Die Gartenlaube (1860)/Heft 23
[353]
No. 23. | 1860. |
Am 20. September 1858, einem Montage, wurden zwei landesherrliche Jäger meiner engern Heimath, indem sie den Forst durchstreiften, auf ein eigenthümliches Gebell ihrer Hunde aufmerksam. Sie folgten ihm. Die Hunde waren in einem Dickicht von jungem Gebüsch. Die Jäger brachen sich Bahn durch die Zweige und fanden zu ihrem Grausen die Hunde vor einer Leiche, die unter den niedrigen Bäumen an der Erde lag. Der Todte war ein junger Mann, höchstens im Anfange der dreißiger Jahre. Er war wohlgekleidet, mit einem grünen Rock, grauen Beinkleidern, Alles von gutem Tuche. Ein feiner, niedriger Filzhut lag neben ihm. Eine neue lederne Jagdtasche lag halb auf ihm, auf Leib und Brust. Der Riemen, an dem er sie getragen hatte, zog sich noch um seine Schulter.
Der Todte war eines gewaltsamen Todes gestorben. Blut quoll ihm aus der linken Seite der Brust. Die Jäger untersuchten die Stelle näher und fanden eine Schußwunde. Als Sachkenner konnten sie sich nicht täuschen. Ein Gewehr war in der Nähe nicht zu entdecken. An einen Selbstmord war daher nicht zu denken. Es konnte nur ein Verbrechen, ein Mord verübt sein.
Es mußte der Polizei und von dieser weiter dem Gerichte Anzeige gemacht werden, um das Verbrechen festzustellen und den Thäter zu erforschen, zu verfolgen und zur gesetzlichen Strafe zu ziehen. Einer der Jäger übernahm die sofortige Anzeige bei der nächsten Polizeibehörde. Der Andere blieb bei dem Leichnam auf Wache, bis die Beamten eingetroffen sein würden. Mit der Leiche nahmen sie nicht die geringste Veränderung vor. Sie untersuchten, ja, sie berührten sie nicht einmal weiter, damit das Gericht Alles in dem nämlichen Zustande vorfinde, in welchem sie es zuerst aufgefunden hatten. Daß der Tod eingetreten war, und Wiederbelebungsversuche völlig fruchtlos seien, davon hatten sie sich überzeugt.
Der Ermordete war den beiden Jägern unbekannt. Sie waren freilich Beide erst seit den letzten Jahren in der Gegend. Derjenige von ihnen, der zur Polizei gegangen war, hatte unterwegs Personen, die ihm begegneten, von der Entdeckung Mittheilung gemacht. Neugierige unter diesen waren in den Forst geeilt. Sie fanden den Weg zur Leiche. Einige von ihnen meinten den Todten zu erkennen. Sie waren indeß ihrer Sache nicht ganz gewiß. Irrten sie sich nicht, so war der Ermordete der Sohn einer Schulmeisterwittwe, die in einem etwa eine halbe Meile entfernt liegenden Dorfe wohnte. Er war seit drei oder vier Jahren aus der Gegend verschwunden, man wußte nicht wohin, und man hatte seitdem nichts wieder von ihm gehört. Er war ein Thunichtgut, ein Faulenzer, ein Herumtreiber gewesen, der seiner Mutter und seinen Schwestern nur Sorge und Kummer gemacht und den letzten Rest ihres Bischen Armuth verzehrt hatte. Daher auch die Ungewißheit über seine Wiedererkennung. Man hatte ihn nur schmutzig, zerlumpt gesehen. Woher jetzt die gute, Wohlhabenheit bekundende Kleidung? Man mußte Gewißheit haben. Einzelne gingen zu dem benachbarten Dorfe, in dem die Mutter und Schwestern wohnten.
Unterdeß waren wieder Andere gekommen, und der Todte[WS 1] war mit Bestimmtheit erkannt worden. Er war der Sohn der armen Schulmeisterwittwe. Franz Bauer war sein Name. Vor drei Jahren hatte er die Seinigen verlassen und gesagt, er wolle nach Amerika gehen, dort sein Glück zu versuchen, und werde entweder reich oder gar nicht wiederkommen. Vor vierzehn Tagen habe er seiner Mutter aus Antwerpen geschrieben, daß er soeben glücklich aus dem fremden Welttheile nach Europa zurückgekommen sei. Er sei in Californien gewesen und habe dort wirklich sein Glück gemacht. Er kehre mit vielem Gelde heim. In vierzehn Tagen spätestens hoffe er in der Heimath zu sein und seiner Mutter und seinen Geschwistern hundertfach wieder gut zu machen, was er so schwer an ihnen gefehlt und verbrochen habe. Eine Banknote von hundert Gulden hatte vorläufig gleich dem Briefe beigelegen.
Die Anwesenden bei der Leiche sahen mit einer unheimlichen Ungeduld der Ankunft des Gerichts, mit einer noch unheimlicheren dem Eintreffen der Mutter und der Schwestern des Todten entgegen. Die Armen! Jahrelang hatte der einzige Sohn, der Bruder, anstatt ihre Stütze zu sein, ihnen nur Kummer und Verdruß gemacht. Jahrelang hatten sie dann nur mit Angst und Zagen an ihn denken, von ihm reden können. Seit vierzehn Tagen war er ihre Freude, ihr Trost, ihre Hoffnung, und seit drei Tagen erwarteten sie ihn täglich, stündlich. Jedes Geräusch kündigte ihn ihnen an. Bei jedem Schritte, der sich ihrer einsamen Wohnung nahete, flogen sie an das Fenster, ihn zu sehen oder Kunde von ihm zu erhalten. Schritte naheten sich wieder ihrer Wohnung jetzt, in dieser nämlichen Stunde. Sie flogen an das Fenster. Er war nicht da, wieder nicht. Aber Kunde kam von ihm: „Er liegt im Walde, todt, ermordet.“ Sie stürzten hin zu dem Walde, Alle, selbst halb entseelt. –
Der Jäger hatte der Polizei die Anzeige gemacht, und diese hatte ihn sogleich weiter an das Gericht geschickt. Ich hatte als Untersuchungsrichter die Aufgabe, so schleunig wie möglich mich an [354] Ort und Stelle zu begeben, um den Thatbestand des verübten Verbrechens gerichtlich festzustellen, und gemeinsam mit der Polizei Alles vorzunehmen und anzuordnen, was zur Ermittlung, Verfolgung und Ueberführung des Verbrechers dienen konnte. Mit den Gerichtsärzten und dem übrigen erforderlichen Gerichtspersonale verfügte ich mich unter Führung des Jägers zu dem Walde.
Wir kamen bei der Leiche an. In dem Augenblicke vorher waren die Angehörigen des Todten eingetroffen, die greise Mutter, die abgehärmten Schwestern. Man sah ihnen Allen die jahrelange Sorge und Entbehrung an. Aber was war das gegen den entsetzlichen Schmerz des Augenblicks! Ich werde nie den Anblick vergessen. Ich mußte handeln. Den Todten konnte ich ihnen nicht lebend wieder geben, aber die Genugthuung des Rechts mußte ich ihnen verschaffen, ihnen wie Allen, die nur einmal Kunde von dem Verbrechen erhielten. Ein Mord ruft mit doppelter, dreifacher Gewalt die Ahndung der Gerechtigkeit hervor. Da ist Jeder betheiligt, da muß das Recht selbst sein Recht haben.
Mein war zunächst das Amt, das Recht zu wahren. Von dem ersten Angriffe, von den ersten Schritten einer Criminaluntersuchung hängt so Vieles, in so vielen Fällen Alles ab. Ich habe jedesmal schwer die schwere Verantwortlichkeit empfunden, die auf mir als Untersuchungsrichter lastete, und fühlte sie doppelt schwer damals.
Die Besichtigung der Leiche wurde vorgenommen. Ein Raubmord war verübt worden. Der Tod war durch eine Schußwunde herbeigeführt, eine Kugel hatte die Brust und in gerader Richtung unmittelbar das Herz getroffen. Der Tod mußte augenblicklich erfolgt sein. Die Kugel wurde in der Leiche gefunden, es war eine mittelmäßig große Pistolenkugel. Die Aerzte, erklärten, daß das Verbrechen vor etwa vierundzwanzig Stunden verübt sein müsse.
Der Ermordete war fast aller seiner Habseligkeiten beraubt. Die Jagdtasche enthielt nur noch einige Wäsche, in der Rocktasche befand sich nur ein seidenes Taschentuch; in einer Hosentasche einige lose Scheidemünze. Sonst wurde nichts an und bei der Leiche gefunden. Kein Geld, kein Ring, keine andere Kostbarkeit, kein Papier, nicht einmal ein Notizbuch. Schon dieser Mangel an allen Gegenständen, von denen ein, zumal wohlhabender Reisender doch immer einen oder den anderen bei sich führt, ließ mit Sicherheit auf eine stattgehabte Beraubung schließen. Sie wurde zur völligen Gewißheit. Der Verstorbene hatte an zwei Fingern Ringe getragen, denn die Eindrücke waren ganz deutlich zu erkennen. Sie mußten vor oder nach der Tödtung abgenommen sein. Er hatte auch eine Taschenuhr getragen, in der linken Westentasche, die Rundung der Uhr zeichnete sich noch darin ab.
Ich hatte da zugleich wichtige Thatsachen für eine künftige Entdeckung des Thäters. Von den Eindrücken der Ringe an den Fingern nahm ich eine vollständig getreue, auch das Maß auf das Genaueste wiedergebende Zeichnung zu den Acten. Die Weste nahm ich, mit den übrigen Sachen des Ermordeten, in gerichtliche Verwahrung, nachdem ich, für den Fall späterer Verwischung, die von dem Tragen der Uhr zurückgebliebene Rundung sowohl an der Weste selbst als zu den Acten genau abgezeichnet hatte.
Außer Ringen und Uhr mußte dem Ermordeten auch Geld, und zwar hauptsächlich Geld geraubt sein. Er hatte den Seinigen geschrieben, daß er Geld mitbringe. Er hatte sie auf bessere Tage verwiesen, das Vermögen, das er sich erworben hatte, konnte daher kein unbedeutendes sein. Wenn auch nicht das Ganze, so hatte er doch sicher einen Theil davon, wahrscheinlich einen ansehnlichen Theil, bei sich getragen. Zweifelhaft konnte nur sein, worin es bestanden habe, ob namentlich in gemünztem Golde, oder in Goldsand, oder in Banknoten, Wechseln oder anderen Werthpapieren. Personen, die aus Californien zurückkehrten, pflegten in der Regel in allen solchen Stücken ihr Vermögen mit sich zu führen. Daß der Ermordete wirklich sein ganzes Vermögen bei sich getragen, wurde später dadurch bestätigt, daß bei den Seinigen nichts von ihm oder für ihn ankam, weder mit der Post, noch auf anderem Wege. Sein gesammtes Vermögen war ihm mithin geraubt. Auch in Betreff der Beraubung der Uhr und der Ringe wurde bald völlige Gewißheit erlangt.
Meine erste Sorge nach der Feststellung des Thatbestandes, auch der Obduction der Leiche, war zu ermitteln, wo der Ermordete zuletzt lebend gesehen sei, seine Reise zurückzuverfolgen, und zu erforschen, ob und in welcher Gesellschaft er gewesen, sowie ob in seiner Nähe oder in der Gegend sich verdächtige Personen gezeigt hätten. Ich kam zu folgenden Resultaten: Die Nachforschungen in Antwerpen, sowie weiter in Belgien und den Niederlanden, blieben ohne allen Erfolg. Weder war dort über den Namen Franz Bauer, noch über Jemanden, der dem Ermordeten geglichen hätte, irgend eine Auskunft zu erhalten. Auch in den angrenzenden deutschen Ländern nicht. Kein Paßbureau, kein Wirth, kein Anderer vermochte Auskunft zu geben. Die erste Nachricht über ihn kam erst aus der Nachbarschaft.
Am Sonnabend, den 18. September, also am zweiten Tage vor der Auffindung der Leiche, hatte in einem etwa fünf Meilen entfernten Städtchen über Mittag ein fremder Lohnkutscher angehalten. Seine Passagiere waren ausgestiegen. Es waren ihrer drei gewesen, zwei Männer und ein Frauenzimmer. Der eine der Männer war nach der Beschreibung der Ermordete gewesen: ein hagerer, blasser Mann, von mittlerer Größe, im Anfange der dreißiger Jahre, bekleidet mit einem grünen Oberrocke, über der Schulter eine Jagdtasche tragend. Daß es der Ermordete gewesen war, stand um so weniger zu bezweifeln, als die später vorgeladenen Bewohner des Wirthshauses, an welchem der Lohnkutscher angehalten hatte, die ihnen[WS 2] vorgezeigten Kleidungsstücke und Jagdtasche mit Bestimmtheit wieder erkannten. Der zweite Mann wurde beschrieben als ein großer, schöner, gleichfalls noch junger Mann, mit dunklen Augen, braunem, lockigem Haar und gleichem Vollbart. Er hatte schwarze Kleidung getragen. Eine genauere Beschreibung war über ihn nicht zu bekommen. Das Frauenzimmer war eine große, bildschöne, üppige junge Dame gewesen. Die Bezeichnung Dame wollten die Wirthsleute ihr so recht nicht geben. Die elegante Reisekleidung einer Dame, schwarzes seidenes Kleid, braunen Doppellongshawl, Strohhut mit braunem Schleier, habe sie wohl getragen, aber ihr Benehmen sei etwas gewöhnlich gewesen.
Die drei Reisenden waren unter einander bekannt gewesen. Dies war aus ihrem gegenseitigen Benehmen deutlich hervorgegangen. Ob sie sich schon längere Zeit gekannt hatten, war nicht festzustellen. Ihr Benehmen gegen einander hatte indeß einiges Eigenthümliche gehabt.
Franz Bauer, der Ermordete, war meist still für sich gewesen, er hatte nur gesprochen, wenn die beiden Anderen ihn anredeten. Dies war von dem schönen jungen Manne öfters geschehen. Dieser hatte ihm überhaupt viel Aufmerksamkeit bewiesen, ohne daß jener sie sonderlich erwidert. Die Dame hatte mit Bauer fast gar nicht gesprochen, sich überhaupt wenig um ihn bekümmert. Desto mehr und desto angelegentlicher hatte sie sich mit dem schönen jungen Manne unterhalten, oder vielmehr zu unterhalten gesucht. Denn der junge Mann war kalt und wortkarg gegen sie gewesen. Der Wirthin war es sogar vorgekommen, als ob er gerade darum, um den Gesprächen mit der Dame zu entgehen, sich so viel mit dem Ermordeten zu schaffen gemacht habe. Frauen haben in solchen Sachen einen scharfen Blick, oft aber auch einen zu scharfen, als daß er richtig sein sollte.
Eine weitere Auskunft über Personen, Benehmen und Verhältnisse der Drei war von den Zeugen nicht zu erhalten. Sie hatten sich im Ganzen wenig um die durchreisenden Fremden gekümmert; einen Namen hatte sie gar nicht gehört. Uebrigens sprachen die sämmtlichen vernommenen Bewohner des Wirthshauses sich dahin aus, daß sie den schönen jungen Mann des gegen den Ermordeten verübten Verbrechens kaum fähig halten könnten. Er habe ihnen zu brav, zu edel ausgesehen. Sein Betragen sei zu unbefangen gewesen, namentlich auch dem Ermordeten selbst gegenüber. Ueber die sogenannte Dame wollten sie nicht mit gleicher Entschiedenheit urtheilen. Sie konnten freilich keinen einzigen bestimmten, wenn auch noch so entfernten, thatsächlichen Verdachtsgrund angeben. Die Person war ihnen nur überhaupt etwas ordinair, zweideutig vorgekommen. Die Wirthsfrau wollte nur auch hier wieder bemerkt haben, wie die Dame einige Male so sonderbar nachdenkliche Blicke auf den Ermordeten gerichtet habe, die sie allerdings damals nicht zu deuten gewußt und jetzt nicht deuten wolle, um ihr Gewissen nicht zu belasten.
Die Reisenden waren etwa anderthalb Stunden geblieben, und dann gemeinschaftlich mit dem Lohnkutscher weiter gefahren. Ein wichtiges Moment wurde noch bekundet: der Ermordete hatte wirklich an der Hand zwei Ringe und in der Westentasche eine Uhr getragen. Er hatte diese einmal hervorgezogen. Die Leute meinten gesehen zu haben, daß sie von Gold war. Er hatte ferner [355] seine Jagdtasche mit aus dem Wagen genommen und sie immer sorgfältig in seiner Nähe bewahrt, als wenn sie besonders werthvolle Gegenstände enthalte. Sie habe auch einen ziemlich bedeutenden Umfang gehabt, und als der Ermordete sie getragen, sei es ihnen vorgekommen, daß sie schwer sein müsse.
Die Beraubung des Ermordeten, und zwar zu einem nicht unansehnlichen Betrage, wurde dadurch gewisser. Zugleich war ein erhebliches Moment für die Entdeckung des Thäters gewonnen. Es kam zunächst Alles darauf an, die beiden Begleiter des Ermordeten und den Lohnkutscher, der sie gefahren hatte, ausfindig zu machen. Der Wagen war von Nordwesten gekommen. Er war in gerader Richtung auf der breiten Landstraße weiter gefahren, nach der Gegend hin, in welcher die Leiche gefunden war. Er war nachher nur noch einmal wiedergesehen, an demselben Abende, auf der nämlichen Landstraße, ungefähr vier Meilen herwärts, noch ungefähr anderthalb Meilen von der Stelle entfernt, wo die Leiche im Walde gefunden war.
Am Montag früh war die Leiche gefunden. Etwa vierundzwanzig Stunden vorher hatte, nach dem Urtheile der Aerzte, der Mord verübt sein können, also am Sonntag Morgen, auch in der Nacht vom Sonnabend bis auf den Sonntag. Am Sonnabend Abend war der Wagen in jener Gegend auf der Landstraße gesehen, ungefähr noch anderthalb Meilen von dem Orte des Ausfindenn der Leiche entfernt. Er war weiter gefahren. Nach ungefähr einer Stunde mußte er an der Stelle vorbeigekommen sein, an welcher in die Landstraße ein nach dem Heimathdorfe des Ermordeten führender Seitenweg einmündete. Der Weg lief mitten durch den Forst. Ungefähr dreihundert Schritte davon war die Leiche gefunden. Nach dem Allen war Folgendes anzunehmen: der Ermordete war bis an jene Einmündung des in sein Heimathdorf führenden Weges im Wagen und in diesem auf der Landstraße geblieben. In der Nähe der Einmündung des Weges war er ausgestiegen, hatte denselben zu Fuße eingeschlagen und ihn durch den Wald verfolgt. Er war in diesem erschossen und beraubt.
War er allein ausgestiegen, oder in Gesellschaft, und in welcher? War er allein in den Wald gegangen, oder hatte ihn Jemand begleitet, und wer? War er von einem Begleiter, oder von sonst Jemandem überfallen worden? Auf alle diese Fragen fehlte die Antwort. Es war nicht einmal festzustellen, wo der Mord verübt war. An der Stelle, an der die Leiche gefunden wurde, war es nicht geschehen. Keine Blutlache war dort, keine Spur eines Kampfes oder Ueberfalls; Spuren an der Erde deuteten vielmehr an, daß die Leiche dorthin geschleppt sei, um sie in dem abgelegenen Versteck zu verbergen. Aber auch nirgends anderswo im Walde ließ sich eine Stelle entdecken, die Spuren, daß dort das Verbrechen verübt sei, aufgewiesen hätte. Freilich hatte es den ganzen Sonntag über stark geregnet, und sowohl Fuß- wie Blutspuren hatten dadurch größtentheils verwischt werden müssen, ganz verwischt und vertilgt werden können.
Drei Tage waren seit der Auffindung der Leiche vergangen. Der Morgen des vierten sollte plötzlich einen erheblichen neuen Umstand bringen. Der Schauplatz des Verbrechens war in dem nordöstlichen Theile des Gerichtsbezirks. Die Gegend war dort waldig, aber eben. Einen anderen Charakter hatte das Land nach Südwesten hin, also an dem entgegengesetzten Ende des Gerichtsbezirks. Auch dort war Waldung, aber tiefes, rauhes Gebirge.
Aus der Tiefe dieser Gebirgsgegend meldete sich am Morgen des vierten Tages Jemand bei mir, der mir etwas Wichtiges mitzutheilen habe. Seine Mittheilung bestand in Folgendem: Er war Krugwirth im Gebirge, an einer alten, seit Jahren durch neu angelegte Chausseen von dem Verkehr abgeschnittenen und fast gar nicht mehr besuchten Landstraße. In der Nacht zum vergangenen Sonntag gegen Morgen war er von dem ungewöhnlichen Geräusch eines Wagens erwacht, der schwerfällig in der steilen und holperigen Landstraße herangefahren kam. In der Nähe seines Hauses hielt der Wagen. Er stand auf, um zu sehen, was es sei, und ob Jemand bei ihm einkehren wolle. Es war draußen noch zu dunkel, als daß er genau etwas unterscheiden konnte. Nach einer Minute ungefähr setzte sich auch der Wagen wieder in Bewegung, und er hörte ihn weiter fahren, tiefer in das Gebirge hinein. Er glaubte trotz der Dunkelheit eine Reisekutsche erkannt zu haben und stellte noch seine Betrachtungen darüber an, wie dieselbe, zumal bei Nacht, in diese Gegend komme, als er ein Klopfen an seiner Hausthüre vernahm. Er öffnete das Fenster und sah hinaus. Er konnte nur einen dunklen Gegenstand gewahren, der sich unten an der Thür bewegte. Er rief hinunter, wer da sei.
„Kann man hier logiren?“ sprach eine weibliche Stimme hinauf.
Der Krüger zündete ein Licht an, ging hinunter und öffnete die Hausthür. Eine Dame in seidenem Kleide, in Shawl und Hut stand vor ihm. Sie trug einen kleinen Reisenachtsack am Arm. Sie war groß und schön.
„Kann ich bei Ihnen logiren?“ fragte sie wiederholt.
Der Wirth ließ sie eintreten und führte sie in die Krugstube. Sie war nicht blos elegant gekleidet, sie sah auch sonst reputirlich und ordentlich aus. Der Krüger fand kein Bedenken ihr zuzusagen, daß sie bei ihm logiren könne. Sie theilte ihm darauf mit, daß sie mehrere Tage zu bleiben wünsche. Sie erwarte hier Jemanden, einen Verwandten, der ihr wichtige Nachrichten zu bringen habe. Es sei aber ein Geheimniß dabei. Sie bat deshalb, ihr ein einzelnes Stübchen anzuweisen, wo sie von den Leuten nicht gesehen werde, und zugleich ihren Aufenthalt gegen Jedermann zu verschweigen. Sie begleitete ihre Bitte mit der Hinlegung eines Doppellouisd’ors, als Vorausbezahlung für Quartier und Verpflegung. Der Krüger sagte ihr auch das Geheimhalten zu. Und er hielt seine Zusage – bis ein Andres hinzu kam.
Am Sonnabend Morgen nach der Auffindung der Leiche war er bei mir. Am Abende vorher war durch Leute, die in der Stadt gewesen, die Nachricht in das Gebirge gekommen, daß auf der anderen Seite der Stadt, in dem Forst, ein schwerer Raubmord verübt sei, und daß dabei viel von einer fremden Dame und von einem jungen Menschen mit dunklen, krausen Haaren und einem großen Bart gesprochen werde. Als auch der Krüger das erfuhr – und er gehörte in der Gegend zu den Ersten, die es erfuhren – wurde ihm die fremde Dame in seinem Hause mit ihrem Geheimniß verdächtig, und er hielt es für seine Pflicht, dem Gerichte Anzeige zu machen. Ein anderer Umstand ließ ihm dies noch dringender erscheinen.
Gleich in der folgenden Nacht, nach der Ankunft der Fremden, also in der Nacht vom Sonntag auf Montag, war wieder an seine Hausthür geklopft worden. Er war aufgestanden und hatte durch das Fenster hinuntergefragt, wer da sei. Eine fremde männliche Stimme hatte um Einlaß gebeten.
„Zu welchem Zwecke?“
„Um ein Glas Bier zu trinken.“
„Dazu öffne er in der Nacht nicht.“
„Er habe auch noch sonst ein Anliegen,“ hatte der Fremde gesagt. „Er werde gut bezahlen.“
Der Krüger hatte wieder Licht angezündet, war hinunter gegangen und hatte geöffnet. Ein großer Mann stand vor ihm, tief in einen Mantel gehüllt, einen niedrigen, breitkrämpigen Hut tief in das Gesicht gedrückt. Von dem Gesichte war, zumal bei der trübe brennenden Lampe, im eigentlichen Sinne des Worts, nur der Bart zu sehen. Es war ein schwarzer, krauser Vollbart. Der Krüger ließ ihn ein. Im Hause erklärte der Fremde, seine Absicht sei nur, zu der Dame geführt zu werden, die seit der gestrigen Nacht hier sei. Er müsse sie dringend sprechen. Er sei der, den sie erwarte. Der Wirth führte ihn zu der Stube der Dame. Der Fremde klopfte an die Thür und rief dabei zwei Worte in einer fremden Sprache. Wenige Minuten darauf wurde die Thür von innen geöffnet.
„Ich werde den Herrn schon wieder hinauslassen,“ sagte die Dame zu dem Wirth. „Sie brauchen nicht aufzubleiben.“
Der Wirth legte sich wieder zu Bett, schlief bald ein und hatte nicht gehört, wann der Fremde sich wieder entfernt hatte. Am andern Morgen war er fort. Hinterher fiel es dem Wirlh ein und auf, daß der Fremde mit einer sonderbar gedämpften, wie absichtlich verstellten Stimme gesprochen habe. Verdächtig war ihm das Alles geworden, als er die Nachricht von dem Raubmord gehört hatte.
Der fremde Mann war nicht wieder da gewesen. Die Dame war noch da, als er in die Stadt ging, die gerichtliche Anzeige zu machen. Bei seinem Weggehen von Hause hatte er, um keinen Verdacht zu erregen, gesagt, daß er zu einem Wochenmarkte in der Nachbarschaft gehe. Er war ein ebenso gewissenhafter, wie vorsichtiger Mann. Seine Mittheilung war dem Anscheine nach von großer Wichtigkeit. Zeit und Persönlichkeiten wiesen dringend darauf hin, daß die beiden Fremden die Personen seien, die sich fast [356] unmittelbar vor dem Morde in der Begleitung des Ermordeten befunden hatten. Das Geheimnißvolle in ihrem Benehmen deutete zugleich auf eine Verbindung mit dem Morde hin.
Ein Umstand blieb unerklärlich. Warum hielt die fremde Dame sich noch immer in der Gegend auf, wenn sie zu dem Verbrechen in Beziehung stand? Sie konnte sich die Gefahr nicht verhehlen, in der sie so, trotz ihrer Verborgenheit, schwebte. Jedenfalls mußte sie wichtige Gründe haben, die Gegend nicht zu verlassen. Sie mußte schleunig und unvorbereitet wenigstens vetnommen werden. Ich fuhr mit den zuzuziehenden Gerichtsbeamten und dem Krüger sofort hin. Es war Abend, als wir ankamen.
Der Krug lag einsam an der alten Landstraße, etwas von dieser zurück, tief in waldigem Gebirge. In der Umgebung einer Viertelstunde befand sich kein anderes Wohnhaus. Ich ließ den Wagen in einiger Entfernung von dem Hause halten. Wir gingen zu Fuße weiter. Der Krüger mußte zuerst allein in das Haus treten. Er brachte die Nachricht zurück, die Dame sei da und in ihrem Zimmer. Er mußte uns zu dem Zimmer führen. Ich trat mit einem Protokollführer ein. Ich war gespannt, denn ich überfiel eine fremde Frau. Ich überfiel sie als eine Verdächtige, des schwersten Verbrechens verdächtig. Sie konnte schuldig, sie konnte aber auch unschuldig sein.
Der Protokollführer und ich waren eingetreten, ohne anzuklopfen, ohne durch das geringste Geräusch unsere Ankunft zu verrathen. Wir standen völlig unerwartet in dem Zimmer, vor der Dame, die darin war. Sie saß bei einer Lampe an einem Tische und las in einem alten Buche, welches sie wohl von dem Wirthe geliehen hatte. Verwundert sah sie auf, als wir plötzlich an ihrer Seite standen, und warf einen raschen, forschenden Blick auf uns. Einen Augenblick schien etwas in ihrem Innern zu zucken, durch ihr Gesicht zu fliegen. Dann erhob sie sich, langsam, ruhig. Sie sah uns fragend an, verwundert, aber mit kalter, fast stolzer Verwunderung.
„Sie irren sich hier wohl,“ sagte sie.
Ihre Erscheinung, ihr Benehmen ließen weder auf Schuld noch auf Unschuld schließen. Um desto vorsichtiger mußte ich verfahren. War sie schuldig, so war sie jedenfalls eine gewandte Frau, die sich zu beherrschen verstand. Jene ordinaire Person, die die Wirthsleute an der Landstraße in ihr gesehen haben wollten, war sie nicht. Hätte sie sich damals so gezeigt, so konnte sie sich auch anders zeigen.
„Ich bin hier recht,“ erwiderte ich ihr. „Ich bin Commissarius des Criminalgerichts. Ich suche Sie.“
Sie verfärbte sich nicht wieder. Sie hatte sich in ihre Rolle schon hineingedacht, sie spielte sie schon, wenn sie schuldig war.
„Was wünschen Sie von mir?“ sagte sie kalt.
„Ist Ihnen der Name Franz Bauer bekannt?“
„Nein, mein Herr.“
„Seit wann sind Sie hier?“
„Seit vorigem Sonntag.“
„Wie kamen Sie hierher?“
„In einem gemietheten Wagen.“
„Allein?“
„Ganz allein.“
„Woher kamen Sie?“
Sie nannte, ohne sich zu besinnen, das Städtchen, in welchem am Sonnabend vorher der fremde Lohnkutscher mit dem Ermordeten und dessen Begleitern angehalten hatte. War sie die Dame, die zu diesen Begleitern gehörte?
„Waren Sie damals allein?“
„Ich fuhr mit zwei Herren.“
„Kannten Sie diese?“
„Nein.“
„Wie waren Sie mit ihnen zusammengekommen?“
„Zufällig.“
Sie erzählte, wie sie, aus dem Norden Deutschlands kommend, auf der Eisenbahn gereist sei. Etwa drei Meilen jenseits des Städtchens sei für ihre Weiterreise die Eisenbahn zu Ende gewesen. Sie habe auf der Station die nächste Post erwarten wollen, als sie einen auf dem Bahnhofe haltenden Lohnkutscher bemerkt, der, wie es ihr geschienen, auf Reisende gewartet habe. Sie habe sich an ihn gewandt. Er habe in der Richtung fahren wollen, die sie nehmen mußte. Er habe noch Platz im Wagen gehabt; nur zwei Herren führen noch mit. Die beiden Herren seien gleich darauf erschienen. Wenige Minuten später seien sie abgefahren. So sei sie mit den beiden Herren zusammengekommen.
„Wie sahen die beiden Herren aus?“
Sie beschrieb sie, genau wie die Wirthsleute in dem Städtchen. Sie war jene Dame. Sie war in der Gesellschaft des Ermordeten gewesen. Sie hatte sich seitdem verborgen, hier tief im Gebirge versteckt gehalten. Sie hatte in ihrem Versteck den heimlichen Besuch eines Menschen gehabt, der nach Allem der zweite Begleiter des Ermordeten gewesen war. In ihrer und dieses Mannes Gesellschaft war der Unglückliche zuletzt gesehen, so nahe, der Zeit wie dem Orte nach so nahe dem an ihm verübten Verbrechen. Wie drängten diese Umstände so sprechend zu einem dringenden Verdachte einer Schuld gegen die Fremde! Und sie war völlig ruhig, kalt, unbefangen!
„Wie lange waren Sie in der Gesellschaft der beiden Herren?“ fragte ich sie.
„Bis zum Abend des nämlichen Tages.“
„Trennten Sie sich von den Herren?“
„Sie trennten sich von mir.“
„Zu gleicher Zeit?“
„Zu gleicher Zeit.“
„Wo war das?“
„Mitten auf der Landstraße.“
„War es eine bewohnte Gegend?“
„Es war im freien Felde. Nur auf der einen Seite der Straße befand sich eine Waldung.“
„War es früh oder spät am Abende?“
„Wir hatten zu Mittag in einem Städtchen angehalten. Es konnte drei Uhr Nachmittags sein, als wir von da fort fuhren. Wir waren schon einige Zeit im Dunkeln gefahren, als ich einschlummerte. Ich erwachte von einem Anhalten des Wagens. Wie lange ich bis dahin geschlafen hatte, weiß ich nicht. Die beiden Herren stiegen gemeinschaftlich aus und verabschiedeten sich mit kurzen Worten von mir. Ich fuhr mit dem Kutscher allein weiter. Derselbe erzählte mir nachher, der eine der beiden Herren, der kleinere, habe dort, wo sie ausgestiegen, einen in ein benachbartes Dorf führenden Seitenweg einschlagen wollen. Der Andere habe zwar, nach seiner Angabe, erst etwa zehn Minuten weiter den Wagen und die Straße verlassen müssen, sich jedoch, um keinen nochmaligen Aufenthalt zu verursachen, zum gemeinschaftlichen Aussteigen mit jenem entschlossen.“
„Haben Sie später einen der beiden Herren wiedergesehen?“
„Nein.“
Sie sprach auch das Wort völlig so ruhig, unbefangen und bestimmt, wie das Andere.
Nach der Mittheilung des Krügers war gleichwohl gerade der eine der Beiden bei ihr gewesen. Ich fuhr ebenso unbefangen, wie sie war, in meinen Fragen fort:
„Wie lange gedenken Sie sich hier noch aufzuhalten?“
„Ich weiß es nicht.“
„Welches ist der Zweck Ihres hiesigen Aufenthaltes?“
Sie sah mich befremdet, vornehm an.
„Haben Sie ein Recht, danach zu fragen, mein Herr?“
„Es käme darauf an. Indeß, Ihr Name, wenn ich bitten darf?“
Sie besann sich einen Augenblick, dann sagte sie leicht und als wenn sie sich entschlossen habe, mir die kleine Gefälligkeit zu erweisen:
„Antonie Hein.“
„Aus –?“
Sie wurde wieder vornehm.
„Mein Herr, meinen Namen habe ich Ihnen genannt, ich fand kein Bedenken; von meiner Heimath. und von meinen sämmtlichen übrigen Verhältnissen jedoch erfahren Sie durch mich kein Wort. Ich habe meine Gründe dazu, und wenn Sie nach den Gründen sollten fragen wollen, so genüge Ihnen schon im Voraus meine Erklärung: ich finde es gut, es gefällt mir, Ihnen über mich nicht ein Wort weiter zu sagen.“
Sie sprach mit ihrer ganzen Ruhe, aber auch mit einer Entschiedenheit und Festigkeit, die eine große Willenskraft anzudeuten schienen.
[357]
Ein tiefer Frieden sinkt in meine Seele,
Gedenk’ ich dein, du stilles Alpenthal,
Smaragdengrün, in Blumengold gewieget,
Umklungen von dem Abendsonnenstrahl.
Die rothen Wolken ziehen an den Bergen
Und über grünes Waldmeer still dahin,
Dieweil die Firnen, wie die Wächter Gottes,
Im reichen Gold des Sommerabends glüh’n.
Der Hirtenknabe dort auf grüner Alme,
In Blumen ruhend, singt sein Abendlied;
Und vor bekränztem Muttergottesbilde
Entblößten Haupts der müde Pilger kniet.
Da tönt durch Baum und Blatt und rothe Blüthen,
Wie einer schönern Gotteswelt entflohn,
Wie Engelgruß durch dieses Thales Frieden,
Sanct Zeno’s frommer Abendglockenton.
Und alle Berge zauberhaft umklungen,
Umrankt von Märchengrün aus alter Zeit,
Das da prophetisch immer wieder klinget
Von deutschen Volks dereinst’ger Herrlichkeit.
Kennt ihr des Wunderberges Marmorhalle,
Worinnen Deutschlands Kaiser trauernd harrt,
So lange, bis des Marmortisches Runde
Dreimal umschlungen hat der Silberbart?
Noch flattern um den Hochthron finstre Raben,
Der Kaiser träumt, der dunkle Zauber bleibt,
Bis daß die Zeit, wo auf dem Walserfelde
Der Birnenbaum der Freiheit Blüthen treibt.
Reichenhall –! holder, freundlicher Klang; erinnerungrosig ziehst du durch so manche Seele, die gebannt auf trostlose Ebene, wo die Wolken eintönig von Horizont zu Horizont ziehen und der Blick unerquickt in die unbegrenzte Ferne schweift – die aber doch einmal so glücklich war, zwischen deinen Almen zu wandeln und trunken emporzuschauen zu deinen Bergen, ruhend im himmlischen Blau. Und wie manches Herz wird dankbar deinen Namen segnen, das Genesung fand in deinem Schooße, du stilles Alpenthal, wo Gott so gnadenreich seine Quellen sprudeln läßt für arme kranke Erdenpilger!
Es ist heil’ge Sonntagfrühe. Das Nachtgewitter ist verrollt in den Bergen. Bis zwei Uhr haben die entsetzlichen Schläge wiederhallt, haben die Feuergarben verderbendrohend niedergehangen. Bis zwei Uhr haben die Lichtlein geleuchtet der erschreckten Bewohner von Reichenhall.
Die Tyroler und Salzburger Alpen hatten sich eine Mitternachtschlacht geliefert, wie man seit lange keine zweite vernommen; eine Schlacht voller Silberpracht und Grabesdunkel, voll golden zerrissener Himmelsdecken und Felsenerzittern. Die Hitze gestern war zu erstickend gewesen, die Luft so elektrisch, daß das Sanct Elmenfeuer auf dem Wege nach Kirchberg von Pappel zu Pappel gesprungen. – In der Gegend von Maria Plain hatte das Wetter gezündet. Lange leuchtete der Feuerschein durch die Nacht.
Jetzt ist es wieder Morgen und Alles still; nur die thautrunknen Halme und Alpenveilchen erzählen sich schüchtern von den feurigen Bändern der Nacht und wie der Felsengrund gezittert.
Welche Frische, welche Erquickung! Immer freundlicher quillt der junge Morgen über die Abhänge des Stauffengebirgs. Im Thal und Städtchen noch Alles still. Nur die Kathi, welche die Molken von der Kuchelbachalp herabbringt, pocht an die Thür zum Schießhüttengarten. Das Thal dampft, Untersberg, die Stauffen, Schwegel, Müllnerberg und Ristfeuchthorn, die Riesenwächter von Reichenhall, rauchen ihre Morgenpfeife. Allmählich beginnen sich ihre Häupter zu röthen.
Da, aus Blättergrün des Curgartens von Achselmannstein, erwachen die Töne eines Chorals, die, ein frommer Sonntaggruß, weihevoll durch den immer goldener werdenden Morgen ziehen. Es ist der Choral
„Vor deinen Thron tret’ ich hiermit.“
Die Bademusik beginnt ihr Morgenconcert.
Da klappt hier und da eine grüne Jalousie. Sie thut sich auf. Himmlischer Morgen strömt hinein, herzerquickend, wangenröthend. Man hört Nachbarn sich einen guten Morgen zurufen. Dann lauscht Alles den Klängen des Chorals. Und immer goldener blüht der Morgenhimmel auf. Es wird lebhafter. Vereinzelte Curgäste wandeln bereits zwischen den blühenden und thautropfenden [358] Gesträuchen des Gartens von Achselmannstein. Auch auf der Straße wird es lebendig. Vom Thore her rollt der Stellwagen, überfüllt mit Frühaufgestandenen, die beim Bothenwirthe eingestiegen und gottvergnügt in den jungen Tag hineinfahren, nach Anger, nach Salzburg, nach Hellbrunn, Gott weiß, wohin.
Da blitzt es himmlisch im Morgen. Die ersten Strahlen der Sonne zittern golden über das Thal, alle Matten mit Diamanten und Rubinen übersäend. Den Blumen stehen beim Anblick der Sonne die Thränen der Freude in den Augen. Hörner und Clarinetten klingen dazwischen:Die weißen, an den Bergen dahinliegenden Nebel zerfließen in immer zartere Schleier, bis das ganze Thal abgeklärt und so frisch, als ob es soeben aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen, im Glanze des Morgens ruht. Wie verliert sich die Riesenpyramide des Hochstauffen mit ihrer kreuzgeschmückten Felsenstirn in tiefes Blau! Wie thronen so gewaltig die Alpen im Hintergrunde; wie fallen die Steinbastionen der Reitalp so jäh in die Tiefe; wie schaut selbst der düstre Untersberg im Morgensonnenlichte nicht unfreundlich herüber! Seine Märchen und Gnomen, die ihn in nächtlicher Weile umklingen und umwandeln, sind vor der Sonne gewichen. Verschlossen sitzt der alte Kaiser im Marmorpalaste, und die tobenden Zechgelage in des Kaisers Weinkeller beim Hallthurm sind verstummt vor dem Frühgesange der Haidelerche. Wie einladend winkt die kleine Alphütte dort auf dem Vorbau des Müllnerberges! Wer auf einer jener sonnigen Höhen stehen und ausschauen könnt’ über die Welt und Gottes Pracht und Herrlichkeit, über die Gletscher und Eisfelder bis zur erhabenen Schneepyramide des Großglockner; über die grünen Landschaften von Oberbaiern, die gesegneten Fluren von Salzburg, die blitzenden Seen in Nähe und Ferne!
Und das Thal selbst! Wie idyllisch umarmt von den Bergen! Wie lachen die freundlichen Schweizerhäuser mit ihren grünen Jalousien und zierlichem Schnitzwerk, laubumrankt, rosenumblüht! Dort auf dem Calvarienberge das Kirchlein mit seiner weithin leuchtenden goldenen Thurmspitze. Umringt von grünen Matten, bachdurchströmt, waldumrahmt das gastliche Kirchberg. Im Hintergrunde auf kecker Felsenstirn das tannenumrauschte Sanct Pankraz mit seinem uralten Nachbar, dem epheuumrankten Karlstein. Dort am Fuße des Hochstauffen, noch umschattet von den Morgenbergen, das Kirchlein Nonn mit seinen paar ländlichen Wohnungen, wo man so trefflichen Rahm bekommt. Weiter zur Linken die freundliche Paddingeralm, wo die Alpenveilchen so reichlich blühen. Und all diese grünende und blühende Herrlichkeit durchrauscht und durchblitzt von der Saalach, dem frischen, raschen Tyrolerkinde.
Ländliche Morgentoiletten, reizende Sommerhütchen werden sichtbar auf Altanen und in den Lauben. Die Kaffeetassen klirren im Morgenlichte. Heitere Gespräche, Scherz und Rosenlaune. Kleine Landmädchen kommen von den Bergen und bieten Walderdbeeren zum Verkauf. Für wenig Kreuzer, welche Frühlingsgabe! Welcher Duft! Wo sich der Blick hinwendet, Alles so froh, so glücklich in diesem von der Welt so abgeschiedenen reizenden Erdenwinkel.
Wie glücklich aber ist erst derjenige, welcher zu keiner Badecur mit obligaten Sool-, Moor- und Nadelbädern, Molken- und Kräutertränken verurtheilt ist, sondern gesund, „frei, frisch, froh, fromm“ sich dieses prächtige Leben mit munterm Herzen und Auge anschauen darf! Es wird ihm, sobald der duftende Kaffee in der Geisblattlaube, in welche goldene Sonnenstrahlen fallen, getrunken, sobald die Hörnlein oder Milchbrodchen verzehrt, keine Ruhe lassen. Er muß hinaus auf die grünen Matten, wo die „Gas“, die Füllen und junge Langohrs sich in possirlich humoristischen Sätzen üben. Er muß hinein in das muntere Städtchen, durch die reinlichen Straßen wandeln, auf den Schildern die dem Norddeutschen unbekannten Gewerksnamen studiren, die Fragner, die Hafner, die Flaschner, die Manheimer, und dabei die Wölkchen der Havannah in die blaue Morgenluft entsenden.
Kirchgänger im Sonntagsschmucke, die goldene Quaste an den runden schwarzen Hüten, wandeln vorüber; Frauen und Mädchen um den Hals die vielfach geschlungene glänzende Silberkette. Hier und da ein stattlicher Gebirgssohn, kühner „Gamsjaga“, die Adlerfeder und das Edelweiß im grünen Tyrolerhute.
Vor dem Löwenbräu, wo die grünen Linden stehen, ist ein flotter Zweispänner vorgefahren. Man ist bemüht, die Wagentaschen mit blinkenden Rheinweinflaschen und reichlichem Mundvorrath zu versorgen. Bekannte steigen ein.
„Wohin des Weges?“
„Berchtesgaden, Königssee, Eiskapelle!“
„Vergessen Sie nicht auf Sanct Bartholomä, dem lieblichen Eilande, die delicaten Salmling, und bitten Sie den wackern Forstwart daselbst, daß er mit dem Fernrohre Gemsen aufspürt. Bei der Rückfahrt verabsäumen Sie um Alles die herrliche Ramsau nicht, Schwarzbachwacht und Jettenberg, eine der malerischsten und liebenswürdigsten Partieen.“
„Danken schönstens, soll uns nichts entgehen.“
Unter freudigem Hutschwenken der Insitzenden rollt das Wäglein auf dem Wege nach Berchtesgaden munter dahin. Einer der Herren Doctoren eilt über den Weg. Die Doctoren sind unter den Badebekanntschaften unbezahlbar.
„Guten Morgen, Herr Doctor, was gibt’s Neues?“
„Der deutsche Bundestag –“
„Ich bitt’ Sie um Alles in der Welt, sprechen Sie mir an diesem himmlischen Morgen nicht vom deutschen Bundestage.“
„In der Traube ist famoser Theisendorfer angekommen.“
„Das laß ich mir gefallen. Danke schön. Will jetzt zum Apotheker. Er soll mir ein paar Alpenblumen einpfarren, die ich gestern auf dem Salzbüchsel gepflückt. Auf Wiedersehen!“
Die sehr freundliche Apotheke von Reichenhall ist eine Art Mittelpunkt, ein Focus, wo sich namentlich während der Badesaison allerhand Leute zusammenfinden, weil man hier über Alles Auskunft erhält, was einem hier Badenden immer zu wissen nöthig ist. Pro Primo kann er hier den berühmten Alpenkräutersaft mit Pfeffermünzküchleins an der Quelle trinken. Ist es um Zurechtweisung hinsichtlich schöner Alpenpartieen in naher Umgegend zu thun, erhält man hier die besten Rathschläge. Zugleich stehen zwei wohlgehaltene Maulthiere, der Hansl und die Liesl, unter Führung des wackeren Sepperl bereit, den Steiglustigen bis an die Schneelinie emporzutragen. Sind wir im Unklaren über gepflückte Kräuter und Alpenblumen, wird uns in der Apotheke von Reichenhall die sicherste Auskunft. Haben wir fremdländisch Papiergeld,, das sonst Niemand wechselt, bekommen wir hier das schönste bairische Silbergeld dafür. Kurz, die Reichenhaller Apotheke ist nicht blos eine Heilanstalt für die Unannehmlichkeiten des Lebens, sondern auch eine Beförderung der Annehmlichkeiten desselben. Der Chef dieser trefflichen Officin ist der um Reichenhall hochverdiente, frühere Bürgermeister, Herr M. Mack; ein wahrer Gebirgsvater, der, sobald die erste Anemone, das erste Aurikel am Fuße des Stauffen im Frühjahr die Augen aufschlägt, auf die Berge steigt, wo er mit Fleiß und Kenntniß die heilsamen Kräuter sammelt für seinen Kräutersaft. Dieser Mann ist für das freundliche Städtchen und seine malerische Umgebung wie geschaffen. Jahre lang ist er bemüht gewesen, schöne Punkte, reizende Fernsichten dem Naturfreunde ersteigbar und zugänglich zu machen. Er hat wohlgehaltene Fußpfade angelegt, sie mit Barrieren geschützt, Wegweiser aufgestellt, für Ruhebänke gesorgt. Die dankbaren Bewohner von Reichenhall haben darum auch ihm zu Ehren die kleine von ihm auf dem Schroffen erbaute Alphütte, von wo man die kostbare Aussicht über das ganze Thal bis Salzburg genießt, die Bürgermeisteralp genannt. Außerdem gibt es am Fuße des Hochstauffen auch noch eine Apothekeralm, die ihm eigenthümlich zugehört.
Ich hätte dem wackeren Manne gern meine Aufwartung gemacht, um mir über meine auf dem Salzbüchsel gemachten botanischen Eroberungen einige Auskunft zu erbitten, fand aber die Officin bereits von einer andern Species liebenswürdiger Flora hinreichend bevölkert. Drei Crinolindamen füllten den Raum bis zum Provisor so vollständig, daß ein Eindringen sich als eben so unmöglich, wie unthunlich herausstellte.
Ich setze darum meinen Weg zur Post fort. Der Theisendorfer Postwagen ist eben angekommen, aus dem sich neue Badegäste abwickeln. Am Hausthor des Postgebäudes thürmen sich Koffer, Kisten, Reisetaschen, Schachteln, Hutfutterale mit umschnürten Regenschirmen. Die stattliche Figur des tüchtigen Posthalter Puchner geht anordnend auf und ab. Die neuen Ankömmlinge, welche noch keine Wohnung haben, nehmen einstweilen in dem großen und schönen Postgebäude ihr Absteigequartier.
Indeß ist die Sonne hoch genug gestiegen, um das Verlangen nach einem frischen Töpfchen nicht als unbillig erscheinen zu lassen. Man betritt die geräumige und freundliche Postrestauration. Kellnerinnen [359] im Sonntagsschmucke, auf dem Gürtel den gestickten Namen, eilen geschäftig hin und wieder.
„Walli, ein Seidel, aber frisch!“
„Eben angesteckt,“ lautet es erquicklich, und bald schäumt der goldene Trank im blanken Glase vor uns, dessen Deckel mit einer freundlichen Gebirgslandschaft geschmückt ist.
In den Gastzimmern der Post zu Reichenhall kann dem Besucher die Zeit nimmer lang werden. Auf der Papptafel an der einen Thüre kann er die Sehenswürdigkeiten der Salinenstadt und Umgegend hinreichend kennen lernen. Die schönsten Punkte, Fernsichten, Alpenpartieen, Klamm’s stehen da schwarz auf weiß. Auf einer anderen Tafel findet er die Preise, um vermittelst Fuhre, Maulthier oder Esel nach dieser oder jener Partie befördert zu werden. Eine große Karte von Baiern an der Wand zeigt an, wie weit man von der Heimath und wie hoch oben im Baierlande man drinnen sitzt. Selbst die Telegraphentaxen sind nicht vergessen. Auch an sonstiger Lectüre ist kein Mangel. Man findet die Augsburger Allgemeine, in Südbaiern das tägliche Brod, die Münchner Nachrichten, die fliegenden Blätter, den Münchner Punsch, sowie das im Zugschwerdtschen Verlage erscheinende gut redigirte Reichenhaller Localblatt, die Grenzboten.
Das Seidel ist geleert, die Augsburgerin höchst oberflächlich durchblättert, die harmlosen Witze des Punsches und der Fliegenden sind belacht. Que faire? Neue Bekanntschaften anknüpfen? Die Gelegenheit ist nicht ungünstig. Nein, wieder hinaus in den herrlichen Morgen; durch Waldesgrün längs der rauschenden Saalach nach den gastlichen Arkaden von Kirchberg, wo man umgrünt sitzt von duftenden Matten, umarmt wird von bewaldeten Bergen und umrauscht von Silberbächen. Und ist’s Kirchberg nicht, dann bei der Brücke links abgeschwenkt zum Molkenbauer im kühlen Felsenthale, wo gegenüber der Röthelbach sich brausend vom hohen Lattengebirge stürzt.
Aber die Sonne wird immer brennender. Darum zurück zum Städtlein. Man wandelt die unterschiedlichen Bräu’s vorüber. Auf der Straße bereits unerträgliche Hitze. Wie schaut da der Blick so erquicklich in die dunklen kühligen, oft mit grünen Maien geschmückten Hausfluren, wo Baierland sitzt beim frischen Trunke und die Thonkrüge aneinander klirren!
Man kommt zur Traube. Hier ist’s mit der Resignation alle. Man muß erfahren, ob der Doctor die Wahrheit gesprochen. Man tritt in die kühle Unterstube. Der Doctor hat Recht. Nichts geht über sin gutes Theisendorfer.
Während dieser höchst angenehmen Beschäftigung, der Wahrheit des Doctors auf die Spur zu kommen, ist es Mittag geworden. In den Straßen die fürchterlichste Hitze. Es ist, als ob die Felsen zu einem Riesenbackofen umgeschaffen worden. Jetzt entsteht die Frage: Zu welcher der unterschiedlichen Kripplein sich wenden? Table d’hôte im comfortablen Speisesaale von Achselmannstein, unter gewählter Gesellschaft? Aber Comfort und gewählte Gesellschaft kann man in Europa überall haben. Oder Diner auf der Post? Oder in einem der unterschiedlichen Bräu’s? Nichts da! In’s Freie, in’s Grüne! Wo kann die Erdbeerkaltschale und der Kaiserschmarren besser munden, als unter den schattigen Linden im Löwengarten? Gedacht, gethan. Auch ist der Weg dahin nicht zu weit. Andere Leute scheinen dieselbe vernünftige Ansicht gehabt zu haben. Unter dem grünen Laubdach blinken bereits auf sauber gedeckten Tischen lustig Flaschen und Gläser. Speisen und Getränke delicat und nicht übertheuer. Man lebt wahrhaftig wie der liebe Gott in Frankreich.
Nach Tische schlendert man in die nahgelegene Leihbibliothek zur guten Madame Zugschwerdt und sucht sich eine leichte Lectüre für die Siesta. Zu Hause angekommen im freundlichen Stüblein mit der herrlichen Aussicht, haben die sorgsamen Wirthsleute bereits in den Morgenstunden die Jalousien geschlossen, um das Zimmer angenehm kühl zu erhalten. Man macht sich’s so bequem, wie immer möglich, streckt die Erdenhülle behaglich auf’s Sopha und erhält in der That einen Begriff, wie es dem lieben Gott in Frankreich zu Muthe ist. Ottilie Wildermuth, die liebenswürdigste der jetzt lebenden Schriftstellerinnen, führt uns in ihr grünes Schwabenland, in ein lindenumblühtes Pfarrhaus mit scharmanten Pfarrtöchtern. Die Geschichte ist nicht lang, aber erquickt. Dabei rauscht der Röhrtrog im Hofe so monoton, daß sich endlich das Haupt unwillkürlich auf das Kissen neigt und das holdeste Mittagschläfchen uns in seine Arme nimmt, während draußen die Julisonne erstickend auf Berg und Thal ruht.
Die bevorstehende Gründung eines zoologischen Gartens bei Dresden hat, zunächst in unserem Vaterländchen, die öffentliche Aufmerksamkeit und Discussion wieder diesem an sich nicht neuen Gegenstande zugewendet. Dieselbe wird aber nächstens eine allgemeine werden, indem sicherem Vernehmen nach auch in Hamburg und Cöln (vielleicht bald in den meisten größeren Städten) solche Thiergärten entstehen werden.
Sie fragen, werther Freund, „warum ich mich so für diesen Gegenstand interessire?“ Nun, weil ich auf meinen Reisen die meisten derselben gesehen und davon den Eindruck mitgebracht habe, daß solch ein zoologischer Garten eine Zier und Ehre für die Stadt ist, welche ihn besitzt, und daß er der Bevölkerung ein hochzuschätzendes Element der Unterhaltung und Belehrung, der rein menschlichen und der wissenschaftlichen Bildung darbietet! – Erlauben Sie mir, Ihnen Einiges von den berühmteren Thiergärten, welche ich gesehen, zu erzählen, dann auf den projectirten Dresdner zu kommen und schließlich die Frage nach Werth und Bedeutung solcher zoologischer Gärten zu erörtern.
Wie billig beginnen wir mit dem Londoner, dem reichsten, ausgedehntesten, zierlichsten von allen, – dessen Besuch, neben all dem Merkwürdigen und Imposanten, was man in London sieht, wohl den meisten Reisenden lebenslängliche freundliche Erinnerungen hinterläßt. – Er liegt in einem der schönsten und vornehmsten Parks von London, dem Regent-Park. Ein gut Stück von dessen Wiesen- und Waldgrund ist zu diesem Zwecke der zoologischen Gesellschaft abgetreten worden; doch so, daß die eine Hauptallee (die den Park durchschneidende aa) längs des nur niedrig umzäunten Thierparks hinführt, die andere (den ganzen Park umkreisende bb) hingegen quer durch denselben hindurchführt. Letztere theilt ihn also in eine nördliche schattigere, und südliche sonnigere Abtheilung, welche beide durch einen unterhalb der Fahrstraße hindurchführenden Tunnel (cc) mit einander verbunden sind, welcher anmuthig mit natürlichem Felswerk und Schlingpflanzen verziert ist. Wenn die schöne Welt ihre Spazierfahrt um den Park macht, blickt sie von oben herab in den Thiergarten hinein, der zugleich durch seine Blumenbeete und Parkanlagen einen der anmuthigsten Ziergärten darstellt. – Die südliche Hälfte zerfällt wieder in einen freieren südwestlichen Theil (dd) und einen schattigeren nordöstlichen (ee). Ersteren bilden ausgedehnte Wiesengründe, auf denen die verschiedenen Hirsche, Rehe, Rennthiere, Lama’s, Strauße u. a. frei herumwandeln; dazwischen größere und kleinere Teiche, in und an denen zahllose Wasservögel, hier Schwäne, Enten, Gänse, Taucher, Regenpfeifer u. dgl., dort Kraniche, Störche, Reiher, dort wieder Seevögel u. a. m., wie in ihrem wilden Zustande leben.
In der zweiten Abtheilung begrüßt uns zunächst bei f. ein kleiner Glaspalast, welcher immer von Besuchern gefüllt ist: das Aquavivarium, die Sammlungen lebender Wassergeschöpfe enthaltend. Letztere schwimmen theils in Zinn- oder Glasbecken herum (wie Fische aller Art), oder lagern an deren Rande (wie die Krokodile und Alligatoren, natürlich nur kleine Exemplare!); vor Allem aber bergen die zahlreichen Glaskästen der Süß- und Seewasser-Aquarien eine Unzahl jener zauberisch niedlichen und wunderbar organisirten Geschöpfe, welche am Grunde der Gewässer, an Klippen etc. lebend, dem gewöhnlichen Publicum bisher fast ganz [360] entgingen oder als faulende Seeauswürfe verabscheut und zum Schlamme gezählt zu werden pflegten. Diese meist zarten Geschöpfe, die See-Anemonen etc., manchem unserer Leser vielleicht jetzt durch das reizende Buch des Goethe -Dolmetschers Lewes bekannter,[1] entfalten hier mit derselben Ruhe, wie in ihrer Meeres-Heimath, ihr eigenthümliches Leben und das liebliche Spiel ihrer Organe, wobei der Beschauer den Vortheil hat, sie in der Nähe und in den Gesichtswinkeln eines im Meere herumschwimmenden Fisches zu betrachten, eine Position, welche sonst nur ein Taucher oder ein Ertrinkender einzunehmen pflegt! (Beiläufig bemerkt, die Schilderung des Schiller’schen Tauchers über die Gräuel des Meerbodens wird sowohl von den Aquarien, als von allen Reisenden, welche den Grund der See durch die krystallklare Fluth der Tropenmeere beobachteten, völlig widerlegt!)
Unweit des Aquavivarium finden wir den ebenfalls sehr populären reichbevölkerten Affenpalast und eine Menschensammlung, die sich durch freiwilligen Eintritt fortwährend erneuert, nämlich eine für London ziemlich gut ausgestattete Restauration und Conditorei. – Nächstdem stattliche Raubvögel aller Zonen in einem „Adlerhaus“, mehrere Einzelthiere, z. B. Ottern, Schildkröten, Stachelschweine, Biber etc.
Den Mittelpunkt der ganzen Südhälfte bildet eine durch Bau und Inhalt Respect gebietende Doppelhalle (gg), eine Etage hoch aus Stein erbaut, deren flaches Dach, mittels zwei an beiden Enden befindlicher Freitreppen zu besteigen, eine Plattform bildet, von welcher der Spaziergänger den ganzen Thiergarten und einen beträchtlichen Theil des Regentparks und seiner Umgebung überblickt. In dieser Doppelhalle befinden sich zu beiden Seiten die Käfiche der mächtigsten fleischfressenden Vierfüßler: der Löwen, Tiger, Panther, Leoparden, Jaguare, Hyänen, Bären etc. Am Westende in einer besonderen Abtheilung rechts die Eisbären mit ihrem Wasserbassin, links die Söhne „Brauns des Bären“, welche, im Geist der Zeit industriell geworden, immer bereit sind, an der hohen Kletterstange heraufklimmend, von den auf der Plattform versammelten jungen und alten Kindern allerlei Näschereien in Empfang zu nehmen.
Der dreieckige Raum, welcher von hier nach Nord und West noch übrig bleibt, ist von den Häusern und Umzäunungen mehrerer Einzelthiere (Dromedare, Wölfe, Guineaschweine etc.), namentlich aber von zwei größeren und einigen kleineren Vogelhäusern ausgefüllt (Fasane, Hühner, Tauben, Falken, Geier, Eulen u. v. A.).
Wir durchschreiten nun den Tunnel und gelangen unter der Fahrstraße hindurch in die nördliche Abtheilung des Thiergartens (kk). Dort begrüßt uns ein alter Bekannter aus der Heimath, der Laubfrosch, sich hier auf grünem Laub so unscheinbar als möglich machend, und weist uns nach rechts zu seinen vornehmeren Verwandten aus dem Reptilien-Geschlecht, darunter namentlich eine Menge träger Gift- und Riesenschlangen. Daneben noch Hirsche und Anderes. – Auf der linken Seite des Tunnels (und Laubfrosches) erwartet uns dann die letzte und verhältnißmäßig kostbarste Abtheilung des Londoner Thiergartens. Nämlich außer einigen der seltensten und stolzesten Hirscharten und Antilopen, Giraffen, Zebra’s und Quagga’s, einem übervollen und lärmreichen Papageienhaus, befinden sich hier die Riesen der Vierfüßler, besondern aus den Dickhäutern, die wohlgezogenen Elephanten, welche mit dem Nashorn abwechselnd ein und dasselbe Schwimmbassin zu ihren täglichen unentbehrlichen Bädern benutzen; vor Allem aber ihre ungeschlachten Nachbarn, die sogen. Nil- oder Flußpferde (Hippopotamus). Ja, so sonderbar es klingen mag, diese erzplumpen Kolosse, diese unbehülflichen, im Schlamme sich herumwälzenden Fleischklumpen sind der Liebling der Publicums geworden, so daß man an ihrem Teiche mehrere Reihen Bänke hingebaut hat, damit die Beschauer mit Gemächlichkeit die verschiedenen Evolutionen dieses sonderbaren Geschöpfes beobachten können, welches leicht wie ein Kork schwimmt, daher im Wasser gar nicht ungeschickt ist und dabei mit seinen kleinen, hoch oben in dem breitviereckigen Kopfe steckenden blauen (?) Augen den Beschauer gar so menschlich-treuherzig anguckt. Vielleicht empfinden die Leute eine Art Sympathie für dieses Thier, welches einer vorweltlichen, offenbar im Verlöschen begriffenen Thierfamilie angehört, deren wenige noch überlebende Geschlechter sichtlich abnehmen und vielleicht binnen hundert Jahren schon ausgerottet sein werden, um schmächtigeren, gewandteren, aber kaum so ehrlichen Geschöpfen Platz zu machen!
Ueberblicken Sie das hier nur skizzenhaft Geschilderte, so finden Sie, daß Ihnen hier nicht eine Menagerie, eine Sammlung einzelner Thiere, sondern eine Menageriensammlung, eine nach Vollständigkeit aller Typen wenigstens strebende Sammlung von Gattungen, Arten und Abarten geboten ist, wie sie sich in der ganzen Welt nicht weiter findet. Es ist eine Tagesarbeit, sich nur einmal darin umzuschauen. Referent begann früh 10 Uhr, kam todtmüde gegen 2 Uhr mit der ersten Hälfte zu Ende, streckte sich auf eine Gartenbank und schlief dort (ebenso ungenirt und ungentlemännisch, wie es ein reisender Engländer in Deutschland thun würde), speiste beim Restaurant und setzte dann jenseits des Tunnels die Arbeit bis Sonnenuntergang fort, – um acht Tage später dieselbe Tage-Tour noch einmal als Führer einiger Freunde zu machen. Zu einem nur leidlich eingehenden Studium der einzelnen Thiere und ihrer Sitten muß man eben das ganze Jahr Woche für Woche hingehen können.
Dem Londoner an Reichhaltigkeit zunächst steht der Amsterdamer zoologische Garten, im Volke daselbst schlechtweg „Artis“ genannt. Das Thor hat nämlich die Ueberschrift: „natura Artis magistra“, das heißt: „Die Natur ist Meisterin oder Lehrerin der Kunst“.
Dieser Garten ist von einer Actiengesellschaft errichtet, in derjenigen Vorstadt, welche die vornehmsten Vergnügungsorte enthält. Er stellt zugleich einen reizenden Park und Blumengarten dar, worin [361] bekanntlich die Holländer excelliren. Er bildet ein von Ost nach West gestrecktes Oblong, welches in der Mitte durch einen breiten überbrückten schiffbaren Canal in zwei ungleiche Hälften getheilt wird. Von der Westseite eintretend (Entréegeld dreizehn Silbergroschen, ausgenommen Actionäre und Abonnenten), finden wir zuerst rechts eine sehr gute geräumige Garten-Restauration mit Salon und Orchester, sowie das von derselben Gesellschaft angelegte Museum für getrocknete oder in Weingeist bewahrte Präparate (seltne Fische u. dgl.), womit allerlei zur Völkerkunde gehörige Merkwürdigkeiten ausgestellt sind, besonders aus der ostindischen Inselwelt. Die linke Seite der vorderen Abtheilung und die ganze hintere (östliche) sind mit den lebenden Thieren bevölkert, welche, wie in London, jedes nach seiner Eigenthümlichkeit ein Hüttchen mit freiem Weideraum oder einem Bassin davor, oder gemeinsame Häuser, Volièren etc. bewohnen. Es fehlt weder an Riesenthieren (mehrere Giraffen, Elephanten, Dromedare, Känguru’s, Strauße etc.), noch an einer reichen Auswahl der kleineren Geschöpfe (z. B. der Tauben- und Hühnervögel, der Antilopen etc.), darunter vieles ganz Seltene. Viele und kostbare Exemplare sind Geschenke reicher Kauf- oder Schiffsherren.
Der Antwerpener Thierzwinger (Deertuin), jedenfalls der anmuthigste Fleck dieser so reichen und doch so langweiligen Stadt, wurde von der dortigen „Gesellschaft für Zoologie“ gegründet, von welcher Gelehrte und Laien Theilnehmer sind. Man benutzte zu seiner Gründung die Sammlungen und die Kenntnisse eines gewiegten Zoologen, Jacques Kets, welcher als Director auf Lebenszeit, mit seinem Neffen als Adjunct, angestellt ist. Das umfangreiche Terrain wurde von der Gesellschaft angekauft.
Dieser Garten liegt außerhalb der Festungswerke längs der Eisenbahn und dicht neben der Station, sehr bequem für Reisende zur Ausfüllung eines Wartestündchens. Er bildet eine der geschmackvollsten Garten- und Parkanlagen mit anmuthiger Abwechselung von Garten, Wiese, Busch und Behausungen, letztere natürlich vorzugsweise für die Thiere. Doch befindet sich inmitten des Gartens auch eine stattliche und elegante Restauration, in welcher oft Concerte abgehalten werden. Beim Eintritt wird man von einer schnatternden Papageien-Allee empfangen, wo zwischen jedem Baum ein Kakadu oder anderer Schwätzer sich schaukelt oder brüstet. Sehr nett ist der langhin sich schlängelnde Teich, welchen Schaaren von Wasservögeln bedecken. Nicht weit davon haust Braun der Bär in einer aus Felsenstücken möglichst natürlich nachgeahmten Grotte, in welche man von oben und unten hineinschauen kann. Besonders selten erschienen mir mehrere der Raubvögel, darunter ein Adler vom Senegal (Aquila occipitalis), welcher in seinem Kopfschmuck ganz wie ein prangender Indianer-Häuptling aussah. Von größeren Thieren: ein Paar Elephanten, Strauße, eine Giraffe, ein weißes Dromedar, Zebra’s etc., ebenfalls viel werthvolle Geschenke. – Mit diesem Garten ist ein Museum ausgestopfter Thiere verbunden.
Außerdem bestehen noch in Brüssel und Gent, sowie in Marseille zoologische Gärten, welche ich nicht besuchen konnte.
Der Berliner zoologische Garten wurde 1844 ebenfalls von einem Actienverein gestiftet, der sodann die bekannte zoologische Gesellschaft bildete. Doch betheiligte sich hier die Regierung bedeutend mit, indem der König Friedrich Wilhelm das gesammte Areal (einen Theil der ehemaligen Fasanerie) am Ende des unter dem Namen Thiergarten bekannten Lustwaldes, von mehr als 86 Morgen Inhalt, dazu abtrat, auch eine bedeutende Geldsumme (25,000 Thaler) zur Begründung vorschoß und die bis dahin auf der Pfaueninsel verwahrten Thiere dorthin versetzen ließ. – Dieser Garten ist wohl den meisten Lesern durch Anschauung bekannt, daher ich ihn nur kurz berühre. Er bildet eine erquickende Wald- und Wiesenpartie und enthält manche seltene Thierarten, besonders ein gefülltes und immer vom Publicum bevorzugtes Asienhäuschen, stattliche Raubthiere, Hirsche, Rennthier, Elephant, Strauß, Lama u. A. m.
Nach den neuesten Berliner Blättern haben die Thiere Anfangs Mai d. J. ihre Sommerquartiere bezogen. Die während des Herbstes und diesjährigen Frühlings vollendeten Neubauten und Einrichtungen gereichen der schönen Anlage zu großer Zierde. Der Elephant hat ein neues, in mittelalterlichem Styl erbautes Haus erhalten, das er mit den Kameelen theilt. Drei sich an den Bau anschließende umgitterte Höfe sind für die kolossalen Thiere zur Villeggiatur bestimmt. Der Besuch ist in erfreulicher Zunahme.
In Frankfurt a. M. ist der zoologische Garten ganz neuerlich, im October 1857, durch eine Actiengesellschaft mit einem Capital von 100,000 Gulden gegründet und am 8. August 1858 eröffnet worden. Das Local (vorläufig nur ein ermiethetes) liegt in einer eleganten Vorstadt an der Bockenheimer Chaussee mitten zwischen den Villa’s der reichen Geldleute und erstreckt sich von da weit in’s Feld hinaus. Dabei fehlt es ihm zum Theil noch an erquickendem Schatten, obschon einige stattliche alte Bäume von früher vorhanden sind. Geschmackvolle Gartenanlagen wechseln mit den für die Thiere bestimmten Weideräumen und Gebäuden ab. Von einer künstlichen Erhöhung aus genießt man eine freie Aussicht nach dem lieblichen Taunusgebirge. Eine sehr gute Restauration, woselbst wöchentlich Gartenconcert für die Abonnenten stattfindet, trägt dazu bei, diesen Ort zu dem angenehmsten und gesuchtesten Vergnügungsort zu machen, welchen man dermalen in Frankfurt findet; denn die schöngelegene Mainlust ist eingegangen und Kaserne geworden! Die Thiersammlung betrug zu Anfang dieses Jahres schon über 700 Wirbelthiere, darunter 69 Säugethiere in 124 Exemplaren: ein Affensalon, ein Löwenzwinger, Kameele (das ein- und das zweihöckerige), Hirsche, Antilopen, Lama’s, Raubthiere und Vögel in Menge. Vieles davon ist Geschenk, von Privatleuten sowohl, als von hohen Herren; über sechzig Schenker haben in dieser kurzen Zeit zwischen ein- und zweihundert Thiere und eine achtbare Menge Pflanzen an den Garten geschenkt. Unter ersteren sind zwar die Mehrzahl Vögel, aber auch viele große und werthvolle Säugethiere und Amphibien, z. B. siebzehn Hirsch- und drei Reharten, fünf Ziegen, eine Antilope, zwei Kameele, drei Nasenbären, vier Hunde und Wölfe, fünf Schildkröten, ein Krokodil, fünf Schlangen etc. Auch wurden schon 144 Doubletten versteigert (besonders Tauben- und Hühnervögel), um von Privatleuten forterzogen und akklimatisirt zu werden.
Der Garten zählt auch schon mehrere Eingeborene. – Eins der erfreulichsten Ergebnisse desselben ist aber das von dem Secretair der zoologischen Gesellschaft, Dr. Weinland, seit dem ersten October vorigen Jahres herausgegebene, mit feinen, naturtreuen Holzschnitten verzierte Journal: „Der zoologische Garten“ (Frkft. bei Sauerländer, Heft 1 bis 6), in welchem außer den Vereinsangelegenheiten die Naturgeschichte und Lebensweise der im zoologischen Garten befindlichen Thiere, die Akklimatisirung derselben und die Ereignisse auswärtiger Thiergärten sehr instructiv besprochen werden.
Der Pariser zoologische Garten hat einen anderen Ursprung als die bisher genannten. Er wurde während der Revolution 1794 gegründet durch Verpflanzung einer in Versailles befindlichen Menagerie nach dem Jardin des plantes in Paris, und wuchs dort rasch durch freiwillige Geschenke und durch die Zuschüsse der politisch so verschiedenartigen Regierungen und der Pariser Stadtgemeinde. Er steht den ganzen Tag über für Jedermann offen, gleich dem Pflanzengarten selbst, welcher außer den zahllosen cultivirten Pflanzenarten noch die sämmtlichen reichen naturgeschichtlichen Sammlungen in stattlichen Gebäuden umfaßt. So bildet er einen Erholungs- und Unterhaltungsort für Jung und Alt aus allen Ständen, der niemals leer steht. Jeder sucht sich hier seine Lieblinge aus der Thierwelt aus und beschenkt sie nach Belieben. Den meisten Anhang haben in dieser Hinsicht die Bären, welche in geräumigen tiefen Gruben ihre Höhlen haben, aus denen das oben um die Brustwehr stehende Publicum sie mit ihrem gemeinsamen Namen „Martin“ herausruft. Sie sind durch täglichen Umgang mit den Gamins so zu sagen verparisert worden, erscheinen auf den Ruf, machen ihre Kunststückchen und bitten schließlich um ein Douceur „wie ein Zweibeiniger“ oder richtiger besagt, als ein solcher; denn sie stehen dabei in der Prärogativ-Stellung [362] des Menschengeschlechts, auf Hacke und Fußwurzel, während bekanntlich die meisten anderen Vierfüßler und die Vögel blos auf den Zehen stehen und diese leichtere flinkere Stellung vielleicht für eine viel vorzüglichere halten. – Nächst dem Bärenzwinger sind wieder die reich besetzten Affenhäuser besonders vom Publicum protegirt; es kam mir vor, als ob sich mancher Umstehende in einem recht verwandtschaftlichen Verhältnisse zu den Affen fühlte. Weiterhin sind dann die Häuser der großen Raubthiere (vielleicht auch psychologische Spiegel für eine Pariser Bevölkerung), dann die Giraffen (die hervorragendsten Individualitäten von Paris, wie der Witz besagt), Hirsche, Antilopen, Kameele, Lama’s und Alpacca’s, Zebra’s und Quagga’s etc. auf ihren Rasenplätzen, Elephanten, Nashörner, neuerdings auch Nilpferde u. a., sowie Vögel aller Art, Jedes nach seinen Bedürfnissen wohl und geräumig logirt. – Am westlichen Ende steht Jussieu’s berühmte 1735 hier eingepflanzte Ceder vom Libanon; von ihr aus besteigt man zum Abschied einen Hügel mit der bekannten Sonnenuhr („welche nur die heiteren Stunden zählt“) und genießt oben eine prachtvolle Uebersicht nicht nur des Thier- und Pflanzengartens, sondern auch des unendlichen Paris und seiner reizenden Umgebungen.
Es ist eine eigenthümliche Seite des menschlichen Herzens, daß wir so gern nach den Gräbern geliebter Todten gehen. Es ist, als wolle man den Geschiedenen Rosen auf die Hügel pflanzen für die Dornen, die das Leben in reichem Maße brachte. Wäre es oft nicht besser, nach den Stätten zu gehen, die einst der Lebende bewohnte, sich das Haus, die Stube, den Garten zu betrachten, wo er Leid und Weh ertragen, Freude und Lust empfunden? Sagt nicht unser größter Dichter schon: „Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht.“?
Und wenn wir nun nach den Orten gehen, wo Männer oder Frauen gelebt, geliebt oder gelitten haben, die eingetragen sind in die Bücher der Geschichte, die Werke geschaffen haben, die noch im Herzen der Mit- und Nachwelt fortwirken und fortleben: legen wir dann nicht den Grund zu schönen Erinnerungen in unser Herz? pflücken wir nicht Immortellen, die nie verwelken? – Und dann, wird uns nicht oft erst das richtige Verständniß eines dichterischen Werks, nachdem wir die Stätte gesehen, wo es entstanden, gleichsam geboren wurde? Freilich, die Stuben, die Kämmerlein, in denen einst deutsche Dichter und Schriftsteller lebten, sehen meist sich alle gleich; sie sehen fast alle ärmlich, unscheinbar aus, wenn der Betreffende nicht von Hause aus mit Glücksgütern gesegnet war.
Hier, alte Roßstraße Nr. 1, wurde Ludwig Tieck geboren. Später, besonders in den dreißiger Jahren, wohnten in dem Hause in einzelnen Stuben vielfach Studenten. Ob wohl einigen derselben damals „die mondbeglänzte Zaubernacht“ geleuchtet? Wie Wenige, die hier gewohnt, ein- und ausgingen, werden daran gedacht haben oder es nur gewußt haben, daß hier der Dichter des gestiefelten Katers, der Verfasser so herrlicher Novellen gelebt – und sich als Knabe in dem Hause getummelt habe! Freilich, Tieck fand seine eigentliche Heimath erst gewissermaßen in Dresden, woselbst er der Welt am bekanntesten und zugänglichsten war. Im Alter erst kehrte er wieder nach Berlin zurück. Sein Sterbehaus ist das Haus Nr. 208 in der großen Friedrichsstraße, in dem sich gegenwärtig das Friedrich-Wilhelmstädtische Gymnasium befindet. Wie viel der Zöglinge mögen es wissen, daß Tieck einst dort gewandelt, daß er in dem Hause gestorben ist? Ob wohl hin und wieder, wenn einzelne Gedichte des Geschiedenen, die sich ja vielfach zerstreut in Lesebüchern und Anthologien finden, gelesen werden, daran erinnert wird, daß in diesen Räumen einst der Mann lebte und starb, der als Vorleser dichterischer Werke so hoch, so einzig in seiner Art dastand?
Wenige Häuser davon, in derselben Straße, Nr. 235, wohnte einst Chamisso. Man muß den alten Herrn gesehen und gekannt haben, um begreifen zu können, woher es kam, daß namentlich die jüngere Poetenwelt ihn so hoch verehrte und so lieb gewann. Er war ein Jüngling in greisen Haaren, ein Dichter von Gottes Gnaden; er war es, der Freiligrath gleichsam einführte und aus freudigem Herzen seiner Dichtergröße huldigte.
Wie saß er einst so krank auf dem Sopha, in seinem Zimmer und an Sterben denkend; wie sprach er sein Deutsch so langsam, gebrochen, während er dasselbe doch so fließend schrieb! Wie sprach er so rührend von seinem nahen Tode, indeß seine Kinder in der Nebenstube lärmten – und sich des Vaters launige Gedichte declamirten! Er ahnte es nicht, daß seine Gattin, jung und liebenswürdig, noch vor ihm in das Grab steigen würde. Er hörte den Kindern zu, er schwieg – und eine einsame Thräne rollte langsam still von der Wange.
Wo sein letzter Bundesgenosse zur Herausgabe des Musenalmanachs dagegen wohnte, nämlich der Freiherr Franz Gaudy, ist nicht schwer zu finden. Hat derselbe sich in dem Aufsatze „Besuch bei einem Dichter“ doch genugsam selbst geschildert und nicht unterlassen anzugeben, wo und wie er wohnte. Markgrafen-Straße 87 zu gleicher Erde, zu rechter Hand, wenn man in’s Haus trat, war’s, wo man den genialen Freiherrn finden konnte – wenn er just zu Hause war. Dies Letztere war vielleicht nicht häufig der Fall, oder mochte nur so scheinen, da er im Ganzen sich wenig aus Besuchen machte – und lieber Freunde und Bekannte in öffentlichen Localen sprach, wo man auch gemüthlicher bei einem Schoppen Wein oder einem Glase bairisch Bier sitzen konnte. Gaudy war offen und wahr, bis zum Exceß. So fragte ein Bekannter ihn, nach seiner Rückkehr aus Italien: „Baron! haben Sie während Ihrer Reise einmal an mich gedacht?“ worauf er, sich den langen rothen Schnurrbart streichend, kurz ab entgegnete: „Auf Ehre! niemals! niemals!“
Und doch war er von Herzen liebenswürdig, sanft; ja, wer es verstand, die rechte Saite anzuschlagen, dem zeigte er sich teilnehmend, herzlich. – Mit welcher Ernsthaftigkeit, mit welchem fast heiligen Eifer verzehrte er Vormittags in der Weinstube des damals allbekannten Louis Drucker seinen Sardellensalat und trank dazu bedächtig, wohlgefällig schlürfend seinen Wein! Er hatte nicht Zeit, dem Eintretenden die Hand zum Gruß zu reichen, er nickte nur stumm mit dem Haupt. Erst wenn sein Teller leer, reichte er dem Freunde die Hand und begann ein Gespräch, das in jeder Hinsicht anregend und anziehend war. Nachmittags und mehr des Abends war er eine Zeitlang gern in der Leipziger Straße bei Lauch. (So hieß der Wirth, wenn die Erinnerung nicht trügt.) Dort war die Christel Schenkmädchen, eine hübsche Dirne, der er in seiner Erzählung: „Die bairische Kellnerin“ eine freundliche Erinnerung wohl gewidmet hat. Hier saß er gern, wenn nicht ein Gast sich einfallen ließ, auf dem vorhandenen Instrument musikalische Studien zu machen; dann hielt es ihn nicht, er mußte fort. Musik der Art war ihm verhaßt; wie er auch nie Geschmack daran fand, ein Gedicht vorlesen zu hören; nur selbst lesend ging ihm ein richtiges Verständniß für dasselbe auf. Zu einer seiner schönsten Novellen, „der Stumme“, gab er hier eines Nachts ungesucht ein hübsches Seitenstück, während die genannte Erzählung selbst in der Weinstube Königs- und hohen Steinwegstraßen-Ecke spielt. – Er saß mit Freunden und Bekannten und erzählte von Italien. Ein Gast, ein Fremder, in unscheinbarer, etwas abgetragener Kleidung, umging mehrere Mal mit vorgebeugtem Haupt, still lauschend den runden Tisch, der rings besetzt war. Gaudy blickte auf, er bemerkte den Fremden, sein Thun, sein Treiben; er hielt in seiner Rede inne, er fragte auf den Lauscher deutend: „Kennt Jemand den Mann?“ und sprang, als dies verneint wurde, mit Heftigkeit auf und fragte den Fremden mit funkelndem Blick: „Herr! wer sind Sie? Was wollen Sie?“
Der Angeredete zuckte zusammen; schüchtern sprach der ärmlich Gekleidete, der Unscheinbare: „Verzeihung! Ich hörte Sie sprechen. Ich war auch in Italien!“ Dies eine Wort hatte den Baron besänftiget, er war wie umgewandelt, er faßte des Fremden Hand, er fragte nicht, wer er sei, er hieß die Freunde zusammenrücken, er ließ Wein bringen – und bat den Fremden Platz an seiner Seite zu nehmen.
Die Stunden der Nacht vergingen in zauberhafter Schnelligkeit. Mit welcher Freude, mit welchem Entzücken sprachen die Beiden von dem schönen Süden, von dem Lande ihrer Sehnsucht! Wer der Fremde war, wurde nicht gefragt. Er war in Italien [363] gewesen, er liebte es. Dies war genug, dies war sein Freibrief. Wenige Wochen darauf war Gaudy todt. Ein Schlaganfall machte seinem Leben ein Ende. Er starb den 6. Februar 1840.
Zwei Jahre darauf, am 23. October 1842 folgte ihm sein Freund E. Ferrand, dem noch neulich Th. Storm in seiner Sammlung „Liebeslieder“ so freundliche Worte der Anerkennung gespendet. Wie Wenige gedenken noch dieses einfachen, jugendlichen Sängers! Was H. Marggraff vor einiger Zeit über denselben veröffentlichte, nag wohl nicht ganz klar gezeichnet gewesen sein. Ferrand (mit seinem wahren Namen E. Schulz) wohnte zuletzt und starb Alexanderstraße Nr. 38a. zwei Treppen hoch. Hinter dem Hause befand sich der sogenannte „Englische Garten“, wo man ihn des Abends oft, seine Gattin am Arm, finden konnte. Der Concerte wegen, die hier stattfanden, kam er nicht, denn er hatte für Musik gar kein Gehör; er kam der Bäume wegen, wegen des Fleckchens Grün, das ihm hier entgegen lachte. Er liebte die Natur in hohem Grade, mehr aber das Kleine, Unscheinbare in derselben, als das Große, Erhabene. Manch einsam stehender, mit Staub bedeckter Baum hat ihn mehr zu Liedern begeistert, als dies selbst die erhabene Alpennatur, das schöne Schwaben, welches er an Gaudy’s Seite durchzog, zu thun vermochte.
Wer Ferrand als Mensch kennen lernen will, der lese seine Liebesnovellen, seine Erlebnisse des Herzens. Hier hat er sich, sein Leben und einzelne seiner Freunde treuer geschildert, als dies z. B. Moritz in seinem bekannten „Anton Reiser“ jemals von sich selbst zu thun vermochte. Ferrand war Dichter, und daß er dies so ganz nach Neigung und innerem Wohlgefallen sein konnte, war ein Glück für ihn. Er brauchte nicht um Lohn zu arbeiten, noch für Geld zu schreiben. Selbst die meisten seiner Werke ließ er auf eigene Kosten drucken. Er hatte eine ungemein große Literaturkenntniß. Seine größte Freude war, bei den Antiquaren und in den Leihbibliotheken nach den Werken vergessener Dichter zu stöbern. Das eigentliche Leben in seiner praktischen Bedeutung blieb ihm fern, und selbst beim Glase, im Kreise der Freunde, blieb er der liebenswürdige, heitere Dichter. Eine sinnige Auswahl unter seinen Poesien und kleinen Novellen würde ihn der Vergessenheit entreißen und seinen Hinterbliebenen, denen später nach seinem Tode das Vermögen verloren ging, vielleicht eine Hülfe gewähren.
Wie so ganz anders sah es dagegen in der Neuen Commandanten-Straße Nr. 21, Ecke der Jakobsstraße, eine Treppe hoch, aus! Dort wohnte ein alter Mann viele Jahre; er liebte nicht Blumen, wie der jugendliche Ferrand sie liebte; er hatte seine Freude an goldenen Tassen u. dergl., die er von hohen Häuptern des preußischen Regentenhauses erhalten hatte. Er war klein, der alte Mann, und seine Hand zitterte bedeutend, wenn er dem Gaste beim Kommen oder während des Gesprächs die silberne Dose, mit Spaniol gefüllt, hinreichte. Das Kinn und der zahnlose Mund war unausgesetzt in Thätigkeit und in Bewegung. Es war der Kriegsrath Karl Müchler, der Anekdotensammler. Der Greis hatte die Verunglimpfungen, die er eine Zeit lang erfuhr, wo man „ein Königreich für einen Witz“ gab, unbekümmert, wie tief derselbe auch verwunde, nicht verdient.
War er seiner Zeit auch kein großer Dichter, so war er doch ein Mann, der sein Vaterland liebte bis zum letzten Hauche seines Lebens, wenn diese Liebe auch eine einseitig-beschränkte war. Daß eines seiner Gedichte fälschlich für ein Erzeugniß Schiller’s gehalten wurde, und trotz aller Reclamationen und Beweise immer wieder in die Werke des Unsterblichen aufgenommen wurde, mag wenigstens Zeugniß geben, daß der alte Herr nicht gänzlich ohne Poesie war. Viele seiner Fabeln etc. stehen noch heute in Lesebüchern und Anthologien. – Wie froh, wie glücklich konnte er sein, wenn er eine Anekdote seines Lieblings Friedrich des Großen hörte oder irgend wo gefunden hatte! Im höchsten Alter, fast erblindet, dichtete er noch seine patriotischen Gesänge und schrieb seine Briefe, deren Inhalt freilich zuletzt schwer zu ergründen war, da die Handschrift fast unleserlich geworden. Der fünfundzwanzigste Jahrgang seines Anekdotenalmanachs gab zugleich sein wohlgetroffenes Bild. Friede seiner Asche!
Und weiter zurückschreitend, fällt der Blick auf ein hohes, stattliches Haus in der französischen Straße. Es hat die Nr. 42. Es gehörte, so mir recht, dem berühmten Medicinalrath Rust. Im zweiten Stockwerk aber wohnte einst Wilhelm von Humboldt, der Minister.
Derselbe sagte einmal: „Wenn man einem durchaus und wahrhaft großen Charakter lange zur Seite steht, geht’s wie ein Hauch von ihm auf uns über.“ Und diese Worte kann man auf ihn selbst im vollsten Sinne des Wortes anwenden. Wilhelm von Humboldt war ein durch und durch ausgeprägter Charakter. Seine ganze Erscheinung hatte etwas Ruhiges, Mildes, Angenehmes und doch dabei Festes. Sein Gruß selbst war wohlthuend, herzgewinnend. Alle, die ihm nahe standen, die ihm nahe kamen, fühlten das Wohlthuende, Beruhigende seiner Nähe. Der milde Hauch seines Herzens ging auf seine Umgebung über.
Wo der allbekannte, weltberühmte Bruder Alexander wohnte, ist bekannt. Das Haus Oranienburger Straße Nr. 67. ist oftmals genannt und sein Inneres beschrieben worden. Es ist ein einfaches, nur zwei Stock hohes Gebäude. Weniger ist wohl bekannt, daß in demselben Hause eines Dichters Mutter, die Mutter Theodor Körners, starb.
Wir schreiten den Linden zu, nach dem Palais des Grafen Raczinsky. In einem Seitengebäude des Hofes befand sich längere Zeit die Gemäldegallerie des Grafen, deren Besichtigung zu gewissen Stunden des Tages Jedem unentgeltlich freistand. Dort hing Kaulbach’s berühmte „Hunnenschlacht“, Leopold Roberts liebliche „Schnitter“, wie auch die „Söhne Eduards“ von Hildebrandt in kleinerem Maßstabe, nur etwas abweichend in der Ausführung von dem allbekannten größeren Gemälde desselben Meisters.
Vorn im Hause wohnte die Schwester Clemens Brentano’s, die Gattin Achim von Arnims, das Kind Bettina. Als sie jenen berühmten Briefwechsel schrieb, war sie bereits fünfzig Jahr. Es muß ein eigenes, aber interessantes Kleeblatt gewesen sein, diese Frau mit ihrem Gatten und dem Bruder. „Als die beiden Letzteren ihrer Zeit mit der Herausgabe von des Knaben Wunderhorn beschäftiget waren, hatte ich,“ erzählte der einst bekannte Antiquar J… in der Königsstraße, „viel Mühe mit ihnen. Sie kamen fast täglich zu mir. Sie stöberten Alles durch,“ sagte er. „Der Eine saß auf der Leiter und warf die Bücher droben durcheinander, während der Andere drunten, so weit er reichen konnte, kein Buch auf seiner Stelle ließ. Ich hatte, wenn sie fort waren, einen halben Tag zu ordnen, was sie in Unordnung gebracht, und meine Frau mußte regelmäßig nach ihrem Abgange den Laden fegen lassen. Hatten Beide doch gemeinhin die Taschen voll, gewöhnlich von Radieschen, die sie während des Suchenn aßen und mir das Kraut und den Abgang in den Laden warfen.“ Achim von Arnim starb bereits 1831. Bettina ist vor Kurzem, man möchte sagen, unbeachtet zur Ruhe gegangen. Sie war eine gedrungene Gestalt. Ihr ganzer Körper war stets in Bewegung, ein ruheloses Feuer durchglühte sie bis an’s Ende ihrer Tage. War sie auch in der letzteren Zeit nicht mehr literarisch thätig, so blieb sie doch stets Antheil nehmend an Allem, was groß, schön und erhaben war. Ihre Tochter, Gisel von Arnim, ist auch bereits als Schriftstellerin aufgetreten; dieselbe ist die Schwiegertochter des am 16. December vorigen Jahres Linksstraße Nr. 7 gestorbenen Wilhelm Grimm. Wird der Geist der Mutter in der Tochter fortleben?
Der Geschiedenen denkend, führt uns der Geist unwillkürlich ein anderes Frauenbild vor die Augen, das in mancher Hinsicht etwas Verwandtes mit der Erwähnten zeigt, wenn wir des Ungenirten, des Ungebundenen derselben gedenken, während der Geist sich nicht zur Höhe Bettina’s hinaufzuschwingen vermochte. Wir meinen Anna Louise Karschin, diese stets fertige Dichterin, die bekannter und geachteter in der Literatur dastehen würde, wenn sie weniger gedichtet hätte. So hat die Spreu zum Theil das Korn verschüttet, daß selbst Literaturkenner kaum mehr von ihr wissen, als jenen bekannten Vers, den sie dem großen Friedrich II. sendete, nachdem derselbe auf ihre wiederholten Bittgesuche ihr zwei Thaler Unterstützung hatte senden lassen. König Friedrich Wilhelm II. ließ derselben auf dem Haak’schen Markt, angesichts eines Baumganges, dort das Häuschen Nr. 1 bauen. An der Front desselben befinden sich einige Geniusköpfchen mit Flügelchen. Das Haus bildet einen Triangel, und der Hof, der eng aber luftig ist, hat dieselbe Gestalt. Einst standen einige Akazien auf dem Hofe, Weinlaub rankte an einer Laube sich auf, in der die Dichterin eine kurze Zeit ruhig, glücklich und zufrieden saß, bis ihr nie ruhender Geist sie wieder von hinnen trieb. Sie starb 1791 fern von Berlin. Ihre Enkelin war die bekannte Wilhelmine von Hezy.
Und nun wollen wir nach der Spandauer Straße Nr. 68 gehen. Dort wohnte einst Moses Mendelssohn. Dort hat derselbe [364] mit seinem Freunde, Rabbi Isaak Satanof, gesessen, und von hier aus ging er gewöhnlich Morgens zwischen 7–9 Uhr nach dem nahen Nicolaikirchhofe, wo Lessing wohnte. – Wenige Häuser davon, in derselben Spandauer Straße Nr. 53, lebte im Juli und August 1804 ein Dichter, der nie Ruhe im Leben fand, den die Unruhe in den Tod trieb. Hier wohnte Heinrich von Kleist. Als er im August 1811 in der Mauerstraße Nr. 53 seine Wohnung hatte, war der Stern seines Glücks bereits dem Verlöschen nahe. Wenige Wochen darauf, am 21. Decbr. desselben Jahres, endete er sein Leben. Ist es nicht rührend, wenn er, der im Leben so selten, fast niemals Ruhe fand, am Morgen seines Todes seiner geliebten Schwester Ulrike schreibt: „Ich kann nicht sterben, ohne mich zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt und so weit auch vor allen Andern, meine theuerste Ulrike, mit Dir versöhnt zu haben. Du hast an mir gethan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl; möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit dem meinigen gleich. Das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für Dich aufzubringen weiß.“
Und mit diesen Worten wollen auch wir unsere Wanderung für heute schließen, vielleicht nehmen wir dieselbe einmal später wieder auf.
Friede den Geschiedenen; Glück, Liebe und Anerkennung den Lebenden, dann wird auch ihnen der Friede nicht fehlen. Anerkennung ist das Brod des Geistes, das Manna der Seele!
Das Schwarzwild oder Wildschwein (Sus scrofa), welches mit vieler Wahrscheinlichkeit für den Stammvater des zahmen Schweins gehalten wird, war in frühern Zeiten fast über den ganzen Erdboden verbreitet. – Wiewohl seiner ganzen Anlage nach ein dem gemäßigten Norden angehöriges Thier, finden wir es doch heutzutage auch unter den heißem Himmelsstrichen in zahlreicher Menge, sobald sumpfige Niederungen ihm die Mittel zur Existenz gewähren. Dagegen verschwindet es im höhern Norden, wegen Mangel samentragender Laubbäume und offener Moräste.
In den meisten europäischen Ländern hat die rastlos um sich greifende Bodencultur diese im Haushalt der Natur so nützliche, dem egoistischen Menschen aber höchst lästige Thiergattung bereits auf ein Minimum reducirt. Doch finden sich noch hin und wieder einzelne Bestände dieser Wildart unter geregeltem Jagdschutz und Abschuß und zwar vorzugsweise im nördlichen Deutschland. Freilich ist Alles nur noch ein Schatten vergangener Zeiten, und auch hier dürfte der Tag nicht so gar ferne sein, wo das letzte „Hauptschwein“ in den Park oder gar in’s Museum wandert. Es lohnte daher wohl der Mühe, zuvor noch einen Blick auf diese urwüchsigen, borstigen Söhne der Wildniß zu werfen und zugleich der verschiedenen, interessanten Jagdarten zu gedenken, welche von Alters her bis auf unsere Zeit gegen sie angewendet worden. Nur auf der Saujagd findet der deutsche Jäger mitunter noch Gelegenheit, Geistesgegenwart und Courage an den Tag zu legen, denn unsere sonstigen Wildarten geben bekanntlich unter allen Umständen Fersengeld, so lange ein Ausweg übrig bleibt. Daher ertheilten schon unsere Vorfahren der wehrhaften Wildsau das Prädicat „ritterlich“, während der stolze Hirsch nur „edel“ benamset wurde.
Beschäftigen wir uns zunächst mit der Naturgeschichte. Linné rechnet das Wildschwein, merkwürdig genug, unter die Thiere mit dem Pferdegebiß; – Cuvier und Andere placiren es unter die Vielhufer (Multungula), wiewohl die Structur seines Fußes dieselbe ist, wie bei dem unter die „Zweihufer“ gerechneten Hirsch. Ein Beweis, wie schwer es hält, die unendliche Schöpfungskette in bestimmte Gliederungen abzutheilen! – Sehen wir daher gänzlich von der Classification ab und beschäftigen uns desto angelegentlicher mit dem Individuum, welches sich von seinem zahmen, malpropren Collegen in gar mancher Hinsicht unterscheidet.
Das Wildschwein ist bekanntlich kürzer, gedrungener und hochbeiniger als das zahme Schwein. Der bärtige Kopf nimmt beinahe ein Drittheil der ganzen Körperlänge ein, die kurzen, buschigen Ohren stehen straff aufwärts und sind in jeder Richtung leicht beweglich. Das kleine, cirkelrunde Auge mit dunkelbrauner Iris blinzt nur wenig unter den überhängenden Augenbrauen hervor.
Vom Nacken bis zur Mitte des Rückens erstreckt sich eine lockere Borstenmähne, welche im Affect emporgesträubt wird und namentlich beim männlichen Geschlecht (Keiler) sehr in’s Auge fällt. Ein zweiter, kürzerer Borstenschopf erhebt sich zu Anfang der abschüssigen Croupe und gibt der Rückenlinie des Wildschweins eine höchst charakteristische Form. Der Schwanz endigt in einen langen Zopf, hängt in der Ruhe gerade herab, ringelt sich etwas in der Bewegung und wird im Affect und auf der Flucht oft hoch emporgetragen.
Die Farbe ist im Allgemeinen ein dunkles Nußbraun mit Gelb und Grau stark melirt. Zur Winterzeit deckt den ganzen Leib eine dichte, graue Grundwolle, aus welcher die eigentlichen Borsten hervorragen. Letztere sind im Nacken oft über sechs Zoll lang, glänzend schwarz mit getheilter, gelbgrauer Spitze. Die Ohren, Beine und Schwanz sind jederzeit schwarz. Aeltere Exemplare dieser Wildgattung erscheinen oft hell, lehmfarbig oder mausefahl, am Kopf und Bart schön silbergrau gesprenkelt. – Die Jungen sind im ersten Sommer hell gelbgrau mit regelmäßigen, dunkelbraunen Längestreifen. Gefleckte Wildschweine entstehen durch Vermischung mit der zahmen Race.
Ein ausgewachsener Keiler mißt von der Schulter bis zum [365] Boden etwa 3 Fuß 2 Zoll, die ganze Länge bis zum Ansatz des Schweifes beträgt 5 Fuß 7–8 Zoll, der Kopf ist 20–21 Zoll, die Schwanzwurzel 11 Zoll lang. Das Gewicht beträgt zu Ende der Feistzeit nach Entfernung der Eingeweide (Aufbruch) oft an 250–300 Pfund. Viel stärker wird ein Wildschwein heutzutage nicht leicht, doch sind in frühern Zeiten Hauptschweine von vier Centnern eben keine Seltenheit gewesen. Die Bachen oder weiblichen Wildsauen werden selten so stark, und das im Park oder Gehege aufgewachsene Schwarzwild steht dem wild lebenden im Allgemeinen bedeutend nach.
Das Gebiß bringt unser Schwarzkittel vollständig mit auf die Welt und zwar in jedem Kiefer 6 Vorderzähne, 2 Eckzähne und an jeder Seite oben und unten 7 Backzähne. Die bekannten Eckzähne oder Hauer bleiben beim weiblichen Geschlecht kurz und führen den Namen: „Haken“; beim Keiler erreichen sie im höhern Alter oft eine bedeutende Länge und heißen in der Jägersprache „das Gewehr“ oder „Gewäff“, da sie die Wehr und Waffe des Thieres bilden.[2] Der eigentliche Hauer wurzelt im Unterkiefer, er ist dreiseitig, halbmondförmig gebogen und etwas nach hinten und auswärts gerichtet. Beim dreijährigen Keiler steht kaum ein Drittel des Hauers zu Tage, der untere stark gekrümmte Theil ist hohl und ruht in der soliden Knochenscheide des Unterkiefers. Der Hauer schließt und streift dicht vor dem im Oberkiefer befindlichen zweiten Eckzahn, welcher aus einem Fortsätze des Oberkieferbeins entspringend, sich ebenfalls aufwärts krümmt, wobei er der Wölbung des Rüssels folgt. Dieser obere Eckzahn ist rundlich, mit stumpfer Spitze und kurzer Wurzel, denn er bildet gewissermaßen nur den Wetzstein für den Hauer, welcher, beständig an ihm reibt. Durch dieses fortgesetzte „Wetzen“ ist die vordere Fläche des obern Eckzahns meist spiegelglatt abgeschliffen, die innern Kanten des Hauers aber oft messerscharf. Beim drei- und vierjährigen Keiler stehen die Hauer erst 2–3 Zoll hervor und sind noch ziemlich gerade, aber eben deshalb eine gefährliche Waffe. Derartige Keiler bezeichnet der Jäger wohl mit dem Namen: „Hundsschläger, Hosenflicker“, und ein alter Waidmannsspruch sagt mit Recht:
„Ein angehend Schwein macht zur Zeit
Witzige Hund’ und Jägersleut’!“
Im höhern Alter krümmt sich der stets wachsende Hauer oft so sehr, daß er, als Waffe betrachtet, geradezu untauglich wird. – Auch die obern Eckzähne krümmen sich mit den Jahren auffallend stark, und Referent hat ein Exemplar zu sehen Gelegenheit gehabt, wo die Spitzen der beiderseitigen Gewehre sich mitten auf dem Rüssel berührten.
In der Jägersprache heißt das Wildschwein kurzweg Sau. Die Jungen nennt man bis zum ersten Lebensjahre Frischlinge, später Ueberläufer. Das Männchen heißt im dritten Jahre ein dreijähriger Keiler, im vierten ein angehendes Schwein, im fünften ein Schwein und später Hauptschwein, welchen Ehrentitel es alsdann zeitlebens behält. Das Weibchen heißt im dritten Jahre eine dreijährige, dann eine vierjährige und zuletzt eine grobe Bache. Man sagt überhaupt nicht: kleine und große, sondern: geringe und grobe Sauen. Der Rüssel wird das Gebräch genannt, die Furchen, welche sie mit demselben in’s Erdreich wühlen, aber das Gebreche. Die Ohren heißen Schüsseln oder Gehöre, die Haut Schwarte, der Schwanz Bürzel. Bei den Kinnbacken unterscheidet man Ober- und Unterwurf. Das Fett wird Feist, das Blut Schweiß, die Füße, wie bei allen jagdbaren Säugethieren, Läufe genannt. Die Hufe heißen Schalen, die kleinen Hinterzehen das Geäfter und der Abdruck des Fußes im weichen Boden oder Schnee die Fährte.
Zu den besonderen Eigenheiten der Sauen rechnen wir zunächst ihr offenbar schwaches Sehvermögen, dagegen sind Geruch und Gehör von wunderbarer Feinheit. Bei günstigem Wind und feuchtem Boden hält es aus obigem Grunde gar nicht schwer, einer Sau auf einer freien Waldblöße zu Nahen, dagegen ist das leiseste Geräusch, die geringste verdächtige „Witterung“ (Ausdünstung, Geruch) hinreichend, sie in Alarm zu bringen. Die aufmerksam gewordene Sau wendet alsdann sofort den Kopf nach der gefahrdrohenden Seite und sichert und windet mit erhobenem Gebräch und steifem Gehör, wobei von Zeit zu Zeit ein kurzer, schnaubender oder pfauchender Ton durch die Nüstern gestoßen wird. Sind mehrere Sauen beisammen, so stutzt auf diesen Ton sofort das ganze Rudel, und bald geht’s entweder in kurzem Trott oder in wilden Bogensätzen dahin.
Ein alter Jagdschriftsteller (v. Heppe) sagt: „Wenn die Sauen flüchtig fortstreichen, so geschieht dies in voller Furie und mit Brausen und Schäumen.“ In der That hat die plötzliche, unerwartete Flucht eines größern Rudels etwas Imposantes, und trotz des anscheinend plumpen Körperbaues sind die Bewegungen der aufgeregten Sau von rapider Schnelligkeit. Das häufige Suhlen in Pfützen, das Reiben an Baumstämmen und die Stimme hat die Wildsau mit der zahmen gemein. Doch hört man jenes bekannte, durchdringende Nothgeschrei nur von Jungen und Bachen; der Keiler wehrt sich stumm, unter Schäumen und Wetzen bis zum letzten Hauch. Grobe oder starke Sauen pflegen vor einzelen Hunden nicht leicht die Flucht zu ergreifen, sie lassen sich vom Hund „verbellen“ und gehen, wenn sie in die Enge getrieben werden, auf Menschen, Hunde, Pferde und was ihnen sonst im Wege stehen mag, unerschrocken los.
Das gewöhnliche Angriffsmanöver einer solchen „pressirten“ Sau besteht darin, den Gegner über den Haufen zu rennen. Selbst Frischlinge und Ueberläufer sieht man mitunter dies Experiment ausführen, was denn allerdings sehr viel Komisches hat. Der Keiler sucht bei diesem Anlauf seinem Feind einen Schlag mit dem Gewehr zu versetzen, zu welchem Zweck er den Unterkiefer etwas nach der entsprechenden Seite herausschiebt. – Durch einen Seitensprung weiß sich der Jäger in solchem Falle leicht zu helfen, denn der Keiler begnügt sich fast immer mit diesem einen Anlauf. Dagegen war Referent einst Augenzeuge, wie eine Bache, welche die Hunde „abgesetzt“ hatte, den ihr zunächst stehenden Jäger vier bis fünf Mal hintereinander attaquirte. Es dürfte überhaupt gefährlicher sein, durch eine Bache, als durch einen Keiler überrannt zu werden, denn letzterer kann, in Folge der nach oben gerichteten Hauer, einem platt am Boden liegenden Menschen wenig schaden; die Bache aber beißt und tritt den Gegenstand ihres Hasses mit Nachdruck und Ausdauer.
Glücklicherweise gehören derartige Unfälle heutzutage immer schon zu den Seltenheiten, und die Jäger von Fach wissen mit diesen ungehobelten Gästen leicht fertig zu werden. Die Wildsau ist phlegmatisch-cholerischen Temperaments und, so lange sie nicht zum Aeußersten gereizt wird, ein sehr friedfertiges Geschöpf, welches sich [366] weit eher und näher, als jedes andere Wild, dem Menschen anschließt. In kleineren Parks, wo das Schwarzwild geschont wird, legt es seine Wildheit oft mehr ab, als dem Eigenthümer lieb ist.
Ein drolliges Beispiel dieser Art verdient hier in Kürze erwähnt zu werden. Der Gutsbesitzer X…, welcher ein Dutzend Bachen und einen Keiler in einem Park ausgesetzt hat, tritt bald darauf eine Reise in’s Ausland an, von welcher er erst nach achtzehn Monaten zurückkehrt. – Der Parkwärter meldet dem Herrn, daß die Sauen sich inzwischen über alles Erwarten vermehrt haben, und einige Tage später fährt der Gutsbesitzer mit einer zahlreichen Jagdgesellschaft, mit Doppelbüchsen, Hirschfängern und großen Fangspießen bewaffnet, hinaus, um den Sauen recht häßlich mitzuspielen. Der Parkwärter ist zufällig abwesend, man beginnt daher auf eigene Hand die Suche; indessen wird eine Dickung nach der andern abgetrieben und durchkrochen, ohne daß eine einzige Sau vorkommt. – Der Boden ist mit Fährten wie besäet und die Jäger wundern sich billig, wo in aller Welt die Sauen heute stecken mögen. Endlich kommt der Parkwärter und meint, so viel Mühe hätte man nicht nöthig gehabt, denn die Sauen hätten sich ganz in der Nähe seiner Wohnung „eingekesselt“. Daselbst angelangt, läßt der Wärter den bekannten Ruf: „Komm Suh, Suh!“ ertönen, und gleich darauf trollt das ganze Rudel – unter einem alten Holzschuppen hervor und gruppirt sich ganz zutraulich um die erstaunte Jagdgesellschaft. Eine alte Bache war sogar so ungenirt, sich den Buckel an dem Schaft des Fangeisens zu reiben, auf welchen sich der Jagdherr kopfschüttelnd stützte!
Alles brach natürlich in homerisches Gelächter aus, und es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, daß Niemand Lust hatte, auf die harmlosen Sauen zu schießen.
Die deutschen Erwerbs-Genossenschaften und Schulze-Delitzsch.
Der neuerlich in diesen Blättern befürwortete, schon seit längerer Zeit von den deutschen Erwerbsgenossenschaften (Associationen) gehegte Wunsch, sich die Wirksamkeit ihres Gründers, des preußischen Kreisrichter a. D. Schulze-Delitzsch, für immer zu erhalten, um in ihm einen stets bereiten Helfer und Rather, einen Vertreter ihrer Interessen in der Presse wie sonst im öffentlichen Leben, endlich einen Führer in der weitern Ausbildung der genossenschaftlichen Formen zu haben, ist um ein Bedeutendes seiner Erfüllung näher gerückt. Hatte schon der im Juni 1859 in Weimar abgehaltene erste Vereinstag deutscher Vorschuß- und Credit-Vereine in richtiger Auffassung des Werthes einer solchen Anwaltschaft oder Agentur, dem Herrn Schulze das Central-Correspondenz-Bureau für sämmtliche Vereine zu obigem Zwecke übertragen und ihm zur Deckung der Kosten 1/2 Procent vom Reingewinn der einzelnen Vereine, welche sich desselben bedienen, bewilligt, so hat man nun den fernern Schritt gethan, und an eine mindestens theilweise Remuneration der Arbeiten und Bemühungen gedacht, denen sich Herr Schulze zur Förderung des Genossenschaftswesens unterzieht. Durch den Vorschußverein zu Luckenwalde und dessen energischen Leiter, Herrn Gerlach, ist an die deutschen Erwerbsgenossenschaften, insbesondere die Vorschuß- und Creditvereine und die Rohstoff-Associationen in den einzelnen Handwerken (Schuhmacher, Tischler, Schneider, Buchbinder etc. etc.), die Aufforderung ergangen, etwa 3–4 Procent vom Netto-Gewinn ihrer Geschäfte zu einem Honorar zu bewilligen, durch welches Schulze in den Stand gesetzt werden soll, seine Zeit und Kraft ausschließlicher, als bisher, der immer größere Dimensionen annehmenden, für die Hebung unseres kleinen und mittleren Gewerb- und Arbeiter-Standes so unendlich wichtigen Bewegung zu widmen. Auch war es die höchste Zeit, wenn man sich die bisher ohne jede Entschädigung geübte und obenein mit nicht unerheblichen Kosten verbundene Thätigkeit des Mannes ferner erhalten wollte, da ihn die Rücksicht auf seine und seiner Familie Existenz, welche hauptsächlich vom Ertrage seiner Feder abhängt, an eine feste und lohnende Stellung zu denken nöthigt, wozu sich ihm neuerlich mehrfache Gelegenheiten darboten.
Wenn nun auch gegen die ihm eröffneten Aussichten dasjenige, was ihm Seitens der Associationen geboten wird, sehr zurücksteht, so ist doch Schulze, wie sich erwarten ließ, dem an ihn gerichteten Verlangen entgegengekommen und hat, um eine möglichst allgemeine Betheiligung der Vereine ohne irgend nennenswerthe Opfer ihrerseits zu erzielen, die ihm zugedachten Antheile am Reingewinn derselben selbst auf zwei Procent herabzusetzen und dabei, zu Gunsten der größern Vereine, noch ein Maximum innezuhalten gedrungen, wodurch die Beiträge selbst bei sehr ausgebreiteten und gewinnreichen Geschäften innerhalb sehr mäßiger Grenzen gehalten werden. Bereits haben denn auch 40–50 Vereine sich zur Gewährung einer solchen Remuneration bereit erklärt, und bei einer Anzahl anderer ist dasselbe in nächste Aussicht gestellt, indem an vielen Orten schon die Generalversammlungen behufs der desfallsigen Beschlußfassung anberaumt sind. Hiermit darf man die Ausführung des Plans für gesichert annehmen, und wenn die Remuneration Schulze’s zu Anfang die Summe von 200–300 Thaler kaum übersteigen wird, so steht doch für die Zukunft ein besseres Resultat mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten, da die in immer wachsender Menge alljährlich neu auftretenden Vereine, welche gerade am meisten der Förderung und Auskunft bedürfen, durch ihr eigenstes Interesse zu einer solchen bewährten Anwaltschaft hingedrängt werden.
Zum Schlüsse mag die von Schulze in dieser Angelegenheit abgegebene Erklärung wörtlich angefügt werden, theils um zu zeigen, in welcher Weise derselbe seine Stellung zu den Vereinen auffaßt, theils um die große Bedeutung für unser öffentliches Leben hervorzuheben, welche einem solchen Vorgehn der Vereine beizumessen ist. Möchten seine Worte, zum eignen Besten aller Betheiligten, überall den warmen Anklang finden, den die Sache verdient.
Von den deutschen Erwerbs-Genossenschaften, welche sich seit den letzten zehn Jahren nach den von mir vertretenen Grundsätzen gebildet haben, sind mehrere zusammengetreten, um eine Einigung, besonders unter den Vorschuß- und Credit-Vereinen und den Rohstoff-Associationen zu Stande zu bringen, welche bezweckt, mir durch ein gemeinschaftlich auszusetzendes Gehalt es zu ermöglichen, meine Thätigkeit ausschließlich der Förderung der Genossenschaftssache zu widmen, und die mehrfachen Anerbietungen und Aussichten, welche mir neuerlich auf eine lohnende Stellung anderweit eröffnet sind, auszuschlagen. Es ist an mir, mich über dieses Vorhaben zu erklären.
Bei dem Umfange, den die Genossenschaftsbewegung bei uns erreicht hat, und der sich mit jedem Jahre erweitert, sehe ich mich schon jetzt außer Stande, den von allen Seiten an mich gestellten Anforderungen um Rath und Auskunft zu genügen, will ich nicht meine ganze Arbeitszeit opfern. Kommt es nun gar noch darauf an, die Bewegung weiter fortzuführen, das bisher Geleistete weiter auszubilden, so wird es unerläßlich, daß Jemand seine ganze Zeit und Kraft dieser wichtigen Angelegenheit widme. Was mich anlangt, so müßte ich namentlich allen juristischen Arbeiten entsagen, auf welche ich meiner Subsistenz halber großentheils angewiesen bin, weshalb es mir ohne eine mindestens theilweise Remuneration allerdings nicht möglich sein würde, mich der Aufgabe in ihrem ganzen Umfange zu unterziehen. Bei Regelung der mir zugedachten, ganz außergewöhnlichen Stellung dürften daher etwa folgende Hauptgesichtspunkte in das Auge zu fassen sein:
- 1) Vor Allem muß dieselbe eine durchaus würdige sein, da ich bei meiner Wirksamkeit des moralischen Einflusses, eines auf freies Vertrauen gegründeten Ansehens nicht entbehren kann. Die Hebung der Erwerbszustände der am meisten betheiligten Classen greift überall in das sittliche und intellectuelle Gebiet rurück, und die hier anklingenden Saiten können von mir nur dann mit Erfolg angeschlagen werden, wenn ich selbst unantastbar in dieser Beziehung dastehe. Dazu gehört namentlich die vollste Selbstständigkeit meinerseits, sowohl in Beziehung auf das, was man mir bietet, als auf das, was man von mir dafür verlangt. Das ganze Verhältniß muß daher rein geschäftlich auf der allein gesunden Grundlage von Leistung und Gegenleistung begründet werden, indem nur so jeder Theil dadurch, daß er sich selbst, wie dem Andern vollkommen gerecht wird, sein Selbstgefühl, seine innere Freiheit und Charakter-Würde wahrt. Aber wie ich jede Remuneration, die ich nicht durch meine Arbeiten verdiene, ablehnen müßte, so würde ich es auch in Beziehung auf alle und jede Anmuthungen, in der mir zugedachten Stellung irgend Etwas gegen meine Ueberzeugung zu thun und zu vertreten. Niemals werde ich mich zum bloßen Lohndiener von Ansichten und Bestrebungen hergeben, die etwa unter den Mitgliedern der Genossenschaften sich geltend machen könnten, im Fall ich von deren Verderblichkeit und Verkehrtheit überzeugt wäre. Das, was ich den Genossenschaften biete, ist der redliche Wille, ihren und ihrer Mitglieder wahren Interessen mit meiner
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- besten Kraft, und das heißt bei mir eben nach meiner besten Ueberzeugung, zu dienen. Meine Grundsätze in dieser Hinsicht sind bekannt, von unsern Vereinen bereits erprobt und bewährt gefunden, und auf diesem von uns betretenen Wege, welchem Wissenschaft und Praxis zur Seite stehen, weiter vorzuschreiten, das bereits Erreichte zu festigen und fortzubilden und für manches sich hervordrängende weitere Bedürfniß die weiteren genossenschaftlichen Formen zu finden: das ist es, wozu ich mich allein verpflichten kann und will.
- 2) Um das erforderliche Honorar in einer auch die unvermögenden Mitglieder der Associationen nicht belästigenden Weise aufzubringen, und den letzteren selbst kein irgend nennenswerthes Opfer zuzumuthen, ist der allein mögliche Weg bei Aufnahme des gegenwärtigen Projects schon eingeschlagen. Nur diejenigen bereits in Thätigkeit begriffenen Vereine, welche, außer den ihren Hauptzweck bildenden geschäftlichen Vortheilen für ihre Mitglieder, noch einen Reingewinn in baarem Gelde in einem bestimmten Rechnungsjahre zurücklegen, sollen einen geringen Procentsatz von diesem Gewinne zu dem Gehalte beisteuern, so daß sie, wenn einmal bei weniger günstigen Geschäften ein solcher Reingewinn in einem Jahre nicht erzielt wird, von jedem Beitrage befreit bleiben. Nun bestehen gegenwärtig in Deutschland etwa 140–150 Vorschuß- oder Credit-Vereine und 50–60 Rohstoff-Associationen in einzelnen Handwerken (z. B. der Schuhmacher, Tischler, Schneider etc.), welche fast durchgängig sehr gute Geschäfte machen, und man wird nicht fehlgreifen, wenn man den Reingewinn eines Vorschuß-Vereins etwa auf 200 Thaler, den einer Rohstoff-Association etwa auf 100 Thaler im jährlichen Durchschnitt annimmt. Gelänge es, ohngefähr 50 Vorschuß-Vereine und 10 Rohstoff-Associationen mit einer Verwilligung von etwa 2 Procent ihres jährlichen Reingewinns zunächst zusammen zu bringen – und diese Annahme ist schon eine sehr günstige: – so würde dies einen Jahresgehalt von 200–300 Thalern für den Anfang ergeben, der hoffentlich im Laufe der Zeit durch den Zutritt neuentstehender Genossenschaften sich steigern würde. Daß überhaupt mehr zu erlangen sein wird, glaube ich auf keinen Fall, besonders würde ein höherer Procentsatz die bei dieser Rechnung angenommene Betheiligung unter den Genossenschaften höchst wahrscheinlich noch vermindern, weshalb davon abzurathen ist. Im Gegentheil ist noch eine andere Sicherungsmaßregel in Bezug auf die größern und ältern Vereine nothwendig, will man diese nicht zurückschrecken, indem man ihnen zu viel, den kleinern und neuern zu wenig zumuthet. Es ist dies die Feststellung eines Minimum und Maximum der Beiträge, welches man der Summe nach etwa auf mindestens 2 bis höchstens 12 Thaler für das Jahr normiren könnte, so daß kein Verein darunter oder darüber hinaus beizutragen hätte, möge sein Reingewinn so groß oder so klein sein, als er wolle. Wenn man so die großen Vereine, welche sich bereits zu bedeutendem Verkehre aufgeschwungen haben, gegen ein zu hohes Maß von Beisteuern sichert, scheint die Heranziehung der kleinern, erst entstehenden Vereine mit jenem Normalsatze, auch wenn ihr Gewinn noch unter 100 Thaler beträgt, doch nur billig, weil sie gerade im Anfange Rath und Förderung am allermeisten in Anspruch nehmen.
- 3) Gegen Gewährung einer solchen theilweisen Remuneration würde man von mir zu erwarten haben, daß ich keine Anstellung im öffentlichen Dienste oder in einem Privat-Unternebmen annehmen würde, welche mich hinderte, der bezeichneten Aufgabe soviel von meiner Zeit und Kraft zu widmen, als mir die Sorge um die eigene Subsistenz dazu überhaupt übrig läßt – ein Maß, welches natürlich durch die Höhe der zu gewährenden Remuneration einigermaßen bedingt wird.
- Die Hauptgegenstände, auf welche ich sodann meine Thätigkeit zu richten haben möchte, würden etwa im Folgenden bestehen:
- a) Vertretung und weitere Ausbildung des Genossenschaftswesens im Allgemeinen, in der Presse, auf den volkswirthschaftlichen Congressen und sonst im öffentlichen Leben, besonders Wahrnehmung der Interessen unserer Vereine in Bezug auf die Gesetzgebung der deutschen Einzelstaaten;
- b) Förderung mit Rath und That, sowohl bei Gründung neuer Genossenschaften, als auch bei Erhaltung und Weiterführung bereits bestehender, insbesondere durch Auskunfts-Ertheilung und Belehrung auf ergehende Anfragen;
- c) Vermittelung gegenseitiger Beziehungen zwischen den einzelnen Genossenschaften, zum Behufe des Austausches der gemachten Erfahrungen und gewonnenen Resultate, und Anknüpfung von Geschäftsverbindungen unter einander, sowie von Veranstaltungen zur Wahrnehmung gemeinschaftlicher Interessen mit vereinten Kräften und Mitteln.
Hält man die vorstehenden Gesichtspunkte fest, so wird jeder unserer Vereine darnach leicht zu ermessen vermögen, inwieweit ihm und der gemeinen Sache mit dem, was man von mir billiger Weise erwarten darf, gedient, und was man andererseits daran zu setzen bereit ist, um sich meine ausschließliche Thätigkeit für die Zukunft zu sichern. Was mich selbst anlangt, so wird soviel wohl auch dem Befangensten einleuchten, daß ich bei Annahme der fraglichen Stellung die Rücksicht auf mein persönliches Interesse gänzlich bei Seite setzen muß. Nicht nur, daß das Verhältniß, von welchem jedem Theile, der Natur der Sache nach, der beliebige Rücktritt jederzeit frei steht, ein höchst unsicheres ist, erreicht mein Honorar im günstigsten Falle nicht den dritten oder vierten Theil dessen, was jeder Rechts-Anwalt in Preußen in einer gewöhnlichen Mittelstadt bei sehr mäßiger Praxis einnimmt. Dennoch bin ich entschlossen, auf die Sache einzugehen, und thue es gern. Ich bin von der Wichtigkeit der Associationen für den deutschen Handwerker- und Arbeiter-Stand auf das Innigste überzeugt, ich sehe so reichliche Früchte bereits aus den mühsam gepflegten Saaten erwachsen, daß schon die Rücksicht auf das, was Jeder dem Gemeinwohl schuldet, mich bestimmen muß, der Aufgabe, soviel an mir ist, auch in Zukunft meine Thätigkeit zu widmen. Dazu kommt, daß wohl Jedem ein solcher frei erwählter, der Befähigung und dem ganzen Streben eines Menschen gemäßer Beruf, wie ich ihn in der Anregung und Förderung der deutschen Genossenschaftsbewegung gefunden habe, theuer wird, und er sich nur schwer davon trennt. Ich bin dadurch in so viele Verbindungen mit tüchtigen Männern getreten, die mit mir Hand in Hand auf diesem Felde arbeiten, und vor Allem ich habe die wackern Leute, um deren Interssen es sich handelt, im langen persönlichen Verkehre lieb gewonnen, bin vielen schönen Zügen bei ihnen begegnet, einem so regen Treiben, sich zu bilden, sich durch eigene Kraft empor zu heben, daß ich zu dem gebotenen Wirkungskreise auch schon deshalb mich mit dem Zuge herzlicher Neigung hingezogen fühle.
Weiter erblicke ich aber noch in dem ersten Versuche dieser Art in Deutschland, wenn er gelingt, einen Vorgang von hoher Bedeutsamkeit für das öffentliche Leben. Haben es unsere Handwerker und Arbeiter in den Genossenschaften erst dahin gebracht, einen Anwalt, einen Vertreter ihrer Interessen aufzustellen und zu besolden, so wird dies auf ihre sociale Stellung, ihr Verhältniß zu den übrigen Gesellschaftsclassen günstig zurückwirken. Die Probe von der Macht, zu welcher sie sich im Verkehre durch eigene Kraft, durch ihren Zusammenschluß empor geschwungen haben, vermöge deren ihnen Intelligenz und Capital so gut wie den höheren Gesellschaftsschichten dienstbar sind, kann auf die Erweckung ihres Selbstgefühls, als der ersten Bedingung sittlicher Tüchtigkeit und wirthschaftlichen Gedeihens, nicht ohne Einfluß bleiben. Und das von ihnen gegebene Beispiel mag sich das ganze deutsche Volk zur Lehre nehmen. Nirgends verlangt man von Männern, die sich dem gemeinen Wohle widmen, so viel, und leistet ihnen dafür so wenig, wie bei uns. Daß zu jeder Art von Wirken zunächst eine materielle Existenz gehört, das scheint ihnen gegenüber Niemand zu bedenken. Sind sie zufällig nicht einmal mit äußeren Glücksgütern ausgestattet, so tritt in den meisten Fällen zu der Anfeindung und Verfolgung, die ihnen ihr Streben ohnehin einbringt, Mangel und Entbehrung als sichere Zugabe. So lange wir es daher in Deutschland nicht dahin gebracht haben, daß das Volk solchen Vorkämpfern für humanen, socialen und politischen Fortschritt, insoweit es den Bestrebungen derselben seine Anerkennung zollt, eine unabhängige, wenn auch noch so bescheidene Existenz gewährt, so werden wir gegen andere Völker – z. B. die Engländer – in Entwickelung unserer öffentlichen Zustände stets im Nachtheil stehen, weil sich oft die besten Kräfte entweder jenen schwierigen, die höchste Hingebung fordernden Aufgaben alsdann ganz entziehen, oder sich ihnen, im sorgenvollen Kampfe um des Lebens Nothdurft, nur mit halber Seele widmen können. In diesem Sinne hat das jetzige Project unserer Associationen eine wahrhaft nationale Bedeutung, eine Tragweite, welche weit über die Personalfrage hinausreicht. Nicht sowohl mir, dem gegenüber für die noch in Aussicht stehenden Jahre seiner Wirksamkeit sich die Ausführung bestenfalls wohl kaum über die Grenzen eines Versuchs erheben dürfte, sondern denen nach uns, dem folgenden Geschlechte, wird das gegebene Beispiel vielleicht einmal zu Statten kommen, und es mag leicht geschehen, daß alsdann, solchem Vorgänge gemäß, ganz andere Männer, durch die reell bethätigten Sympathien des Volks über das niedere Bedürfniß erhoben, zu Ehren und Frommen des Vaterlandes mit ihrer vollen Kraft den edelsten Aufgaben und Bestrebungen zugeführt und erhalten werden.
Und deshalb darf und will ich die Associationen bei ihrem Vorhaben nicht hemmen, sondern mich ihnen darbieten. Es ist eben nicht mehr, als ein Versuch, über dessen große Schwierigkeiten sich die Männer, die ihn angeregt haben, doch ja nicht täuschen mögen. Indessen, schon daß man ihn wagt, gilt als ehrenvolles Zeugniß von dem Geiste, der in vielen Leitern und Mitgliedern unserer Genossenschaften lebt. Und ich bin ja im Stande, den Verlauf der Sache ruhig mit anzusehen, indem weder meine materielle Existenz, noch meine öffentliche Wirksamkeit an das Gelingen des Planes geknüpft sind. Wie ungewiß auch der Ausfall sein mag, Eins bleibt ja doch über jeden Wandel sicher und fest: daß ich selbst, auch wenn der Plan scheitert, soweit mich die nothwendige Fürsorge um das eigene Bedürfniß nicht abzieht, meine Thätigkeit der Sache der Genossenschaften in unveränderter Gesinnung erhalten werde. Was dieselben daher auch thun und beschließen, ich bleibe doch der Ihre.
Delitzsch, im Januar 1860.
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Hebel's Säcularfest in dessen Heimath. Allenthalben wurde im
badischen Oberlande der 10. Mai, der Geburtstag Hebel’s, des allemannischen Sängers, gefeiert. Diesen Tag begingen insbesondere sein
Heimathsort und die Stadt Schopfheim im Wiesenthale. Die Enthüllung
einen Denkmals vor Hebel’s Haus zu Hausen, die Feier und die rege
Theilnahme der Bewohner des Wiesenthales an derselben sei Gegenstand
dieser Mittheilung.
Hebel ist als allemannischer Sänger bekannt. Kein anderer Idyllist kommt ihm an Naturwahrheit, Naivetät, Frische und Treuherzigkeit gleich. Er hat, wie Goethe treffend sagt, das ganze Universum auf die anmuthigste Weise verbauert. Seine Erzählungen, sein rheinischer Hausfreund waren in allen Händen, und es gibt fast kein Lehrbuch in den Schulen des evangelischen Deutschlands, das nicht irgend ein „Stücklein“ mit der Unterschrift „Hebel“ enthielte.
Begeben wir uns nun in Hebel’s Heimath, in’s liebliche Wiesenthal. Die Nacht vom 9. auf den 10. loderten Freudenfeuer auf den Höhen, welche das Wiesenthal umgeben, ja ein Feuermeer war auf manchen Bergen, welches freundlich in die düstere Nacht hinausleuchtete. Nebel umhingen die Berge, und ich befürchtete, daß Hebel’s Ehrentag nicht gefeiert werden könnte. Ich äußerte diese Befürchtung einem guten Oberländer. Er meinte, morgen sei doch gut Wetter; Hebel hätte nur zu Petrus gesagt, er soll d’Lüt do unte nur e weng vergelstern.[3] In der That, der Morgen erheiterte sich. Choräle und Lieder der Bergleute begrüßten denselben. Alle Orte des Wiesenthales hatten das Festgewand angelegt. Kränze, Blumengewinde und darauf geheftete sinnige Sprüche zierten Häuser und Straßen; ja, der ärmste Mann hatte seinem Sänger und dem Sänger seiner „Wiese“ wenigstens ein Blümchen gebracht. So brach der Tag in festlich heiterer Stimmung heran.
Am Morgen übergaben die Jungfrauen Schopfheims ihrem Gesangvereine eine von ihnen gestickte Fahne, und die niedliche Sprecherin bemerkte recht sinnig, daß wohl kein Tag geeigneter sei, dieser Fahne die echte Weihe zu geben, als der heutige, der hundertjährige Geburtstag Hebel’s. „Ne G’sang in Ehre“ möge immerdar ihr Wahlspruch bleiben.
Die Gesangvereine des gesammten Wiesenthales in geschmückten Festwagen trafen gegen elf Uhr beim Eisenwerk Hausen ein, in dessen Nähe der Festplatz gewählt war.
Die Wagen waren mit Bildern und Sprüchen versehen. Die letzteren alle gemüthlich heiter, ja kindlich. So z. B. aus dem Wagen Fahraus:
„Wenn’s gilt im Hebel Chränzli z'winde,
Do blibt au Fahrnau nit dehinte.“
Der Zug mit den vielen Fahnen, dem bunten Farbenspiel, hatte etwas Imposantes. Auch des Vaterlandes war man eingedenk. Die Sänger und Sängerinnen waren mit den deutschen Farben geschmückt, und die deutsche Fahne war die, welche vorangetragen wurde. Wenigstens ein Anfang; – wo Deutschland seine Geister ehrt, darf die deutsche Tricolore wehen. Gegen den Festplatz entfaltete sich der Zug. Er war durch einen Triumphbogen gezogen, auf welchem zwei junge Bergknappen als Statuen aufgestellt waren und auch wirklich für ihren Hebel mit Heldenmuth stille standen. Mädchen, wie sie sich in der guten alten Zeit, da noch der kleine Peter Hebel in die Schule ging und ehrfurchtsvoll vor „jedem Here ’s Chäppli abe that“, trugen, schmückten die hier aufgestellte Büste Hebel’s mit Blumenkränzen. Aus einem mit Laub gezierten Fasse mit dem „Ehrentrunk“ kredenzten zwei der schönsten Mädchen den fremden Gästen den Wein. Wohl wird sich Mancher mit Freuden dieses köstlichen Trunkes, so liebreich dargebracht, erinnern.
Die Gesangvereine und die Musik besteigen die Sängerbühne, und man ordnet sich. Ein Bürger von Hausen, Herr Grether, bewillkommnete Alle herzlich in der Mundart der Heimath, in allemannischer Sprache: „De Hebel wemmer ehre – in der G’sinnung, die er uns g’lehrt het. Mer wenn is freun, e Trunk, e Chuß und e freudig Stündli soll is in Ehre z’Theil werde.“[4] Das Wetter hatte sich aufgeheitert, freundlich strahlte die Sonne auf die frühlingsgrünen Höhen und der Wind bestreute uns mit Blüthen. „Ne G’sang in Ehre“ ertönte es von allen Vereinen.
Der Zug bewegte sich vom Festplatze nach Hausen, wo Hebel’s Denkmal – eine Büste – enthüllt werden sollte. Pfarrer Rheinbold von Hausen sprach in seinen einleitenden Worten: „Noch vor wenigen Monaten erst sei der Entschluß reif geworden, dem allemannischen Sänger in seiner lieben Heimath ein Denkmal zu setzen; durch die Freigebigkeit Sr. Königl. Hoheit des Großherzogs und die rege Theilnahme der Gemeinde Hausen und der vielen Verehrer Hebel’s sei dieser Entschluß in kurzer Zeit zur That geworden.“
Vor der Kirche Hausens steht Hebel’s Denkmal. So oft die Bewohner dieses stillen Dorfes, voll anmuthiger Erinnerungen, in die Kirche gehen, mahnt es sie an ihren lieben Hebel. Auf der Vorderseite des Piedestals ist zu lesen: „Johann Peter Hebel, Badens erster Prälat, lieblicher allemannischer Sänger und gemüthlich heiterer Volkserzähler“; auf der Rückseite: „Gewidmet zu seiner einhundertjährigen Geburtsfeier am 10. Mai 1860, von den Einwohnern seiner Heimathsgemeinde und auswärtigen Verehrern“. Auf der einen Seite:
„O lueg, wie’s flimmert wit und breit,
In Lieb’ und Freud’ und Einigkeit
s’ macht Kein em Andre ’s Lebe schwer,
Wenn’s doch donieden au so wär.“
Auf der andern:
„Ne Freudestund isch nit verwehrt,
Me g’nießt mit Dank, was Gott bischert,
Me trinkt e frische frohe Mueth,
Und druf schmekt wieder ’s Schaffe guet.“
In der Nähe des Denkmals steht Hebel’s Vaterhaus. Man kehrte, nachdem ein Festlied gesungen worden war, wieder auf den Festplatz zurück. Die Festrede sprach Pfarrer Dorn von Weil, mit Hebel seiner Zeit persönlich befreundet. Ausführlich und mit besonderer Liebe ging er auf das Leben Hebel’s ein, auf dessen Jugendjahre, seine Studienzeit, seine Wirksamkeit in Karlsruhe, als Lehrer und Geistlicher. Namentlich hob er seine Verdienste als Lehrer des Volkes durch seinen Hausfreund und als Dichter hervor, welcher den allemannischen Dialekt wieder zu Ehren gebracht. Auf sie folgte ein besonders nennenswerther musikalischer Vortrag: „der Samstig und der Suntig“, ein ländliches Tongemälde, in welchem der Componist, Herr Carl Fendrich von Freiburg, eine poetisch durchdachte Aneinanderreihung von Volksweisen mit Liedern Hebel’s und eigenen Motiven in einen reizenden ländlichen Strauß zusammenbindet. Ausgeführt wurde dasselbe von der Kapelle den II. Füsilierbataillons zu Freiburg. Für Militairmusik war es arrangirt von Herrn Kapellmeister H. Schwab.
Eine Reihe von Rednern trat nun auf, deren Vorträge wir nur der Richtung nach, in welcher sie sich bewegen, angeben wollen. Herr Oberamtmann von Porbeck hob, an die Verehrung Hebel’s für das markgräfliche Haus (Baden) anknüpfend:
„Es leb’ der Marggrof und si Huus!
Ziehnt d’ Chappen ab und trinket us.“
– die unveränderliche und stete Treue und Anhänglichkeit der Markgräfler an das fürstliche Haus Baden hervor, ein Grundzug, welchen sie auch heute noch bewahren im schönen Verein mit eifrigem Streben nach geistigem und materiellem Fortschritt.
Herr Ministerialrath Spohn aus Karlsruhe knüpfte an die Stelle aus Hebel’s Schmelzofen:
„Wär Hammer-Schmid und Zainer nit,
Do läg e Sach’, was thät me mit?“
in gelungenster Weise eine Beleuchtung der verschiedenen Thätigkeiten des Comite’s, welches seine Aufgabe in so befriedigender Weise gelöst habe.
Ein anderer Redner bekämpft die Vorurtheile, welche von gewisser Seite gegen die Verehrung unseres großen Dichtern und Denkers noch immer gehegt werden. Unrecht sei es, diese Verehrung Vergötterung des Menschengeistes zu nennen.
Ein Sprecher aus Basel brachte den Festgruß einer großen Anzahl Männer aus Basel, entschuldigt ihr Ausbleiben, weil das schweizerische Musikfest sie so sehr in Anspruch genommen habe, und stellt eine reiche Spende für die Hebelstiftung in Aussicht.
Herr Hofrath Eisenlohr von Karlsruhe erörterte in geistreicher, von Herzen gehender Weise und in glänzendem Redeflusse die Wahrheit, mit welcher Hebel unsere Oberländer gezeichnet, die heute noch die alten. Mit einem Hoch auf sie schließt er.
Herr Prof. Werber aus Freiburg brachte einen Toast auf den Blüthenkranz der Oberländerinnen, und Herr Venedey aus Oberweiler erinnerte an eine Stelle aus einem Briefe Hebel’s, welchen derselbe zur Zeit des napoleonischen Druckes geschrieben: – (Napoleon) regiere mit blutiger Hand und mer könn’ „sich nimmer muchse“.[5] In lebhafter Weise brachte er seine patriotischen Wünsche vor, seinen Ruf nach Einigkeit gegenüber der Gefahr, die „dorther“ drohe – seine Hand nach Westen richtend.
So, mit dem Gedanken an’s theure Vaterland, schloß dieses Fest, das gegolten den Manen eines Dichters, dessen Lieder in der Sehnsucht nach der Heimath ihren Boden haben.
- ↑ Lewes, Naturstudien am Seestrande. Aus d. Engl. übers. von Frese. Berlin 1859. 8.
- ↑ In der Kirkdaler Höhle und im Kalksinter und Tuff Schwedens hat man Ueberreste vom urweltlichen Schwein (S. priscus) mit beinahe fußlangen Hauern gefunden.
- ↑ Er solle den Leuten da unten (seinen Oberländern) nur ein wenig bange machen.
- ↑ Den Hebel wollen wir ehren in der Gesinnung, die er uns gelehrt hat. Wir wollen uns freuen, ein Trunk, ein Kuß und ein freudiges Stündlein soll uns in Ehren zu Theil werden.
- ↑ D. h. man müsse ganz stille sein.