also das erste Naturgesetz, dem wir bei Betrachtung der geistigen Vorgänge begegnen. – Aber der Zusammenhang zwischen beiden Processen ist ein so inniger, ist ein so tiefliegender und unveränderlicher, daß er auch in umgekehrter Reihe sich geltend macht, und mit diesem zweiten Gesetz befinden wir uns auf dem Boden der Geistesepidemien.

Eine Bewegung, die wir sinnlich wahrnehmen, erregt in uns dieselbe oder eine ähnliche Empfindung als diejenige war, welche jener Bewegung vorausgegangen war, die sie hervorgerufen hatte. Wir sehen Jemand weinen und werden traurig gestimmt, wir hören lachen und wir werden zur Heiterkeit aufgelegt. Ist der Eindruck stark genug oder sind wir überhaupt dazu geneigt, so kommt es bei uns ebenfalls zum Weinen oder Lachen, und auf diese Weise sehen wir z. B. in den Schauspielhäusern Wein- oder Lach-Epidemien von mehr oder minder großem Umfange sich ausbreiten. Alle Bemerkungen, die Sie hier und da über Sympathien, über das Mitleid, über den Nachahmungstrieb finden mögen, sie fallen alle in die Breite dieses einfachen Gesetzes. Von diesem Gesetz lebt die Mode, jene merkwürdige, epidemische Verbreitung der Trachten, die von Auge zu Auge wandernd zur Nachbildung der wahrgenommenen Form auffordert. Nicht das Nützliche entscheidet hier, nicht das Zweckmäßige, sondern jede einmal den Sinnen zugängliche Erscheinung pflanzt sich bis in das Unendliche fort. Nichts ist wahrer, als das Sprichwort, daß man unter Wölfen heulen müsse, und daß böses Beispiel gute Sitten verderbe.

Es ist bekannt, daß öffentliche Hinrichtungen die Verbrechen vermehren, denn der sinnliche Eindruck und der unwillkürliche Antheil an dem Verbrecher und seiner schwarzen That führt in denselben Ideengang hinein und fordert zur Nachahmung auf. Nichts reizt mehr, auf die Mensur zu treten, als wenn man öfter Zuschauer bei Duellen gewesen ist, und wer sich in die Schriften über den Selbstmord vertieft, dem kann es passiren, daß ihm zu seinem eigenen Befremden der Gedanke an den Selbstmord nahe tritt und daß ihm etwas von jener unheimlichen Lust überkommt, die Süßigkeit des Selbstmordes zu kosten, von der, wie Plutarch erzählt, die Jungfrauen von Milet einst ergriffen wurden. Diese erfaßte ein so heißes Sehnen nach dem Tode, daß sie sich aller Bitten, aller Thränen der Ihrigen unerachtet schaarenweise erhängten. Und nicht eher habe man dieses schrecklichen Triebes Herr werden können, als bis man ein anderes und mächtigeres Gefühl, das der Scham und Schande, dadurch hervorgerufen habe, daß man die nackten Körper der Selbstmörderinnen mit einem Stricke um den Hals auf öffentlichem Markte zur Schau stellte. Auch in der Form des Selbstmordes entscheidet die Mode. War es doch eine Zeit lang in Paris gebräuchlich, daß alle Selbstmörder von den Thürmen und öffentlichen Säulen heruntersprangen, und im Invaliden-Hotel hingen sich, nachdem erst das erste Opfer gefallen war, dreizehn hintereinander an derselben Säule auf, bis diese endlich entfernt und damit der Sache ein Ende gemacht wurde. In der That, wir haben Duell- und Selbstmord-Epidemien gehabt, gegen die die härtesten Gesetze ohne Erfolg waren.

Aber lassen Sie mich an weniger tragische Erfahrungen erinnern, lassen Sie mich das Gesetz der Fortpflanzung von Bewegung zur Empfindung und so weiter an einem Vorfall erläutern, der alltäglich und Jedem von uns geläufig ist. Sie kennen Alle das Gefühl der Müdigkeit; es entsteht dadurch, daß uns vermittelst [352] der Gefühlsnerven von diesem oder jenem Theil unseres Körpers her ein Verbrauch von Kraft zum Bewußtsein kommt. Hat diese Empfindung eine gewisse Stärke erreicht, so spricht sie sich in einer Bewegung aus, welche darin besteht, daß wir den Mund weit öffnen und tief ein- und wieder ausathmen, kurz in einer Bewegung, die man mit einem Wort „Gähnen“ nennt. Diese Bewegung nun ist im Stande, dem, der sie mit ansieht, ebenfalls die Empfindung der Müdigkeit zu erwecken und zwar bis zu dem Grade, daß er selbst gähnen muß, und so kann in jeder Versammlung durch einen einzigen leichtsinnigen oder böswilligen Gähner eine Gähn-Epidemie hervorgerufen werden, die Solchen, die mit den Gesetzen unseres geistigen Lebens unbekannt sind, zu ganz falschen Vorausstzungen Veranlassung geben kann.

Es giebt aber Bewegungsformen, die weniger unschuldig sind, als die eben erwähnte, und dieselbe Neigung zu epidemischer Fortpflanzung in sich tragen, ich meine die Krämpfe, die Convulsionen. Unter unzähligen Beispielen der Art erwähne ich nur eines, das mich von jeher, schon der handelnden Persönlichkeit wegen, in hohem Grade interessirte, und das mir für meine heutige Aufgabe von ausgezeichneter Beweiskraft zu sein scheint. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts ereignete es sich, daß im Armenhause zu Harlem ein Mädchen in Folge eines starken Sinneseindrucks erschrak und in Krämpfe verfiel. Ein anderes Mädchen, welches Zuschauer der Scene war, stürzt bald darauf ebenfalls, von Convulsionen ergriffen, zu Boden, es folgt ein drittes, ein viertes, auch die Knaben werden mitergriffen, endlich ist das ganze Armenhaus ein Schauplatz des Schreckens und der Verwirrung. Aber nicht genug damit, die Scenen wieherholen sich beinahe tagtäglich und spotten der ärztlichen Kunst, die von allen Seiten entboten wird. Damals lebte in Leyden ein Arzt, dessen Ruf die Grenzen Europa’s bereits überschritten hatte. Der Stolz seiner Mitbürger, wurde er häufig mit fürstlichen Ehren gefeiert, und als er einst, so erzählt uns sein Biograph, nach längerer Krankheit zum ersten Male wieder sein Haus verließ, um seinem Berufe zu folgen, da habe ganz Leyden im Glanze unzähliger Lichter gestrahlt. Dieser Mann, Hermann Boerhave ist sein Name, hörte von den Vorfällen in Harlem und folgte willig dem Rufe nach Hülfe. Es traf sich nun, daß, gerade als er in das Haus trat, ein Mädchen in Convulsionen zusammenstürzte, dem bald ein zweites folgte. Boerhave beobachtete genau, dann plötzlich ließ er sämmtliche Inwohner des Hauses um sich versammeln und befahl, ein Becken mit glühenden Kohlen mitten in den Saal zu stellen und die Gluth gehörig zu schüren. Nun legte er Glüheisen in die Kohlen und hieß sämmtliche Anwesende den rechten Arm entblößen, denn die Krankheit erfordere, daß derjenige sofort bis auf den Knochen gebrannt werde, der nun zunächst befallen würde. War es nun der außerordentliche Ruf des Mannes, war es der feierliche und bestimmte Ton seines Auftretens, oder war es vielmehr die Furcht vor der schmerzlichen Operation – kurz, Niemand wurde mehr von Krämpfen befallen, und die ganze Epidemie hatte ein für allemal ihr Ende erreicht. Darin bestand aber in diesem Falle der Scharfsinn dieses Mannes, daß er die Krankheit als den Ausdruck verloren gegangener Versonnenheit erkannte und durch einen neuen mächtigeren Eindruck den Kreislauf zwischen Bewegung und Empfindung zu sprengen suchte.

Solchen ungeregelten Bewegungen liegt immer eine krankhafte Anlage im Nervensystem zu Grunde, und wir sehen sie deshalb öfters bei schlecht genährten Kindern, in Waisen- und Armenhäusern zum Ausbruch kommen. Aus denselben Ursachen sind auf große verheerende und erschöpfende Volksseuchen ähnliche Geistesepidemien von kolossalem Umfange beobachtet worden. Es war um die Mitte des 14. Jahrhunderts, als Europa von einer der fürchterlichsten Seuchen heimgesucht wurde, die die Welt jemals gesehen hat. Aus China kommend durchzog sie Asien, die Krim, Italien, Frankreich und England und erreichte im Jahre 1349 Deutschland, wo allein 2000 Dörfer vollständig ausstarben. Die Opfer des schwarzen Todes, so nannte man diese Krankheit, zählte man nur nach Millionen; ihre Wirkung auf das sociale Leben finden Sie in dem Decamerone des Boccaccio, mit der plastischen Wahrheit, die diesem Dichter eigen ist, beschrieben. Die rohesten Auswüchse mittelalterlichen Aberglaubens traten zu Tage, und es schien, als ob der Böse selbst in die Massen gefahren sei, die in tollem Wirbel sich aufrieben. Damals zeigte sich jene merkwürdige Erscheinung, die von den Schriftstellern als die Tanzwuth oder Tanzplage beschrieben worden ist. Zu Aachen, das ganze Rheinthal auf und abwärts und in den Niederlanden erschienen Schaaren von Männern und Frauen, welche in bacchantischer Ausgelassenheit und unter den Sprüngen und Verrenkungen sich drehten. Hand an Hand schlossen sie Kreise und tanzten, ohne Scheu vor den Umstehenden. in wilder Raserei, bis sie wuthschäumend zur Erde stürzten. Immer mehr wuchs die Zahl der Neugierigen, die sich an dem wundersamen Schauspiel weideten, immer mehr aber auch die Zahl der Ergriffenen. Der Anblick der rothen Farbe, die Töne der Musik und manche andere Sinneseindrücke beförderten sichtlich den Ausbruch der dämonischen Bewegungen, welche allen Heilmitteln der Aerzte, allen Beschwörungsformeln der Priester zu trotzen schienen. Man nannte sie St. Johannistänzer, wie Einige meinen, weil bei der Feier des St. Johannisfestes das Uebel seinen Ausgang genommen, wie Andere behaupten, weil man die Befallenen dem Schutze des heiligen Johannes empfohlen hielt. Als später im Jahre 1418 in Straßburg die Tanzwuth losbrach, benutzte man die Capelle des heiligen Veit zu Beschwörungen, und von da an hießen die Ergriffenen St. Veitstänzer. Die Form der Aufzuge, wie sie die Schriftsteller der damaligen Zeit beschreiben, blieb immer dieselbe: Voran einige Sackpfeifer, dann eine Heerde Neugieriger, dann die Befallenen in ihren wunderbaren Sprüngen und Tänzen, endlich die jammernden Angehörigen, die vergebliche Anstrengungen machten, die unglücklichen Opfer zurückzugewinnen. Bisweilen versuchte man durch Schläge und Stöße die Besonnenheit bei den Tänzern zurückzurufen, und her einigen schien dies in der That zum Ziele zu führen. Bei manchen dagegen steigerte sich die Ausgelassenheit bis zum vollständigen Verlust des Bewußtseins; schäumend und brüllend tanzten sie, bis sie todt niederfielen, oder sie stürzten sich blindlings in das Wasser oder zerschmetterten den Kopf an den Wänden. So währte der Spuk in mannigfachen Variationen bis zu Anfang des 15. Jahrhunderts, wo er sich ganz allmählich verlor.

Vergebens suchen wir nach einer geistigen Triebfeder dieses wüsten und haltlosen Treibens. Es scheint vielmehr nur, als ob die durch den vorangegangenen Jammer eingetretene Erschöpfung des Nervensystems in dieser Weise die thierische Natur des Menschen herausgekehrt habe. Vor solcher trostlosen Misere hat die Vorsehung die spätern Jahrhunderte gnädig bewahrt, aber in anderer Form tritt uns der Verlust der Besonnenheit, als ein ansteckendes Massenübel, noch oft genug entgegen. – Sobald nämlich eine einzelne dunkle Vorstellung sich in den Vordergrund unseres Bewußtseins drängt, so hört das Abwägen, das Ueberlegen des Fürundwider im Bereiche unserer Vorstellungen mehr oder weniger auf, alle Empfindungen nehmen denselben Weg, und es entsteht ein unbestimmtes Streben, das sich in ebenso unbestimmten Bewegungen ausspricht und fortpflanzt. Solchen Epidemien begegnen wir auf allen Gebieten unserer Geistesthätigkeit, und es kann deshalb, wenn wir die ursprünglich treibende Idee berücksichtigen, von religiösen, von politischen und von wissenschaftlichen Geistesepidemien die Rede sein.

Gehen wir zurück bis auf die Zeit der Kreuzzüge, so begegnen wir da einem leitenden Gedanken, einem Gedanken, der Jahrhunderte lang ausschließlich die Gemüther beherrschte. Hervorgegangen aus dem tief religiösen Gefühle, die heiligen Stätten zu säubern und die frommen Pilger, die sie besuchten, vor dem Druck der Türken sicher zu stellen, stieß dennoch die Idee des Kampfes gegen die Saracenen und der Befreiung des heiligen Landes, in richtiger Erkenntniß der großen Schwierigkeiten, die sich solchem Unternehmen entgegenstellen mußten, aus zahllose Widersacher, ja es war gerade in Deutschland, wo die ersten Kreuzfahrer geradezu als Verrückte verschrieen wurden. Als es aber dazu kam, daß die Enthusiasten sich das Kreuz auf die Schulter hefteten, da schien plötzlich ein anderer Geist in die Menge zu fahren. Wie wir es heutzutage noch bisweilen erleben, daß ein Band im Knopfloch einen umstimmenden Einfluß auf die Ansichten eines Menschen ausübt, so geschah es damals im Großen. Es entstand ein hastiges Drängen, sich dem Zuge der Kreuzfahrer anzuschließen, nachdem erst in dem sichtlichen Symbol des Kreuzes ein gemeinsamer Sinneseindruck gewonnen war, der beständig an die treibende Idee erinnerte. Wenn wir bei den ersten Kreuzfahrern noch eine gewisse Einsicht in die unvermeidlichen Gefahren, in die Schwierigkeiten des vorgestecken Zieles vorfinden: später verlor sich die gesunde Ueberlegung mehr und mehr und ging in eine regellose epidemische Bewegung über.


  1. Der Leipziger Turnverein wurde im Jahre 1845, hauptsächlich auf Anregung Prof. Bock’s, der den ersten Vorturner abgab, und Prof. Schreber’s, gegründet. Seitdem hat das Turnen der Leipziger stets in Blüthe gestanden. Heute zählt der Verein nahe an 2000 erwachsene Mitglieder, zu denen noch 2200 Knaben und 170 Mädchen, von den 6 Vereinsturnlehrern unterichtet, kommen. Unter den Mitgliedern (die übrigens sämmtlich turnen, denn „passive Turner“ giebt es in Leipzig nicht) sind alle Altersclassen, vom Jüngling bis zum Greis, und alle bürgerlichen Berufsarten vertreten. Die Leitung des Vereins hat ein 18 Mann starker Turnrath, meist aus älteren, im städtischen Gemeinwesen ehrenvolle Stellungen einnehmenden Vereinsmitgliedeen zusammengesetzt (Vorsitzender Stadtverordneter Paul Bassenge), und eine 40 Mann starke Vorturnerschaft unter technischer Leitung des Dr. Lion. – Im vorigen Jahre erbaute die Stadt lediglich für die Zwecke des Vereins eine neue schöne Turnhalle für 42,000 Thaler.           D. Verf.
  2. Sonderabdrücke unserer Abbildung können durch die Expedition der „Gartenlaube“ bezogen werden.           D. Red.
  3. Es ist diese Reihenfolge nach der in der kürzlich erschienenen Statistik der deutschen Turnvereine beobachteten Ordnung bestimmt worden.