Die Gartenlaube (1857)/Heft 42
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No. 42. | 1857. |
Um ein Uhr Mittags fuhr ein Reisewagen in den Hof der Solitüde. Wilhelm Dewald stieg mit seinen beiden Damen aus.
Der lange Joseph erschien auf dem Perron des freundlichen Landhauses; er erkannte den Neffen seines Herrn, und begrüßte ihn ehrfurchtsvoll, wenn auch ein wenig verdrießlich. Er führte die Gäste in den Saal des Erdgeschosses. Die Damen sahen den Diener, der sich so gemessen, fast feierlich bewegte, erstaunt an. Wilhelm fragte ängstlich: „Kann ich meinen Onkel sprechen?“
„Nein, mein Herr!“
„Großer Gott!“ riefen erschreckt die Damen.
„Warum? Ist er gefährlich krank?“ fragte der junge Mann.
„Nein, mein Herr!“
„Ist er todt?“
„Nein, mein Herr!“
„Was ist mit ihm?“
„Er befindet sich auf der Jagd!“ antwortete Joseph mit der Ruhe, die ihm eigen war.
„Auf der Jagd?“
„Ja, Herr Dewald!“
„Erwartet er mich?“
„Ich weiß es nicht, Herr Dewald.“
„Wann kehrt er zurück?“
„Das ist unbestimmt.“
„Besorge uns ein Frühstück.“
Joseph verließ den Saal. Die Gäste sahen sich einander fragend an.
„Es bleibt bei dem, was wir verabredet haben,“ sagte Wilhelm. „Erscheint später eine Aenderung unseres Planes nöthig, so können wir sie immer noch eintreten lassen.“
Wilhelm ließ das Gepäck in ein Zimmer bringen, das an den Saal grenzte.
Nach dem Frühstücke zogen sich die Damen in dieses Zimmer zurück, um Toilette zu machen. Wilhelm stand am Fenster, und beobachtete das Gitterthor. Da plötzlich schritt der Onkel, ein rüstiger Jäger, über den Hof. An seiner schweren Jagdtasche hingen fünf oder sechs Hühner. Verwundert blieb er stehen, und sah einen Augenblick den Reisewagen an, den man halb in die Remise geschoben hatte. Dann eilte er die Treppe hinan, und verschwand in dem Hause.
„Das ist seltsam!“ murmelte der unruhige Neffe. „Der Herr Consul sieht wahrlich nicht aus, als ob er an das Sterben dächte. Zu welchem Zwecke mag er den traurigen Brief an mich geschrieben haben? Sollte er ein Erguß seiner Hypochondrie oder wohl gar eine List sein?“
Der rasch eintretende Consul unterbrach diese Reflexionen.
„Onkel, theurer Onkel!“ rief Wilhelm ihm entgegen.
Der Consul umarmte ihn mit einer Zärtlichkeit, die an Rührung grenzte.
„Willkommen, Wilhelm!“ rief er aus. „Wo ist Deine Frau? Bist Du allein gekommen?“
„Nein, sie befindet sich in jenem Zimmer, um Toilette zu machen. Wir sind während der Nacht gereist, und eben erst aus dem Wagen gestiegen.“
„Mein Gott, über diese Ceremonien! Ich sehe wohl, daß man mich nicht kennt; wir sind ja hier nicht in der Stadt. Ich hasse die Umstände, und will, daß man sich zwanglos bewege. O, Ihr eiteln jungen Leute!“
„Albertine, die Freundin, von der ich in meinem Briefe gesprochen, ist mit uns gekommen!“ sagte der Neffe, indem er den Onkel fixirte.
„Desto bester! Desto bester!“ rief der Consul mit einem Anfluge von Heiterkeit. „Die Freundin unserer guten Louise ist herzlich willkommen, denn ich weiß, daß sie ihren Umgang mit Vorsicht wählt.“
„Gewiß, lieber Onkel!“
„Du stellst mir die Freundin Deiner Frau vor, ich mache Dich mit dem neuen Eigenthümer des Forsthauses bekannt, einem jungen Manne, der mich diesen Morgen auf der Jagd begleitet hat. Er ist zwar nur erst fünfundzwanzig Jahre alt – aber ein Philosoph, der seines Gleichen sucht. Die Menschen sind ihm verächtlich, und die Frauen haßt er wie die Sünde. Der Mann gefällt mir. Während wir den Wald durchstreichen, moralisiren wir.“
„Demnach, mein Onkel, befinden Sie sich –“
„Schlecht, schlecht, sehr schlecht!“ sagte der Consul, ein saueres Gesicht machend. „Ich fühle, daß ich langsam vergehe. Mein Körper ist so schwach, so abgemattet – – “
„Wenn Sie den Wald durchstreift haben –“
„Nein, nein, davon kommt es nicht; es ist die Folge meiner schlechten Gesundheit.“
„So fehlt Ihnen wohl der Appetit?“
„Auch der Appetit fehlt nicht; ich esse und trinke gut, aber ich schlafe schlecht. Die Nacht, die Nacht ist mir eine furchtbare [570] Zeit!“ rief seufzend der Consul. „Und dann habe ich Krankheitsanfälle, die wahrhaft erschrecklich sind! Dem letzten dieser Anfälle verdanke ich, daß Du jetzt verheirathet bist,“ fügte Leberecht mit einem schmerzlich freundlichen Lächeln hinzu.
„Onkel,“ stammelte Wilhelm erröthend.
„Ah, Du Libertiner, das Junggesellenleben ist wohl sehr angenehm? Warte, ich werde Deine Anwesenheit in meinem Landhause benutzen, um Dich die Annehmlichkeiten eines zurückgezogenen häuslichen Lebens kennen zu lehren. Die Welt ist nichts, gar nichts – Thorheit, Nichtigkeit, Nichtswürdigkeit – ein Mensch betrügt und plagt den andern – der eine kommt empor, der andere geht zu Grunde – Du sollst den Herrn von Windheim über dieses Capitel sprechen hören – es ist ein wahrer Genuß! Und siehst Du, Wilhelm, weil ich fürchte, daß ich einmal Morgens mein Bett nicht verlasse –“
„O, verbannen Sie doch diese Grabesgedanken!“
„Daß ich schnell vergehe, wie alles Irdische, so habe ich daran gedacht, meine letzten Bestimmungen zu treffen. Ich freue mich, daß Du meine Lieblingsidee verwirklicht hast. Du weißt, ich bin ein guter Mensch, der kein Unrecht leidet, geschweige denn thut – aber hättest Du nicht die Tochter meines alten Freundes geheirathet, ich würde ihr allein mein ganzes Vermögen vermacht haben. So ist es mir lieb, denn auch der Sohn meines einzigen Bruders wird durch mich glücklich werden.“
„Onkel, Sie sind die Güte und Liebe selbst!“
„Findest Du das?“ fragte lächelnd der Consul.
„Darum werden Sie mir auch eine Bitte gewähren.“
„Bitte, lieber Neffe, bitte!“
„Der Mann muß stets das Oberhaupt im Hause sein.“
„Von Rechtswegen.“
„Meine Louise würde aber gewaltig den Pantoffel schwingen, wenn sie erführe, daß ich ihr das Glück verdanke, von Ihnen bedacht zu sein.“
„Und nun meinst Du, daß ihr der wahre Grund meiner Güte unbekannt bliebe?“
„Ja! Onkel, Sie kennen die Frauen nicht!“
„Ich kenne sie, und weil ich sie kenne, soll Louise nichts erfahren.“
Die eintretenden Damen unterbrachen das Gespräch. Beide hatten reizende Toilette gemacht. Wilhelm stellte keck Louisen als seine Frau vor. Gerührt betrachtete der Consul das schöne Mädchen.
„Das sind die Züge ihrer Mutter,“ murmelte er; „das ist ihr Lächeln, ihr blondes Haar, ihre Nase, ihre ganze Gestalt! Louise,“ rief er laut, „umarmen Sie Ihren zweiten Vater!“
Leberecht küßte die weiße Stirn Louise’s.
„Gut, gut,“ murmelte er; „nun habe ich eine Tochter und einen Sohn!“
Wilhelm ergriff Albertine’s Hand, und stellte sie dem Consul mit den Worten vor:
„Fräulein Albertine Möller, die intime Freundin meiner Gattin.
„Möller?“ stammelte verwirrt der Consul, denn der Name erinnerte ihn an den Schiffsmakler, dem er sein großes Vermögen verdankte.
Albertine, die, wie sich denken läßt, sehr befangen war, verneigte sich tief erröthend.
Der Consul faßte sich rasch; er sprach einige Höflichkeitsphrasen aus, und bat die Dame, das Landhaus als das ihrige zu betrachten. Joseph meldete, daß das Mittagsessen aufgetragen sei. Leberecht führte Louisen, seine vermeintliche Nichte, Wilhelm Albertinen, die vermeintliche Freundin, zu Tische.
„Wie wird das enden?“ flüsterte die ängstliche junge Frau ihrem Manne zu.
„Du siehst, mein Onkel ist ein überspannter Kopf.“
„Ich fürchte mich vor dem seltsamen Manne.“
„Spiele Deine Rolle gut; das Uebrige überlaß mir und dem guten Glücke, das dem Kecken stets hold gewesen ist.“
Onkel Leberecht war bei Tische so heiter, daß der lange Joseph mehr als einmal den eckigen Kopf schüttelte und in der Küche sein Mißfallen aussprach, wenn er eine Schüssel holte.
„Diese Stadtmenschen stören die Ruhe unseres Hauses,“ murmelte auch Frau Katharina, die Haushälterin, mit verdrießlichem Gesichte. „Ich wollte, sie wären, wo der Pfeffer wächst!“
Die Damen zogen sich zeitig in ihr Zimmer zurück, um von der anstrengenden Nachtreise auszuruhen. Onkel und Neffe gingen in der Dämmerung nach dem Forsthause, um dem Herrn von Windheim einen Besuch abzustatten. Alexander empfing die Gäste mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit, Wilhelm Dewald unterdrückte seine Verwunderung über den sonderbaren Elegant, der sich entschließen konnte, in dieser traurigen Einöde zu leben. Der Consul wußte dem Gespräche bald die Wendung zu geben, die den Edelmann auf sein Lieblingscapitel brachte. Alexander ermangelte nicht, seine Ansichten über die Welt und vorzüglich über die Frauen auszusprechen; er versicherte, daß er nie daran denken würde, sich je mit einem solchen Wesen zu verbinden.
„Dieser Edelmann ist auf dem besten Wege, ein Hypochonder wie mein Onkel zu werden!“ dachte Wilhelm. „Uebrigens traue ich dem Burschen nicht, wer kann wissen, ob er dem reichen Consul nicht eine Komödie spielt, wie ich sie ihm spiele. Man muß auf seiner Hut sein.“
„Womit beschäftigen Sie sich jetzt?“ fragte Leberecht.
Alexander deutete auf den Tisch.
„Ich schreibe meine Memoiren, die ich zur Belehrung der jungen Männer drucken lassen will! Das Werk soll den Titel führen: „Ueber die Treue der Frauen.“ O, es gibt viel Stoff zum Nachdenken; auch fehlt die Sentimentalität nicht, die jetzt allgemein beliebt ist.“
Hätte der Consul nicht nach der Uhr gesehen, und zum Aufbruche gemahnt, Alexander würde das erste Capitel seiner Memoiren vorgelesen haben. Man verabredete zum nächsten Morgen eine Jagdpartie, und trennte sich.
„Wie gefällt Dir Windheim?“ fragte der Onkel unterwegs.
„Ich bin verheirathet, und kann seine Ansichten nicht theilen.“
„Du hast Recht, und kannst zufrieden sein; man trifft nicht immer eine so liebenswürdige Frau, wie Louise ist.“
„Gefällt Ihnen Albertine?“ fragte Wilhelm.
„Sie ist schön, aber ein wenig zu still. Man pflegt zu sagen: stille Wasser sind tief! Ja, die stillen Wasser haben schon manches Opfer verschlungen. Ich liebe das freie, offene Wesen, das Louisen eigen ist. Louise ist eine Frau, die ich selbst hätte heirathen mögen, wenn ich nicht zu alt wäre.“
„Onkel, Sie müssen Albertinen näher kennen lernen – die junge Dame besitzt einen Schatz von Gemüth und Geist, der sie Jedem werth machen muß. Und dabei ist sie schön, wirklich schön!“
„Hollah,“ rief der Consul, indem er stehen blieb. „Was ist das? Du bist kaum mit Louisen verheirathet, und schon findest Du die Freundin gemüthvoll, geistreich und wirklich schön? Ist Albertine vielleicht auf Deinen Antrieb Louisen gefolgt? Mensch, wenn Du Deine Frau hintergehen könntest!“
Wilhelm erschrak, er hatte seine Rolle vergessen.
„Onkel,“ rief er, „halten Sie mich nicht für schlecht! Ich schwöre Ihnen, daß ich meiner Frau treu wie Gold bin. Aber darf ich deshalb nicht die Vorzüge anderer Frauen anerkennen? Wäre Albertine nicht die, die sie ist, ich gestattete ihren Umgang mit Louisen nicht. Geben Sie sich, in unserem Interesse, die Mühe, die junge Dame zu sondiren, und Sie werden mir beipflichten.“
„Das will ich mir merken,“ dachte der Onkel, „das braune Mädchen ist wirklich schön!“
„Bald hätte ich mich verrathen,“ dachte der Neffe: „der Alte ist schlau wie ein Zollvisitator!“
Leberecht beschloß, Albertinen zu beobachten, und Wilhelm nahm sich vor, den verdächtigen Edelmann scharf in’s Auge zu fassen.
Schon früh am nächsten Morgen brachen die Männer zur Jagd auf. Alexander zeigte sich als ein so liebenswürdiger Gesellschafter, daß Wilhelm die Sonderbarkeit desselben bedauerte, die ihn von der Welt ausschloß. Er ist ein liebenswürdiger Mann! war sein Urtheil über ihn. Alexander bat sich die Ehre aus, den Neffen des Consuls Freund nennen zu dürfen. In heiterer Stimmung kehrte die Jagdgesellschaft zurück. An dem Thore des Landhauses nahm Alexander Abschied und schlug den Fußweg, der durch den Tannenwald führte, nach dem Forsthause ein. Nicht lange war er gegangen, als ihm in der Biegung des Weges eine Dame entgegentrat. Es war Albertine. Ihr liebliches Gesicht unter dem weißen Atlashute war von der frischen Herbstluft sanft geröthet. [571] Ein Oberrock von dunkelgrüner Seide schloß den schönen, üppigen Körper eng ein. In der kleinen, mit gelbem Handschuh bekleideten Hand trug sie das weiße Battisttuch.
Alexander blieb überrascht stehen, als er diese seltene Erscheinung sah.
„Eine Dame, und eine reizende Dame in dieser Einöde!“ dachte er.
Um seine frauenfeindlichen Grundsätze war es geschehen – der romantische Elegant erwachte wieder. Höflich grüßend zog er seine grüne Jagdmütze. Seine Verwirrung erreichte den höchsten Gipfel, als die Dame ihn anredete.
„Verzeihung, mein Herr – führt dieser Weg nach der Solitüde?“
Das Lächeln der schönen Frau und ihre weiche, wohlklingende Stimme machten Alexander, der lange keine Dame gesehen und gehört hatte, zur Bildsäule erstarren.
„Nach der Solitüde wollen Sie?“ fragte er, die Mütze in der Hand haltend.
Schweigend verneigte sich Albertine, welche die Bestürzung des fremden jungen Mannes nicht begreifen konnte.
„Nach dem Landhause des Consuls Dewald?“ wiederholte Alexander.
„Ja, mein Herr!“
„In fünf Minuten werden Sie es sehen, wenn Sie diesen Weg verfolgen.“
„Ich danke, mein Herr!“
Albertine ging vorüber. Die Falten ihres Kleides berührten Alexander in dem schmalen Waldwege. Ein feines Parfüm drang in seine Nase. Wonneschaudernd sah er der junonischen Gestalt nach, die leicht durch den Wald schwebte und nach einer Minute verschwand.
„Auf Ehre, das war ein Engel!“ flüsterte er. „Pah, ein Weib, eine Schlange – der Teufel traue diesen Sirenen! Aber wie kommt sie in diese Gegend? Was will sie bei dem menschenfeindlichen Consul?“
Alexander kam nach Hause und nahm das Mittagsmahl ein, das der alte Tobias, der frühere Koch des Generals von Windheim, bereitet hatte. Es wollte ihm nicht schmecken. Das einfache, fast unfreundliche Zimmer ekelte ihn an. Um drei Uhr machte er eine sorgfältige Toilette, bei der Tobias als Kammerdiener behülflich war. Während er vor dem Spiegel stand und die elegante Cravatte anlegte, fragte er:
„Tobias!“
„Gnädiger Herr?“
„Sind Menschen in der Nähe unseres Hauses gewesen?“
„Ja!“
„Wen hast Du gesehen?“
„Ich glaube, es waren zwei Frauen.“
„Zwei Frauen?“ fragte Alexander überrascht.
„Ja, gnädiger Herr. Ich sah aus dem Fenster, als sie dort am Zaune vorübergingen und im Walde verschwanden.“
„Du hast doppelt gesehen, alter Freund!“
„Wohl möglich; mein Gesicht wird täglich schlechter.“
Alexander ging nach der Solitüde. Als er in den Hof trat, kam ihm Wilhelm aus dem Garten entgegen. Beide grüßten sich wie alte Bekannte. Indem sie dem Perron zugingen, nickte Wilhelm einer Dame zu, die an einem Fenster der Zimmer des Erdgeschosses stand. Alexander sah auf – er erkannte die schöne Unbekannte aus dem Tannenwalds.
„Mein Freund,“ flüsterte er wie berauscht, „wer ist diese reizende Dame?“
„Welche Dame?“
„Die am Fenster stand – Sie grüßten sie.“
„Ah so! Diese Dame ist – –“
„Ihre Frau?“
„Nein!“
Dem armen Alexander schien eine Centnerlast vom Herzen genommen zu sein.
„Wer ist sie?“ fragte er aufathmend.
„Fräulein Albertine Möller ist die Freundin meiner Frau.“
„Also nicht verheirathet? Fräulein?“
„Beides, Herr von Windheim!“ sagte Wilhelm. „Der arme Mensch ist verrückt, folglich nicht gefährlich,“ dachte er, indem er mit dem Jagdfreunde die Hausflur betrat.
„Herr Dewald, ich bitte Sie um eine Gefälligkeit.“
„Sprechen Sie, Herr von Windheim.“
„Sie kennen diese Dame?“
„Ja.“
„Stellen Sie mich ihr vor.“
„Mit Vergnügen.“
Er öffnete die Saalthür und ließ den Besuch eintreten. Albertine, die sich allein in dem Saale befand, trat den Ankommenden entgegen. Sie war im bloßen Kopfe; ihr braunes Haar bildete einen einfachen, glänzenden Scheitel. Den schönen Flechtenkranz hielt ein goldener Pfeil zusammen. Statt des Oberrocks trug sie ein Kleid von brauner Seide, das ihre harmonischen Körperformen deutlich abzeichnete. Den vollen Busen schmückte eine dunkelrothe Bandschleife.
Wilhelm Dewald gab seiner Frau ein bedeutungsvolles Zeichen mit den Blicken, während Alexander sich tief verneigte.
„Mein Fräulein,“ sagte er, „ich habe die Ehre, Ihnen Herrn Alexander von Windheim vorzustellen, den liebenswürdigen Jagdgenossen, von dem mein Onkel erzählt, daß er alle Frauen verabscheut.“
„Verabscheut!“ stammelte Alexander bestürzt. „Glauben Sie es nicht, mein Fräulein. Ich habe nie eine solche Lästerung ausgesprochen.“
Albertine verneigte sich und sagte mit einem reizenden Lächeln: „Es bedarf nur des Anblicks des Herrn von Windheim und man muß die Ueberzeugung gewinnen, daß er nie Grund gehabt, sich über die Frauen zu beklagen.“
„Teufel,“ dachte Alexander, „sie besitzt Geist!“
Während Alexander zu einem Pfeilertische trat, den Hut ablegte und die braunen Glacehandschuhe auszog, flüsterte Dewald seiner Frau zu: „Sei auf Deiner Hut, dieser Mensch ist ein Narr, ein Schwätzer! Unser Geheimniß ist verloren, wenn er es erfährt.“
Alexander kam zurück.
„Ich hatte das Glück, Fräulein Möller diesen Morgen zu sehen,“ sagte er.
„Und ich hatte das Unglück, von meiner Freundin getrennt zu werden, die muthwillig einen andern Weg einschlug, um rascher nach dem Landhause zu kommen.“
„Wie gern hätte ich Sie geführt –“
„Ich würde Sie darum ersucht haben, wenn ich gewußt hätte, daß Sie der Freund des Herrn Consuls sind.“
„Wo ist der Onkel?“
„Bei Ihrer Frau, Herr Dewald!“ antwortete Albertine, indem sie nach dem Seitenzimmer deutete. „Er hat sie um eine geheime Unterredung gebeten.“
„Der gute Onkel könnte mich eifersüchtig machen.“
„Beruhigen Sie sich, mein Herr, die Unterredung ist zu Ende – dort kommt der Herr Consul.“
Leberecht trat ein.
„Ah, Herr von Windheim!“ rief er heiter. „Willkommen, Frauenhasser! Ich benutze diese Gelegenheit, um Ihnen meine kleine Nichte vorzustellen. Kommen Sie, Louise, kommen Sie!“
Louise erschien in der Thür. Alexander starrte sie zitternd an wie eine gespenstige Erscheinung.
Der Consul, den das Gespräch mit Louisen in eine heitere Stimmung versetzt hatte, bemerkte eben so wenig wie Wilhelm die plötzliche Umwandlung Louise’s; sie hatten nur den Gast im Auge, der bald blaß bald roth wurde.
„Ihre Gattin?“ stammelte Alexander, indem er sich zu dem Neffen wandte.
Wilhelm verneigte sich zustimmend.
„Ich wette,“ sagte der Consul, „daß die Damen den Grund der zornigen Aufwallung unseres Gastes nicht kennen. Doch entschuldigen Sie ihn, er hat vor nicht langer Zeit eine arge Täuschung erfahren – wenigstens glaubt er es!“
Alexander hatte die Hand in die Oeffnung seiner Atlasweste gesteckt, sah zur Decke empor und sagte mit bebenden Lippen: „Wenn ich es bisher glaubte, so habe ich jetzt unumstößliche Beweise!“
„Vielleicht täuschen Sie sich, mein Herr!“ antwortete ihm Louise so unbefangen, als ob sie ihn trösten oder die Gewissenhaftigkeit der Frauen vertheidigen wollte.“
„Die Treulose!“ murmelte Alexander.
[572] „Haben Sie Nachrichten von ihr?“ fragte der Consul.
„Ja, mein Herr, die neuesten Nachrichten!“
„Also ist sie Ihnen wirklich untreu geworden? Element, Herr von Windheim, ein Mann in Ihren Jahren muß sich über so etwas hinwegsetzen. Vergessen Sie die Ungetreue und lieben Sie eine andere. So würde ich mich rächen, wenn ich, wie Sie, fünfundzwanzig Jahre alt wäre!“
„Onkel,“ rief Louise laut auflachend, „Sie geben dem Herrn einen schönen Rath!“
Alexander zerdrückte wie krampfhaft die Schleifen seiner Cravatte.
„Der Rath ist vortrefflich, Madame,“ rief er aus; „so vortrefflich, daß ich ihn sicher befolgen werde!“
Leberecht hatte seit Jahren eine so gute Laune nicht gehabt.
„Brechen wir ab von dem Unangenehmen, wenden wir uns zu dem Angenehmen!“ rief er aus, denn er hatte Mitleiden mit dem armen Alexander. „Sie sind so kurze Zeit verheirathet, Louise; aber nicht wahr, die Ehe ist doch schön? Bleibt bei mir, Kinder, ich will von jetzt an ein ganz anderes Leben führen, um die wenigen Tage zu genießen, die mir der Himmel noch schenkt. Es soll Euch an Nichts fehlen. Ihr bewohnt den linken Flügel meines Landhauses, damit Ihr vollkommen ungestört seid, und Fräulein Albertine bezieht ein Zimmer im ersten Stocke. Dann mag der Winter kommen, ich fürchte ihn nicht!“
Wilhelm sandte seiner Frau einen besorgten Blick zu. Louise hatte diesen Blick bemerkt.
„Onkel,“ sagte sie rasch, „ich werde mich von meiner Freundin nicht trennen!“
„Ich dulde keinen Widerspruch; die jungen Gatten sollen nicht genirt, sie sollen völlig frei sein.“
„Sie haben Recht!“ rief der Elegant, der wie auf Kohlen stand.
„Aber, Herr von Windheim, Sie sehen ja meine Nichte mit wahrhaft erschrecklichen Blicken an; man möchte glauben, Sie wollten sie mit Ihrem Hasse vernichten.“
„Wahrhaftig nein!“ rief bitter lachend der junge Mann. „Ich bin ihr im Gegentheil sehr gewogen!“
„Gut, gut, er denkt schon milder von den Frauen!“ rief der Consul, Albertinen scharf ansehend. „Sie müssen sich mit dem schönen Geschlechte vollkommen aussöhnen, es ist nicht so bösartig, wie Sie wähnen. Sehen Sie nur meinen Neffen, den jungen Ehemann, an, er glüht vor Freude und Glück. Ich stoße Ihre Grundsätze um, wie diese kleine Schlange die meinigen umgestoßen hat, denn ich habe Sie lieb gewonnen. Fräulein Albertine, ich rechne dabei auf Ihre Hülfe!“
„Auf meine Hülfe?“ rief erschreckt die junge Frau.
Alexander näherte sich Albertinen, küßte ehrerbietig ihre Hand, ergriff seinen Hut und verließ hastig den Saal, nachdem er die übrigen Personen leicht gegrüßt hatte. Man sah ihn rasch über den Hof eilen und zwischen den Bäumen verschwinden.
„Was ist das?“ fragte der Consul.
„Mein Gott,“ flüsterte erschreckt Louise, „wenn er nur keine Thorheit begeht.“
„Es ist wahr,“ meinte Leberecht; „der junge Mensch ist ein excentrischer Kopf.“
„Mein Freund,“ wandte sich Louise an Wilhelm, „eile ihm nach und suche ihn zu beruhigen, denn wir haben ihm arg mitgespielt.“
„O,“ murmelte Leberecht, „die junge Frau hat ein mitleidiges Herz! Schickt sie ihren Gatten einem jungen Elegant nach, der – –“
„Verzeihung, Onkel, ich kenne meine Frau und habe durchaus keinen Grund zur Eifersucht. Um ihr mein Vertrauen zu beweisen, gehe ich nach dem Forsthause. Unterhalten Sie die Damen.“
„Komm bald zurück!“ rief der Consul dem Davoneilenden nach.
Kaum hatte Alexander sein Zimmer betreten, als er den alten Tobias rief. Der Diener erschien mit der Pünktlichkeit der Soldaten.
„Tobias, packe die Sachen und bestelle Extrapost, wir reisen morgen ab!“
„Wohin, gnädiger Herr?“ fragte Tobias verwundert.
„Wohin Du willst, alter Freund. Aber wähle eine große Stadt für den Winter, wir wollen uns zerstreuen. Die Gegend hier ist zu traurig, ich halte es nicht länger aus.“
„Mir hat sie vom ersten Augenblicke an nicht gefallen, lieber Herr!“ rief Tobias mit freudestrahlendem Gesichte. „Also ich soll gleich packen?“
„Auf der Stelle! Zuvor jedoch bringe mir Licht, ich will einen Brief schreiben.“
Die Abenddämmerung war angebrochen. Als Tobias über die dunkele Hausflur ging, hörte er ein hastiges Klopfen an der Thür.
„Wer ist da?“
„Aufgemacht, aufgemacht, oder ich zertrümmere die Thür!“
„Dazu gehört nicht viel!“ murmelte Tobias. „Nur Geduld! Wer ist denn der stürmische Besuch?“
„Oeffne nicht, Tobias!“ rief Alexander von der Treppe herab. „Ich will keinen Menschen hören und sehen!“
„Gut, gnädiger Herr!“
In diesem Augenblicke drückte Wilhelm Dewald die wankende Thür ein und ging an dem erstaunten Tobias vorüber die Treppe hinauf. Oben stieß er auf den Edelmann.
„Ich muß Sie sprechen, mein Herr!“
„Verzeihung, mein Herr, ich nehme keine Besuche an, wenigstens von Ihnen nicht!“
Alexander wandte ihm den Rücken, und ging in das Zimmer. Dewald ließ sich nicht abhalten, er folgte ihm auf dem Fuße.
„Das ist zu kühn!“ rief Alexander entrüstet. „Wollen Sie mich zwingen, mein Hausrecht mit Gewalt zu wahren?“
„Nein, aber ich halte Sie nicht nur für einen Ehrenmann, sondern auch für einen vernünftigen Menschen. Meine Frau interessirt sich für Sie – –“
„Ah, ah, ah, Ihre Frau, mein Herr! Also Ihre Frau interessirt sich für mich? Treibt Sie vielleicht die Eifersucht, daß Sie in der Nacht durch den Wald rennen? Wenn dies ist, mein armer Herr Dewald, so haben Sie Recht und ich will Sie anhören!“
Tobias trat mit Licht ein.
„Soll ich bleiben, Herr?“ fragte er, einen Seitenblick auf den Gast werfend.
Alexander winkte ihm zu gehen. Tobias ging, nachdem er das Licht auf den Tisch gestellt.
„Wir sind allein, Herr Dewald; was haben Sie mir zu sagen?“ fragte von Windheim, und die Schadenfreude blitzte aus den Augen, als er den Schweiß auf Wilhelms Stirn glänzen sah.
„Oder vielmehr, was läßt mir die schöne, treue Louise sagen?“ fügte er höhnend hinzu.
„Er ist wirklich verrückt!“ dachte Dewald, der sich die Aufregung des seltsamen Menschen nicht erklären konnte.
„Nun, Sie glücklicher Ehemann,“ rief Alexander, „warum sprechen Sie nicht? Macht Sie das Glück der Ehe stumm?“
„Mein Herr, es scheint, Sie halten mich für einen lächerlichen Ehemann.“
„Nein, die Ehe ist ein zu ernstes Ding, mein lieber Herr; aber ich halte Sie für einen unglücklichen Ehemann.“
„Wollen Sie meine Frau verdächtigen?“
„Nein, ich werde schweigen wie das Grab!“ rief Alexander feierlich. „Und wenn Sie klug sind, so unterbrechen Sie dieses Schweigen nicht, sondern begnügen sich, blindlings an die Treue Ihrer Frau zu glauben. Morgen früh, diese Nacht noch reise ich ab; leben Sie wohl, Herr Dewald!“
„Ich hoffe, Sie werden bleiben!“
„Wahrlich, nein!“
„Oder mir wenigstens den Grund Ihrer plötzlichen Abreise nennen. Sie sind von Vorurtheilen befangen, die Ihnen das Leben verbittern.“
„Von Vorurtheilen?“ rief Alexander bitter lachend. „Ah, ich sehe, daß ich Ihnen gegenüber offen sein muß. So sind die Ehemänner, nur eclatante Beweise öffnen ihnen die Augen.“
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Nur zu gern pflegen wir in der Nähe berühmter Männer, zu verweilen und unwillkürlich prüfen wir sie in der Nähe, um möglichst außerordentliche Umstände bei ihnen zu entdecken. Je keuscher und edler der Ruhm eines Sterblichen ist, desto übernatürlicher malen wir gern uns seine Menschlichkeit aus und sehr oft locken wir damit die Enttäuschungen hervor. Die Liebenswürdigkeit ist eine so edle und seltene Tugend, daß wir meist jede Berühmtheit damit umkleiden, ohne sie jedoch immer bei ihnen in Wirklichkeit anzutreffen. Und kann etwas mächtiger einwirken, als einen großen Mann stets wohlwollend, liebenswürdig und edelsinnig anzutreffen?“
Varnhagen von Ense ist unstreitig einer der liebenswürdigsten Greise, der mit der Reinheit seines literarischen Ruhmes sich auch im Sturm der Zeiten jene freundliche Eleganz bewahrt hat, die immer mehr und mehr unserer Generation entschwindet und mir immer den Ausspruch eines anderen Nestors der Wissenschaft zurückruft, wonach die Feinheit und Grazie des Benehmens mit der allgemein werdenden Sitte des Cigarrenrauchens untergegangen ist. Die gewinnende Liebenswürdigkeit bleibt ein Verdienst der Erziehung des ancien régime und findet sich heute nur noch in wenig auserlesenen Cirkeln und Personen, gegen deren Weltton der unsrige wie ein unechter Goldflitterstaat erscheint. Aus dem Witz der Calembours ist der Kladderadatschton erstanden, aus der Geistreichigkeit der alten Zeit, welche noch die talons rouges abtreten sah, ist die haschende Pointenmanier geworden, wie denn überhaupt mit dem Umgestalten des socialen Lebens und dem Hinsterben der Salons der moderne gesellschaftliche Ton aller Reize verlustig gegangen ist und nur in den berüchtigten commerzienräthlichen Theesalons sein erkünsteltes Leben oft durch Trivialitäten erhält.
Ist es uns vergönnt, einer Celebrität der alten Salons zu begegnen und, wie bei Varnhagen, unmerklich in eins jener interessanten Geplauder zu gerathen, welches ein geistreicher Witz ohne Malice schärft und das wie ein klarer Bach über mancherlei Felder hinrollt, so denken wir ganz unwillkürlich daran, ob auch wir wohl dereinst so angenehme Greise werden könnten, abgesehen davon, ob der Himmel uns überhaupt mit einem so langen Leben und mit dem schönen Unglück des Ruhmes beschenken wird. Niemand mehr, als der greise, stets freundliche, elegante und fein diplomatische Varnhagen, ruft uns heute jene Zeit der Salonblüthe zurück und speciell die Epoche, in welcher Berlin sich zur nordischen Metropole der Intelligenz machte, die es in etwas anmaßlicher Einbildung noch heutigen Tages zu sein glaubt.
Karl August Varnhagen von Ense, geboren 1785, gehörte schon früh dem eigenthümlichen Kreise von Anschauungen und Bezügen, welche die gewaltige Uebergangsepoche der deutschen Nationalbildung machten, in unmittelbarem Zusammenwirken und als eins der wesentlichsten Glieder desselben an. Diese Uebergangsepoche im Anfange dieses Jahrhunderts bezeichnet sich mit den Ideen, welche einen Neubau der socialen Verhältnisse, eine Fortentwickelung der Religion und die Herstellung und Begründung einer befriedigendsten Periode des Völkerlebens im Auge haben: ein Echo der französischen Revolution und bedeutungsschwangerer Messianismus der Zukunft, der sich mit hochrothen Feuerzeichen an den Horizont der Zeit gemalt hat. Jenes Ziehen, Zucken und Wetterändern in Reflexion, Gesinnung und Gestaltung einer ganzen Menschheitsepoche, [574] jene bangen Wehen einer Uebergangsperiode hatten sich in Deutschland am mächtigsten in Rahel Levin abgedrückt, deren Salon, als der erste Berlins und gefeiertste in Deutschland, sonderbarer Weise mit der französischen Revolution sich öffnete und nach der Julirevolution mit den Augen der edlen und geistvollen Frau, die ihn so glänzend erhalten hat, schloß. In diesen Salon Rahel’s, welcher dem der Frau von Staël ebenbürtig an Bedeutsamkeit war, kam Varnhagen früh genug hinein, um nicht sowohl auf ihn die geselligen Einflüsse zu üben, die er seitdem bewahrt, als auch eine Liebe zu Rahel selber zu erwecken, die ihn anspornte, nach dem Besitz jenes hervorragenden Wesens zu ringen, den er auch im Jahre 1814 erreichte.
Außer dem Reiz der Liebe, der Varnhagen in dem Salon Rahel’s fesselte, vermochte er auch dort in das reichste Leben zu blicken, welches jemals sich in Hinsicht äußerer Verhältnisse und inneren Gehalts auf einen Punkt zusammengedrängt hatte. Prinz Louis Ferdinand von Preußen, dies Bild geistvoller Ritterlichkeit, belebte den Salon der mit ihm innig befreundeten Rahel und hatte dort seine reinsten Empfindungen, sein innigstes Streben und Denken genährt. Männer, wie der feine, lebensgenußsüchtige, diplomatische Gentz, Friedrich Schlegel und beide Humboldt waren diesem Kreise beeifert zugethan, der sich immer ergänzend und erneuernd, einen unendlich weiten Cirkel von berühmten Geistern umschloß, in dem sich fast alle hervorragenden Größen jener Zeit, Fürsten wie Diplomaten, Gelehrte, Künstler, Dichter und Schriftsteller bewegten: eine herrliche Bildergallerie von Männern und Frauen, durch welche Varnhagen unter lebensprühenden Erklärungen geleitet wurde und welche er in seinen später (1824–30) erschienenen „Biographischen Denkmalen“, in seinen „Denkwürdigkeiten“ (1837–42) und in der „Gallerie von Bildnissen in Rahel’s Umgang“, sowie in vielen meisterhaften Biographien gezeichnet hat.
Varnhagen’s Talent persönlicher Verbindungen und Anknüpfungen, welches ihn schon vor der Vermahlung mit Rahel mit fast allen literarischen und geistigen Strömungen seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in Berührung brachte, wurde denn auch die bestimmende Potenz für alle seine Leistungen. Von Natur aus mit einem feinen diplomatischen Charakter begünstigt, wie er selten deutschen Naturen eigen ist, neigte er, wie es damals eine Tugend des gebildeten Adels war, auch zur Literatur hin und debütirte als Lyriker durch Herausgabe des „Musenalmanachs“ (1804–6), in Verbindung mit Hitzig, Chamisso, Theremin und Anderen. Auch schrieb er um dieselbe Zeit, nach Goethe’s Prosa-Vorbild und in dem damals Mode gewordenen Wilhelm Meister-Ton, mit Wilhelm Neumann zusammen den Roman „Karl’s Versuche und Hindernisse“ (1808). Gleichzeitig mußten seine Verbindungen mit A. W. von Schlegel, mit Fichte, Schleiermacher, Wolf und Steffens eine heilsame Einwirkung auf ihn ausüben.
Die Laufbahn seines Lebens begann damit, daß er aus Haß gegen den französischen Kaiser und den Unterdrücker seines in Schmach daliegenden Deutschlands, im Jahre 1809 als österreichischer Officier den österreichischen Feldzug gegen Napoleon mitmachte, 1813 aber als russischer Hauptmann der Adjutant Tettenborn’s wurde, dessen Freundschaft für ihn ihm wieder einen neuen Kreis glänzender Bekanntschaften eröffnete. Mitten in diesen Kriegsereignissen, welche die deutsche Nation mit so großer Liebe und so unendlichen Opfern führte, begann Varnhagen sein diplomatisches Talent durch die „Geschichte der Hamburger Ereignisse“ (1813) und die „Geschichte der Kriegszüge Tettenborn’s“ (1814) geltend zu machen. Vom Fürsten Metternich begünstigt, der ihn zur Anstellung im preußischen Staatsdienst empfahl, ging er, kurz nach seiner Vermählung mit Rahel, 1814 in Begleitung des Fürsten Hardenberg zum Congresse nach Wien, der bekanntlich tanzte, aber nicht ging – le congrès danse bien, mais il ne marche pas!
Varnhagen von Ense benutzte später besonders seine Stellung als Ministerresident in Carlsruhe, welches gewissermaßen eben so wie das nahe Baden-Baden noch einmal einen glänzenden Hof aller damaligen diplomatischen und militairischen Größen abhielt, um der deutschen Diplomatie eine eben so nationale, wie liberale Richtung zu geben. Natürlich mußten dergleichen Bestrebungen mit dem immer fester und ausgedehnter sich bildenden Regime der Reaction ihn in mannichfache Conflicte bringen; besonders da, trotz seiner diplomatischen Zurückhaltung, seine geheime Wirkung in der Presse zur Belebung und Erhebung des deutschen Nationalgefühls eine eben so bedeutende, als ungern gesehene war. So entsagte denn Varnhagen gern einem Staatsdienste, der seine Beamten zur Verleugnung der Grundsätze bewegen wollte, die einige Jahre vorher der Nation zum Mittel der Begeisterung für die Sache des Vaterlandes selber gelehrt worden waren, und für deren erhoffte und versprochene Ausführung das Volk seine gigantischen Kämpfe unternommen hatte. Im Jahre 1819 nahm Varnhagen als Geheimer Legationsrath seinen Abschied, um neue und glänzende Erfolge in der rein literarischen Laufbahn anzustreben, und im Verein mit seiner Gemahlin Rahel in seinem Salon in der Mauerstraße Berlins die Koryphäen der neuen Ideen und des jungen Deutschlands zu versammeln.
Das junge Deutschland bezeichnet recht eigentlich den Kreis, in welchem Varnhagen seine literarische Stellung nahm; Bettina von Arnim, Fürst Pückler-Muskau und Heinrich Heine hielten dort um ihn ihren Hof, dem sich manche französische Geister, wie der Marquis de Custine, Oelsner und andererseits Hegel und Gans verwandt fühlten. Varnhagen von Ense selber gewann nach mehreren Novellen, die er veröffentlichte und von denen die „deutschen Erzählungen“ (1815) am bekanntesten sind, eine dauernde Vorliebe für Biographien, deren Abfassung ihn denn auch zu dem größten und gefeiertsten Biographen Deutschlands gemacht hat. Eine große Gallerie von Bildnissen hat seine Feder der deutschen Nation gegeben, und sie ist stolz darauf; der alte Dörflinger, Blücher, Canitz, Zinzendorf; ferner die größeren Lebensbeschreibungen von Benjamin Erhard (1830), des Generals Seydlitz, Winterfeld, Grafen von Schwerin, Keith; der Königin Sophie Charlotte von Preußen, des Kriegsrath von Held, Karl Müller’s (1846) gehören zu den Meisterstücken der deutschen Literatur.
Eins der verdienstlichsten Werke, welches Varnhagen von Ense herausgab, und zwar zuerst als ein Andenken für Rahel’s Freunde, später auch für das größere Publicum, war der dreibändige Briefwechsel seiner Gattin, welche man die „Mutter des jungen Deutschlands“ und wohl mit Recht genannt hat. Unter dem Titel „Rahel, ein Buch des Andenkens für ihre Freunde“ (1833) erschien die von ihrem hinterbliebenen Gatten veranstaltete Sammlung der Briefe dieser großen, 1833 gestorbenen Frau, in denen sich der merkwürdigste Geistes- und Lebensverkehr entfaltet und der hohe, nach allem Edlen strebende und für alles Große schaffende Geist Rahel’s widerspiegelt. Dieser Briefwechsel Rahel’s mit den zahlreichen und bedeutenden Persönlichkeiten ihrer Zeit war ein herrliches Denkmal für die Verblichene, ein Arsenal ihrer kühnen und edlen Gedanken, ein Schatz, aus welchem manches Material einer großen und neuen Zukunft bereits entnommen ist. Auch ist die Theilnahme für dieses Buch, welches die tiefsten Blicke in einen genialen Frauencharakter werfen läßt, noch heute, nach fast einem Vierteljahrhundert, so groß, daß jährlich noch hundert bis hundertfünfzig Exemplare davon ihren Weg in’s Publicum finden.
Wohl ist der Gemahl dieses ausgezeichneten Weibes nach dem Tode desselben vereinsamter geworden; aber noch immer steht er mit einem ausgedehnten Geisterkreis in Verbindung, dem er still und wohlwollend seinen Rath und seine Erfahrungen mittheilt. Noch immer bewohnt der jetzt mit weißem Silberhaar bekränzte Greis jene Wohnung, in der einst er und Rahel so viele der größten Geister versammelten; es scheint, als habe die Pietät nichts in jener Wohnung verändert, so deutlich sieht man die Zeichen von Rahel’s Wirksamkeit noch in den traulich möblirten Zimmern. Beim Eintritt in die Wohnung empfängt den Besucher ein hohes Bibliothekzimmer, dessen Bücher, meist in altem Einband, bis in die Mitte des Gemaches im Regal reichen. In den anstoßenden Wohnzimmern, welche jetzt außer dem alten Herrn seine Nichte und eine alte Hausfrau inne haben, sieht man noch Manches, von dem Rahel in ihren Briefen spricht, die Bilder Goethe’s, Rahel’s und anderer Personen ihrer Zeit; dann die Bücher der jungen Generation in Maroquin und Goldschnitt, sorgsam auf einer Commode und an dem Bücherregal der Wand aufgestellt, die Zeichen der Verehrung, welche der berühmte Biograph täglich noch von den jüngeren Dichtern und Schriftstellern erhält. Seitwärts vom Bibliothekzimmer ist das Arbeitscabinet Varnhagens mit großen Bücherspinden, einem kleinen Schreibpult und Spinden, in denen, sorgsam in Cartons gepackt, manche Schrift von persönlichem Interesse, manche noch ungedruckte Manuscripte, Memoiren und Briefe ruhen, [575] in deren Mitte sich der stets kränkelnde, aber geistig frische Greis, noch immer schaffend und thätig, wie in der altgewohnten Gesellschaft fühlt, deren Mitglieder längst gestorben sind oder, zerstreut in der Welt, nur ihre Briefe an den langjährigen Freund senden. In diesem traulichen Zimmer empfängt Varnhagen seine Besuche, und gewiß sind es für Jeden die genußreichsten Augenblicke, die er in der Gesellschaft dieses stets wohlwollenden, freundlichen und feinwitzigen Greises verlebt, der mit seinem treuherzigen Auge und gütigen Antlitze, dem noch der diplomatisch schalkhafte Zug um den Mund eigen ist, und durch seine Liebenswürdigkeit immer wieder von Neuem seine Besucher in Entzücken versetzt.
Wie gesagt, arbeitet Varnhagen, dessen feine und schöne Schriftzüge merkwürdig sind, unausgesetzt an Biographien und Memoiren, die wohl erst nach seinem Tode im Druck erscheinen dürften. Seit dem Jahre 1848, wo von ihm eine Flugschrift unter dem Titel: „Schlichter Vortrag an die Deutschen über die Aufgabe des Tags“ anonym erschien, ist er literarisch gänzlich verstummt. Aber aus den zahlreichen Widmungen, die er von Dichtern und Schriftstellern erhält; aus den Zusendungen, die ihm täglich die neue Literatur macht, und aus den Verbindungen, welche die bessern Geister mit ihm suchen oder unterhalten, erhellt die Bedeutsamkeit eines Mannes, der auch groß ist, wenn er schweigt, und der außer einem beneidenswerthen, keuschen Ruhm das seltene Glück besitzt, von Jedem auch geliebt zu sein.
Eine der wichtigsten und bestorganisirten heimlichen Verbindungen in Indien, deren religiöser Cultus in Gräuelthaten besteht, ist die der Thugs oder Würger. Ihr Ursprung reicht in das graueste Alterthum hinauf und sie erklären ihn selbst durch mythologische Legenden. Ohne uns in das endlose Gebiet der indischen Götterlehre zu verlieren, erinnern wir zum Verständniß des Folgenden nur daran, daß nach dem ursprünglich naturphilosophischen Systeme derselben das Urwesen Brahm sich als Dreieinigkeit, Brahma, Wischnu und Schiwa offenbart, nämlich als schaffender, erhaltender und zerstörender Geist. Weil es aber keine absolute Vernichtung gibt, sondern aus jeder Zerstörung sofort wieder ein Neues ersteht, so geht Schiwa, der Zerstörer, unmittelbar wieder in Brahma, den Schöpfer, über und die Drei sind Eins, untrennbar, gleich groß, gleich heilig. Die Zerstörung, mit allen Kräften und Erscheinungen, die ihr dienen, ist daher nicht minder göttlich und nothwendig, als die Schöpfung oder die Erhaltung, und Schiwa, weit entfernt zur Stellung unseres armen Teufels degradirt zu sein, wird vielmehr von seinen Anhängern als der größte und wichtigste Gott der Dreieinigkeit gepriesen; denn obwohl diese eigentlich untrennbar ist, hat doch jede Person derselben ihre besonderen Secten und Anhänger und ihren gesonderten Gottesdienst. Endlich fügen wir noch hinzu, daß jedem dieser drei Götter auch seine weibliche, reproducirende Kraft als Göttin beigegeben ist.
Gleich zu Anfang der Welt nun, erzählen die Thugs, errichtete die Göttin Kali oder Bhawani – das weibliche Princip Schiwa’s, des Zerstörers – den großen Geheimbund der Thugs, um sie in ihrem Kampfe gegen das schöpferische Princip zu unterstützen, und offenbarte ihm zu diesem Zwecke die Kunst des Erwürgens. Ihre Wohlthaten beschränkten sich indessen nicht hierauf, sondern sie fuhr fort, ihren Gläubigen unablässige Beweise ihres Schutzes zu geben, indem sie stets alle Spuren ihrer Unthaten vertilgte. Allein auch die Thugs erlagen der Versuchung der Neugier: gegen das strenge Verbot belauschten sie eines Tages die Göttin, wie sie auf die Erde niederstieg und die Leichname ihrer Opfer verschwinden machte. Diese Vermessenheit blieb nicht unbestraft. Seit jener Stunde mußten die Thugs selbst die materiellen Beweise ihrer Thaten dem verschwiegenen Busen der Erde übergeben, ohne daß jedoch die Göttin Kali ihnen gänzlich ihren Schutz entzogen, und aufgehört hatte, über das Gelingen ihrer Unternehmungen zu wachen.
Die abergläubigen Gebräuche, mit denen die Thugs alle Handlungen ihres Mordgewerks umgeben, haben die größte Verwandtschaft mit den Ceremonien der brahmanischen Religion, in der ja auch ihre eigene Secte wurzelt. Die Aufnahme eines neuen Jüngers der Göttin Bhawani erfolgt stets unter großen Feierlichkeiten. Nach der Ceremonie des sündenreinigenden Bades wird der neu in Weiß gekleidete Novize den in einem Saale versammelten Mitgliedern des Bundes vorgestellt. Erhebt Keiner Widerspruch gegen seine Zulassung, so begeben sich nun Alle an einen nahegelegenen heiligen Ort. Hier, unter freiem Himmel, ruft der Guru, das geistliche Oberhaupt der Bande, die Göttin an und fordert sie auf, durch irgend ein sicheres Zeichen kund zu geben, ob sie diesen Jünger annehmen und ihm ihren Schutz gewähren wolle. Im tiefsten Schweigen erwarten nun Alle den Beschluß der Gottheit; und nachdem sie durch das Bellen des Schakals, das Schreien eines Esels, das Vorbeifliegen einer Ente oder irgend ein anderes ebenso unzweideutiges Zeichen ihre Bestimmung ausgesprochen, kehren Alle wieder in das Haus zurück. Hier wird dem Novizen die eiserne Axt, das Symbol des Bundes, in die Hand gegeben, und er wiederholt einen feierlichen, furchtbaren Schwur, den ihm der Guru vorsagt. Endlich noch empfängt er aus den Händen des Priesters ein durch Gebete geheiligtes Stück Zucker – das Symbol des Glückes – und die Ceremonie der Aufnahme ist beendet. Der Jünger gehört hinfort dem geheimen Bunde der Thugs an und sein Leben ist dem Dienste der blutigen Bhawani geweiht. Sich die Gunst und die Zufriedenheit ihrer furchtbaren Beschützerin zu erhalten, bildet die einzige Sorge, die lebenslange Aufgabe der Thugs, die unberührt von den leisesten Zweifeln ihr ganzes mörderisches Treiben nur als frommen Gottesdienst betrachten; denn wie Andere dem Brahma und dem Wischnu dienen, den Gottheiten des Schaffens und des Erhaltens, so ist der Thug ein Priester der Gottheit des Zerstörens, des großen Schiwa und seiner Bhawani, und der Mord, das Zerstören des Lebens ist ihm heiligste Pflicht. Man begreift nun, wie auf Grund dieser eigenthümlichen religiösen Anschauung nicht nur jene Mörder sich selbst für durchaus gottgefällig erachten können, sondern auch von den Anhängern des Brahma und des Wischnu, sowie von den übrigen Schiwaiten – denn Schiwa ist nicht allein nur Zerstörer, sondern hat auch Anbeter und Secten seiner andern Eigenschaften – in ihrer Weise für berechtigt gehalten, trotzdem aber doch verfolgt werden, und zwar nicht etwa aus dem niedern Beweggrunde der öffentlichen Sicherheit, sondern aus höherer Pflicht; denn Schaffen und Erhalten, mit einander im Frieden, stehen im ewigen Kampfe mit dem Zerstören, und dieser Naturproceß wird von den menschlichen Dienern der verschiedenen Principien mit religiösem Bewußtsein fortgeführt.
Wollen die Thugs auf eine Unternehmung ausgehen, so ist es ihr Erstes, der Göttin ihre Anbetung darzubringen, die es selbst übernimmt, ihnen auf irgend eine Weise die Straße zu bezeichnen, die sie ziehen sollen. Jeder Mord findet unter gewissen Ceremonien zu Ehren der Schutzgottheit statt, und der Antheil derselben an der Beute wird mit religiöser Gewissenhaftigkeit den allein in die tiefern Geheimnisse ihres Cultus eingeweihten Priestern, den Chams, ausgeantwortet. Die übrigen Thugs theilen sich in Buthotes, in deren Händen das verhängnißvolle Seidentuch zum sichern Mordwerkzeug wird; in Lughas, die mit unglaublicher Geschicklichkeit die Leichen spurlos zu vergraben wissen, und in Suhthas, die von Allen die wichtigste Rolle in dieser furchtbaren geheimen Genossenschaft spielen. Das Verfahren der Thugs ist stets ein und dasselbe: sie gebrauchen nie offene Gewalt und vergießen nie Blut, sondern erwürgen ihre Opfer jederzeit mittelst eines ihnen über den Kopf geworfenen seidenen Tuches, in seltenen Fällen auch mittelst einer Schnur; jeder Mord wird lange und sicher vorbereitet; die Verstellung – wie das schon ihr Name andeutet, der von dem hindustanischen „thugna“, betrügen, abgeleitet ist – bildet ihre gefährlichste Waffe. Wehe dem Reisenden, der auf der Landstraße der freundlichen Annäherung und den einschmeichelnden Honigworten des Suhthas sein Ohr leiht! An einer entlegenen Stelle, die vielleicht schon manche Schauderthat [576] gesehen, wo die müden Wanderer im Schatten der breitlaubigen Bäume ausruhen oder bei hereinbrechender Nacht sich lagern, mitten im heitern Gespräch oder fröhlichen Gesang wird das Zeichen gegeben – und im nächsten Augenblicke schon liegen die Opfer der Eine mit dem Kopfe auf den Füßen des Andern, in der vorher bereiteten Grube. Mit einem spitzen Pfahle wird ihnen der Leib aufgestoßen, um jedes verrätherische Aufblähen der Erde zu verhüten; die Lughas füllen das Grab mit Sand, jede Spur desselben sorgsam verwischend, und die Rotte zerstreut sich, um später an einem verabredeten fernern Ort wieder zusammenzutreffen, wo sie der Bhawani ihre Dankgebete darbringen und den Raub theilen. Bleibt ihnen längere Zeit hindurch das Glück ungünstig, so zürnt die Göttin, und sie versöhnen dieselbe durch ein Opfer aus ihrer eigenen Mitte, das sich entweder selbst hierzu erbietet oder durch das Loos erwählt wird, sich aber bei der großen Lebensverachtung der Hindus nie gegen dies Schicksal sträubt. Nur bei diesen, selten nöthig erscheinenden Opfern, die an geweihten Stellen dargebracht werden, bedienen sich die Thugs des Schwertes. Nicht vergessen dürfen wir, daß es auch weibliche Thugs gibt, die theils selbst als Buthotes das Würgeramt übernehmen und zu diesem Zwecke durch Erweckung des Mitleids oder auf irgend eine andere Weise sich in das Vertrauen von Frauen einzuschleichen suchen, oder auch, wenn sie noch jung und schön sind, den männlichen Reisenden gegenüber als Suhthas die Rolle der Delilah spielen, während ihre Genossen, in der Nähe verborgen, ihres Zeichens zum Hervorbrechen harren,
Die politische Lage, in der sich Indien seit undenklichen Zeiten befunden, zerstückelt, wie es war, in kleine unabhängige und eifersüchtige Staaten, sowie besonders auch die Sitten und Gewohnheiten der Eingebornen leisteten der Ausbreitung wie der Sicherheit der Thugs allen Vorschub. Die wenigen großen Landstraßen und öffentlichen Transportmittel, welche Indien gegenwärtig besitzt, sind Werke der Engländer aus ganz neuer Zeit, und jetzt noch bestehen die meisten Communicationswege aus Pfaden, wie sie die Wanderer selbst durch Wald, Wüste und Gebirg gezogen haben. Der eingeborne Fußreisende läßt – mit Ausnahme etwa des Ladens, wo er den Reis für seine bescheidene Mahlzeit kauft – durchaus keine Spur hinter sich zurück, denn außer in den Städten, wo er ein Karavanserai aufsucht, bringt er auch die Nächte im Freien zu, und es ist daher nach seinem allenfallsigen Verschwinden ganz unmöglich zu entdecken, bis wannen er gekommen sein mag. Allein der arme Ryot ist meist eben so sicher vor den Thugs, als der mit großem Gefolge reisende Raja, denn sie versparen die ganzen Schätze ihrer Verstellungskunst und abgefeimtesten List mit besonderer Vorliebe auf die Träger, welche je nach den Bedürfnissen des Handels Diamanten, edle Metalle und feine Stoffe von einem Ende Indiens nach dem andern transportiren. Manche Häupter der Secte nehmen überdies eine sehr geachtete Stellung ein, die jeden Verdacht einer Betheiligung an Thaten von ihnen entfernt, deren Gewinn sie theilen. So stand – um nur ein Beispiel zu geben – an der Spitze einer Thugbande, welche vor etwa dreißig Jahren sich den District von Hingoly zum Felde ersehen, einer der reichsten Kaufleute des Landes, Namens Huori-Sing. Dieser bekam heimlich Nachricht, daß ein anderer Kaufmann des Districts eine bedeutende Auswahl seidener und wollener Stoffe von Bombay zurückbringen werde, und wirkte sich nun bei der Zollbehörde einen Erlaubnißschein zur Einführung eben dieser Waaren aus, deren Verzeichniß er genau anzugeben wußte. Mit diesem Documente versehen, ging er, von seinen Leuten gefolgt, dem Transport entgegen, tödtete den Eigenthümer wie seine Diener, und führte dann unter Autorisation des Zollscheines die geraubten Waaren als seine eigenen über die Grenze.
Was indessen noch weit mehr Staunen erwecken muß, als das ausgebreitete Zerstörungssystem, welches die Thugs wie ein Netz über das ganze ungeheuere Land gezogen haben, ist die allen früheren Regierungen zur Schande und Verurtheilung gereichende Thatsache, daß ihre Geschichtsurkunden des Thuggismus beinahe gar nicht erwähnen. Der erste Regent in Indien, der entschieden gegen die Thugs auftrat, war Akbar. Nach ihm überlieferten auch einige eingeborne Fürsten die Sectirer der Bhawani dem Tode, ohne sie jedoch entfernt so nachdrücklich und systematisch zu verfolgen, wie es zur Ausrottung einer so gewaltigen Verbindung nöthig gewesen wäre. Nur wer an Ort und Stelle selbst das undurchdringliche Geheimniß kennen gelernt hat, welches alle Details der innern socialen Organisation der Eingebornen umhüllt, wird begreiflich finden, wie es zugehen konnte, daß bereits fünfzig Jahre ununterbrochener Siege und Eroberungen die englische Herrschaft in Indien ausgebreitet hatten, ehe die Unthaten der Thugs zum ersten Male die Aufmerksamkeit der Regierung erweckten.
Um diese Zeit nämlich verschwanden mehrere eingeborne Soldaten, die sich mit ihren Ersparnissen auf Urlaub in ihre Heimath begeben hatten, und die angestellten Nachforschungen enthüllten endlich die Existenz dieser Mördersecte, ohne jedoch die ganze Ausdehnung des Uebels auch nur entfernt ahnen zu lassen, so daß während der ersten zwanzig Jahre nach ihrer Entdeckung die Thugs noch immer nicht Gegenstand einer speciellen Verfolgung waren. Mittlerweile fielen aber doch immer mehr dieser Anhänger der Bhawani in die Hände der englischen Behörden, und einige unter ihnen erkauften sich durch Geständnisse ihrer eignen Unthaten und Denunciation ihrer Verbündeten das Leben. In die erste Reihe dieser Letzteren gehört der Häuptling Feringhea, dessen Name in den Annalen des Verbrechens unsterblich zu sein verdient. Nachdem er an 719 Morden theilgenommen, sagte er mit einem von Bedauern getrübten Stolz zu dem englischen Richter: „Ah, Sahib, wenn ich nur nicht zwölf Jahre im Gefängniß verloren hätte, so würde ich unter dem Schutze der Bhawani wohl das Tausend voll gemacht haben!“
Diese ungeheuerlichen Geständnisse waren frei von aller Prahlerei, denn die unläugbarsten Thatsachen erwiesen ihre Wahrhaftigkeit. Wie von einer geheimnißvollen Macht genöthigt, öffnete sich unter den Schritten der geständigen Thugs die Erde, um die ihr anvertrauten Leichname auszuspeien. In allen Theilen Indiens, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten grub man nach den Angaben der Gefangenen die mit menschlichen Gebeinen angefüllten Bheels auf, sprechende Zeugen für die Missethaten und die Macht der Anhänger der Bhawani. Lord Bentink, der damals an der Spitze der indischen Regierung stand, erkannte schnell, daß die Wachsamkeit der gewöhnlichen Polizei der Ausrottung eines so weit verbreiteten und tief wurzelnden Uebels durchaus nicht gewachsen sei. Er errichtete daher eine Specialbehörde, aus intelligenten und thätigen Officieren zusammengesetzt, deren alleinige Aufgabe es sein sollte, die mörderische Secte ohne Rast und Schonung durch das ganze indische Gebiet zu verfolgen. Die vielfachen Verzweigungen des Bundes und die größere Anzahl von Theilhabern an jedem Verbrechen erleichterten die Entdeckungen, nachdem man nur einmal in das Geheimniß eingedrungen war. Dies letztere gelang durch eine wohlberechnete Milde, welche dem Dienste der englischen Polizei viele zum Tode verurtheilte Thugs gewann, die in alle Kunstgriffe, Hülfsmittel und Thaten des Ordens eingeweiht waren, und durch deren Enthüllungen geleitet, die Maßregeln einen raschen, Erfolg versprechenden Fortgang nahmen. Nach sechs Jahren schon waren bereits 3266 Thugs den Händen der Justiz überliefert, wozu noch eine unbestimmbare Zahl Solcher zu rechnen ist, die in entlegenern Gegenden theils von militairischen Behörden, theils von Stadt- und Bezirksmagistraten ohne lange Procedur gleich an Ort und Stelle hingerichtet wurden, wobei man sich nicht selten der gegen die jetzigen Meuterer ebenfalls in Anwendung gebrachten Methode bediente, die Verurtheilten in Mörser oder Kanonen zu laden – was zwar höchst barbarisch klingt und aussieht, genauer betrachtet aber für den Betroffenen doch nicht schlimmer ist, als irgend eine andere gewaltsame Todesart. Die geschickten und kräftigen Maßregeln des Lord Bentink wurden auch von den nachfolgenden Generalgouverneuren fortgesetzt, und gegenwärtig kann man den Thuggismus als so ziemlich unterdrückt, wenn auch keineswegs schon als ausgerottet betrachten, denn einzelne Vorkommnisse in allen Theilen des Landes beweisen, daß die Göttin Bhawani noch immer Verehrer besitzt, und in gewissen Gegenden besteht die Secte unter Schutz und Mitbetheiligung der eingebornen Ortsvorstände beinahe noch in unverminderter Stärke.
Oberst Sleeman, der mit so unermüdeter Energie die gegen die Würger Indiens errichtete Specialcommission leitete, hat aus dem Munde eines Mitwirkenden den Bericht über eine charakteristische Scene des Thuggismus aufbewahrt, die wir, ohne sie ihrer orientalischen Form zu entkleiden, zum Schlusse hier mittheilen:
„Ein mongolischer Aga von edlem Ansehen und schöner Gestalt, der sich auf dem Wege aus dem Pendschab nach dem Königreiche [577] Oude befand, überschritt eines Morgens bei Mirut den Ganges, um die Straße nach Bareilly einzuschlagen. Er saß auf einem schönen turkomanischen Pferde, und war von seinem Tafeldiener und Stallknecht begleitet. Auf dem linken Ufer des Flusses traf der Aga eine Zahl anständig aussehender Männer, die desselben Weges zogen. Sie begrüßten ihn sehr demuthsvoll, und suchten ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen; allein der Mongole war auf seiner Hut gegen die Thugs und hieß die Wanderer, ihn allein reisen zu lassen. Die Fremden mühten sich, seinen Argwohn zu zerstreuen, allein vergebens. Die Nasensflügel des Mongolen blähten sich auf, seine Augen schleuderten Blitze, und mit donnernder Stimme befahl er ihnen, sich zu entfernen. Sie gehorchten.
Am nächsten Morgen überholte der Mongole auf seinem Wege eine gleiche Zahl Reisender; allein diese Männer hatten ein ganz anderes Aussehen, als jene des vorigen Tages: es waren lauter Muselmänner, die sich ihm höchst ehrerbietig nahten, von den Gefahren des Weges sprachen, und um die Gunst baten, sich unter seinen Schutz stellen zu dürfen. Der Aga that, als hörte er sie nicht, und gab ihnen keine Antwort; als aber nichts destoweniger die Reisenden sich an seine Schritte hefteten, da blähten sich auf’s Neue seine Nasenflügel, seine Augen schleuderten Blitze; er legte die Hand an seinen Säbel, und befahl ihnen mit donnernder Stimme, sich zu entfernen, wenn sie nicht wollten, daß ihre Köpfe von ihren Schultern flögen. Er war aber ein gar furchtbarer Reiter: auf dem Rücken trug er einen Bogen und einen Köcher voll Pfeile, im Gürtel hatte er ein Paar Pistolen, und an seiner Seite hing ein Säbel. So gehorchten ihm denn auch die armen Leute mit Zittern.
Am Abend machte eine andere Gesellschaft von Reisenden, die in demselben Karavanserai übernachteten, wie der Mongole, mit seinen beiden Dienern Bekanntschaft; und als er sie am andern Morgen auf dem Wege überholte, suchten diese Wanderer auch mit dem Herrn ein Gespräch anzuknüpfen. Aber trotz des Bittens seiner Diener blähten sich zum dritten Male die Nasenflügel des Mongolen, seine Augen schleuderten Blitze, und er befahl den Fremden gebieterisch, zurückzubleiben.
Als der Aga am dritten Tage in die Mitte einer wüsten Ebene kam, und seine Diener ihm in einiger Entfernung folgten, stieß er plötzlich auf sechs arme Muselmänner, die über den Leichnam eines ihrer Cameraden weinten, der soeben am Wege gestorben war. Es waren Soldaten aus Lahore, die von Lucknow kamen, um nach langer Abwesenheit ihre Frauen und Kinder zu besuchen. Ihr Camerad, die Freude und Hoffnung seiner Familie, war den Anstrengungen der weiten Reise erlegen, und sie hatten bereits ein Grab für ihn gegraben. Leider aber waren sie lauter ungelehrte Leute, und Keiner von ihnen vermochte die Gebete des Korans zu lesen; wenn daher der Aga dem Verstorbenen diese letzte Ehre erweisen wollte, würde ihm seine Barmherzigkeit gewiß in dieser wie in jener Welt nicht vergessen bleiben. Dieser Berufung an seine Frömmigkeit widerstand der Mongole nicht, sondern stieg sogleich vom Pferde. Der Leichnam ward in der durch den Koran vorgeschriebenen Weise, mit dem Kopfe nach Mekka zu, in die Grube gelegt. Ein Teppich wurde vor dem Aga ausgebreitet, und er legte zuerst seinen Köcher, dann seinen Säbel und seine Pistolen ab. Nachdem er sich entwaffnet hatte, wusch er sich das Gesicht, die Füße und die Hände, um seine Gebete nicht im Zustand der Unreinheit zu sprechen, und fing, indem er hinknieete, mit lauter Stimme die Todtengebete an. Zwei Gefährten des Verstorbenen knieeten neben dem Leichnam und beteten unter Schluchzen; die vier andern waren den beiden Dienern entgegen gegangen, um zu verhüten, daß ihr Herantreten den guten Samariter in seinem frommen Werke unterbreche. — Plötzlich auf ein Zeichen waren die Tücher geworfen, und nach wenigen Minuten lagen der Mongole mit seinen beiden Dienern in der offenen Grube; nach Thugsweise, der Kopf des obern Leichnams auf den Füßen den untern. Alle jene Reisenden, welche der Mongole auf seinem Wege getroffen, gehörten ein und derselben großen Thugbande von Oude an; und als sie gefunden hatten, daß sie vergeblich sein Vertrauen durch freundliche Reden zu gewinnen suchten, ersannen sie diese List, um ihn zu tödten und seiner Kostbarkeiten zu berauben. Der Mongole, ein stark, beleibter Mann, war auf der Stelle todt, seine Diener leisteten gar keinen Widerstand.
Stein- und Braunkohlen und Torf.
Der nach edeln und sogenannten unedeln Metallen – unter welchen letzteren doch das edelste von allen, das Eisen, mit begriffen wird – im Schooße der Erde wühlende Bergmann thut nicht etwas so Wichtiges, als derjenige, welcher zum Schutze unserer Wälder vorweltlichen Brennstoff zu Tage fördert.
Täglich werden größere Ansprüche an den Wald gestellt. Die mit jedem Jahre zunehmende Baulust, die immer neuen Eisenbahnlinien verschlingen in Besorgniß erregender Weise ungeheuere Massen von Holz. Und selbst wenn des Waldes ganze Bestimmung in dem Genügen dieser Anforderungen läge, selbst dann müßte man nun endlich daran denken, ihn zu schonen. Er hat aber noch eine viel höhere Bestimmung zu erfüllen: er hat uns die Bewohnbarkeit des heimischen Bodens zu bewahren. Leider denken nur Wenige ernstlich über diese Bedeutung des Waldes nach. Jeder aber, der dies that, aus Grund einer tieferen Kenntniß von den Bedingungen des Klimas eines Landes that, der muß nachgerade ein unheimlichen Grauen empfinden, wenn er jährlich die Ansprüche an den Wald sich mehren sieht. Er stimmt mir bei, wenn ich ein leichtsinniges Niederschlagen der Waldungen für ein gravamen de futuro, für das größte Verbrechen an unseren Nachkommen erkläre. Männer, wie Burgsdorf, Heinrich Cotta, Hartig haben glücklicherweise nicht umsonst gelebt und es ist so sehr zum Dogma eines weisen Staatshaushaltes geworden, der Zukunft Deutschlands Waldungen zu erhalten, daß wir in Beziehung auf die Staatsforsten wenigstens in Deutschland wohl ziemlich allgemein außer Sorge sein dürfen.
Es ist jetzt nicht meine Aufgabe, diese interessante, diese unbeschreiblich wichtige Bedeutung des Waldes näher eingehend zu besprechen; ich wollte nur durch diese wenigen Werte der Bedeutung des „vorweltlichen Brennstoffes“ eine anderweite Begründung geben.
Nichts weniger als ein Bewunderer des halsbrechenden Actienschwindels, dieser Sucht, das Geld zum Arbeiter zu machen und selbsteigenes Thun aus herzklopfendes Wagen zu beschränken, so bin ich doch in eifrigster Werthschätzung des Waldes von Herzen einverstanden mit den überall zu lesenden Anpreisungen von Actienunternehmungen auf Stein- und Braunkohlen! In solchen Action zu speculiren und damit das Nachgraben nach diesen wichtigen Schätzen zu befördern – das ist geradezu ein großes Verdienst, und Derjenige, der sich dabei verspeculirt, ist der einzige Aetienspeculant, den ich bedaure, denn er erscheint mir als Märtyrer im Dienste der kommenden Geschlechter.
Diese Kohlensucherei, der man wünschen möchte, daß die Wünschelruthe eine Wahrheit wäre, hat aller Orten den Mangel an Wissen über ihr Vorkommen fühlbar gemacht. Sachverständige sind mit einem Male aus „gemiedenen Stockgelehrten“ zu gesuchten Rathgebern geworden. Solcherlei Fragegesuchen begegnet für das Königreich Sachsen, wenn dieselben sie nicht geradezu hervorgerufen haben, die eben bei Engelhardt in Freiberg erschienene „Kohlenkarte, aus welcher die Verbreitungsgebiete der Kohlenformationen im Königreich Sachsen dargestellt sind. Herausgegeben von B. Cotta,“ dem Sohne des großen Forstmannes.
Auf Grund dieser Karte und des dazu gehörenden Heftes: Erläuterung zu der Kohlenkarte von Sachsen ist es nun leichter als bisher, sich über Graben oder Nichtgraben, „Zeichnen oder Nichtzeichnen“ zu entscheiden. Gewißheit, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit sind die drei, durch Schwarzbraun, Schwarz und Rosenroth ausgedrückten, Farben der Karte hinsichtlich der Steinkohlen, während für die Braunkohlensuchenden die Gewißheit durch Dunkel- und die Hoffnung durch Hellbraun ausgedrückt wird und [578] das Rosenroth (eine hohnneckende Anwendung dieser Farbe der Liebe!) auch für sie Hoffnungslosigkeit ausspricht.
Ueberschaut man die Karte, welche das Ergebniß der genauesten geognostischen Kenntniß Sachsens, aber leider kein Meisterstück des lithographischen Farbendrucks ist, so sieht es für die Kohlensuchenden vorwaltend rosig d. h. trost- und hoffnungslos aus. Doch dürfen sich die unermüdlichen Speculanten am Weiß einigermaßen trösten, von welchem die Farbenscala sagt: „zweifelhaftes Gebiet, in welchem möglicherweise Braun- oder Steinkohlen gefunden werden können, in welchem aber kein bestimmter Grund vorliegt, danach zu suchen.“
Ob sich wohl die Actienindustrie durch diese letzten Worte immer wird abhalten lassen, doch zu suchen? Nun, wenn auch wahrscheinlich keine Steinkohlen, so könnten sich doch hier und da vielleicht Braunkohlen finden.
Im Süden des Königreichs ist gar nichts zu hoffen, denn da ist die Braunkohlenfärbung bereits jenseits der Landesgrenze in Böhmen. Es wäre daher der sehr dankenswerthen Karte sehr zu wünschen, daß die Landesgrenzen darauf angegeben wären, damit es nicht etwa Einem, der in derlei Unternehmungen stärker ist als in geographicis, widerfahre, auf ein böhmisches Braunkohlenfeld, die gleich jenseits der Grenze sehr umfänglich sind, ein Actienausschreiben zu machen.
Die Kohlenkarte weist drei große und einige kleine Steinkohlenbecken nach. Das größte von jenen ist das Zwickauer, welches sich nordwestlich breit in das Altenburgische hineinerstreckt und östlich in einem nordwärts gekrümmten Bogen über Chemnitz und Frankenberg bis über Hainichen hinausgeht, wo Steinkohlenwerke im Betriebe sind. Das zweite größere Becken ist das Potschappeler oder das des Plauenschen Grundes. In beiden wird bekanntlich Steinkohle in größtem Maßstabe gefördert. Das dritte blos schwarz gefärbte Becken, wo also Steinkohlen „mit einiger Wahrscheinlichkeit nachzusuchen sind“, liegt um die Stadt Mügeln herum, zwischen Leisnig und Oschatz. Zwei kleine schwarze Stellen finden sich bei Geithain und Kohren, und vier dicht an der böhmischen Grenze bei Olbernhau und Geising.
Das Braunkohlengebiet haben wir mehr in den nördlichen Landestheilen zu suchen, in den Niederungen der Elbe, der Mulde, der Elster und der Pleiße, wo auch an vielen Orten Braunkohlengruben im Gange sind. Dasselbe gilt von der Oberlausitz, wo namentlich bei Zittau eine große Braunkohlenausbeutung stattfindet.
So hätten wir denn für Sachsen eine maßgebende Anleitung für Kohlensucher. Möge in anderen Ländern bald Nachfolge erstehen.
Wie die Vertheilung der Steinkohlenformation in ganz Deutschland sich zeige, soll in einem zweiten Artikel mitgetheilt werden, welchem sich dann noch einige weitere anreihen sollen über die Steinkohlenformation im Allgemeinen, über das Vorkommen der Steinkohlen, über ihre Entstehung und über ihre Gewinnung. Mit der Braunkohlenformation, die einer viel neueren Epoche angehört, und mit der Torfbildung soll dann der Kreis der vorweltlichen Brennstoffe geschlossen werden. Wir hoffen dadurch vielen unserer Leser einen nicht unnützlichen Dienst zu erweisen, wenigstens scheint es ganz angemessen, daß diese wichtige Tagesfrage, ja eine Lebensfrage unserer Zukunft, in der Gartenlaube einmal mit einiger Ausführlichkeit behandelt werde.
Die Länder an der Mündung des größten deutschen Stromes haben eine so hohe commercielle und strategische Wichtigkeit, daß die europäische Politik sie nicht aus den Augen verlieren kann und Deutschland ein besonderes Interesse an der Entwickelung der gegenwärtig darüber schwebenden Streitfragen nehmen muß. Werden die Donaufürstenthümer einer neuen, von der Pforte unabhängigen Herrschaft unterworfen, so gerathen wir in die Gefahr, daß uns die Schifffahrt in’s schwarze Meer wieder verlegt und unsern Waaren der Absatz in diesen Provinzen selbst wie durch dieselben weiter in die Länder des Orients behindert wird. Die Pforte aber erleidet den Nachtheil, daß die Kraft ihrer Vertheidigungslinie an der Donau eine wesentliche Schwächung erfährt. Widdin befand sich beim Ausbruch des letzten Krieges in so wenig haltbarem Zustande, daß ohne die auf walachischem Boden bei Kalafat errichteten Erdwerke die Eroberung dieser Festung den Russen möglich geworden und damit eine Straße nach Constantinopel eröffnet worden wäre, auf der sie europäischen Hülfstruppen der Pforte nicht sobald begegnet sein würden. Ein künftiger Fürst der Walachei und Moldau würde den türkischen Festungen gegenüber andere erbauen und damit dem Angriff auf erstere, wenn dieser von einer großen europäischen Macht unternommen werden sollte, einen festen Stützpunkt bieten. Der politischen und religiösen Aufregung in den türkischen Ländern jenseits der Donau wäre alsdann weit leichter Nahrung zu geben und die Zertrümmerung der Pforte dadurch zu bewerkstelligen.
Man darf sich nach solchen Betrachtungen nicht wundern, daß der Streit über die Zukunft dieser Länder zu einem schweren Gewitter geworden ist, welches nicht weichen und wanken will. Es entladet sich zwar nicht, doch gucken fortwährend drohende Blitze aus dem Schooß der finstern Wolken und die Besorgniß, welche sie erregen, hat sich an allen europäischen Börsen zu erkennen gegeben. Seit England seine ganze Aufmerksamkeit und Kraft nach Indien richten muß, und die Pforte durch die drohende Haltung von vier Mächten, die an den Pariser Verträgen betheiligt sind, eingeschüchtert worden ist, blieb Oesterreich zur Wahrnehmung der eigenen, der deutschen und europäischen Interessen allein auf dem Kampfplatz, und sein ruhiger, aber entschlossener Widerstand führte zu einer solchen Spannung zwischen Wien und Paris, daß die Zukunft um so bedrohlicher erschien, je größere Fortschritte die Annäherung zwischen Frankreich und Rußland machte.
Diese bedenkliche Erscheinung hat jedoch eine sehr glückliche Wirkung in Deutschland hervorgebracht. Die Verstimmung zwischen den Regierungen, die Verschiedenheit der Auffassung der politischen Lage, die nebenbuhlerische Eifersucht der beiden deutschen Großmächte sind plötzlich dem Bedürfniß eines einträchtigen Verhaltens gewichen. Gleichzeitig haben sich alle politischen Parteien Deutschlands in der Ueberzeugung zusammen gefunden, französische Ein- und Uebergriffe entschieden zurückzuweisen. Den politischen Gedanken Frankreichs im Orient erkennt man nicht mit völliger Deutlichkeit. Anscheinend liegt darin nur ein Zurückweichen von allen Grundsätzen, welche beim Ausbruch des orientalischen Krieges verkündet und durch denselben zur Geltung gebracht wurden. Durch eine Wiedereinsetzung Rußlands in den früheren Stand sollte, so nimmt man an, diese Macht zur Unterstützung der anderweitigen Pläne Frankreichs bewogen werden. Alles, was an der Oberfläche der Gegenwart erscheint, sind nur vereinzelte Bewegungen einer complicirten Maschine: der Gedanke des dritten Napoleons besteht aber unstreitig in dem Bestreben, Frankreich aus einer Continentalmacht zu einer Weltmacht zu erheben. Die Umstände begünstigen das Vorhaben des Kaisers. Die Gelegenheit zu kriegerischem Ruhm, zu Erhöhung von Macht und Einfluß eröffneten ihm die Mißgriffe des Kaisers Nikolaus. Die jetzige Schwächung Englands erleichtert das Fortschreiten zu großen Zielen. Wie in Vorausberechnung solcher Ereignisse sind in Frankreich ungeheuere Anstrengungen gemacht worden, die Seemacht auf gleiche Höhe mit der Englands zu bringen. Bereits ist es dahin gekommen, daß die englische Regierung, so ungemein dringend schleunige Hülfe in Indien nöthig war, doch nicht wagte, ihre Dampfflotte zum Transport der Truppen zu verwenden, um die Küsten des eigenen Landes nicht zu entblößen. Sollten erschütternde Schicksalsschläge Englands Kraft lähmen, so könnte sie auch zur See von Frankreich überflügelt werden. Welche Erfolge stehen aber einer Regierung in Aussicht, die mit großen maritimen Hülfsmitteln eine gewaltige Landmacht verbindet und diese beiden [579] Kräfte mit einheitlichem, unbeschranktem Willen lenkt! Seit der Ruf in den Vereinigten Staaten: Amerika nur für die Amerikaner! erklungen ist, wird Asien um so mehr das Object der europäischen Politik, und Frankreich sieht sich dort um, die Ausgangspunkte für großartige Unternehmungen zu wählen. Seine Mitbewerbung in diesem Welttheile könnte für Rußland leicht gefährlicher werden, als die Englands, welche jetzt so tief erschüttert worden ist.
Man kann der russischen Politik einen großen Scharfblick, der schon bei den ersten Anfängen der Begebenheiten die Entwickelung der Folgen durchdringt, nicht absprechen. Welche Befriedigung auch dem offen zur Schau getragenen Hasse gegen England die schweren Unfälle dieses Reichs gewährt haben mögen, so wünscht man in Petersburg doch nicht, daß diese Verlegenheit zur Erhöhung des ruhm- und thatendurstigen französischen Imperialismus dienen soll. Nicht nur hat sich die Empfindlichkeit gegen England gemildert, es ist auch die Nothwendigkeit einer Aussöhnung mit Oesterreich erkannt und schon seit den letzten Tagen des Augusts, an einer persönlichen Zusammenkunft der beiden Kaiser gearbeitet worden. Diesen Absichten haben Preußen und andere deutsche Regierungen ihre kräftige Unterstützung geliehen, sobald die Sprache Frankreichs einen beleidigenden Uebermuth verrieth. Die Erinnerungen an Tilsit, die verletzenden Aeußerungen über die edle Fürstin, deren Andenken in allen deutschen Herzen ein Ehrentempel errichtet worden ist, hat nicht nur in Preußen, nein in ganz Deutschland die Gefühle widerwärtig berührt. Mit schnöder Verachtung Deutschlands wurde in Paris verkündet, daß die Monarchen von Frankreich und Rußland auf deutschem Boden zusammentreffen würden, um sich über die Zukunft Europas zu verständigen. Der kleine deutsche Michel solle nur artig und still sitzen, er werde nicht die Ruthe bekommen, vielmehr solle ihm etwas Zuckerwerk in die Taschen gesteckt werden. Während man eine so freche Sprache führte, hatte man in Paris noch keine Ahnung davon, daß der Zusammenkunft in Stuttgart eine zweite in Weimar nachfolgen würde, welche der ersteren erbarmungslos alle Spitzen abbricht und sie zu einem bloßen Gepränge herabsetzt. Wie Thiers 1840 ganz gegen seinen Willen einen patriotischen Aufschwung in Deutschland hervorrief, so hat uns jetzt der Kaiser der Franzosen zu der lange und schmerzlich vermißten einträchtigen Gesinnung und zu einer allgemeinen Manifestation des Willens verholfen, die Suprematie Frankreichs nicht zu dulden, ohne darum die Rußlands herzustellen. Letztere Macht ist im Augenblick weniger zu fürchten. Die große Lehre hat man in Petersburg aus dem letzten Kriege mindestens gezogen: daß Rußland, bevor es die schlecht begründeten und nur auf Verblendung und einer energischen Persönlichkeit beruhenden Ansprüche thatsächlich behaupten kann, in der Civilisation und der Erschließung der Quellen des innern Wohlstandes noch beträchtliche Fortschritte machen müsse. Darin besteht die Hauptaufgabe der Regierung des zweiten Alexanders und sichtlich ist er entschlossen, sich der Lösung derselben zu widmen. Europa mindestens ist vor einer russischen Aggression zur Zeit sicher und hat sich vornehmlich vor einer französischen zu bewahren. Frankreich einzudämmen ist Deutschlands natürlicher Beruf und glücklicherweise sind wir uns desselben wieder einmal allseitig bewußt geworden. Wir haben nicht allein unsere Grenze zu hüten, sondern auch die beabsichtigten Einmischungen in unsere Angelegenheiten, namentlich bei unserem Streit mit Dänemark wegen der deutschen Herzogthümer dieses Staates, abzuweisen, und wir sind entschlossen, dies zu thun.
Diese politische Digression war nöthig, um die Vorgänge an der untern Donau und in Constantinopel, so wie die Wandlungen der orientalischen Politik zu verstehen. Revenons maintenant à nos moutons. Es läßt sich nicht bestreiten, daß der Kaimakam der Moldau auf den Ausfall der ersten Divanswahlen einen beträchtlichen Einfluß geübt hat. Da es ihm jedoch an materiellen Mitteln, dies zu bewirken, fast gänzlich fehlte; da er vielmehr eine entgegengesetzte Agitation zu bekämpfen hatte und den feindseligen Blicken der Bevollmächtigten von vier Staaten dabei beständig ausgesetzt war, so beweist sein Erfolg nur, daß die Wähler eben keine eigene Ueberzeugung hatten. Diese Wahlen sind bekanntlich annullirt und unter dem überwiegenden Einflusse von Frankreich und Rußland andere zu Stande gebracht worden, welche das gerade entgegengesetzte Ergebniß lieferten, so daß gegenwärtig von 96 Abgeordneten zum moldauischen Divan 80 für die Union der Fürstenthümer zu stimmen bereit sind. Darin ist aber eben so wenig die unabhängige Stimme des Landes zu erblicken. Die jetzige Majorität ist nicht minder eine gemachte, als die frühere, und damit nichts weiter bewiesen, als daß die öffentliche Meinung in der Moldau einem Strumpfe gleicht, den man eben so gut auf den rechten, wie auf den linken Fuß anziehen kann. Es fehlt dem Lande an politischer Bildung und Einsicht, an Ueberzeugung und selbstbewußter Kraft. Die Zukunft eines solchen Volkes voraus bestimmen zu wollen, ist unmöglich. Frankreich glaubte nach diesem Ausfall der Wahlen am Ziel seiner Wünsche zu sein, zumal England seinen Einspruch gegen die Union demüthig aufgibt. Dieser Ausgang der Sache ist aber plötzlich wieder sehr unsicher geworden. Die Pforte weigert sich, diese Frage in den Divans überhaupt discutiren zu lassen; sehr beachtenswerthe Stimmen aus Preußen versichern, daß eine Umgestaltung der Politik in dieser Frage eingetreten und an die Verwirklichung der Union gar nicht mehr zu denken sei, und sogar Rußland scheint nicht mehr darauf bestehen zu wollen – was freilich zu erwarten bleibt. Alles, was zur dauernden Wohlfahrt dieser Länder erforderlich ist, soll ihnen zugestanden werden, die Personalunion unter einem ausländischen Fürsten und die Lösung des Bandes, welches diese Länder mit der Pforte verknüpft, soll dagegen ausgeschlossen bleiben. Das Berliner Witzblatt, Kladderadatsch, traf den Nagel auf den Kopf, wenn es zu der Nachricht, die Wahlen in der Moldau seien im Sinne der Union ausgefallen, die Bemerkung machte: Sinn läge in dieser Sache gar nicht und ganz Deutschland sei in der Meinung von jeher einig gewesen, daß die Union nur Unsinn sei.
Um zu begreifen, wie so gerade entgegengesetzte Resultate aus dem Wahlact in der Moldau binnen der kürzesten Frist hervorgehen konnten, ist es nöthig, die Elemente genau zu betrachten, aus denen die Wähler bestehen. Am maßgebendsten hierbei sind unstreitig die größeren Grundbesitzer, in deren Händen nicht blos der Boden und dessen Grundholde, sondern auch die bürgerliche Verwaltung und die Rechtspflege liegen, und die Skizze, welche der österreichische Officier, von dessen persönlichen Wahrnehmungen in diesen Ländern wir schon früher einige Mittheilungen brachten, darüber liefert, gewährt ein so naturgetreues Bild, daß wir uns nicht enthalten können, dasselbe unseren Lesern vorzuführen.
Es mag eine Folge des langen Zusammenhanges mit der Pforte sein, daß in den Donaufürstenthümern so wenig als in der Türkei ein Erbadel besteht. Bojar (spr. Bojär), von dem slavischen Worte boj, Kampf, abgeleitet) war wchl in alten Zeiten die Bezeichnung des Kriegerstandes, doch knüpft sich dieser Begriff schon lange nicht mehr an das Wort, das jetzt vielmehr so viel als Herr oder Edelherr bedeutet. Die Bojarenwürde ist, wie ehemals bei den Franken und Angelsachsen, ein Dienstadel, der nur durch den Eintritt in den Staatsdienst – sei es im Militär, der Verwaltung oder Rechtspflege – gewonnen werden kann. Diesen lebenslänglichen Adel kann mithin Jeder erwerben, der Talente, Vermögen oder Gunst besitzt, doch sind die Wege dazu für den größeren Grundbesitzer am meisten gebahnt, und der reiche, in höheren Würden stehende Vater weiß schon seinen Söhnen und Verwandten die Thore zum Tempel der Ehre zu öffnen, so daß die Bojarenwürde in den Familien der großen Grundbesitzer, wenn nicht erblich, doch mindestens continuirlich ist. Obgleich also selbst der Sohn eines Fürsten nur als ein Bürgerlicher geboren wird, so ist doch schon bei seiner Wiege darauf zu rechnen, daß er nicht als ein solcher sterben werde. Die Rangstufen des Adels sind den Dienstwürden entsprechend, müssen aber noch besonders nach einer hohen Taxe erkauft werden. Die unterste Stufe betritt der Concipist, höher steht der Epistat (Vorsteher), dem der Serdar (Lieutenantsrang), Pacharnik (Hauptmannsrang), Aga (Majorsrang), Vornik (Oberstenrang), Vornikmare d. h. Großvornik (Generalsrang) aufsteigend folgt. Die höchste Spitze bildet der Logofetmare, ein Titel, den nur Minister oder mit ihnen in gleichem Range stehende Staatsmänner erhalten. Aus dem griechischen Worte Logothet (Rechnungsführer im byzantinischen Reiche, Kanzler) hat nämlich die walachische Zunge das Theta in F verschliffen.
Wer die Bojarenwürde erlangt hat, gehört der privilegirten Classe an, in deren Händen Macht, Einfluß, Reichthum und Grundbesitz ruhen. Die ganze ländliche Bevölkerung war ihr leibeigen, [580] doch hat Oesterreich, während es die Donaufürstenthümer besetzt hielt, dieses Joch gebrochen. Zu einem Grundbesitz ist aber der Bauer noch nicht gelangt; der Boden, den er bebaut, gehört seinem Herrn, dem er zu Frohnden und Abgaben verpflichtet ist. Der Grundherr hat um so größere Gewalt, als er zugleich Beamter ist. Der unangesessene Beamte mißbraucht aber seine Gewalt sogar noch ärger. Er ist schlecht besoldet, auf Sporteln und Nebenverdienste angewiesen, daher Erpressungen und Feilheit des Rechts an der Tagesordnung sind. Wo Vermögen der einzige Rechtstitel für Amt und Ehre ist, wird die Erwerbung von Kenntnissen nicht sehr gesucht werden, zumal wenn, wie in den Donaufürstenthümern, die Gelegenheit dazu so sparsam geboten, so schwer zu erlangen ist.
Der ärmere Bojar wohnt beständig auf seinem Dorfe und sein Gesichtskreis reicht nicht über die Grenze seines Gutes oder seines Bezirks hinaus; der wohlhabendere besitzt ein Haus in der nächsten Stadt, das er, auch wenn es mit Stroh gedeckt ist, sein Palais zu nennen beliebt; die reichen Familien sind in den beiden Hauptstädten angesessen, wohnen im Winter zu Bukarest oder Jassy und begeben sich gern auf Reisen. Paris namentlich ist das Mekka der reichen Bojaren, da aber ihre meist geringe Bildung sie aus den Salons der guten Gesellschaft ausschließt, so sind sie auch in der Fremde nur auf einander oder auf einen wenig rühmlichen Umgang angewiesen. Was sie dem armen Volke in der Heimath abgeschunden haben, verprassen sie in Frankreichs Hauptstadt, zerrütten ihre Gesundheit und ihr Vermögen und kehren mit ekelhaften Krankheiten und jenem Grade geselliger Tournure, wie sie die Bedienten französischer Häuser sich aneignen, an die Donau zurück. Man sieht es ihnen im Innern und Aeußern an, daß sie nur die Fetzen abendländischer Civilisation zusammengelesen haben, und bei dem Unebenmäßigen ihrer Einrichtung wird man unwillkürlich an die Zustände in Otaheiti erinnert. Der nackte Insulaner der Südsee ist zufrieden, wenn er ein europäisches Kleidungsstück erhascht, und so erscheint der Eine mit einem Hemde, der Andere mit ein Paar Hosen, der Dritte mit einem Frack u. s. w. bekleidet. Aehnlich betritt man in den Donauländern hier ein elendes Haus, worin man durch eine elegante Einrichtung überrascht wird; dort präsentirt sich das Aeußere eines Hauses recht einladend, im Innern wird man dagegen allen Comfort vermissen; genug, es sind überall die disjecta membra dessen, was in den höheren Kreisen anderer Länder vereint als Erfordernisse zu einem behaglichen Lebensgenuß gerechnet wird. Dieselbe Disharmonie ist auch bei den Equipagen zu sehen. Bald ziehen vier prächtige Pferde einen elenden Rumpelkasten, bald sind einem modischen Wagen erbärmliche Thiere vorgespannt, auf welche der Kutscher erbarmungswürdig lospeitscht. Die höheren geistigen Bedürfnisse gehen ganz leer aus. Bücher, zumal wissenschaftliche Werke, fehlen; den Künsten hat der Bojar noch keinen Geschmack abgewonnen; mit Gemälden, Statuen und ähnlichen Gegenständen umgibt er sich nicht. Musikalische Instrumente sind selten, und wo irgend ein altes Klapperbrett von Piano [581] zu finden ist, wird es schrecklich mißhandelt. Theater gibt es nur in Bukarest, Jassy und Galatz.
Der Bojar leidet daher viel lange Weile. Er liegt oder sitzt in seiner Veranda – einem bedeckten Gange mit vorspringendem Dache, der jedem Bojarenhause gemein ist – und spielt mit einer Schnur von Bernsteinperlen, die er gleich einem Rosenkranze gedankenlos durch seine Finger gleiten läßt. Diese elende Spielerei begleitet ihn beständig, um die Zeit auszufüllen, die nicht Reiten, Jagen, Besuche oder das Spiel in Anspruch nehmen, welches letztere ihm die leidenschaftlichste Aufregung gewährt. Jeder Ort, wo Bojaren, jung oder alt, zusammenkommen, gestaltet sich sogleich zu einem Homburg im Kleinen, was, mit dem sonstigen Luxus, unsägliches Wehe in die Familien bringt.
Mit diesem socialen Bilde schildern wir natürlich nur das Bojarenthum im Allgemeinen, und es versteht sich selbstredend, daß es ehrenvolle Ausnahmen von dieser Regel gibt. Namentlich unter den angesehensten Geschlechtern trifft man Häuser, in denen Reichthum mit vollendeter Bildung, edle Sitte sich mit feinem Geschmack verbindet und eine übereinstimmende Eleganz alle Sinne angenehm berührt. Auch darf es nicht unbemerkt bleiben, daß im Allgemeinen das weibliche Geschlecht höher steht. Von französischen Bonnen und deutschen Gouvernanten erzogen, ist der ohnehin lebhaftere Geist der Mädchen und Frauen noch mehr geweckt, mit mancherlei Wissen und Geschicklichkeiten bereichert und der Umgang mit ihnen daher ungleich interessanter. Die Rumänen sind, namentlich in den höhern Classen, ein schöner Menschenschlag, und unter den Mädchen und Frauen erblickt man die reizendsten Gestalten, wenngleich die Hautfarbe nicht die Weiße, wie in kälteren Klimaten hat. Ueppiges Haar, dunkle große Augen, ausdrucksvolle Züge zeichnen sie als vortheilhafte Erscheinungen aus, nur dauert ihre Jugendblüthe nicht lange, und zu einer Zeit, wo deutsche Frauen oft noch auf dem Höhepunkte entwickelter Schönheit stehen, sind die Rumäninnen verblüht, woran die Liederlichkeit der Männer viel Schuld haben soll.
Die höhere Bildungsstufe des weiblichen Geschlechts reicht oft freilich nicht darüber hinaus, was die Lectüre französischer Romane zu geben vermag, und fehlt in vielen Fällen gänzlich, so daß der Conversationsstoff auf Putz und Moden beschränkt ist. Den Vortheil genießen solche Alltagsgeschöpfe mindestens, daß sie auf dem Niveau ihrer Männer stehen und von der Rohheit derselben weniger schmerzlich berührt werden. Wo dagegen geistige Vorzüge eine Scheidewand zwischen den Gatten aufführen, ist das Schicksal der Bojarin häufig bemitleidenswerth. Sie hat die Begeisterung der Jugendliebe nicht kennen gelernt, da ein ungebildeter Mann ihr solche Gefühle nicht einzuflößen vermochte; das Herz der jungen Damen wird überdies bei Eheschließungen selten gefragt, und diese Angelegenheit vielmehr geschäftsmäßig und nach conventionellen Rücksichten betrieben. Sieht die junge Frau sich von ihrem Manne vernachlässigt, kann er ihr keine Achtung abgewinnen, und schweben ihrer Seele Vergleiche zwischen den phantastischen Gestalten ihrer [582] Romanliteratur und den höchst ordinären Erscheinungen der Wirklichkeit vor, so liegt ihr die Gefahr nahe, leicht auf Abwege zu gerathen. Begegnet ihr vereinsamtes Herz einem Manne, der die schlummernden Gefühle in feurige Wallung zu setzen weiß, so wird sie für ihn eine leichte Eroberung werden. Ein rein und edel gestaltetes Familienleben und eheliche Treue werden daher nicht häufig angetroffen. Mann und Frau üben dagegen oft wechselseitig eine große Nachsicht; jeder Theil geht seinen Weg, genirt den andern nicht, und ignorirt mit vornehmer Nonchalance Fehltritte, welche Ehre und Sitte bei allen höhern Naturen brandmarken. Wird dennoch der Druck des ehelichen Bandes empfunden, so ist dessen Lösung leicht. Die griechische Kirche erschwert Ehescheidungen und die Wiederverheirathung der Geschiedenen nicht, so daß oft die sonderbarsten Verwandtschaftsgrade, die wir mitunter skandalös nennen würden, entstehen. Geschiedene Frauen, deren Männer noch leben, werden nichts destoweniger Wittwen genannt, daher es nirgends so viele Wittwen, als in der Moldau und Walachei gibt.
Wir haben bereits erwähnt, wie mangelhaft der Geschmack, wie heterogen die Zusammenstellung von Luxusgegenständen sind, so daß ein Strohdach und Fenstervorhänge von seidenem Damast, ein Lehmestrich und eine Sammettapete in unmittelbarer Nachbarschaft getroffen werden. Dieselbe Erscheinung ist an dem Putze der Damen wahrzunehmen, welche die Landestracht gegen Pariser Moden vertauscht haben. Sieht man sie Morgens beim Einkauf auf dem Markt, Mittags bei Besuchen, Nachmittags auf der Promenade oder Abends in gesellschaftlichen Cirkeln: immer sind sie mit Ungeschmack behangen, und gefallen sich darin, die abendländischen Moden in aller Hinsicht zu übertreiben. Der kleine auf dem Hinterkopf ruhende Hut schrumpft zur Winzigkeit zusammen, und besteht aus einem bunten Gemisch von Blumen, Spitzen und Federn, woran nichts schön ist, als daß er das reiche, glänzend schwarze Haar unbehindert hervorquellen läßt. Trägt die Pariserin sechs Volants, so muß die Bojarin deren zehn haben; sind die Carreaux der seidenen Roben in Lyon eine Viertelelle breit, so müssen sie für die Donaufürstenthümer im doppelten Umfange gearbeitet werden; reichen die Bordüren der Unterröcke anderwärts bis über die Knöchel, so müssen sie hier bis über das Knie heraufgestickt sein: kurz, jede neue Pariser Mode wird an der untern Donau der Regel nach zur Carrikatur. Ebenso sieht eine Bojarin häufig dem Aushängekasten eines Juweliers ähnlich, so sehr ist sie mit Ohrgehängen, Hals- und Uhrketten, Brochen, Ringen, Armbändern und andern Schmucksachen überladen. Dieser Glanz endet aber auffallender Weise nicht selten in einer ganz vernachlässigten Chaussure, und mit Befremden sieht man beim Aussteigen der Damen aus dem Wagen niedergetretene Schuhe und zerrissene Strümpfe; ja es kommt vor, daß Damen zur Soirée im Schlafrock – freilich einem prächtigen, echt persischen – und Pantoffeln erscheinen. Ein Toilettengegenstand, den eine abendländische Dame am wenigsten vermissen mag, Handschuhe, werden selten getragen, und sehr elegante, ja ballmäßig gekleidete Herren und Damen lassen ungewaschene, sonnverbrannte Hände sehen.
Mustergültig sind dagegen die vornehmen rumänischen Frauen in Erfüllung ihrer Mutterpflichten. Sie haben sich nicht von den Gesetzen der Natur entfernt, sie stillen ihre Kinder selbst, Ammen sind ein ausnahmsweiser Luxus, und in der Kinderstube hält keine falsche Delicatesse die Mutter ab, sich Allem zu widmen, was die körperliche Pflege der Kinder erfordert. Prüderie ist ihnen gänzlich fremd, und die Natürlichkeit geht sogar über die Grenzen dessen hinaus, was bei uns für schicklich gehalten wird. Wo unsere Damen ein Erröthen affectiren oder mit vorgehaltenem Schnupftuch kichern, das läßt die vornehme rumänische Dame sehr gleichgültig.
Bei großen Diners wird eine Unzahl von Speisen aufgetragen, wobei jedoch die Mannichfaltigkeit fehlt. Der Küchenzettel scheint fest bestimmt. Nach der Suppe erscheint der unvermeidliche Mamaliga (Maisbrei) mit Käse, dem irgend ein Entremets, z. B. Sardinen, dann süße Krapfen folgen. Nun erst werden Fleischspeisen aufgetragen. Rindfleisch wird selten, Kalbfleisch nie genossen. Kälber durften früher, der Viehzucht wegen, gar nicht geschlachtet werden. Feine Mehlspeisen sind ein Luxusartikel der Küche in distinguirten Häusern, dagegen versteht man die Compots allgemein trefflich zu bereiten. Flaschen und Gläser mit eingemachtem Obst und Früchten kann die Bojarin wie ein Armeecorps aufmarschiren lassen, und in den großen Vorrath derselben setzt sie ihren Stolz. Man kann nirgend delicatere Compots, dort Dultschatz (von dem lateinischen dulcis abgeleitet) genannt, essen, als in den Donauländern.
Je reichlicher bei Gastmählern, der Ostentation wegen, aufgetragen wird, um desto frugaler ist der Familientisch besetzt, und der Rumäne folgt dabei seiner angeborenen Mäßigkeit. Gleich allen Südländern liebt er die Fülle der Speisen nicht, und Trunkenheit ist dem Bojaren ein unbekanntes Laster; bei Champagnaden fröhnt er nur der Ostentation, nicht der Neigung. Die griechische Kirche hat durch ihre Fasten, die fast acht Monate im Jahre Fleisch, Butter und Milch aus der Küche verbannen und nur Fische, Gemüse, Eier und Oel gestatten, für die Gewöhnung an Enthaltsamkeit gesorgt. Freilich, das von abendländischer Cultur beleckte Bojarenthum setzt sich über diese Gebote hinweg, was gerade keinen strengen Tadel verdient.
Wir haben bis jetzt vornehmlich von Solchen gesprochen, die sich in der Übergangsperiode von angeborner Rohheit zu angelernter Cultur befinden – einem Zwitterzustande, der immer unerfreuliche Seiten zeigt. Wie aber in Polen die Juden noch an der angeerbten Sitte festhalten, so fehlt es auch an altgläubigen Bojarenfamilien nicht, obgleich dieses Geschlecht im Absterben begriffen ist. Sie stammen meist aus der Zeit der fanariotischen Hospodare her, wo das Griechische Hof- und Umgangssprache in den vornehmen Kreisen war. Sie haben die orientalische Tracht mit Fez und Kaftan beibehalten, und ihre Frauen erscheinen noch in der Sturteika – dem pelzverbrämten Rocke – und in dem Kopftuche, verachten fremde Sprache und Sitte, und das, was bei den modernisirten Bojaren nur noch durchscheinend ist, hat sich bei ihnen in aller Ursprünglichkeit erhalten. So sitzen sie – und mit ihnen noch viele Anfänger in der Cultur – nicht auf Stühlen, sondern liegen mit ausgezogenem Schuhwerk auf Divans neben den niedrigen Tischen bei ihren Mahlzeiten. Dieser Gebrauch stammt aus dem Alterthume, wo das κλἰνη – Tischbett – bei Griechen und Römern üblich war. Von den Orientalen haben sie die Sitte angenommen, mit den Fingern in die Schüsseln zu greifen, was den Ekel des Abendländern erregt. Wie wir in Deutschland dem Niesenden „zur Gesundheit“ zu wünschen pflegen, so begleitet dieser Wunsch im Orient auch andere Aeußerungen der Natur, welche mit dem Verdauungsproceß in Verbindung stehen: eine Ungenirtheit, die dem Abendländer ein ironisches Lächeln abnöthigt.
Die aufwartende Dienerschaft, meist aus Zigeunern bestehend, deren üppiger Haarwuchs nur zu lebhaft an „die Polypen des Menschen“ erinnert, und denen überhaupt die Begriffe der Reinlichkeit fern liegen, erregt ein Grauen – besonders der Zigeunerkoch, dessen Anblick nur bei kräftigem Hunger erträglich ist. Auch die weibliche Dienerschaft ist gewöhnlich dem Stamme der Zigeuner entsprossen, und erscheint barfuß vor der Herrschaft, da es als ein Verstoß gegen die Ehrfurcht gilt, wenn die niedere Hausdienerschaft die herrschaftlichen Zimmer bekleideten Fußes betritt.
Geistige Getränke sind, wie schon gesagt, wenig beliebt. Bier ist schlecht und selten, dagegen wird in Abendcirkeln Thee mit Zucker und Rum, jedoch ohne die bei uns beliebten „Hindernisse“, als Schinken, Salami, kalter Braten, Backwerk etc., genossen. Nach jeder Mahlzeit wird geraucht, und entweder werden lange türkische Pfeifen herumgereicht, oder die Dame vom Hause dreht Papiercigarretten aus türkischem Taback, deren sie sich auch selbst bedient. Ueber Jemanden, der nicht raucht, wundert man sich mehr, als bei uns über einen Gast, der nicht ißt.
Eine Tugend, gewöhnlich am meisten in Ländern gepflegt, wo es an Gasthöfen oft gänzlich, an guten gewöhnlich fehlt, die Gastfreundschaft, wird in den Donaufürstenthümern auf die rühmlichste Weise geübt. Das Beste, was das Haus, je nach Stand und Vermögen, zu bieten hat, steht dem Gaste zu Diensten, und der Hausherr, wenn er sich auch sonst wenig um sein Hauswesen kümmert, beobachtet die größte Aufmerksamkeit, wenn er Fremde unter seinem Dache hat. In dieser Zuvorkommenheit ermüdet er nie, auch wenn der Besuch von längerer Dauer ist.
Wir wiederholen am Schlusse, daß hier nur allgemeine Charakterzüge gegeben worden sind, die unter mannichfachen Modificationen hervortreten, und daß die ehrenvollsten Ausnahmen zu finden sind, die nichts, was Bildung, feine Sitte, Geschmack und Zartgefühl vereint im Abendlande Liebenswürdiges haben, in schönen [583] Familienkreisen der Moldau und Walachei vermissen lassen. Es ist vielmehr zu erwarten, daß, je inniger Orient und Occident sich einander nähern, die Zahl solcher Familien zunehmen werde; vor der Hand aber herrschen noch Zustände vor, welche ein widerwärtiges Gemisch von ursprünglicher Barbarei und übel benutzter Verfeinerung sind. Was öffentliche Meinung, Selbständigkeit der Grundsätze, politischer Gedanke in solchen Ländern zu bedeuten haben, wird nach allem Vorangeführten leicht zu beurtheilen sein.
Alte Dresdner Geschichten. Nr. 1. Wenn du, geehrter Leser, den Zwinger besucht hast, gerade um die Zeit, wo die Abendsonne mit ihren Strahlen das alte Gemäuer beleuchtet und seine tausend und abertausend Zierrathen und Schnörkel vergoldet, so wirst du eine Bank bemerkt haben, die dicht an ein Bassin grenzt und dem, der darauf Platz nimmt, die Aussicht auf einen Theil des alten Dresden gibt. namentlich auf die Ostra-Allee, die früher durch einen tiefen Graben von dem Zwinger getrennt war. Auf dieser Bank sah man nun vor langen Jahren zurück ein kleines, zusammengeschrumpftes weibliches Wesen sitzen in einem verblichenen rothen Atlashütchen mit einer gleichfalls verblichenen rothen Feder darauf, und in einem Schleier, der jedesmal, wenn die Abendkühle eintrat, über das Gesicht geworfen wurde. Dieses Wesen wurde „die alte Mamsell im Zwinger“ genannt, nur Wenige wußten um ihre tragische Geschichte, aber sehr Viele, die jetzt alt sind, haben sie noch sitzen sehen, und wußten nur so viel zu verkünden, daß sie eine Ruine aus der alten Zeit sei, und ebenso merkwürdig für den, der derlei Dinge liebt, als das alte Gemäuer um sie her. Die alte Mamsell sprach mit Niemand, fand sie die Bank besetzt, auf der sie gewöhnlich Platz zu nehmen pflegte, ging sie still wieder von dannen, wie sie gekommen war. Wenn die ersten Sterne am Himmelsbogen erschienen, so schlich sie heim in das kleine Dachkämmerlein, das sie bewohnte; oft kam sie auch in der Morgenfrühe, aber dies geschah selten. Wenn sie bemerkte, daß sie beobachtet wurde, so zog sie einen kleinen Fächer aus der Tasche, und unter dem Anschein sich Luft zuzufächeln, schützte sie sich vor den betrachtenden Blicken.
Die Kinder, die im Zwinger spielten, hatten die Mamsell gern, sie lockte sie herbei, liebkoste sie und gab den Kleinen Stückchen altgewordenen Zuckerwerks, das sie aus einer Tasche brachte, die von Seide war und eine kleine Stickerei in Gold hatte. Wenn die Abende kühl wurden, so sah man sie in einem polnischen Jäckchen erscheinen, das halb unter ein großes Umschlagetuch versteckt war, immer aber behielt sie das Rosahütchen auf. Ihr Gang war schwankend, und wenn sie die Anhöhe des Zwingers hinabging, stützte sie sich auf einen Regenschirm, der ihr zugleich als Sonnenschirm diente. Oefters brachte sie ein Buch mit, in welchem sie eifrig las, so lange es die Helle des sinkenden Tages erlaubte, für gewöhnlich jedoch saß sie mit einer kleinen Häkelarbeit beschäftigt, zu der sie das dazu Gehörige in dem goldgestickten Beutel mitbrachte. Wer der alten Mamsell ins Gesicht sah, und das war nicht so leicht zu bewerkstelligen, denn sie konnte, wie wir schon bemerkt baben, nichts weniger leiden als neugierige Blicke, mußte bemerken, daß sie einst schön gewesen; ihr Antlitz war bleich, zart und fein, Hände und Füße waren klein und zierlich, auch ihr Wuchs mußte wohlgestaltet gewesen sein, obgleich der Körper jetzt in die äußerste Magerkeit gefallen war, und mehr einem Skelett als einem mit Fleisch und Muskeln begabten Wesen glich. Einmal, und das war etwas höchst Besonderes, hatte man sie singen hören mit sehr lauter Stimme und melodisch, weder Worte noch Melodie waren aber verständlich, nur daß beide einen trauervollen Inhalt hatten, ließ sich heraushören. Zu dieser extravaganten Aeußerung ihrer Gefühle hatte sie sich hinreißen lassen, der Himmel weiß durch welchen starken momentanen Andrang und im Bewußtsein. daß sie völlig unbelauscht sei. Eben so auffallend, wie dieses Singen, waren die wenigen Worte, die sie, man weiß nicht bei welcher Gelegenheit, einmal sagte, und die in dem kurzen Satze bestanden: Er kommt nicht! – Nun hätte man fragen mögen: Wer kommt nicht? In der Beantwortung dieser Frage liegt aber nun die ganze tragische Geschichte der alten Mamsell. Ein langes Leben voll Einsamkeit und Trauer war an einen einzigen herzzerschneidenden Moment gewaltigen Schmerzes geknüpft. Laßt uns die Geschichte der alten Mamsell hören, sie ist kurz.
Zur Zeit. als im Zwinger noch Feste gegeben wurden, veranstaltete der Hof ein solches Fest, das einen mythologischen Aufzug darstellte. Eine Menge junger Edelleute aus Nah und Fern waren beschieden, in diesem Spiele Rollen zu übernehmen. Nun fand sich’s, daß man ein hübsches junges Mädchen suchte, das bei einem der Aufzüge eine Nymphe darstellen sollte, indem die vornehmen Damen des Hofes, die die Stellen der Göttinnen einnahmen, diese Rolle für zu untergeordnet und ihrer nicht würdig fanden. Man suchte lange und endlich nahm man Röschen Röser, die Tochter eines Goldarbeiters in der Neustadt, dazu. Man hätte kein schöneres Mädchen fast in ganz Dresden finden können, aber auch zugleich kein sittsameres und bescheideneres. Röschen’s Eltern waren anfangs lange zweifelhaft, ob sie ihre Tochter zu dem Schaugepränge hergeben sollten, denn es waren achtbare stille Bürgersleute, die nichts weniger suchten, als Gelegenheit sich vorzudrängen, oder gar ihr Kind den Augen des lüsternen Hofes auszusetzen. Allein man redete den Leuten zu, man stellte ihnen die Ehre recht nahe, die sie sich durch diese Gefälligkeit, die sie dem allgemeinen Besten erwiesen, erwerben würden, und man brachte es so weit, daß die Mutter Röschens nichts dawider hatte und der Vater sich beschwichtigen ließ. Das schöne Fest ging vor sich, und so groß auch die Anzahl der wohlgebildeten Frauengestalten war, die hier im Glanre und in der Fülle der Pracht erschienen, Röschen Röser wurde doch von dem Blicke des Kenners herausgefunden und nach Gebühr gepriesen. Ein junger Pole, dessen Namen die Geschichte nicht aufbewahrt hat, knüpfte mit der jungen Nymphe ein Liebesverhältniß an. Im Geräusch des Festes ging das sehr gut, und es war sicherlich nicht das einzige flüchtige Bündniß, das auf diesem Schauplatz der Genüsse und des abenteuerlichen Muthwillens unter den rüstigen Kämpfern, die Jugend, Rang und Reichthum begünstigte, zu Stande kam. Aber Röschen glaubte, sie liebte ganz im Geheim, und nur der Mond, der in ihr stilles Kämmerlein schien, wenn sie Nachts nach Hause kommend die glänzenden Gewänder abstreifte, wüßte um die selige süße Heimlichkeit ihres Herzens. Nach kurzer Frist mußte der Pole abreisen, und unter Schwüren ewiger Treue nahm Röschen von ihm Abschied unter den flüsternden Linden des Zwingers, in einer mondlosen Nacht. Da standen sie oben, fest umschlungen, die schlummernde Stadt unter ihnen, und in Stille und Seligkeit kein Lauscher, kein Verräther, der sie störte. Er versprach ihr sie zu seinem Welbe zu machen, und im Spätherbst wollte er wiederkommen, um sie von ihren Eltern zu erbitten und sie abzuholen. Darauf gab er ihr Wort, Handschlag und Kuß. Röschen ging an jenem Abende nach Hause, glücklich wie eine Liebende nur sein kann. Der innig Geliebte war jetzt die Sonne ihrer Tage, das Licht ihrer Nächte, sie betete für sein Glück und vergaß dabei für ihr eigenes und das ihrer Eltern zu beten. Die Welt war vor ihren Blicken verschwunden, sie sah nur ihn.
Indessen kam der Herbst, und der Geliebte kam nicht. Es wurde Winter, er erschien nicht. An keinem Tage versäumte Röschen sich an dem Platze einzufinden, wo sie sich treffen wollten. Ach, Bitterkeit ohne Maß und Ziel, der Liebe vergeblich Warten! Wer nie empfunden, was es heißt, auf einen leisen Schritt lauschen, der über welke Blätter rauscht, auf ein liebes Angesicht hoffen, das aus dem Dunkel hervortritt, und immer und immer nichts als Windestosen hören, und den bleichen Schein sehn, den die wirbelnde Flamme der Laterne auf die Mauer wirft, o der kennt des Busens grausamstes Weh nicht. Es heißt getäuschtes Sehnen, vereiteltes Hoffen. So trieb es Röschen ein Jahr lang, dann verfiel sie in Irrsinn. Eine Heilanstalt nahm sie auf, doch da sie nicht zu den gefährlichen Kranken gehörte, so entließ man sie wieder. Von der Zeit an lebte sie in dem dumpfen stumpfen Trübsinn lange unverändert fort. Immer noch erwartet sie den Ungetreuen, diese thörichte Hoffnung fristet ihr das elende Leben. Die Eltern sind todt, die Verwandten fort, sie ist von aller Welt verlassen, selbst alt und schwach, aber sie hofft noch immer, sie lebt noch immer. Oft, wenn sie so in Träume versunken sitzt, belebt sich vor ihren Blicken der Zwinger, die brennenden Lampen flammen auf, die Festzüge ordnen sich, Lärm. Tumult und Musik erfüllt den weiten Raum, sie an der Seite des Geliebten, und dann ist es wieder Nacht, einsames Dunkel, und Arm in Arm verschlungen steht sie mit dem, den ihr Herz begehrt, an verschwiegener Stätte und tauscht das Gelöbniß ewiger Treue aus. Armes Röschen! Nur mit deinem Tode endet dein Leiden!
Das ist die Geschichte der alten Mamsell im Zwinger.
Dräger erzählt in seinem vor Kurzem erschienenen Buche: „Die Natur des Hochgebirges“ den s. Z. auch in einigen Zeitungen besprochenen entsetzlichen Tod den Doctor Bürstenbinder aus Berlin folgendermaßen: Eines Abends – es sind wohl nun 10 Jahre her – kam ein fremder junger Herr mit einem kleinen Knaben, der ihm als Wegweiser gedient hatte, in den Pfarrhof zu Gurgl (im Gurglthale in Tyrol) und bat den gastfreundlichen Curaten Bernhard Schöpf um Aufnahme und Verwendung, damit er des andern Tages Wegweiser erlange, um über den Ferner zu gelangen.
Beides wurde dem Fremden von dem menschenfreundlichen Curaten zugesichert, der die zwei besten Männer an Kraft und Führerkunde aus allen Männern von Gurgl auswählte.
Der Fremde und der Curat saßen bis zehn Uhr Abends an einem Tische in heiterem Gespräche beisammen, wobei der Curat von dem Fremden erfuhr, daß er der Dr. Bürstenbinder von Berlin sei, eine Unterhaltungsreise mache, in fremden Welttheilen gewesen und Verschiedenes erfahren habe. Er begab sich um fünf Uhr früh nach dem Ferner, begleitet von den zwei Führern Nikodemus Santer und Angelus Scheiber. Um sieben Uhr gelangten sie zum Ferner, wo sie sich während einer kurzen Ruhe labten. Der Fremde nahm nur ein kleines Stück Brod zu sich. Von da stiegen sie zwei Stunden lang den Ferner hinan und langten um neun Uhr am „steinernen Tische“ an. (Dies ist ein großer Moränenblock mitten auf dem Gletscher, gewöhnlich als Ruhepunkt benutzt.) Nach einer viertelstündigen Rast setzten sie sich nach Mitterkamp (einem schneebedeckten Abhange zur Rechten) in Bewegung. Bevor sie aber diese gefährlichn Strecke betraten, befestigten sich beide Führer mit einem fünf Klafter langen Stricke um die Mitte des Leibes und setzten sich der Art in Verbindung, daß, wenn einer in eine verborgene Kluft versinken sollte, der andere ihm helfen und ihn zurückziehen könnte. Die Führer boten die gleiche Vorsorge auch dem Fremden an, der solche jedoch ablehnte. Auch bestanden sie nicht auf der Ausführung ihres Rathes, weil nur die Vorangehenden diese Maßregel anzuwenden, die Nachfolgenden aber frei denselben Fußtapfen zu folgen pflegen. Die Führer gingen mit ihren breiten Bergschuhen voran; der Fremde, nur mit schmalen Stiefeletten bekleidet, folgte ihnen. Nach einer halben Stunde und bevor sie noch den Mitterkamp erreicht hatten, vernahm der zweite Führer Santer hinter sich plötzlich ein kleines Geräusch. [584] Er sah sich um und erblickte mit Entsetzen statt des Fremden, der ihnen bis dahin Schritt für Schritt gefolgt war, eine Oeffnung durch den Schnee in den Ferner hinein und nebenbei seinen Stock liegen. Schauder ergriff auch den ersten Führer, dem der Schreckensschrei des anderen das Unglück kund gab. Beide legten sich auf den Schnee nieder und riefen durch die grause Eiskluft hinab nach dem Fremden, den sie jedoch nicht erblicken konnten, weil, wie es sich in der Folge zeigte, die Kluft Anfangs bei sieben Klafter senkrecht hinab, dann schief einwärts lief. Der Fremde rief aus der tiefen Spalte zu den Führern empor, ob keine Hülfe möglich sei; jene entgegneten, daß sie das Aeußerste versuchen wollten, und fragten, ob er sich im Wasser oder wo er sich befinde. Er antwortete, daß er trocken, aber ganz eingezwängt in der Spalte des Eises stecke. Die Führer nahmen hierauf den Strick, mit welchem sie sich verbunden hatten, und senkten ihn in die Tiefe. Da aber dieser nicht zureichte und der Fremde versicherte, er sehe keinen Strick, so riefen sie ihm zu, daß er unter solchen Umständen nicht allsogleich gerettet werden könne, daß sie aber um andere Hülfe nach Hause eilen wollten und daß er sich inzwischen gedulden möge. Da ein Einzelner aus Besorgniß eines gleichen Schicksals sich nicht fortwagen durfte, so entschlossen sich beide Fübrer, rasch nach Hause zurückzueilen. Sie banden sich also wieder zusammen und sprangen bis zum steinernen Tisch zurück. Von dort ab war kein Eis, also keine Gefahr des Versinkens in die Klüfte; daher blieb Santer zurück und Scheiber lief nach Gurgl; um zwei Uhr Nachmittags langte Simon Santer, der Knecht des ganz erschöpften Angelus Scheiber, und Wendelin Santer, Bruder des obigen, mit Stricken bei dem steinernen Tisch an. Alle drei eilten nun vorwärts an die Stelle des Unglücks und schrieen hinab in den fürchterlichen Schlund des Eises. Nur mit äußerst schwacher Stimme erwiderte ihnen der Fremde, daß er noch lebe. Nun begannen die Versuche, den von halb zehn bis vier Uhr eingeklammerten Fremden zu retten, mit einer Aufopferung, einer Verachtung der Gefahr, wie solche wohl selten vorkommen dürfte. Nikodemus Santer band vorzüglich den mitgebrachten Strick seinem 24 Jahre alten Bruder Wendelin um die Leibesmitte und so wurde dieser in die Tiefe gesenkt. Nach sechs bis sieden Klaftern stieß er auf einen kleinen Eisvorsprung und faßte hierauf Fuß. Von dort schrie er zurück, daß er den Fremden nicht sehe und daß die Eisschlucht weiter hinab so eng sei, daß er dieselbe kaum zu befahren vermöge. Auf den Zuruf, beberzt vorwärts zu dringen, da es ja ein anderes Mittel zur Rettung nicht gebe, ließ sich Wendelin weiter in die Tiefe senken. Nach einer Versenkung von etwa funfzehn Klaftern (neunzig Fuß) schrie er, daß er den Fremden erfaßt habe; das Seil wurde hierauf angezogen, allein die Last war dem Retter zu schwer, der Unglückliche entfiel seinen Händen und Wendelin selbst prallte dabei mit beiden Knieen der Art an die Eisrisse an, daß ihm das Eis durch das Fleisch an die Knochen drang. Unfähig gemacht die Rettung auszuführen, langte er oben wieder an. Nun entschloß sich Simon Santer, das Wagestück zu bestehen: auch er ließ sich in die Tiefe senken und gelangte zu dem Fremden. Er band ihn am Arme an, allein beim Anheben hielt der Strick nicht fest. Simon wurde deshalb bis zu jenem Eisvorsprunge herausgezogen, wo er ausruhete; dann senkte man ihn noch zwei Mal hinab, allein vergebens. Auch er mußte zurückgezogen werden und brachte nur die Kunde mit, daß der Fremde zwar noch am Leben, aber schon ganz bewußtlos sei.
Nun entschloß sich auch Nikodemus Santer, das Möglichste zu versuchen; auch er passirte die gefahrvolle Schlucht, zwängte sich mit großer Anstrengung durch die enge Kluft. und es gelang ihm, den Fremden zu erreichen. Er schlang ihm ein Seil um einen Arm, schob das andere Ende um dessen Oberleib und bemeisterte sich seiner. Nun wurde der Strick auf den erfolgten Zuruf bis zum Vorsprunge angezogen. Dort angelangt, ließ Nikodemus den Fremden etwas mehr in die Höhe ziehen, um ihn erfassen und den Strick fester um seinen Leib schlingen zu können. Nunmehr wurde der Fremde allein in die Höhe gezogen, allein gerade an der Mündung der Kluft steigerte sich die Gefahr auf den höchsten Grad, denn die zwei Männer, welche den Strick anzogen und festhalten mußten, vermochten lange nicht, den Verunglückten auf die Oberfläche des Gletschers schaffen, und denselben am Rande der Schlucht zu erfassen. So schwankte er noch eine ewig lange Viertelstunde 7 Klaftern tief wie eine angezogene Glocke gerade über Nikodemus Santer, und drohete mit jedem Augenblicke sich abermals sammt diesem in die schauerliche Tiefe zu stürzen. Nach vielen Versuchen gelang es endlich den beiden Cameraden, den Körper des Fremden zu ergreifen, und auf die Oberfläche des Eisberges zu ziehen. Nun gelangte auch Nikodemus Santer herauf in Gottes freie Welt; der Zweck der Befreiung aus der Schlucht war erreicht und die Hoffnung, das menschenfreundliche Unternehmen durch den Erfolg belohnt zu sehen, war noch nicht geschwunden. Diese drei beherzten Männer begannen nun aber (es war beiläufig vier Uhr Nachmittags) den Fremden näher zu besichtigen, und fanden ihn zu ihrem Entsetzen ganz blau an den Händen und im Gesichte, beinahe erstarrt; nur ein leises Athmen war noch bemerkbar, er bewegte die Arme und die Augen in krampfhaften Zuckungen. Alle Versuche zur größeren Belebung blieben fruchtlos. Nach einem Aufenthalte von einer Stunde mahnte die Zeit zur Rückkehr. Nikodemus trug den Fremden auf seinem Rücken so fest gebunden, daß er sich in sitzender Stellung befand, um 61/2 Uhr erreichten sie den steinernen Tisch. Dort stellten sich bald die Vorboten der nahen Auflösung ein. Schon während der letzten Momente seines Lebens zog sich ein dichter und finsterer Nebel über die weiten Eisfelder herauf, die Führer waren noch vier Stunden weit von der Heimath auf dem hohen, lebensgefährlichen Gletscher. Unmöglich und bei unvermeidlichem Tode zwecklos war es, den Unglücklichen noch bei Nacht bis Gurgl zu bringen. Die Führer mußten nun auf ihre eigene Rettung denken, wenn sie nicht durch längeres Verweilen auf diesen unwegsamen Höhen dem sicheren Tode entgegengehen wollten. Sie hüllten daher den Entseelten in seinen Mantel und in ihre Mäntel sorgsam ein, und legten ihn neben einen großen Stein hin. Erst um 11 Uhr Nachts kamen sie ganz erschöpft zu Hause an.
Des anderen Tages, am Morgen, gingen 13 Mann von Gurgl an die bezeichnete Stätte, von wo sie den Verunglückten erst am Abend zurückbrachten. Bedauert von der ganzen Gemeinde, wurde er dort am 13. Juli beerdigt. – Solche Anstrengungen, Aufopferungen und Nächstenliebe hätte mit der Belebung des Verunglückten belohnt zu werden verdient. Es ist einem glücklichen Zufalle zuzuschreiben, daß sich gerade zur Zeit des erfolgten Unglückes der Beamte des 15 Stunden entlegenen Landgerichts Silz, Joseph Hörtnagl, in Gerichtsangelegenheiten nahe bei Gurgl aufhielt, durch welchen der vorerwähnte Thatbestand ganz umfassend aufgenommen wurde.
Nikodem, Wendelin und Simon Santer haben wegen ihrer Verdienstlichkeit bei der versuchten Lebensrettung des Dr. Bürstenbinder von ihrem Kaiser die große silberne Civil-Ehrenmedaille am Bande erhalten. Auch der König von Preußen hat sie durch ein Geschenk von je 20 Stück Ducaten belohnt.
Urtheil einer deutschen Königin über Napoleon I. Heute, wo „der Neffe“ Besuche an deutschen Höfen macht, mit einem zweiten Kaiser Alexander von Rußland auf deutschem Boden zusammenkommt und deutsche Interessen verhandelt, von deutschen Fürsten begrüßt und bewirthet, heute, wo die St. Helena Medaille von Napoleon III. alten deutschen Kriegern dafür als Belohnung angeboten wird, daß sie einst Napoleon I. gegen Deutschland dienten und die Schmach und Knechtung Deutschlands mit ihrem Blute förderten, heute dürfte es an der Zeit sein, ein ungemein treffendes Urtheil einer edlen und hochgefeierten deutschen Fürstin, der unvergeßlichen Königin Louise von Preußen, über den Kaiser Napoleon I. wieder zu veröffentlichen, einem ihrer schönen und gemüthlichen Briefe an ihren Vater, den Großherzog Friedrich Franz von Meklenburg-Schwerin, vom Jahre 1808 entnommen. Es ist wahrlich gut gethan, dann und wann an solche orakelmäßige Aussprüche zu erinnern, sie werden im rastlos wilden Treiben der Gegenwart gar zu leicht vergessen.
Die hochsinnige Königin schreibt: „Es wird mir immer klarer, daß Alles so kommen mußte, wie es gekommen ist. Die göttliche Weltordnung leitet unverkennbar neue Weltzustände ein und es soll eine andere Ordnung der Dinge werden, da die alte sich überlebt hat und in sich selbst als abgestorben zusammenstürzt. Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrich des Großen, welcher, der Herr seines Jahrhunderts, eine neue Zeit schuf. Wir sind mit derselben nicht fortgeschritten, deshalb überflügelt sie uns.
Gewiß wird es besser werden: das verbürgt mir der Glaube an das vollkommenste Wesen. Aber es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten. Deshalb glaube ich auch nicht, daß der Kaiser Napoleon Bonaparte fest und sicher auf seinem, jetzt freilich glänzenden Throne sitzt. Fest und ruhig ist nur allein Wahrheit und Gerechtigkeit, und er ist nur politisch, d. h. klug: und er richtet sich nicht nach ewigen Gesetzen, sondern nach Umständen, wie sie nun eben sind. Er meint es nicht redlich mit der guten Sache und mit den Menschen. Er und sein ungemessener Ehrgeiz meint nur sich selbst und sein persönliches Interesse. Man muß ihn mehr bewundern. als man ihn lieben kann. Von seinem Glück geblendet, meint er Alles zu vermögen. Dabei ist er ohne alle Mäßigung, und wer nicht Maß halten kann, verliert das Gleichgewicht und fällt. Ich glaube fest an Gott, also auch an eine sittliche Weltordnung. Diese aber sehe ich in der Herrschaft der Gewalt nicht; deshalb bin ich der Hoffnung, daß auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird.“
Welche goldnen Worte, werth, daß man sie in Stein und Erz grabe und auf Märkten und Straßen, an Palästen und Hütten in Deutschland aufstelle! So wahr, so herrlich, so prophetisch schrieb vor einem halben Jahrhundert eine deutsche Frau, eine deutsche Königin, und wie Vieles davon klingt, als wär’ es in unsern Tagen und auf unsere Zustände geschrieben!
Literarisches. Von dem Gebiete der naturwissenschaftlichen Volksliteratur haben wir wieder einige neue Erscheinungen empfehlend anzuzeigen. Aus dem auf diesem Gebiete besonders thätigen Verlage von Meidinger Sohn u. Comp. in Frankfurt a. M. gingen zwei Werke hervor: Ende und Ewigkeit von G. H. Otto Volger, eine geistvolle und auf eine Fülle von lehrreichen Thatsachen sich stützende Bekämpfung der „Geologie der Revolutionen und Katastropben.“ Das Buch wird Widerspruch erfahren und die herrschende Lehre von der Erdgeschichte nöthigen, sich ihrer Haut zu wehren. Louis Büchner, der bekannte Veranlasser der „Kraft- und Stoffliteratur“ führt in „Natur und Geist“ in allgemein verständlicher Form und mit Wärme und Entschiedenheit den Kampf in Gesprächsform fort. – Bei Meyer u. Zeller in Zürich erschien von R. Clausius über das Wesen der Wärme ein „Akademischer Vortrag“, welcher dieses schwierige Capitel der Physik in klarer und dem neuesten Stande der Wissenschaft folgender Darstellung schildert. – Das Süßwasser-Aquarium von E. A. Roßmäßler (Leipzig, bei H. Mendelssohn), mit 50 Illustrationen, gibt eine sehr ausführliche Anleitung zur Einrichtung und Pflege der so beliebt gewordenen Aquarien, die bei dem bevorstehenden Winter ein Stückchen freien Naturlebens im Zimmer fesseln wollen. – Auch auf dem Gebiete der schönwissenschaftlichen Literatur wird es lebhaft und der herannahende Winter wird manche interessante Erscheinung für eifrige Leser bieten. Otto Ludwig, der geniale Dichter des Romans: Zwischen Himmel und Erde hat den ersten Band seiner „Thüringer Naturen“ erscheinen lassen, ein Buch, das wieder vortrefflich ist: R. Heller eine Erzählung: der Reichspostreiter; Brachvogel, der Dichter des Narciß, einen dreibändigen Roman: Friedemann Bach. Mit Recht wird dieser Roman von der Kritik als ein vollständig verfehltes geistloses Machwerk hingestellt, das sich durch Nichts über den gewöhnlichen Leihbibliothekskram erhebe. Schon die Widmung ist eine abgeschmackte widerliche Speichelleckerei.