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Die Gartenlaube (1856)/Heft 36

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[477]
Weihnachts-Heiligerabend.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“

Manches Jahr ist schon dahin gegangen, als ein heiliger Weihnachtsabend mir sehr trübe, schwere Stunden brachte. Ich hatte sie in der Ausübung meines Amtes als Criminalrichter, die mir nie so schwer geworden ist, wie damals.

Ich erzähle Dir die Geschichte, lieber Leser, um Dir zu zeigen, wie leicht die Schwäche den Menschen zum Verbrecher machen kann. Um sie Dir zu erzählen, muß ich noch weiter in mein früheres Leben zurückgehen.

Ich war sehr jung zur Universität gekommen, darauf auch sehr jung Oberlandesgerichtsauscultator geworden, und stolz oder eitel darauf, Referendarius titulirt zu werden und der College von meist schon gereiften Männern zu sein, von denen ein großer Theil sogar als Offiziere die Freiheitskriege mitgemacht hatte. Ich war fast ein Kind unter ihnen.

Gerade diese meine große Jugend brachte mir eine eigenthümliche Stellung in der Gesellschaft ein. Das Oberlandesgericht, bei welchem ich „Referendarius“ war, hatte seinen Sitz in einer kleinen Provinzialstadt. In der Stadt befanden sich außerdem nur untergeordnete Localbehörden. Sie besaß keinen Handel und keine Garnison. Das Oberlandesgericht war deshalb darin Ein und Alles für das gesellige Leben. Es gab den Ton an. Von den Beamten des Oberlandesgerichts thaten dies aber nicht die Präsidenten, ein paar alte, nur dem Wissen und dessen Musen, Qualen und Verdrießlichkeiten ergebene Herren; auch nicht die Räthe, fast sämmtlich vertrocknete und versauerte Actenmänner; wohl aber die jungen, lebenslustigen Referendarien, und mit ihnen im Bunde die Damenwelt des Städtchens, mochte sie aus den Damen der Beamtenfamilien oder auch der anderen wenigen Honoratioren des Ortes bestehen. Zu den Referendarien hielten sich zwei junge Assessoren des Oberlandesgerichts.

In der späteren Zeit gab es in diesem Lande kein traurigeres Loos als das der Referendarien, und meist auch noch das der Assessoren der Oberlandesgerichte. Es hat sich auch bis jetzt nur wenig gebessert. In dem bureaukratischen Staate entwickelt sich ein unverhältnißmäßig großer Andrang zu der Beamtencarriere. Jeder junge Mann mit und ohne Talent will ein Ring in dieser großen Kette der Staatsherrschaft werden. So findet man bei einem einzigen Oberlandesgerichte oft hundert, anderthalbhundert bis zweihundert Referendarien, und zwanzig, dreißig bisweilen fünfzig Assessoren, von denen Allen kein einziger auch nur einen Groschen Gehalt bekommt, die demnach Alle auf eine Anstellung mit Gehalt warten, und die, eben um der großen Ueberfüllung willen, zehn bis fünfzehn, bis zwanzig Jahre warten müssen, bevor sie angestellt werden. Sie werden darüber arm und alt und verdrießlich. So war es zu jener Zeit doch nicht. In dem ganzen Staate gab es damals vielleicht keine zweihundert Referendarien und keine fünfzig Assessoren. Und die Assessoren hatten Gehalt, sobald sie ernannt wurden, und die ordentlichen Referendarien wurden mit ausreichenden Diäten als richterliche Hülfsarbeiter verwendet, sobald sie vom Justizminister bestätigt worden waren.

Unter solchen Umständen waren damals die jungen Referendarien und Assessoren begreiflich doppelte Lieblinge der heirathslustigen jungen Damenwelt, und es gab der Liebschaften bei den Oberlandesgerichten eine Menge.

Ich war ein Kind, und zwar ein nicht schwärmerisches Kind. Ich hatte keine Lust zu der Liebe, denn auch zur Liebe muß man, wie zu allen Dingen Lust haben. Dagegen wurde ich der Vertraute mancher der Liebesleute jener kleinen Provinzialstadt. Vertrauter bedarf die Liebe immer. Der reizendste Zauber der Liebe ist das Geheimniß; das größte Glück der Liebe ist ein kleines Unglück dabei. Ist es nicht von selbst da, so macht man sich eins. Hat man das Unglück, so ist auch das Geheimniß von selbst bedingt. Solcher kleinen Unglücke gab es auch dort: Unterschied der Religion; adeliger und nicht adeliger Stand; ein frivoles, irreligiöses Wort des jungen Mannes, unvorsichtig in Gegenwart der frommen Mutter oder Geliebten ausgestoßen; lautes Schreien auf der Straße in der Nacht, wodurch der Schlaf des verdrießlichen Vaters gestört ward. Am häufigsten gab es gegenseitige Eifersüchteleien. Gerade diese forderten am meisten einen Vertrauten auf beiden Seiten, besonders auf Seiten der Damen.

Der alte, würdige erste Präsident des Oberlandesgerichts hatte eine einzige Tochter; Therese war ihr Name. Sie hieß die schöne Therese; sie hieß aber auch die stolze Präsidententochter. Man hatte Recht zu beiden Benennungen. Sie war neunzehn Jahre alt, groß, von einer blendenden Schönheit. Sie war zurückgezogen, still, äußerlich kalt; keiner der Referendarien wagte ihr zu nahen. Auch der unverheirathete Assessor nicht. Sie hatte auch keine andere Liebschaft.

Dennoch wurde ich der Vertraute auch ihrer Liebe.

Der zweite bei dem Oberlandesgerichte, und zwar mit Gehalt angestellte Assessor war vor etwa drei Monaten herversetzt worden. Er war direct von der Hauptstadt nach dem kleinen, in einem sehr entfernten Winkel der Monarchie gelegenen Orte gekommen. Er hieß von Grauburg und gehörte einer armen Offiziersadelsfamilie an. Er war ein talentvoller Mensch, der schon als Knabe sich ausgezeichnet hatte, weshalb ihn die Seinigen nicht dem [478] Offizierstande gewidmet hatten, sondern studiren ließen. Man versprach ihm eine bedeutende Carrière in der Beamtenhierarchie. Er entsprach indeß nach einer anderen Seite hin nicht den von ihm gehegten Erwartungen. Er offenbarte mehr und mehr einen leichtsinnigen Charakter und dies auch namentlich, als er nach wohlbestandenem dritten Examen als Assessor bei dem Kammergerichte zu B. angestellt wurde. Dadurch wurden seine Verwandten veranlaßt, beim Justizminister zu bewirken, daß er aus B., wo es der Verführung zu viele für ihn gab, nach der kleinen, stillen und kleinstädtischen Provinzialstadt versetzt wurde, wo er noch zudem einem sehr strengen Chef untergeordnet wurde.

Er kam hier an mit einer jungen Frau, mit der er, wie es hieß, kurz vor seiner Versetzung in die Provinz sich verheiratet habe.

Er war ein schöner, geist- und kenntnißreicher, liebenswürdiger junger Mann. Er brachte die feine Lebensart der ersten Zirkel der Residenz mit, in denen er gelebt hatte. Seine Frau war eine schöne Dame, groß und üppig. Wenn sie auch nicht den Geist und die Bildung ihren Mannes besaß, so war sie doch immer munter und anspruchslos, fast schüchtern, und dadurch wie um ihrer Schönheit willen nicht minder liebenswürdig als ihr Mann.

Er machte mit ihr Besuche bei dem Präsidenten und bei allen Räthen des Oberlandesgerichts, und in den anderen, zur Societät des Städtchens gehörigen Familien. Man machte ihnen die üblichen Gegenbesuche. Man ladete sie darauf ein. In kleinen Städten herrscht für das Alles eine tyrannische Sitte. Beide wurden bald die Lieblinge der Gesellschaften; Beide gefielen den Damen wie den Herren. Indeß Beide noch mehr den Damen, als den Herren. Das hatte einfach darin seinen Grund, daß er, obwohl verheirathet, allen Damen den Hof machte, und daß sie dabei nicht die geringste Eifersucht zeigte. Alle Damen hatten deshalb zu ihr besondere Neigung und nahmen sie unter ihren besonderen Schutz. Das hätte die Damen nun freilich naturgemäß andererseits in eine sittliche oder wenigstens weibliche Entrüstung gegen ihren Mann bringen müssen. Allein er machte ihnen, wie gesagt, Allen den Hof, und am meisten denen, die am meisten seine Frau in ihre Zuneigung nahmen.

Er machte auch der schönen Therese, der stolzen Präsidententochter, den Hof; aber es war das ein eigenes Hofmachen. Er suchte sie in der Gesellschaft angelegentlich auf; er ließ sich mit ihr in ein von seiner Seite lebhaft geführtes Gespräch ein, über einen möglich uninteressanten Gegenstand; er isolirte sich dadurch mit ihr von der übrigen Gesellschaft, und, sobald er dies erreicht hatte, sobald er Alles von ihr entfernt hatte, allein mit ihr war, entfernte auch er sich plötzlich unter irgend einem Vorwand von ihr und ließ sie allein. Er that es ohne allen Hohn in seinem Aeußeren. Aber war sein Thun nicht selbst Hohn?

Und die stolze Präsidententochter?

An einem schönen Sommernachmittage war von mehreren Familien ein gemeinsames Fest in einem benachbarten Wäldchen veranstaltet. Das geschah oft so, und solche kleine Waldfeste waren immer reizend. Alles was an jungen Damen und jungen Herren zu der Gesellschaft des Städtchens gehörte, wurde dazu eingeladen und erschien. Die jungen Leute gingen in bunten Gruppen zu Fuße, die älteren kamen zu Wagen nach. Eine oder zwei verheirathete Damen im gesetzten Alter mußten sich als Ehrendamen der jungen Welt anschließen. Das war jedesmal eine wundervoll schöne Zeit für alle jene Liebesleutchen mit dem unentbehrlichen kleinen Liebesunglück. Da konnte man verstohlen die Hand drücken, leise seufzen, leise Worte der Liebe flüstern; hinter einer dicken Eiche konnte gar ein flüchtiger Kuß gewechselt werden. Den Eifersüchtigen konnte man versöhnen; das Herz des Erkalteten konnte man durch Eifersucht in neue Flammen versetzen. Und wenn es durch Eifersucht nicht anging, gar durch tüchtige Schläge mit dem Plumpsack; denn dem ländlichen Waldvergnügen durften auch die ländlichen Waldspiele nicht fehlen.

An jenem Sommernachmittage war die Gesellschaft besonders munter gewesen. Scherz und Spiel hatten unaufhörlich mit einander gewechselt; alle Liebespaare hatten sich zusammengefunden und zusammengehalten. Keine Eifersucht, kein zankendes Mutterauge, keine grollende Vaterstirn war heute störend oder trennend zwischen sie getreten. Die allgemeine Freude ließ sie entweder nicht sehen, oder ließ sie nicht sehen wollen.

Was den Assessor von Grauburg und seine Frau betraf, so war von der Frau Assessorin unzertrennlich ein jüngerer Rath, dessen Frau ihn vor acht Tagen mit einem Knäbchen beschenkt hatte, die daher an der Gesellschaft nicht Theil nehmen konnte. Der Assessor machte auf das angelegentlichste der jungen Frau eines alten Geheimeraths die Cour, der sich gern leicht erkältete und daher mit den älteren Damen zum Thee in ein aufgeschlagenes Zelt sich zurückgezogen hatte.

Die schöne Therese kam erst gegen Abend mit ihrem Vater nachgefahren. Der Präsident war Wittwer.

In dem Augenblicke, als der Wagen hielt, war zufällig ein Spiel der jungen Welt beendigt. Die jungen Leute gingen den Ankommenden entgegen. In einer kleinen Provinzialstadt, in der meist nur Beamte wohnen, ist ein erster Präsident ein kleiner König, und seine Tochter eine Prinzessin.

Der Assessor von Grauburg ging ihnen nicht entgegen. Der alte Geheimerath, dessen Frau er führte, hatte einen Anfall von Husten bekommen, war in die Oeffnung des Zeltes getreten und hatte seine Frau gerufen; er wollte sie fragen, was sie von seinem Husten halte. Der Assessor begleitete die schöne Frau zu dem Zelte.

Die schöne Therese wurde von den jungen Leuten, Damen wie Herren, umringt. Warum sie so spät gekommen, wie es so schön heute hier sei, wie herrlich man sich schon amüsirt habe, wie viel Amüsement der schöne Abend noch verspreche, besonders da sie, die sehnlich Erwartete, jetzt hier sei, das und dergleichen bildete den Inhalt einer sehr lebhaften allgemeinen Unterhaltung.

Die eigenthümliche Art, wie der Herr von Grauburg die schöne Therese behandelte, hatte mich schon seit einiger Zeit auf Beide besonders aufmerksam gemacht. Ich beobachtete sie an jenem Nachmittage angelegentlicher. Ich bemerkte bald, daß die Gedanken des schönen Mädchens nicht bei der Unterhaltung waren. Sie antwortete vage, zerstreut. Ihre Augen flogen oft suchend über ihre nächste Umgebung hin. Sie suchte Zerstreuung und Suchen zu verbergen. Ich bemerkte dennoch, wie sie dann den Assessor von Grauburg aufsuchten, dann wie plötzlich träumend auf der Gestalt der Frau von Grauburg haften blieben. Gleich darauf gab sie ihnen, wie verwirrt und verlegen darüber, daß man sie beobachtet haben möge, eine andere Richtung.

Die Frau von Grauburg schien keine Notiz davon zu nehmen, daß sie der Gegenstand der Aufmerksamkeit der jungen Dame sei.

Der Herr von Grauburg war von dem alten Geheimerath aufgehalten worden. Der kränkliche Herr sprach mit ihm über die berühmtesten Aerzte der Residenz. Aber auch er war nur äußerlich bei dem Gespräche. Ich konnte sogar in der Entfernung seine Bewegungen der Ungeduld wahrnehmen. Sobald er konnte, riß er sich los.

Bei seiner Entfernung sah ich einen beinahe ängstlichen Blick in dem Auge der Tochter des Präsidenten. Sie suchte wieder damit, ich konnte nicht errathen, was. Auf einmal fiel ihr Auge auf mich. Ich stand allein.

„Wird denn kein Spiel wieder begonnen?“ fragte sie die ihr zunächst Stehenden.

„Gewiß, gewiß!“ antwortete man ihr zuvorkommend.

Sie trat auf mich zu.

„Sie haben keine Dame, wie ich sehe.“

Sie nahm meinen Arm.

In demselben Augenblicke ging der Assessor von Grauburg an uns vorüber, ruhig, kalt grüßend, zu seiner Frau.

Ich fühlte den schönen Arm der Dame in dem meinigen zittern. Man kehrte zu dem Spielplatze zurück.

„Weichen Sie nicht von mir,“ flüsterte meine Begleiterin mir zu.

Ich fühlte, wie sie heftiger zitterte; ihr Gesicht war blaß geworden.

„Sie sind nicht wohl?“ fragte ich sie, halb wirklich unbefangen, halb weil ich nicht recht wußte, was ich ihr erwidern sollte.

„Nicht ganz. Und doch! Nachher! Gehen Sie nur nicht von meiner Seite.“

Gleich darauf holte der Assessor uns ein. Er ging mit seiner Frau ebenfalls zu dem Spielplatze.

Der Arm meiner Begleiterin zitterte nicht mehr. In ihr Gesicht war die gewöhnliche zarte Röthe zurückgekehrt.

„Ach, mein Fräulein,“ sagte der Assessor zu der schönen Therese, „Sie kommen spät, aber –“

[479] Er stockte.

„Aber?“ fragte sie kalt.

„Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt. Nicht wahr: –“

Sie unterbrach ihn boshaft: „Richtig, mein Herr, so sagt Schiller.“

Er fuhr ruhig fort: „Nicht wahr, mein gnädiges Fräulein, das haben Sie bei Ihrer Ankunft dort wohl aus manchem Munde hören müssen?“

„Ich glaube.“

„Auch mir drängte sich bei Ihrer Ankunft natürlich eine geistreiche Bemerkung auf.“

„Ich zweifle nicht daran, hätte sie noch jetzt Gültigkeit?“

„Gerade jetzt.“

„So sei sie Ihnen gestattet.“

„Aber in der That, ich bemerke, daß Sie mit Ihrer Frage halb Recht hatten. Meine Bemerkung an sich bleibt richtig, Sie haben mich indeß verlegen gemacht, und in dem Munde eines Verlegenen haben auch die geistreichsten Bemerkungen keinen Werth.“

„Zählen Sie auch diese Bemerkung zu den geistreichen? Doch ich bitte.“

„Anzufangen?“

„Ja!“

„Ach, wie man eine Comödie anfängt!“

„So ungefähr.“

„Ich wäre Ihnen nur ein Schauspieler?“

„Mein Herr, führen Sie bei uns kein Schauspiel auf?“

Die Frau des Assessors erbleichte plötzlich. Der Assessor blieb völlig unbefangen.

„Mein Fräulein, wer in dieser ganzen respektablen Gesellschaft wäre nicht Schauspieler?“

„Ei, mein Herr, die geistreiche Bemerkung, die ich noch bei Ihnen zu Gute habe, muß eine ganz besonders geistreiche sein, da Sie allen Geist für etwas Anderes bei Ihnen absorbirt zu haben scheint. Darf ich endlich darum bitten?“

„Sie haben zu befehlen, meine Gnädige. Es handelte sich nur um eine Uebersetzung. Sie kennen doch das politische Sprichwort der Franzosen: „Le roi est mort, vive le roi!

„Ich kenne es.“

„Sehen Sie dort am Horizont noch gerade den letzten Strahl der scheidenden Sonne?“

„Nun?“

„Mit ihrem Scheiden kamen Sie. Die Königin stirbt, es lebe die Königin.“

„Sie erwarten Dank für die geistreiche Galanterie, mein Herr? Ich danke Ihnen.“

Das Fräulein sprach die Worte mit einem schneidend kalten Hohn. Unmittelbar darauf ging sie voran, der Gesellschaft nach, ohne dem Assessor Zeit zu einer Erwiderung zu lassen.

Die Gesellschaftsspiele wurden fortgesetzt. Die schöne Therese hielt mich fast mit Aengstlichkeit in ihrer Nähe fest. Ich wich mit einer Art von Mitgefühl nicht von ihr. Sie gab sich Mühe munter zu erscheinen. Der Assessor kümmerte sich nicht weiter um sie. Er war ausgelassen lustig den ganzen Abend.

Die Gesellschaft brach auf und nahm den Rückweg nach der Stadt, wie sie gekommen war, die jungen Leute zu Fuße, die ältern in ihren Wagen.

Die schöne Therese hatte Kopfschmerzen bekommen; sie erklärte es wenigstens beim Aufbruche, und sie verband damit die Erklärung, daß sie nicht zu Fuße zurückkehren könne.

„Du würdest aber allein fahren müssen“, sagte ihr der Vater, der an dem schönen Abend eine Fußpromenade vorzog.

Ich stand neben ihr.

„Würden Sie Ihre Dame verlassen?“ fragte sie mich mit einem freundlichen Lächeln und einem heimlichen Winke.

„Nur, wenn meine Dame es mir befiehlt!“

„So geben Sie mir Ihren Arm.“

Der Assessor hatte sie beobachtet. Er lächelte höhnisch.

Ihr Arm zitterte wieder in dem meinigen. Ich führte sie zu ihrem Wagen; wir fuhren in diesem allein nach Hause. Anfangs saß sie still neben mir. Sie starrte in den aufgehenden Mond. Ihr schönes Profil war doppelt schön und reizend in dem feinen, blassen Mondlichte. Sie blickte fortwährend unbeweglich. Auf einmal wurden ihre Augen glänzender in dem blassen Schein. Als ich genauer hinsah, gewahrte ich, daß der Glanz von großen Thränen herrühre, die in den Augen standen.

Sie bemerkte, daß ich sie ansah. Sie wischte die Thränen ab, dann wandte sie sich zu mir.

„Sie haben errathen, warum ich weine?“ fragte sie.

„Wie könnte ich? “ erwiederte ich ihr. Ich hatte in der That nur eine Ahnung.

„Sie haben“, sagte sie bestimmt. „Und es ist gut so. Ich muß einmal mein Herz erleichtern. Mein Vater hat nie Sinn für seine Kinder. Ich habe keine Mutter, keine Schwester, keinen Bruder, keine Freundin. Seien Sie mein Freund, mein Bruder. Sie sind verschwiegen.“ Sie nahm meine Hände. Indem sie sie heftig drückte, fuhr sie leidenschaftlich fort:

„Ja, ich liebe ihn. Sie haben es sehen müssen. Aber nur erst heute Abend haben Sie es bemerkt. Nicht wahr, nur erst heute?“

„Meine Ahnung wurde erst heute bestimmter.“

„Also schon früher? Auch die Andern?“

„Ich glaube nicht!“

„Haben Sie nichts darüber gehört? Hat Niemand darüber gesprochen? “

„Niemand.“

„Gewiß nicht?“

„Ich versichere Sie.“

Sie beruhigte sich.

„Ich war heute schwach“, fuhr sie fort. „Ich weiß selbst nicht wie es kam. Es war mir so sonderbar, gerade heute. Ich fühle mich so unglücklich, so verlassen.“

„Fräulein“, sagte ich –

„Nennen Sie mich Therese, Freundin.“

Sie war sehr aufgeregt. Ich faßte ihre Lage desto prosaischer auf und ich hielt es sogar für meine Pflicht, ihr frei und offen meine prosaische Ansicht über ihre Lage mitzutheilen.

„Meine Freundin“, sagte ich, „der Freund muß Ihnen sagen, daß Sie recht hätten sich unglücklich zu fühlen, wenn auch das Gefühl, das Sie für Liebe halten, wahr wäre.“

„Zweifeln Sie an diesem?“

„Um Ihretwillen!“

„Um meines Unglücks willen?“

„Zum Theil. Zum Theil aber auch –“

Ich stockte; was ich sagen wollte, war verletzend; ich konnte keine Worte dafür finden, die mir milde genug schienen.

„Was wollen Sie sagen?“

„Der Herr von Grauburg ist verheirathet.“

„Und?“

„Und ich muß Ihnen gestehen, daß ich die Ottilie in Goethe’s Wahlverwandtschaften nie für einen ächt weiblichen Charakter habe halten können.“

Ich sah im Mondschein ihr Gesicht blasser werden. Auf einmal wandte Sie mir ihr volles Gesicht zu. Sie sah mit ihren schönen Augen mich durchdringend an.

„Glauben Sie wirklich, daß er verheirathet ist?“

„Aber ich bitte Sie –“

„Ich begreife, daß Sie nicht daran zweifeln, daß Niemand es bezweifelt. Aber das Auge der Liebe sieht scharf. Das ist nicht mein Unglück. Aber er liebt mich nicht. Er hat meine Liebe bemerkt, er hat sie hervorgerufen, künstlich, vorsätzlich, um über sie, über mich zu spotten. Er hat kein Herz. Und ich liebe ihn!“

Ich hatte bisher zu der schönen, stolzen Präsidententochter, die durch ihr stolzes, würdevolles Wesen Jedermann von sich zurückzuhalten wußte, nur mit einer Art von Verehrung hinaufzusehen gewagt. Als sie mich so plötzlich zu ihrem Vertrauten machte, hatte ich zuerst nur Mitleid für sie gefühlt. Ihr letzten Worte schienen mir eine gewöhnliche verliebte und phantastische Närrin zu zeigen. Ich konnte dem Kitzel nicht widerstehen, sie das wenigstens ahnen zu lassen.

„Ich hatte geglaubt“, sagte ich, „er habe nur zuviel Herz, also jedenfalls ein sehr schönes, weiches und empfängliches Herz, und das habe gerade Ihnen gegenüber nicht widerstehen können, habe Ihnen gegenüber –“

Ich mußte mitten in meinem Satze einhalten.

Sie bedeckte laut weinend ihr Gesicht mit ihren Händen. „O Gott“, rief sie. „Stände ich doch wieder allein mit meinem [480] Schmerze, meinem Unglücke, meinem Geheimnisse. Nur Spott, nur Hohn soll mein Vertrauen mir einbringen.“ Sie war jedenfalls eine Unglückliche, unglücklich entweder in einer großen, starken Leidenschaft, oder in einer überschwenglichen Einbildung. Mein leerer Spott konnte nur verletzen und reizen.

„Verkennen Sie mich nicht“, erwiederte ich ihr beruhigend. „Ich meinte es gut. Sie tragen eine Wunde in Ihrer Brust; ich wollte durch lauten Spott ihre Tiefe, ihre Beschaffenheit sondiren. Es bedarf dessen nicht mehr. Ihre Wunde ist wirklich tief und schmerzhaft.“

„Das ist sie.“

Sie warf sich an meine Brust, anfangs noch laut, dann stiller weinend. Ich hatte keinen Spott mehr für sie. Ich hatte aber auch keine Trostgründe. Jeder wäre trivial gewesen. Ich hatte sie aber auch aus einem andern Grunde nicht.

Habe Einer, achtzehn Jahre alt, noch so wenig Lust zur Liebe, und fahre er, an einem schönen, warmen Sommerabend, im klaren Mondenschein, durch duftenden Wald und duftige Wiesen, im leise schaukelnden Wagen, an seiner Seite ein weibliches Wesen, ein Bild der Jugend und der Schönheit, ihre Hände in den seinigen, ihren Kopf an seinen Busen gelehnt, das Wogen ihres Busens, das Klopfen ihres Herzens fühlend, ei zum Teufel, er wird in seinem Herzen ganz andere Dinge fühlen als Spott und Hohn.

Wir erreichten die Stadt.

„Kommen Sie morgen Abend zu mir“, sagte sie beim Abschiede.

War sie eine Unglückliche, oder eine Thörin? War er der sorglose Verführer ihrer Liebe oder ihrer Phantasie? War er wirklich nicht verheirathet? Und wie sollte dies anzunehmen sein?

Am andern Tage lief ein sonderbares Gerücht mit der rasenden Eile eines Lauffeuers durch die kleine Stadt. Dem sonderbaren Gerüchte folgten sonderbare Ereignisse. Es war ein sonderbarer Zufall, daß das Alles am nächsten Tage nach jener Waldscene sich zutragen mußte.

Des Morgens um neun Uhr war die Fahrpost – ich weiß nicht ob damals schon Schnellposten eingerichtet waren – von B. in der kleinen Stadt eingetroffen. Sie mußte sich eine Stunde aufhalten, um präcis zehn Uhr weiter zu fahren. Aus dem Postwagen war ein junger Offizier gestiegen. Er kam aus der Residenz und wollte weiter fahren. Er fragte nach einem Gasthofe, in welchem er bis zur Abfahrt des Postwagens frühstücken könne. Nicht weit von dem Posthofe lag der erste, oder einer der ersten Gasthöfe des Städtchens. Er wurde dorthin gewiesen. Während er sein Frühstück verzehrte, schien er sich auf einmal auf etwas zu besinnen.

„H. heißt das Städtchen?“ fragte er den Gastwirth.

„Aufzuwarten.“

„Und ein Oberlandesgericht ist hier?“

„Aufzuwarten.“

„Potztausend, ist dabei nicht ein Assessor von Grauburg angestellt?“

„Gewiß.“

„Was macht er denn?“

„Es geht ihm gut. Es scheint ihm und seiner jungen Frau hier sehr zu gefallen.“

Dem Offizier fielen vor Verwunderung Gabel und Messer aus den Händen.

„Seiner jungen Frau? Seit wann ist der Grauburg denn verheirathet?“

„Er hat seine Frau schon von B. mit hierher gebracht.“

Der Lieutenant konnte vor Verwunderung nicht weiter essen.

„Von B.?“

„Sie können sich darauf verlassen.“

„Er brachte sie schon mit, als er hierher versetzt wurde?“

„Gewiß.“

„Es ist nicht möglich.“

„Aber ich versichere Sie.“

„Das muß ich wissen. Wo wohnt der Herr von Grauburg?“

„Nicht weit von hier. Dort in der ersten Straße rechts, im ersten Hause links.“

Der Offizier ließ sein Frühstück stehen, verließ den Gasthof und eilte nach der bezeichneten Straße und nach dem bezeichneten Hause.

Der Gastwirth sah ihn in sprachlosem Erstaunen nach. Seiner Frau Neugierde wurde desto redseliger, als er ihr die Unterredung mitgetheilt hatte.

Nach einer starken Viertelstunde kehrte der Offizier zurück. Er kehrte mit einem halb listigen und halb verlegenen Gesichte zurück.

„Nun“, fragte der neugierige Gastwirth, „haben der Herr Lieutenant sich überzeugt?“

Der Offizier antwortete nicht.

„Meine Rechnung, wenn ich bitten darf.“

Er erhielt seine Rechnung; er bezahlte sie; er kehrte zu dem Posthofe zurück; er fuhr mit dem weiter fahrenden Postwagen weiter. Er war abgefahren, stumm wie das Grab.

Nicht stumm, sondern sehr gesprächig war die Dienstmagd im Hause des Assessors von Grauburg gewesen. Durch sie erfuhr die Stadt bald Folgendes: Der Offizier hatte an der Wohnung des Herrn von Grauburg geklingelt. Das Dienstmädchen hatte ihm geöffnet.

„Der Herr Assessor von Grauburg zu Hause?“

„Nein. Der Herr ist in der Sitzung.“

„Die – die Frau Assessorin?“

„Die gnädige Frau ist zu Hause.“

„Können Sie mich melden?“

In dem Augenblicke öffnete sich eine Thür. Die Frau Assessorin von Grauburg trat heraus in das Entrée. Sie sah den fremden Offizier. Sie wollte zurückfliehen, aber der Offizier hatte auch sie gesehen.

„Zum Teufel, Aurora!“ rief er. Er stürzte ihr nach. Bevor sie die Thür hinter sich hatte zuschlagen können, hatte er sie schon wieder aufgerissen. Er war mit ihr in ihrem Zimmer.

Das Dienstmädchen stellte sich horchend an die Thür und konnte jedes Wort hören, das in dem Zimmer gesprochen wurde.

„Zum Teufel, Aurora, wie kommst Du hierher? Was machst Du hier?“

„Ich bitte Sie um des Himmels willen, sprechen Sie leise. Das Dienstmädchen –“

„Die gnädige Frau spielst Du hier? Die Frechheit ist zu groß. Wo hatte der Grauburg seine Gedanken? Er ruinirt sich in dem kleinen Neste –“

„Ich beschwöre Sie, Herr von Münchhoff. Wir leben hier so glücklich. Stören Sie unser Glück nicht.“

(Fortsetzung folgt.)




O sprecht! warum zogt ihr von dannen?

In dem nebenstehenden Holzschnitt geben wir unsern Lesern heute die Nachbildung eines der effektvollsten Bilder der Neuzeit: der Abschied der Auswanderer von C. Hübner. Es ist eine großartig, mit vielem Gefühl aufgefaßte Scene, ein sehr ernster Moment aus dem Leben unserer Zeit. Unter den Gruppen von Landleuten, welche auf dem Kirchhofe Abschied von den Gräbern der Ihrigen nehmen, fesseln uns besonders drei Mädchen, die mit überströmendem Gefühl und tiefer Wehmuth einen Kranz auf ein Grab legen. Rechts erblicken wir einen Zug von Landleuten, die mit Kränzen tanzend und jubelnd ihre Heimath verlassen, als sollten sie einziehen in ein Paradies. Wer gibt Antwort auf die schönen Freiligrath’schen Worte:

O sprecht! warum zogt ihr von dannen?
Das Neckarthal hat Wein und Korn;
Der Schwarzwald steht voll finst’rer Tannen,
Im Spessart klingt den Aelplers Horn.

[481]

Abschied der Auswanderer von C. Hübner.

Wie wird es in den fremden Wäldern
Euch nach der Heimathberge Grün,
Nach Deutschlands gelben Weizenfeldern,
Nach seinen Rebenhügeln zieh’n!

Wie wird das Bild der alten Tage
Durch eure Träume glänzend weh’n!
Gleich einer stillen, frommen Sage
Wird es euch vor der Seele steh’n.

O sprecht! warum zogt ihr von dannen?

[482]
Die heißen Quellen zu Karlsbad.
Eine galvanoplastische Werkstatt.

Jahr aus Jahr ein fördern die heißen Quellen zu Karlsbad, denen man schon zu Anfange des 17. Jahrhunderts die Bezeichnung „weltberühmte“ beilegte, eine beträchtliche Menge fester Stoffe aus dem Innern der Erde herauf, die das Wasser, das allgemeinste Auflösungsmittel, auf seinem Wege zum Licht auslöst und mit sich fortführt. Die eine der Quellen, der bekannte Sprudel, soll davon jährlich allein über 204,500 Ctnr. auswerfen und doch finden wir in 1000 Pfunden des Wassers nur 51/2 Pfund feste Bestandtheile. Von diesen werden wiederum nur 1/2 Pfund unmittelbar an Ort und Stelle in fester Form abgelagert, denn in demselben Augenblick, wo das Wasser auf der Erdoberfläche ankommt, lösen sich die lästigen Fesseln, welche die Kohlensäure, das Auflösungsmittel für jene Massen, mit dem Wasser verbanden; sie entweicht frei in die Luft und damit zugleich fällt jener Theil zu Boden. Ist auch die obige Angabe durch mehrere directe Bestimmungen bedeutend verringert, so bleibt für den Sprudel doch noch ein Absatz von über einem Centner in jeder Stunde, – eine Masse, die wohl im Laufe von Jahrhunderten ausreichte, um die kolossale, gewölbartige Decke über den Quellen zu bilden, die unter dem Namen „Sprudelstein“ bekannt ist.

Diese Sinterablagerungen, die zumeist aus kohlensaurem Kalk mit wenig Eisenoxydul, das mit der Zeit Sauerstoff aus der Luft anzieht, und dadurch die rohe, mehr oder weniger ausgesprochene Färbung des Sprudelsteines bedingt, bestehen, erstrecken sich über einen großen Raum; ein Theil der Stadt steht auf diesem natürlichen Bauwerke und ebenso bildet es auf eine weite Strecke hin das Bett des Tegelflusses. Wegen der rastlos bauenden Thätigkeit der Quellen muß man ein wachsames Auge auf sie haben; denn bald sind die Ausflußöffnungen zugebaut und ist man dann nicht gleich bei der Hand durch Bohrungen den wilden Wässern einen Ausweg in’s Freie zu verschaffen, so sprengen sie selbst den beengenden Kerker und brechen oft an der unrechten Stelle durch.

Solche Sprengungen der festen Schale sind zu verschiedenen Zeiten vorgekommen. Als man vor mehr denn hundert Jahren nach einem solchen Durchbruch genauere Nachforschungen anstellte, da fand man das kunstvolle Bauwerk der Natur förmlich in Etagen aufgeführt; d. h. man entdeckte unter der Decke große und kleine Höhlungen mit heißem Wasser gefüllt, denen wieder eine Kalkschale als Unterlage diente und beim Durchbrechen derselben wiederholte sich ein gleiches Vorkommen. Als man die dritte Decke gesprengt hatte, da erfüllten sich die Worte des Dichters:

Und es wallet und siedet und brauset und zischt,
Wie wenn Wasser mit Feuer sich menget.

Man war auf einen großen Wasserbehälter, den Sprudelkessel, gestoßen. Mit dem Durchbrechen der Decke hatte man das Wasser von einem beträchtlichen Drucke befreit; in Folge dessen konnte jetzt das mit heftigem Brausen kochende Wasser urplötzlich einen beträchtlichen Temperaturüberschuß zur Dampfbildung verwenden, so daß Alles eiligst die Flucht ergreifen mußte vor den gewaltigen Wogen der heißen Dämpfe, die sich aus dem Schooße der Erde hervorwälzten. Und immer von Neuem drängte sich Woge auf Woge empor, die den Fuß des Spähenden in ehrfurchtsvoller Ferne gebannt hielten. Diese Wächter der Geheimnisse der Tiefe machten eine jede weitere Nachforschung unmöglich.

„Arbeit ist Geld,“ diesen Satz wendet der Mensch auch auf das Schaffen der Natur an und da er sich einmal als Herrn der Schöpfung betrachtet, so setzt er sich hier selbst als lachenden Erben ein und erntet gern, wo er nicht säete. So legte man schon in sehr früher Zeit die Elle des Krämers an diese wunderbare Thätigkeit der Natur und war bemüht, das, was hier unausgesetzt geschaffen wurde, zu verwerthen. Die mächtigen Sintermassen der Sprudelschale wurden zuerst als Kalk gebrannt und dann als Mörtel verbraucht; außerdem lieferten die mächtigen Massen auch als Bruchsteine ein treffliches Material zum Bauen selbst.

Mit der Zeit aber, als die Schaaren immer größer wurden, welche dorthin zogen, um „sich vor einem frühzeitigen Tode und allerhand Arten von Krankheiten zu bewahren,“ da fehlte es nicht an pfiffigen Köpfen, die es verstanden den simpeln Kalksteinbruch in eine Goldgrube zu verwandeln. Bald bildete sich eine ausgedehnte und einträgliche Industrie aus, die Vielen die Erwerbung des täglichen Brotes erleichterte. Man verarbeitete den Sprudelstein zu einer Unzahl der zierlichsten Gegenstände und Jeder der vielen Tausende, die Jahr aus Jahr ein dorthin wallfahrten, trägt eine Kleinigkeit mit fort zur Erinnerung an die Stunden, die er in Leid und Freud in diesem lieblichen Thal verlebte.

Daran aber dachte man weniger, sich die Thätigkeit der Natur in ihrem Schaffen selbst dienstbar zu machen; nach wie vor überließ man die Ansinterungen dem Zufall, ohne diesem bestimmte Wege vorzuschreiben. Ganz unthätig war man hier zwar nicht geblieben, aber die Art und Weise, wie man sich dieser natürlichen Quelle der schaffenden Kunst bediente, war bis jetzt doch nur von sehr untergeordneter Bedeutung. Man setzte einige kleinere natürliche Gegenstände dem feinen Sprühregen der Quellen aus, worauf sich dann der Sinter in wundervollen Formen absetzte. Blumen, Kornähren, Laubwerk, Krebse, die man auf diese Art hatte versteinern lassen, waren jedoch das Einzige, was man sah und zu Kauf bekam, um es als Andenken an die merkwürdigen Eigenschaften der karlsbader Quellen in die Heimath mitzunehmen.

Eine künstlerische Ausbildung fehlte diesem Industriezweige jedoch lange Zeit, sie zu finden war den schlauen Italienern vorbehalten. Schon seit Jahren kommen kleine Brustbilder und Medaillen in künstlerischer Vollendung zu uns, die aus dem reinsten schneeweißen Kalksinter bestehen. Die Werkstatt, aus der sie hervorgehen, sind die warmen Bäder zu Filippo im Toskanischen und die ganze Kunst, diese zierlichen Bildwerke zu erhalten, besteht darin, daß man Formen und Modelle aus Schwefel dem herabtriefelnden Kalkwasser aussetzt.

Diese Lehre hat man sich in Karlsbad zu Nutze gemacht und so finden wir auch hier einen der seltsamsten Industriezweige – eine galvanoplastische Anstalt der Natur – in der Entstehung begriffen. Die größte Schwierigkeit war die, ein geeignetes Material zu den Formen zu finden, das der Auflösungskraft des Wassers, der Wärme und der Kohlensäure genügenden Widerstand leistet, an dem Sinter nicht zu stark anhaftet und keine chemische Verbindung mit demselben eingeht. Die sonst zu diesem Zweck gebräuchlichen Mittel zeigten sich hier nicht anwendbar. Gyps z. B. löst sich in dem Sprudelwasser auf, es scheidet sich Schwefel aus und es findet eine Entwickelung von Schwefelwasserstoffgas statt. Schwefel zeigt eine Umlagerung seiner Atome; er wird in kurzer Zeit schwarz, nimmt ein strahliges Ansehen an und zerfällt dann bei der geringsten Berührung mit der Hand in kleine Splitter. Wachs und Stearin werden durch die Einwirkung der Wärme und des Wassers zerlegt; es entwickelt sich Schwefelwasserstoffgas und Kohle scheidet sich aus. Selbst Glas, welches doch so manchen Einwirkungen widersteht, wodurch es für den Chemiker das schätzbarste Material geworden ist, zeigte sich hier nicht unverwundbar. Sein mächtigster Feind, der mit Leichtigkeit Herr darüber wird, ist die Fluorwasserstoffsäure, die sich, wenn auch in geringer Menge, im freien Zustande in den heißen Quellen vorfindet, wofür das Mattwerden der längere Zeit hindurch gebrauchten Trinkgläser spricht.

Dem Scharfsinn eines dortigen Apothekers, den wir als Begründer des neuen und seltsamen Industriezweiges anzusehen haben, war es vorbehalten, einen Ausweg in dieser Noth zu finden. Eine Legirung von Zinn und Silber entsprach allen Anforderungen; man gießt sie entweder in Formen oder walzt sie zu dünnem Blech aus und preßt die Münze oder das Bildwerk dann hinein, um die Hohlformen zu erzeugen, die der Ansinterung, dem Sprühregen oder dem herabträufelnden Wasser ausgesetzt werden. Schon in 2 bis 3 Wochen ist die Sinterkruste eine Linie dick und so fest, daß sie abgenommen werden kann. So stellt man Abdrücke von Münzen, Medaillen, Cameen u. s. w. in beliebiger Auswahl dar. Man läßt auch ebene Flächen ansintern und bereitet so Platten von beliebiger Größe und Dicke, die zu den [483] mannigfaltigsten Zwecken verwendet werden können. Läßt man bedrucktes oder bemaltes Papier ansintern, z. B. Lithographien, Kupferstiche u. s. w., so bleiben Druckerschwärze und Farben an dem Sinter hängen, während das Papier sich ablösen läßt und man hat auf dem Sinter den vollkommenen Abklatsch des Bildes.

Die Werke, welche die Galvanoplastik in neuerer Zeit geschaffen hat, sind wohl geeignet unser Staunen zu erregen. Mehr als jene kolossalen künstlerischen Gebilde, die aus jenen Werkstätten in großer Zahl hervorgegangen sind, nehmen unsere Aufmerksamkeit die kleineren Nachbildungen in Anspruch. Als an der äußersten Grenze der Kleinheit stehend, führen wir hier nur zwei an. Der englische Physiker Grove copirte ein Lichtbild, das so genau in dem Kupferniederschlage wiedergegeben war, daß man auf einer Fläche von 1/10 Zoll Länge und 1/100 Zoll Breite 5 Linien Schrift auf das deutlichste mit dem Mikroskope ablesen konnte. Poulton bildete auf galvanoplastischem Wege das Auge einer Stechfliege nach und auch hier zeigte die Nachbildung unter dem Mikroskop alle die vielen Tausende der kleinen Facetten, aus denen das wirkliche Auge zusammengesetzt ist. Mit derselben bewundernswerthen Genauigkeit wird auch zu Karlsbad in der Werkstatt der Natur gearbeitet. Die feinsten Erhöhungen und Vertiefungen des Originals oder einer Form werden so vollkommen wiedergegeben, als es nur immer auf galvanoplastischem Wege möglich ist. Bis zu welchem Grade der Vollendung dies geschieht, dafür liefert das „Sinterbild“ eines Daguerreotyps auf überraschende Weise den Beleg.

Ohne daß das Original im geringsten Schaden gelitten hatte, zeigte die nach drei Wochen abgenommene Sinterplatte das Porträt Zug für Zug bis zur feinsten Spitzengarnitur. Die durch den Quecksilberniederschlag rauheren und daher dem Auge leichter erscheinenden Stellen des Daguerreotyps sind in derselben Weise auch auf der Sinterplatte rauher, so daß diese im reflectirten, spiegelnden Licht den Effect des Originals bis in das kleinste Detail wiedergibt. Aber selbst im zerstreuten Licht erscheinen die dunkleren Stellen des Daguerreotyps besonders auffallend; so tritt z. B. ein schwarzes Sammetband auf einem weißen Spitzengrund auch auf der Sinterplatte dunkler hervor, wie wenn sich der Sinter auf den dunkleren, quecksilberfreien Stellen der Silberplatte auch mit dunklerer Färbung niedergeschlagen hätte.

Manchem der Leser mag dieser neue Industriezweig mehr nur als Spielerei erscheinen. Wir erinnern hier aber an den alten Satz: „im kindlichen Spiel liegt oft ein tiefer Sinn,“ der sich auch hier zu bewahrheiten scheint. Ist auch die Vervielfältigung der Lichtbilder durch den Druck mit Hülfe von Kupferplatten, die auf galvanoplastischem Wege dargestellt worden sind, gerade nicht mehr als ein Räthsel zu betrachtenn so stellen sich diesem Vorhaben aber dennoch mancherlei ernste Schwierigkeiten hemmend in den Weg, die zu beseitigen nicht immer in unserer Macht steht. Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, gewinnt die natürliche galvanoplastische Anstalt zu Karlsbad eine ungemeine Wichtigkeit. Alle Schwierigkeiten, die dort sich hindernd geltend machen, fallen hier fort und das Ganze wird dadurch noch sehr erleichtert, daß sich die Sinterplatte auf dieselbe Weise zubereiten und ätzen läßt, wie lithographischer Stein. Und daher glauben wir, diesem jungen Sprößling der Industrie ein erfreuliches Gedeihen prophezeihen zu dürfen.




Drei Frauenbilder in Bayreuth.
3. Jean Paul und die Rollwenzel.

Es ist eine eigenthümliche und frappante Erscheinung in der Entwickelung des deutschen Geisteslebens der Neuzeit, daß die beiden ehemaligen brandendurgischen Fürstenthümer in Franken, Anspach und Bayreuth, den formlosesten und den formvollendetsten deutschen Dichter erzeugt haben.

Johann Paul Friedrich Richter, nach seiner eigenen Wahl meist Jean Paul genannt, war ein Sohn des Landes Bayreuth, und August Graf von Platen-Hallermünde war ein Sohn der Stadt Anspach. Jeder von ihnen ist in seiner Art unübertroffen groß und der einzige Repräsentant derselben, Beide werden als scharfausgeprägte Originale ihren Platz in der deutschen Literatugeschichte für immer behaupten, ja man darf annehmen, Beide werden erst in der Zukunft ihre wahre und gerechte Würdigung erfahren; denn Beide haben während ihres Lebens die volle Anerkennung, die sie mit Recht von ihrem Vaterlande beanspruchen durften, nicht gefunden, von dem Vaterlande, das sie, der Eine wie der Andere so schwärmerisch liebten, und deren Versagung ihnen so bittere Schmerzen bereitete. Im schlichten Pfarrerssohne aus dem Fichtelgebirge war die Liebe größer als der Schmerz; nachdem er bis in sein 35stes Lebensjahr alle Schmach und Geringschätzung deutscher kleinstädtischer Engherzigkeit in dem durch ihn berühmt gewordenen Hof erfahren hatte, kehrte er nach kurzen sechs Jahren, die er in Leipzig, Weimar, Berlin, Meiningen und Koburg verlebt, dennoch wieder in die Hauptstadt seines kleinen Vaterlandes zurück und wohnte, wahrlich nicht in glänzenden Verhältnissen und von den Bürgern Bayreuths keineswegs nach Verdienst gewürdigt, in ihr bis an seinen Tod. Im Grafen waren Schmerz und Groll größer als die Liebe, und sie trieben ihn über die Alpen, wo er, Deutschland fast entfremdet, einsam starb.

An die Namen beider Dichter „aus Franken“ kettet sich auf überraschende Weise der eines dritten deutschen Dichters, unsterblich wie der ihrige, der des Königs Ludwig von Baiern, „Herzogs von Franken.“ Denn Er war’s, der mit königlich dichterischer Munificenz dem Dichter Platen, dem Meister der Form, den Lebensunterhalt in Italien gewährte, und Er war’s, der aus eignen Mitteln dem Dichter Richter die herrliche Erzstatue in Bayreuth errichtete, als das deutsche Volk dem Aufrufe eines Vereins zu Wunsiedel, der Geburtsstadt des Dichters, „zur Errichtung eines Nationaldenkmals Jean Paul’s“ keineswegs wie man hätte erwarten dürfen, entsprochen hatte. Eben so großmüthig hat sich König Ludwig an den Beiträgen zur Errichtung des Platen-Denkmals in Anspach betheiligt, und wir glauben nicht zu irren, wenn wir prophezeihen, daß auch diese Dichterstatue nur durch den König-Dichter werde zur Vollendung kommen können, so daß die beiden Schwesterstädte durch ihn mit den Erzbildsäulen der beiden großen, einander so merkwürdig entgegengesetzten Dichter geziert sein werden.

Sowohl aus dieser hohen und einzigen königlichen Freigebigkeit auf der einen Seite, als auf der andern aus Platen’s aristokratischer Geburt und Erziehung und aus Richter’s Leben, das nur von Personen aus der höchsten und hohen Aristokratie, die ihn nach Würden achteten und ehrten, zu erzählen weiß, sollte man schließen können, daß unsere beiden großen fränkischen Dichter im Sinne und Interesse der höhern Gesellschaft geschrieben und dieser ausschließlich mit ihrem Denken und Fühlen, mit ihren Sympathien und Bestrebungen angehört hätten, wie etwa Horaz oder Goethe. Aber kein Schluß würde trügerischer sein als dieser.

Der von Fürsten gesuchte und von ihnen fast wie ihres Gleichen behandelte, (man braucht nur an den Herzog Georg von Mecklenburg-Strelitz, den Herzog August von Gotha, den Herzog Friedrich von Hildburghausen, den Herzog Georg von Meiningen, den Fürsten Dahlberg zu erinnern) von edlen charakterhohen Fürstinnen schier gehätschelte (Anna Amalia, Herzogin von Weimar, Louise, Königin von Preußen und ihre drei Schwestern, die Herzogin von Hildburghausen, die Fürstin von Turn und Taxis und die Fürstin von Solms etc.), von genialen adligen Damen, die ihn meist heirathen wollten, geliebte (Frau von Kalb, Frau von Berlepsch, Frau von Krüdener, Fräulein Karoline von F., Hofdame in Hildburghausen, mit welcher er verlobt war) Jean Paul war eben so ein Mann der Freiheit, ja nach dem heutigen Sprachgebrauche ein „Demokrat,“ wie der aus alter Familie entsprossene Graf Platen. Richter’s entschiedene Freisinnigkeit spricht sich in allen seinen Schriften bald mehr bald minder stark und scharf aus, am kühnsten und freimüthigsten in seiner „Charlotte Corday“ und in seinem, dem Herzog August von Gotha dedicirten „Freiheitsbüchlein;“ Platen’s Demokratismus bricht in seinen politischen [484] Liedern, die freilich nicht in die Ausgabe seiner Schriften aufgenommen sind, am stürmischsten aus. Mit diesen politischen Anschauungen harmonirten ihre religiösen. Nie hat ein Mensch erhabenere Worte über Jesus Christus gesprochen, als Jean Paul in den „Dämmerungen,“ und doch stand er mit seinen Ueberzeugungen außerhalb der christlichen Kirche auf dem Standpunkte einer poetischen Naturreligion, deren Lehrer und Hohepriester er selbst war.

An keinem deutschen Dichter hat sich das Mißverhältniß der Poesie zum wirklichen Leben schreiender offenbart, als an Richter, und es konnte nicht anders sein, eben weil er den Kultus des deutschen Gemüths wie kein Andrer poetisch gefeiert und verklärt hat und zwar eben so in der Endlichkeit als in der Unendlichkeit diese Gemüths, mit andern Worten, weil er als der größte deutsche humoristische Dichter das edelste reinste und größte Herz haben mußte. Durch die schwere Schule einer Armuth gegangen, deren Beschreibung beleidigt, von der nobeln Gesellschaft der guten Stadt Hof ausgeschlossen wie ein Verbrecher, ja selbst noch zurückgestoßen und geringschätzend behandelt, als die vornehme, intelligente Welt Deutschlands für den Verfasser des Siebenkäs und des Hesperus schwärmte und hervorragende Individuen ihn, den großen, bald so heilig ernsten, bald so schalkhaft lachenden Herzenspriester in seiner kleinen engen höfer Welt aufsuchten, liebte dieser wunderbar begabte einzige Mensch dieses Volk, diese mittlern Stände und die Mündigkeit des deutschen Volks, seine Emancipation, seine geistige und materielle Freiheit waren der Inhalt seiner heißen Dichterträume, das Ziel seiner hohen Sehnsucht, der geile Boden, aus welchem seine üppigen Schöpfungen aufschossen. Sind sie ja doch der Boden aller echten und wahren Poesie überhaupt, und Goethe’s Faust ist ihm eben so gut entsprossen, wie Jean Paul’s Titan.

Das ist aber der Krebsschaden der Dichterbrust, der immer augenfälliger zu Tage tritt, daß diejenige Klasse der Gesellschaft, an welche sich der Dichter wegen ihrer Intelligenz gewiesen sieht, seinen heiligsten Tendenzen abhold ist, und das Volk, für dessen Emancipation er das Flammenschwert des Geistes schwingt, aus Unempfänglichkeit, Mangel an Verständniß, und dem alten ekelhaft bornirten: „Der Narr will klüger sein als wir!“ ihn beleidigt, zurückstößt, schändet. Der echte Dichter ist ein geborner Aristokrat, der, sobald er zum Verständniß des Lebens und seiner Widersprüche und Mißverhältnisse kommt, zum wohlwollenden Mann der Freiheit wird, der nur einen großen heißen Wunsch hat: das Wohl des deutschen Volks und die harmonische Ausbildung aller seiner Kräfte zur Erzeugung der höchsten Blüthe Deutschlands. Aber der Dichter ist auch wie ein zartes schönes Mädchen, das das Bedürfniß zu gefallen hat; er bedarf des Verständnisses, der Anerkennung, der Pflege; zu seinem Glücke gehört unerläßlich die Liebe seines Volks, für das er glüht und dichtet. Darf man ihn schelten, wenn er dort die Seele hingibt, wo er Verständniß, Anerkennung, Liebe und Pflege findet, auf den Höhen der Gesellschaft, und wenn er mit Schmerz und Wehmuth, ja wohl mit Bitterkeit auf die blickt, denen sein höchstes Streben, seine glühendste Begeisterung gewidmet ist, und die gleichgültig an ihm vorübergehen, ja wohl gar ihn kalt und höhnisch zurückweisen? Kein deutscher Dichter ist von höchsten und hohen Personen, gegen deren Standesinteressen er schrieb, so ausgezeichnet und geehrt und Keiner ist so von den untern Ständen, für deren Interessen er schrieb, so vernachlässigt worden, als Richter. Dieser eigenthümliche und auffallende Widerspruch geht sogar über sein Grab hinaus: das deutsche Volk verweigert dem größten deutschen Gemüthsdichter, dem hohen, reinen, begeisterten Freiheitsmann das Denkmal und – ein König setzt es ihm.

Inzwischen war eine solche Anerkennung von Seiten der Höhen und Spitzen der Gesellschaft, eine Anerkennung und Pflege des Dichters, wie sie uns heute schon fast fabelhaft vorkommen, nur in der zweiten Hälfte des vorigen und im ersten Viertel unseres Jahrhunderts möglich, wo die Intelligenz der höhern Stände sich von der Gewalt der neuen Ideen und von dem Feuer der Begeisterung wie von der Schärfe des Spottes hinreißen ließen. Das allgemein Menschliche ergriff die gebildeten und darum empfänglichen Herzen, sie ergaben sich dem neuen Evangelium der Liebe und Freiheit, zumal es ihnen auf so überraschend neue, herrliche, eigenthümliche Weise gepredigt wurde, und sie spielten mit dem Feuer, das ihnen erst in Funken von Jean Jacques und dann in rothen, grünen und blauen lodernden Flammen und in neckisch hüpfenden Flämmchen von Jean Paul gebracht wurde, sie spielten damit aus Passion, aus Mode, aus Zeitvertreib, und sie dachten nicht daran, daß dieses Feuer auch in Deutschland brennen könne. Von der andern Seite verfiel Jean Paul in den verzeihlichen Irrthum, als habe er die höhern Stände, die ihn so sehr vergötterten, namentlich die Frauen derselben, für seine philanthropischen Ideen gewonnen und die neue Aera des allgemeinen Herzenskultus sei vor der Thüre. Naivetät von beiden Seiten, über die wir heute lächeln. Die hohe Aristokratie ist klüger geworden und die Dichter auch. Kein aristokratischer Fuß kam über die Schwelle in der rue d’Amsterdam, an welcher der große deutsche Dichter sechs Jahre sterbend lag, kein deutscher Fürst wird ihm ein Denkmal setzen (wir fürchten: eben so wenig das deutsche Volk), und doch hat Heinrich Heine nichts Schlimmeres drucken lassen, als Johann Paul Friedrich Richter.

Nichts legt für die sittliche Größe Richter’s glänzenderes Zeugniß ab und gereicht ihm zu größerer Ehre, als daß er sich an keinem der kleinen Höfe, wo er so ungewöhnlich ausgezeichnet wurde, fesseln ließ (der Herzog von Meiningen wollte ihm sogar ein Haus bauen), daß er an jeder Fürstentafel offen und ehrlich seinen Freimuth äußerte, wodurch er bei dem formellen Goethe und fast noch mehr bei dem ängstlichen Schiller anstieß, und daß er die Herzensverbindungen mit den reichen adeligen Damen, die, zu einem Ehebündniß geführt, ihn in eine glänzende äußere Lage versetzt haben würden, abbrach, sobald er die Ueberzeugung gewonnen, daß sie bei aller brillanten Geistesbildung seiner doch nicht würdig seien. Er heirathete eine von Geist und Herz gleich hoch und schön gebildete Bürgerliche und kehrte schon nach einigen Jahren für immer in sein kleines Vaterland zurück, und schlug in der ihm so theuren stillen Stadt Bayreuth seinen bleibenden Wohnsitz auf.

Und so ist er ein armer Mann geblieben, aber ein edler verehrungswürdiger, ein deutscher Dichter von so hoher trefflicher Gesinnung und Geistesthat, wie wir keinen zweiten zu nennen wissen. Von allen Fürsten, die ihm den Hof gemacht, gab ihm Keiner etwas, außer dem edeln Dalberg, Großherzog von Frankfurt, aber die Pension betrug nur tausend rheinische Gulden, und der Dichter mußte sie nach Beseitigung der französischen Einrichtungen in Deutschland einige Jahre missen, bis sie der König von Baiern übernahm. Mochten ihm von den Verlagsbuchhandlungen auch nicht gewöhnliche Honorare gezahlt werden, so hat er doch in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens, gerade während seines bleibenden Domicils in Bayreuth, verhältnißmäßig wenig geschrieben, und seine Einnahmen von dieser Seite können unmöglich glänzende gewesen sein.

Es ist ungemein betrübend, wenn seine Lebensbeschreiber (Spazier, Z. Funck) wiederholt versichern, Bayreuth habe ihm die gebührende Achtung versagt. Dies kann sich, wie wir versichern können, nur auf die mittlern und untern Stände beziehen; von den Familien der höhern Stände war er sehr geachtet und geehrt. Das Andenken an die ihm gezollte Verehrung hat sich in einigen der ersten Familien der Stadt bis heute lebendig erhalten, und sehr viele der ältern Einwohner erinnern sich noch lebhaft seiner stattlichen würdigen Gestalt mit den milden edlen Zügen.

Man erzählte mir: in den letzten neun Jahren seines Lebens sei Richter in Bayreuth weit mehr und allgemeiner geehrt worden, als früher und zwar auf folgende Veranlassung. Die verwittwete Prinzessin von Holstein-Oldenburg, geborne Großfürstin von Rußland, Katharina Paulowna, eine der hochherzigsten Fürstinnen, kam 1816 als Braut des Kronprinzen (wenige Monate darauf Königs) von Würtemberg durch Bayreuth und der Stadtkommandant, der Regierungspräsident und andre vorragende adelige Häupter beeilten sich, der hohen Reisenden die Honneurs zu machen. Sie werden angemeldet, Niemand wird angenommen. Der Kammerherr der Großfürstin fragt nach Jean Paul, der soll unverzüglich eintreten, kaiserliche Hoheit wünsche nichts sehnlicher, als ihn zu sprechen. Aber der Herr Legationsrath Richter ist nicht zugegen und muß eiligst herbeigeholt werden. Er bleibt über eine Stunde bei der Großfürstin, sie entläßt ihn äußerst gnädig und reist ab ohne einen der andern Herrn angenommen zu haben.

Trotz alledem bewahrte Richter, der Sohn der Armuth, dem Volke seine treue innige Neigung, und vor Allen hat er sie [485] einer Tochter des Volkes geschenkt, deren Portrait wir heute mittheilen. Um Gottes willen, denke dabei Niemand an ein gewöhnliches sinnliches Liebesverhältniß. Frau Rollwenzel war sieben Jahre älter als Richter und stand, als er sie kennen lernte, schon in den höhern vierziger oder im Anfang der fünfziger Lebensjahre, und Richter war erst einige Jahre mit der jugendlichen schönen, ja reizenden und hochgebildeten Karoline Meyer aus Berlin verheirathet. Auch ist aus seinen Schriften bekannt, wie hoch er die sittliche Reinheit der Ehe hielt. Frau Rollwenzel war dem Dichter die Repräsentantin des von ihm so heiß geliebten deutschen Volks oder vielmehr der Volksweiblichkeit, die seiner Wesenheit näher stand als das männliche Element, und sie war ganz die Frau, diese ihr von ihm zugedachte bedeutende Stelle würdig auszufüllen.

Frau Rollwenzel.

Als Richter im Jahre 1804 seinen bleibenden Wohnsitz m Bayreuth aufschlug, fühlte er bald das Bedürfniß, in einiger Entfernung von der Stadt nach dem Fichtelgebirge zu eine Lokalität zu finden, wo er sich ein gemüthliches „Nest bauen“ könne, eine Neigung, die ihm stets eigen war und aus der Tiefe seines Gemüths hervorging. Das Glück begünstigte ihn auch in dieser Angelegenheit. Das kleine einstöckige Wirthshaus am Fuße der Anhöhe, welche die Eremitage trägt, bot ihm die ersehnte süße Villagiatur und die stille heimliche Feier für einen großen Theil seiner spätern poetischen Schöpfungen. Aber das kleine Haus gab ihm noch mehr als er gesucht und erwartet, ein verständiges gemüthliches Ehepaar von vielfacher Erfahrung und Lebensverständniß, Menschen, die ihm klaren Geist, Ehrfurcht und Ergebenheit entgegen brachten. Dies war der Wirth Friedrich Rollwenzel und seine Ehefrau Dorothea Rollwenzel, geb. Beyerlein. Der Mann war in seiner Jugend vom Markgrafen Alexander von Anspach und Bayreuth, dem letzten Fürsten dieser beiden Länder, als Soldat mit seinem Regiment an England verkauft und nach Nordamerika geschleppt worden, um dort gegen die Union zu kämpfen. Es wird behauptet, Rollwenzel’s Ursprung sei im markgräflich bayreuthischen Hause selbst zu suchen gewesen. Richter pflegte sich gern mit ihm zu unterhalten und von seinen Fahrten erzählen zu lassen. Geistig näher als der Mann stand unserm Dichter aber die Frau. Sie war aus Hutschendorf, einem zwischen Thurnau und Kulmbach gelegenen Dorfe gebürtig, wo ihr Vater, der lange in Ungarn gelebt hatte und ein gewandter Mann war, Metzgerei und Bierwirthschaft betrieb. Dorothea Beyerlein verheirathete sich mit einem Manne desselben Gewerbes, Namens Friedmann, von dem, als wüstem Verschwender, sie sich, nachdem sie zwei Kinder geboren, wieder scheiden zu lassen genöthigt war. Sie vermiethete sich als Köchin in Bayreuth und verheirathete sich hier nach einigen Jahren mit Rollwenzel.

Nach Erwerb des kleinen Hauses, das später als Richter’s ländlicher Aufenthaltsort geheiligt, nun ihren Namen für alle Zeit trägt, wünschte die thätige und gewandte Frau als Kaffee- und Bierwirthin und Köchin darin zu wirken, aber sie konnte keine Concession zum Betriebe einer Wirthschaft erlangen, und betrieb sie ohne eine solche. Ein halberfrorner französischer Soldat, den sie im harten Winter aufnahm und pflegte, wurde die Veranlassung, daß sie durch den Marschall Junot die Concession erhielt. Sowohl wegen ihres muntern spaßhaften Wesens, das jeden Gast, den vornehmen wie den geringen, erheiterte, als auch wegen ihrer guten Bereitung der Speisen und Getränke, war sie allgemein beliebt, und Niemand ging gern an ihrem Hause vorüber. Wie das kleine Wirthshaus unserem Dichter ungemein bequem gelegen war, so entdeckte er in der Wirthin einen kostbaren Schatz; denn Frau Rollwenzel verstand es nicht nur, seine Bedürfnisse, Neigungen und Liebhabereien zu studiren und auf möglichst vollkommene Weise zu befriedigen, sie lebte sich auch auf überraschende Weise geistig in ihn hinein und verstand den Flügelschlag seines Genius so gut, daß er sich mit ihr über geistige Interessen unterhielt, ihr nicht selten seine Manuskripte vorlas und das natürliche gesunde Urtheil der lebhaften talentvollen Frau mit Vergnügen vernahm. Auch liebte er es, mit ihr in seiner, seinen Freunden wohlbekannten eigenthümlichen Weise zu disputiren. Richter war nichts weniger als unempfänglich für die schmackhaften Kunstwerke der Küche und die geistreichen Objekte des Kellers, er liebte starken Kaffee, schweres Bier und gehaltvollen Wein, und die Leistungen der höhern Kochkunst waren ihm an den Fürstentafeln nicht gleichgültig geblieben. Frau Rollwenzel labte ihren genialen Gast eben so mit einer Tasse delikaten Kaffee, einem Kruge köstlichen Bieres, einem prächtigen Braten und einem feinen Kuchen, wie sie ihn mit ihren witzigen Besprechungen menschlicher Narrheiten und Schwächen ergötzte.

So ist er denn fast zwanzig Jahre zu ihr gegangen, früher in der schönen Jahreszeit fast täglich und zwar schon in der Morgenfrühe. Da sah man den untersetzten, kräftig gebauten Mann im schlichten Oberrock mit offnem Halse, einen Knotenstock in der Hand, einen Büchsenranzen mit dem Manuscripte, an welchem er eben arbeitete, und mit Büchern, die er eben las, übergehängt, mit ein paar Flaschen Wein, deren Hälse aus den Rocktaschen ragten, den großen weißen Spitz, den treuen Begleiter, den er in mehr als einem Roman verherrlicht, zur Seite, in früher Stunde durch die Alleen des Hofgartens und durch die Lindenallee vor dem Eremitagethore die sanfte Höhe nach dem [486] Rollwenzelhäuschen empor schreiten. Im Hinterhause eine Treppe hoch liegt eine wenig geräumige Stube mit ein paar Fenstern, welche eine liebliche Aussicht in den hier fast kesselartigen Thalgrund des rothen Mains, auf die waldigen Berghöhen zu beiden Seiten desselben, auf freundliche Weiler und Höfe im Thale und auf den Berghängen, auf die nahe bewaldete Höhe der Eremitage und endlich im Hintergrunde auf die blauen übereinander gegipfelten Berge des Fichtelgebirges gewähren. Es ist eine abgeschlossene reizende Idylle, wie sie Jean Paul so sehr liebte und gern schuf. Die Ausstattung des Zimmers ist heute noch nicht glänzend. Als es dem großen unsterblichen Dichter zum Schöpfungstempel diente, soll sie eine ärmliche gewesen sein.

An diesem Tische schrieb er einen großen Theil der Levana und des Komet und viele der kleinen Stücke, an welchen seine spätern Jahre reicher waren als die frühern. Aus diesen Fenstern schickte er die sehnsuchtsvollen Blicke nach den Bergen, hinter welchen er geboren war und seine idyllisch einfache, aber von ihm mit den Prismafarben der Poesie geschmückten Jugend verlebt hatte. Von diesem Häuschen aus durchstreifte er die reizende Umgegend. Dem Hause in der Entfernung einiger hundert Schritte gegenüber, schloß sich damals an den sogenannten Bogengang der Eremitage am Berghang ein reizendes Gebüsch mit einer Einsiedlerhütte, die jetzt verschwunden sind. In dieser Hütte brachte er viele Stunden zu, schrieb auch darin, der genialste aller Einsiedler. Nicht selten begleitete ihn sein Freund Christian Otto zur Rollwenzel und arbeitete in einer kleinern Nebenstube. Dann ergingen sich Beide in kritischem Gespräch mit der geistbegabten Wirthin. Abends kam dann in der Regel Richter’s Familie und holte ihn ab.

In den spätern Jahren ging der Dichter meist nur noch Nachmittags zur Rollwenzel und nur einige Male in der Woche. War er krank und in der letzten trüben Zeit, als er erblindete, kam Frau Rollwenzel auf seinen Wunsch oft zu ihm, und er tauschte mit ihr wie sonst das lebendige Wort. Die lebhafte Frau war ihm eben zum Geistesbedürfniß geworden. Sie überlebte ihn vier und ein halbes Jahr und starb fast 74 Jahre alt, am 22. April 1830.

Am Eingang des Hauses liest man jetzt auf einer dunkeln Marmortafel mit goldnen Lettern: „Rollwenzel’s Haus. Hier dichtete Jean Paul.“ Die Jean-Paul-Stube wird nur Besuchern geöffnet, welche das Andenken des Dichters ehren. Ein Album nimmt ihre Namen auf. Unter seinem Bilde hängt das der Frau Rollwenzel, das Original unseres Holzschnittes. Außer der Büste und einer Handschrift des Dichters sind keine sichtbaren Erinnerungen an ihn vorhanden.

Es ist vielleicht nicht uninteressant einige Werte über das materielle Leben Richter’s hinzuzufügen, welches nicht minder originell wie sein geistiges, durch die kunstgeübte Hand der Frau Rollwenzel so vielfache Befriedigung fand.

Die leiblichen Genüsse waren bei Jean Paul durchaus nur Anregungs- und Beförderungsmittel zu erhöhter Geistesthätigkeit. Philisterhafte Gewöhnlichkeit hat das oft mißverstanden und den Dichter darnach schief beurtheilt. Denn Richter aß und trank stark und gut. Im Sommer und Winter erhob sich Richter von seinem eigenthümlich construirten Bette und trank ein Maß frisches Brunnenwasser, wozu er Pfeffernüsse und andres feines Backwerk verspeiste. Dann las er bis zum Genuß des Kaffee’s (sehr stark) mit Backwerk um 8 Uhr. Um 9 Uhr trank er Wein, meist alten starken vom Rhein und in der Regel eine Flasche. Je nach der Arbeit, die er den Tag über verrichten wollte, vergrößerte er nicht nur die Quantität, sondern verstärkte auch die Qualität auf eine ungewöhnliche und eben nicht zu empfehlende Weise. Er setzte nämlich eine größere oder geringere Dosis (je nachdem er den Geist mehr oder minder beflügeln wollte) Rossoli oder Arac hinzu. Zu diesem Getränke verspeiste er eine ziemliche Portion guten Kuchen und machte den Küchenzettel für den Mittagstisch. Er wurde empfindlich, wenn die Speisen nicht nach seiner Angabe zubereitet waren. Von diesem zweiten oder vielmehr dritten Frühstück bis zum Mittagsessen um 2 Uhr arbeitete er unausgesetzt und nahm keine Besuche an. Seine Stube bei der Rollwenzel durfte außer ihm und ihr durchaus Niemand betreten. Nach Tische schlief er über eine halbe Stunde und brachte dann über eine Stunde im Familienzimmer bei der hochgebildeten taktvollen und in jeder Hinsicht trefflichen Gattin und bei seinen reichbegabten liebenswürdigen Kindern (zwei Töchtern und einem Sohne) zu. Dann ging er aus. Den Abend verlebte er entweder in der Harmoniegesellschaft, oder in befreundeten Familien, oder sah seine Freunde bei sich, mit welchen er im lebhaften Gespräch die wichtigsten und interessantesten Fragen verhandelte. Dazu trank er viel starkes Bier. Um 9 Uhr reichliches Abendessen. Unmittelbar darauf verfügte er sich mit der Familie zu Bette. Nachmittags trank er nie Kaffee, Wein oder Bier, sondern nur Wasser. Weder rauchte, noch schnupfte er Tabak; er verband vielmehr beide Genüsse auf eine eigenthümliche Weise, wie er denn fast in allen Verrichtungen originell war. Er drehte nämlich vom feinsten Rolltabak kleine Röllchen und schob diese in dir Nase. Er war ein Mann der strengsten Ordnung, des entschiedensten Willens, aber auch der unbegrenzten Liebe, und Hausherr in der vollsten Bedeutung des Wortes.

Von seiner liebenden Fürsorge für Menschen und Thiere, mit welchen er in Beziehungen stand, werden rührende Dinge erzählt. Leute, die ihn bedienten, hielt er über die Maßen gut und mochte ihnen gern jede Lebensfreude gewähren. Er fütterte nicht nur seinen Hund und seinen Kanarienvogel, auch Fliegen und Spinnen, und trug im Herbst ihr Winterfutter sorgsam ein.

So hatte Jean Paul Friedrich Richter nicht nur den klarsten, schwunghaftesten Geist, die reichste, kühnste gewaltigste Phantasie und den hohen edlen Sinn, er hatte auch das liebevollste, edelste und größte Herz, das je in eines Menschen Brust geschlagen, und dieses reiche, weiche, große, schöne Dichterherz ist’s, welches Millionen Menschenherzen entzückt, gehoben, veredelt, mit Gotteshauch erfüllt, mit Gottessegen überglüht hat und in die späte Zukunft hinein über Deutschland Segen bringen, seine Unsterblichkeit aber auch im Segen des deutschen Volks erhalten wird, „so lang die deutsche Zunge klingt.“




Die örtliche Faradisation.
Eine neue Methode der Elektrisation.

Zu den verschiedenen Methoden der Elektrisation ist wiederum eine neue hinzugekommen, welche endlich diesem Heilverfahren einen ebenbürtigen Platz unter den ärztlichen Kunstfächern errungen hat. Nur wenig wissenschaftlich gebildete Aerzte wandten vordem diesem Gegenstände ihre Aufmerksamkeit zu; höchstens veranlaßten augenblickliches Bedürfniß, neuerungssüchtigen Patienten gegenüber, oder Laune einmal den Erwerb einer Maschine, die aber nur allzubald wieder in einem entlegenen Winkel dem Staube preisgegeben wurde; bleibende Stätte fand der Apparat nur in den physiologischen Laboratorien zum Studium der Funktionen gewisser Körpertheile und Gewebe und es erfuhr namentlich die Lehre von der Thätigkeit des Nervensystems dadurch eine bedeutende Bereicherung; den elektrischen Strom in gleicher Weise am lebenden Menschen anzuwenden, daran dachte man nicht sogleich; erst nach und nach eröffneten sich Gesichtspunkte, welche eine derartige praktische Ausbeute versprachen. Was Nobili, A. v. Humboldt, Matteucci u. A. vermuthet und angedeutet, bewies der geniale Dubois-Reymond nach Jahre langem Studium als positive Wahrheit; daß nämlich das in den Nerven thätige Princip, das sogenannte „Nervenfluidum“ gleichbedeutend mit dem elektrischen sei; er definirte den Nerven als einen aus bipolaren Molekeln zusammengesetzten Elektricitäts-Erreger und Leiter und wies auch im Muskel einen solchen Strom nach. Somit lag die Vermuthung nahe, daß ein dem Nerven- und Muskelleben so nahe verwandter Reiz auch ganz vorzugsweise sich zur Belebung kranker Nerven und Muskeln eignen müsse; spätere Forschungen ergaben sogar, daß ein dermaßen in den „elektrotonischen“ Zustand versetzter Nerv für andere Reize unempfänglich sei. Der [487] gelehrte Froriep versuchte zuerst, die elektrische Behandlung rheumatischer Affektionen wissenschaftlich zu begründen. In England wurde ferner die wichtige Beobachtung gemacht, daß von zwei nur noch mittelst der Nerven mit dem übrigen Körper zusammenhängenden Froschschenkeln der eine, sich selbst überlassen, rasch abmagere und verkomme, der andere, täglich elektrisirt, noch lange seinen natürlichen Umfang beibehalte und fortvegetire; auffallend war auch bei derartigen Versuchen der größere Blutgehalt der eben elektrisirten Muskeln. Johannes Müller endlich äußerte sich folgendermaßen: „die Nervenkraft nimmt zu durch dieselben Mittel, durch welche sie beständig wieder erzeugt wird, nämlich die beständige Reproduktion aller Theile aus dem Ganzen und des Ganzen durch Assimilation. Für einen geschwächten Theil sind gelinde Reize daher nicht darum nützlich, weil sie die Reizbarkeit erhöhen, sondern weil ein gereizter Theil mehr die Ergänzung des Ganzen anspricht und daher vorzugsweise wieder ergänzt und erzeugt wird.“

Dieses reichhaltige Material lag zur praktischen Verwerthung bereit, als die medicinische Gesellschaft zu Gent eine Preisfrage „über die Wirksamkeit der Electricität bei Behandlung von Krankheiten“ ausschrieb und, durch diese angeregt, widmete Duchenne zu Paris dem Thema seine volle Kraft, und seine Bemühungen wurden wie mit dem Preise auch mit dem schönsten praktischen Erfolge gekrönt; er wußte die gelehrte Welt im vollsten Maaße für seine Ergebnisse zu interessiren und dieselben wurden auch in Deutschland von den angesehensten Männern der Wissenschaft verfolgt und fortgeführt.

Zunächst verdient Erwähnung, daß D. einen neuen Namen, der recht glücklich gewählt ist, einführte: er nannte seine Kunst „Faradisation“ nach Faraday, dem Erfinder der durch Induktion galvanischer Ströme gewonnenen Elektricität; er operirte fast ausschließlich mit diesem und sein Apparat unterscheidet sich außer durch größere Bequemlichkeit und besondere Vorrichtungen zur genauern Dosirung der Elektricität nicht wesentlich von den bisher gebräuchlichen.

Viererlei Punkte kommen bei dem neuen Verfahren in Betracht:

1) Die Beschaffenheit der Conduktoren d. h. der Endvorrichtungen, welche den Strom zum Körper leiten; die genauere Prüfung verschiedener Stoffe ergab, daß trockne Metalle eine andere Wirkung haben als feuchte Leiter von Leder oder Schwamm; jene erregen in schmerzhafter Weise die Haut, ebenso diese wenn sie gleichfalls trocken, und Drähte, zu einer Art Bürste vereinigt, wirken schneller und eindrucksvoller als andere Hautreize z. B. die spanischen Fliegen („die elektrische Geißel“). Gegentheils afficiren feuchte Schwämme das Hautorgan viel weniger, sie wirken vielmehr durch dieses hindurch auf die unterliegenden Muskeln und Nerven; so ist man im Stande, bedeutende Bewegungen hervorzurufen, ohne die Empfindlichkeit der Haut in Anspruch zu nehmen. Auch auf innere Organe, wie die Blase, den Kehlkopf, wird mittelst passender Conduktoren direkt eingewirkt.

2) Die praktische Unterscheidung eines primären und secundären Stroms: jener, direkt aus der galvanischen Batterie abgeleitet, hat eine besondere Beziehung zur Muskelfaser: er ist mehr Erreger für die Bewegungsnerven und wird kaum empfunden; der secundäre, d. h. in der Induktionsrolle erzeugte, spricht mehr die Empfindung an und erzeugt daher, auf die Muskeln geleitet, immer auch in der Haut eine eigenthümliche Empfindung. Der primäre Strom eignet sich sonach vorzugsweise für eine Muskellähmung, der secundäre wird angewendet, wo gleichzeitig das Gefühlsvermögen darniederliegt.

3) Die diagnostische Verwerthung der Symptome, mit welchen ein kranker, insbesondere ein gelähmter Theil auf den faradischen Reiz reagirt; in Fällen, wo die Erkennung einer Nervenkrankheit aus den übrigen Erscheinungen nicht mit absoluter Gewißheit gelingt, bietet das Verhalten gegen den elektrischen Strom ein entscheidendes, werthvolles Zeichen; Gehirnlähmung wird dadurch von Rückenmarkslähmung, die rheumatische von reiner Muskelschwäche u. s. w. unterschieden. Ueberdies hat das Studium faradisirter Muskeln am lebenden Körper die Lehre von deren Funktionen wesentlich berichtigt und erweitert.

4) Die Application der Conduktoren, der Kernpunkt der D.’schen Erfindung. Während früher mit ziemlicher Willkür der elektrische Strom meist von den Extremitäten aus durch den ganzen Körper gejagt wurde, und so auch Theile betroffen wurden, denen diese Erregung unnöthig, selbst schädlich sein mußte, wird jetzt jeder Muskel und jedes Organ ganz für sich faradisirt und diese „locale Faradisation“ läßt sich bis auf die kleinsten Muskeln durchführen, so daß ein französischer Gelehrter sie nicht unpassend als eine Anatomie vivante bezeichnet hat. Die Anwendung in dieser Weise setzt eine genaue Kenntniß des anatomischen Details voraus; es kommt darauf an, den gemeinten Muskel an zwei bestimmten Punkten zu treffen, von denen der eine dem Eintritte des bezüglichen Nervens entspricht; andererseits müssen Hautstrecken vermieden werden, unter denen Empfindungsnerven verlaufen, da sonst die Erregung schmerzhaft sein würde.

Nur ein streng wissenschaftlich gebildeter Arzt ist daher im Stande, die lokale Faradisation zu üben. Abgesehen von der Wichtigkeit des Gegenstandes gewährt es ein interessantes Schauspiel, zu sehen, wie ohne Willenszuthun des Individuums die Conduktoren die verschiedensten Bewegungen hervorrufen: die Gesichtsmuskeln gehorchen willig dem scheinbaren Zauber mit jedwedem Mienenspiel und nicht minder prompt erfolgt das starrkrampfähnliche Zusammenzucken der großen Arm- und Rückenmuskeln. So wird am gesunden oder blos muskelschwachen Individuum eine wohlthätige Gymnastik geübt, welche exakter jeden einzelnen Muskel trifft, als es der schwedischen Heilgymnastik gelingt; auch der Orthopädie bietet sich in der localen Faradisation ein mächtiger Bundesgenosse dar. Die überraschendsten Heilerfolge leistet sie aber bei gelähmten Bewegungsorganen. Hier schafft sie, konsequent und methodisch angewendet, ein schlaffes, abgemagertes, kaltes Glied zu einem bewegungskräftigen, vollen um, vorausgesetzt, daß die Krankheit örtlichen Ursprungs, sei es vom Muskel selbst, oder vom Nerven einer Muskelgruppe ausgehend, sei. Lähmungen in Folge von Gehirn- oder Rückenmarksleiden heilen selbstredend nur nach Beseitigung des Grundübels. Den Wirkungskreis der Faradisation bilden hienach vorzugsweise die rheumatischen, hysterischen Lähmungen, die Muskelschwäche, welche sich bei Arbeitern in Bleihütten und Fabriken einzustellen pflegt, sowie die nach Verletzung von Nerven zurückbleibenden gleichen Zustände. Bei Duchenne befindet sich ein gewisser Musset, dem in Folge einer Verletzung der Vorderarmnerven die Hand dermaßen verunstaltet war, daß man zur Amputation schreiten wollte, der Erfinder der localen Faradisation heilte diesen Schaden so vollständig, daß M. jetzt Schreiberdienste bei ihm versieht.

Aber nicht allein gegen Lähmungen erweist sich dies Kunstverfahren heilsam, auch gegen alle andern Muskel- und Nervenleiden, so weit solche örtlicher Natur und nicht mit zu bedeutenden Alterationen des Gewebes oder der Gesammtconstitution verbunden sind. Die in der Einleitung gegebenen physiologischen Data liefern den Anhaltspunkt zur Beurtheilung eines concreten Falls. Alle Beispiele aufzuzählen würde hier zu weit führen; um Mißverständnisse zu vermeiden, sei schließlich ausdrücklich bemerkt, daß die Faradisation nicht etwa ein Universalmittel ist gegen „Hypochondrie, Gicht, Podagra, scrofulöse Fußgeschwüre, Leberverhärtungen und Gebärmutterkrebs“, nur Charlatans eignen sich ohne sonderliche Prüfung alle Krankheiten in Pausch und Bogen zur Beute an; der wissenschaftliche Arzt „distinguit et curat“ und so ist auch der Elektrisation, auf den besseren Boden der rationellen Medicin verpflanzt, ihr bestimmtes aber sehr fruchtbares Feld abgesteckt.

Dr. P. Niemeyer.






Lebensbilder aus dem englischen Parlamente.

III. Layard und D’Israeli.


Zu den stärksten und hoffnungsvollsten Freunden Roebuck’s und den gefährlichsten Feinden der Krim- und Kriegsverbrecher gehörte Layard, der Niniveh-Bullen-Ausgraber. Man dachte eine Zeit lang, er werde seine starken Hörner gegen alle die Kriegsschwindler einlegen, sie in die Luft schleudern und Platz machen für sich und andere vernünftige Leute. Es ist ihm eben [488] so wenig gelungen, wie seinem Freunde Roebuck. Es fehlte theils ihm, theils dem Parlamente das Zeug dazu. In seinem Eifer blamirte er sich, machte er sich manchmal lächerlich. Und das ist im Parlamente schlimmer, als wenn man, wie das Ministerium Aberdeen, öffentlich des Brieferbrechens bezüchtigt wird. „Brieferbrechen sei schlimmer, als Börsenstehlen,“ sagte man dem Ministerio Aberdeen. Aber dies schadete ihm nicht im Geringsten, während Layard in seinem edlen Eifer sich manchmal einige Ungenauigkeiten in anklagenden Thatsachen zu Schulden kommen ließ und daran zu Grunde ging. Jeder schnappte danach und hielt sich daran, um auf diese Weise von dem assyrischen Stier der Reform los zu kommen.

Austen Layard.

Austen Layard, der Entdecker und Auferwecker des alten Niniveh, vor einigen Jahren der Löwe in der Unterhaltung jeder gebildeten Gesellschaft, ist von französischer Abkunft. Seine Vorfahren flohen vor Bluthochzeiten und Bartholomäusnächten nach England und änderten ihren Namen Raymond in Layard. Die Familie lebte sich bald in englische Verhältnisse ein. Ein Vorfahr zeichnete sich militärisch und unseres Layard Großvater als Geistlicher in Bristol aus. Dessen zweiter Sohn lebte eine Zeit lang in Paris, wo ihm Austen am 5. März 1817 geboren ward. Layard studirte anfangs Rechte, ekelte sich aber bald davor und floh in die Welt hinaus Zunächst wollte er nach Indien, dessen Bewohner unter englischer Tortur nach einer feurigen Schilderung O’Connell’s auf das Entsetzlichste mißhandelt wurden. Layard wollte zur Erlösung der englisirten Indier beitragen, kam aber nur bis Süd-Persien, unter dessen wilden Stämmen er sich zwei Jahre lang neugierig und studirend herumtrieb. Ein Bericht darüber, namentlich über die commerciellen Aussichten, die sich dort für englische Waaren eröffneten, an das Ministerium gesandt, und außerdem veröffentlicht, brachte ihn zuerst vor das Auge der Oeffentlichkeit. Er traf mit einem befreundeten Häuptling im südlichen Persien die nöthigen Vorbereitungen zu Handelsverbindungen, als einer jener häufigen Stammes- und Parteikriege ausbrach, in welchem fast alle Freunde und Begleiter Layard’s ermordet wurden. Er selbst war einer der Wenigen, welche nach Constantinopel entkamen. Hier trat er mit dem englischen Gesandten Stratford de Redcliffe in Verbindung, der ihm Mittel zu seinen berühmten Ausgrabungen Ninivehs gab. Diese Ausgrabungen und deren Schätze sind vielfach geschildert worden. Wer hätte nicht gehört von den Gefahren, denen er von den abergläubischen Eingebornen offen ausgesetzt war, wenn er einen gigantischen Stier, einen Palast nach dem andern der seit zwanzig Jahrhunderten begrabenen Hauptstadt des alten Assyrer-Reichs enthüllte, auferstehen und über Steinblöcke und Sümpfe, Abgründe und Berge auf’s Schiff, in’s britische Museum spediren ließ? Diese Geschichten klangen sehr romantisch, und die antiquarischen und historischen Verdienste der Ausgrabungen sind groß genug; aber wir müssen sie hier bei Seite liegen lassen.

Auch die parlamentarische Thätigkeit Layard’s, in die er als berühmter, hoch protegirter Mann gerufen ward, war bis 1852 ganz bedeutungslos, da er fast alle Zeit der Verfolgung seiner literarischen und antiquarischen Studien opferte. Selbst von 1852 an blieb er als Unterstaatssecretair des Auswärtigen noch ohne parlamentarischen und staatsmännischen Glanz. Die Anerbietungen des Derby- und des Aberdeen- und des Palmerston-Ministeriums, welche ihm alle Staatssecretairstellen anboten, wies er ab, weil ihm deren Schwindeleien und Durchstechereien gar zu widerlich waren. Als Parlamentsmitglied und Vertreter von Aylesbury verhielt er sich auch noch ruhig, bis der Krimschwindel und die „Mißverwaltung“, welcher ganze Armeen geopfert wurden, welcher das ganze historischn Ansehen Englands unterlag, die Herzen aller nicht schwindelnden Engländer empörte. Als Kenner des Ostens hatte er gleich von vorn herein ein besonderes Interesse an der „Rettung der Türkei“ genommen, und zwar ein anderes, als Stratford de Redcliffe, mit dem er 1853 nach Constantinopel gegangen war. Dieser englische Gesandte behandelte die Türkei wie ein gallsüchtiger, spleeniger Hausherr sein Gesinde – und noch schlimmer. Layard kehrte empört über diesen tyrannischen Kauz nach England zurück, und forderte vom Parlamente, daß es Aberdeen entweder absetzen oder ihn zwingen sollte, wirklich etwas Ehrliches für die Türkei zu thun. Er redete stark, aber Parlament und Minister blieben schwach. Beide schienen sich im Geheimen verständigt zu haben, daß die Türkei durchaus nicht gerettet und deshalb die englische Armee lieber ruinirt werden sollte.

Layard hatte keine Ruhe zu Hause, und reiste direct nach dem Kriegsschauplatze, wo er vom Hauptmaste des Kriegsschiffs Agamemnon die erste Schlacht an der Alma mit ansah. Er blieb auf der Krim bis nach der Schlacht bei Inkerman, und berichtete in der Times in lebendiger Schilderung und höchster Empörung darüber. Das gedruckte Wort wirkte wohl auf England, aber nicht auf die Regierung. Deshalb kam er zurück und griff sie im Parlamente an. Monate lang war das Land und mittelbar ganz Europa in Erwartung der großen Dinge, welche aus Layard’s reformatorischen und die Minister beinahe mit Galgen bedrohenden Anträgen hervorgehen sollten. Es kam aber nichts dabei heraus, als die Krim-Untersuchungs-Kommission. Und was kam aus der Krim-Untersuchungs-Kommission? Palmerston blieb, was er gewesen, und er machte den Frieden ganz seinem Charakter gemäß und leitete die Regierung, wie sie seit undenklichen Zeiten geführt worden war, im Interesse der regierenden Klassen, auswärtiger Einflüsse und nicht zum Ruhme Englands. Bei der ganzen Geschichte ward Niemand gehangen, als Layard, nämlich an den Nagel der Vergessenheit! Er spukt zwar noch zuweilen, wie Roebuck, als Reformator, aber nur als „respektabler“ Reformator für Geldsäcke, Banquiers, Eisenbahndirektoren und dergleichen Herren, die er an die Stelle der Aristokratie bringen helfen möchte. Wer aber Beide kennt und zwischen Beiden [489] die Wahl hat, wird ohne Weiteres zugeben, daß die Aristokraten viel anständiger mit dem Volke Humbug treiben, d. h. regieren, als die geldgeschwollenen Größen englischer Bourgeoisie. Es ist ein Glück für England, daß Layard’s Reformen abgewiesen wurden. Wer in England reformiren will, muß mit ganz andern Mitteln und Männern kommen, wie Layard. Daß er übrigens auf parlamentarischem Wege mit keiner Art von Reform durchkommen konnte, geht aus der Konstruktion des Parlaments und seiner Art, Gesetze und Geschäfte zu machen, deutlich hervor. Wir versparen uns eine Einführung in die Gesetzfabrikation und die Praxis des Parlaments bis auf das letzte Bild.

D’Israeli.

Layard ist ein untersetzter, aber in seinem Auftreten und Reden etwas unsicherer Mann, ohne Genie, selbst ohne Rednergabe. Sein Ruhm liegt nicht sowohl in ihm selbst, als in seinen assyrischen Bullen. Die Schwingen, mit denen er sich aus der Unterwelt Englands in die obere hineinhob, bestanden wesentlich aus den Flügeln dieser alten assyrischen Ochsen. Aber mit denen wäre er auch noch nicht in die Höhe gekommen, wäre er nicht durch Stratford de Redeliffe den regierenden Klassen empfohlen worden. Als anständiger Mann und Gelehrter konnte er aber sein Gewissen nie ganz zum Schweigen bringen gegen den Schwindel des Regierens, so daß er die ihm gebotenen Staatsstellen in neuerer Zeit stets abwies. Aber es fehlten ihm dann auch die wahren Schwingen der Größe, als er gegen die Regierung auftrat. Er denkt und fühlt anständig, aber nicht tief und groß. Er hat, wie alle Engländer, kein Princip. Ohne Schwungkraft des Genius in sich, ohne Schwingen von außerhalb, konnte er blos eine Zeit lang hitzig flattern, aber nicht fliegen. „Ihr seid meine Schwingen,“ sprach Feldherr und König Pyrrhus zu seinem Heere. Die Victoriaflügel parlamentarischen Fluges sind Stimmen. Weder Layard, noch Roebuck, noch Bulwer, noch D’Israeli – die Hauptfeldherren gegen die Krim- und Kars-Verräther und Kriegsgichtbrüchigen – konnten nie so viel Genie und Geist beim Stimmeneinhandeln bieten, als Palmerston Geld, Stellen, Autorität, Witz und Unverschämtheit. Sie boten Mittelmäßigkeit und Mittelklassen und D’Israeli torystische Aristokratie für whiggistische Aristokratie. Die großen Massen dachten: es ist uns ganz egal, wer uns behumbugt, die Lord-Nudel- oder die Lord-Dudelfamilie, oder nahmen Partei für den alten, jovialen Schwerenöther Palmerston gegen die drohenden Geldsäcke oder kehrten der ganzen Wirthschaft überhaupt den Rücken, weil sie wohl wußten, daß in dem Kriege um Ministerwechsel und Reform nur die Mittelklassen und Aristokraten mit einander stritten und für sie, die großen, arbeitenden Massen, nichts abfallen könne, da beide stets sofort einig und stark sind, wenn von Unten und Außen etwas auf „parlamentarischem Wege“ erstrebt und erbeten wird.

Es gilt für unanständig, es ist ganz unparlamentarisch, sich für etwaige Anträge auf das Land, auf das Volk im Allgemeinen, auf Stimmen außerhalb zu stützen. Keiner will für unanständig gelten. Daher stützt er sich blos immer auf Parteien und Kliquen im Parlamente und bleibt so, wie er auch reden mag, ein Sklave dieser Kliquen, dem es nie gelingen kann, nie gestattet wird, etwas für Land und Leute im Großen zu thun.

Der Hauptschwerenöther dieses Parteigängerunwesens ist dieser langhaarige, lange Israel, der es vom Handel mit Verstand und alten Sachen schon einmal bis zum Finanzminister und der Leithammelschaft des Toryismus, der Derbyiten, gebracht hat. Geboren im December 1805, ist er immer noch ein angehender Fünfziger mit der Miene eines Mannes in seinen besten Jahren. Schon im 21sten Jahre machte er sich als Mitarbeiter an einer hochtorystischen Zeitung bemerkbar. Aber „The Representative“, wie die Zeitung hieß, lebte von dem auf 20,000 Pfund Sterling anschwellenden Verluste des Verlegers nur sieben Monate. Mit der Aristokratie ist kein Geschäft zu machen, dachte nun der Sprosse aus dem Stamme Benjamin und fing an, für Freiheit, allgemeines Wahlrecht, kurze Parlamente und allgemeine Reform zu schwärmen. Als solcher Schwärmer für Freiheit schwärmte er zugleich für den irischen Agitator O’Connell, durch welchen er auf verschiedene Wahlbühnen geführt ward, anfangs (1835) ohne, aber später (1837) mit Erfolg. Er saß bis 1841 für Maidstone, bis 1847 für Shrewsbury und seitdem für Buckinghamshire im Unterhause, so daß längst Jeder weiß, wer unter dem so oft in Parlamentreden spöttisch erwähnten „Mitgliede für Buckinghamshire“ gemeint sei.

Mit seiner Jungfernrede im Parlamente ward er so lange ausgelacht, bis er geschlagen und erschöpft niedersank, nicht aber, ohne vorher trotzig ausgerufen zu haben: „Ich will mich nun setzen, aber es wird eine Zeit kommen, wo Sie mich hören werden.“ Und so kam’s. Er gewann allmälig „das Ohr des Hauses“ für seine kühnen Sprüche, glänzenden Paradoxen und spöttischen Hiebe, und ist jetzt nicht nur der populärste Redner, sondern auch Häuptling der Ministerial-Partei Nudel, die allemal an’s Ruder konimt, wenn die Partei Dudel abgetrieben wird. Benjaminchenleben war als Ruhmesposaune Sir Robert Peel’s im „Hause“ aufgetreten, da dieser Aussicht hatte, ein „Ministerium zu bilden.“ Er bildete auch 1841 eins, aber ohne Benjaminchenleben, was nun seinen Lockenkopf senkte, um ihn mit dem grimmigsten Hasse gegen seinen ehemaligen Abgott, der noch dazu durch den Drang, Minister bleiben zu, wollen, nicht aus Ueberzeugung, zum Apostolat des Freihandels übergegangen war, wieder zu erheben.

Benjamin gehört zu der Sorte von Schacherjuden, welche meinen, der Handel müsse ein Privilegium seines Stammes bleiben. Er verfolgte den Freihandelapostel Robert Peel bis zu dessen Grabe und ward zuletzt aus demselben Drange Freihändler, wie Robert Peel aus Liebe zum Ministerbleibenwollen. Wie Peel starb und die Whigs daran kamen, wie die Whigs gingen und die Tories wieder hereinschritten und Benjamin D’Israeli zu seinem eigenen und der Welt Erstaunen Finanzminister ward und wie er mit seinen Finanzreformen trotz des Uebertritts zum Freihandel durchfiel und die Tories deshalb wieder abtraten und ihre Ministerposten wieder den Whigs, denselben Namen, überließen, bis letztere wieder abtraten und erstere wieder dran kamen, darüber könnte man in einer Biographie D’Israeli’s recht gut dicke Bände schreiben; aber dieser ganze Schwindel ist so ideen- und geistlos, so feindlich gegen Alles, was man anständiger Weise parlamentarisches Leben, constitutionelle Fürsorge zum Wohle eines Volkes, Politik und Regierung nennen könnte, daß man es der Achtung [490] vor dem Leser schuldig ist, davon zu schweigen. Nur ein Wort über die fruchtlosen Angriffe D’Israeli’s und seiner Partei auf die palmersten’sche Wirthschaft, die aber blieb, obgleich sie sich und das Land bis zur schamvollsten Erniedrigung allseitig bloßgestellt hatte. Die Tories trauten ihrem Häuptling nicht recht und thaten nichts Rechts für ihn. Die Friedensmänner und Herren von Manchester und Kattun, welche D’Israeli in die Verschwörung zu ziehen versucht hatte, dachten: wozu sollen wir dem langen Israel wieder auf die Minister-Bank helfen? Jeder Andere ist mindestens eben so gut, wenn nicht besser. Und dem langen Israel, der in allen Parteien „gemacht“ und alle mißbraucht hat, traue der Teufel, aber wir nicht. So fiel auch er durch und es wurde weiter gedudelt, so das D’Israeli noch eine Zeit lang warten muß, ehe er wieder nudeln kann. Inzwischen bleibt er ein pikanter Stoff in langweiligem Hause. Jeder macht gern einen Witz über ihn, weil er gelegentlich Jeden einmal gebissen hat. Er gibt auch viel Stoff zur Komik. Er hat so seine Eigenheiten. Er kommt sehr fleißig, sogar ziemlich regelmäßig in’s Haus, stets allein und heimlich marschirend, Niemanden unterwegs ansehend oder gar mit sich reden lassend. Vor der Uhr zwischen beiden „Häusern“ vorbeischreitend, macht er jedesmal ohne Ausnahme einen heimlichen Blick auf deren Chifferblatt, so daß man ihn in dieser Situation schon karrikirt hat, setzt sich dann auf seinen Platz und stellt den Hut, den alle Andern aufbehalten, sorgfältig unter die Bank. Jetzt kreuzt er die Arme, sieht auf den Boden und bleibt so sitzen, bis er aufsteht, um zu reden. Ganze Stunden, ganze Abende sitzt er so ohne sein Gesicht zu bewegen oder zu seinem Nachbar Napier eine Silbe zu sagen. Diese automatische Regelmäßigkeit, sein einziger entblößter Lockenkopf unter Behutsamen und Bedachten und der Mechanismus seiner Beredtsamkeit – das Alles sind kleine, eben durch Ausdauer mächtige Hülfsmittel, sich interessant zu halten. Er spricht, wie die Geister, nur um Mitternacht. Vor eilf bis zwölf Uhr in der Nacht tritt er nie als Redner auf. Nachts um die zwölfte Stunde verläßt er das Grab seines Sitzes und fängt an zu reden. Wer ihn noch nicht gehört, fühlt sich stets beinahe eine Stunde lang getäuscht. Die Meisten denken, er sei ein Redner, aber seit Brougham, dem H. Heine das herrlichste Denkmal gesetzt, gibt es keine Redner mehr im Parlamente, weil keine Herzen und Stoffe dazu mehr zugelassen werden. D’Israeli säuert und leiert etwa eine Stunde lang ziemlich gewöhnlich mit der Hand auf dem Tische und den Augen auf dem Boden. Dann nimmt er allmälig seine triumphirende Stellung, wie die gezeichnete, an und schießt los. Er bewegt sich, erhebt sich und verkündet die Periode des Witzes – von der Dauer einer Viertelstunde – durch sarkastische Winkel im Munde. Er spielt an, beißt direct, holt aus und haut epigrammatisch auf einen ganz unvorbereiteten Kopf. So macht er seine Kunststücke rasch hinter einander und hält sich dadurch in dem Rufe, eine Größe unter Zwergen, ein Einäugiger unter Blinden zu sein. Dabei ist nicht zu verschweigen, daß er ein besseres, namentlich in Adjectiven vortrefflicheres Englisch spricht, als jeder andere College, daß er als Verfasser von Romanen und Memoiren belesener, gebildeter, gewandter, unterrichteter, fleißiger ist, gewählter redet und schauspielert, als der Haufen seiner Genossen, die sich mehr oder weniger alle auf unreellere Weise in’s Haus hineingeboren, gekauft und geschwindelt haben, als D’Israeli, der mindestens insofern merkwürdig ist und ein Verdienst vor diesen Andern beanspruchen kann, als er sich ohne Reichthum, ohne Geburt, sogar mit einem jüdischen Stammbaume, durch bloßes Talent, durch List und Geschicklichkeit allmälig selbst so hoch in die Hohe schob.





Sir Humphrey Davy und König Ludwig von Baiern.


Der Name Humphrey Davy hat in der großen Genossenschaft der europäischen Naturforscher einen eben so guten Klang, als bei denen jenseits der Meere. Trotz dem und alledem war er ein Engländer, und hatte mitunter echt altenglische Passionen und Gedanken, deren eine und einer ihm sogar einmal so übel bekommen wäre, daß sein Streben und Wirken ein rasches Ende gefunden hätte, wenn nicht König Ludwig von Baiern, damals noch Kronprinz, ihm einen rettenden Angelhaken an den Hals geworfen hätte. Das klingt seltsam, vielleicht lächerlich, und ist doch vollkommen wahr im allerwörtlichsten Sinne. Er selbst, Sir Humphrey, und darum gewiß die beste und sicherste Quelle, erzählt die Begebenheit in seinem Tagebuche, dem auch der Erzähler treu hier folgt.

Auf einer Reise durch Deutschland, welche Sir Humphrey Davy mit einem, von ihm sehr geliebten Neffen machte, kam er in die prächtigen baierischen Hochalpen, in das Salzkammergut und nach Tyrol. Nichts zog ihn in dem Grade an, als die tiefen, blauen Seen dieser wundervollen Gebirgslandschaft, oft ihn mahnend an die schottischen Hochlande und doch wieder unendlich von diesen in ihrem Charakter verschieden. Am Traunsee lange verweilend, wünschte Sir Humphrey die Ufer der Traun und ihren herrlichen, wenn das Wasser hoch ist, einen vollkommnen Vergleich mit dem Rheinfall bei Schaffhaufen aushaltenden Fall kennen zu lernen. Der Plan war leicht ausführbar und wurde es in der rasch entschlossenen Weise Sir Humphrey’s. Der Neffe war doppelt froh, weil es auch seinen Liebhabereien zusagte. Ob er gleich nicht lange hatte verweilen wollen, so kam doch ein Umstand hier in Betracht, an den Sir Humphrey nicht gedacht hatte, dem er aber in seiner Liebe zu seinem Neffen mit der größten Geduld und Gutmüthigkeit Rechnung trug. Wir kennen die unüberwindliche Hingebung englischer Angler an ihre noble Passion. Sir Humphrey’s Neffe war ein leidenschaftlicher Angler. Oberhalb des Traunfalles gibt es eine Menge Fische und es sind die sogenannten „Arschen“ die köstlichsten darunter, deren Fleisch Sir Humphrey über die Maßen lieb gewann. Der Neffe war gar nicht von einer Stelle wegzubringen, die seiner Liebhaberei eben so günstig, als vortheilhaft für des Oheims und seinen eigenen Mittagstisch war. Diese Stelle war ein stilles, tiefes Wasser in einer kleinen von Felsen rings umstarrten Bucht, ein sogenannter „Woog“, ziemlich entfernt vom Falle der Traun. Unterhalb des Falles harrte des Anglers ein anderes Vergnügen, von dem weiter unten die Rede sein muß.

Eines schönen Morgens wanderten Oheim und Neffe nach dem Traunfalle hinaus, beide aber in ganz verschiedener Absicht. Der Neffe wollte auf den Mittagstisch ein leckeres Gericht selbstgeangelter Arschen liefern, und der Oheim war im Begriffe, ein sehr waghalsiges Unternehmen auszuführen. Die wunderherrliche, stets wechselnde Beleuchtung des Traunfalles, das Schauspiel des furchtbar wirbelnden, aufkochenden, brodelnden, zischenden und rauschenden Falles einmal ganz in der Nähe mit aller Ruhe und Sammlung zu genießen, hatte sich Sir Humphrey eine einfache, wie es ihm schien, völlig gefahrlose Weise ersonnen.

Zu seiner Verfügung stand nämlich eins jener flachen Boote oder Kähne, womit die Schiffer der Traun Salz und Holz nach Oberösterreich zu bringen pflegen. Dies Fahrzeug sollte nun durch ein langes, zu beiden Ufern der Traun reichendes Seil oder Tau also gestellt werden, daß Sir Humphrey möglichst nahe dem Falle in demselben ruhig sitzen und seine Beobachtungen machen könne. Zu dem Ende nahm er auf der einen Seite zwei Schiffer, welche das Seil, einfach an einen Baumstamm oder eingerammten Pfahl gelegt, halten sollten. Sein Bedienter, ein Mensch von riesenhafter Stärke, wollte am andern Ufer dasselbe Experiment allein fertig bringen. An ein Mißlingen, an eine Gefahr, dachte Sir Humphrey gar nicht, da, wie bemerkt, sein Diener ein eben so besonnener und umsichtiger, als kräftiger Mensch war, und die beiden Schiffer zu den kräftigsten gehörten, die man hatte auftreiben können. Alles war mit Vorsicht und Sachkenntnis vorbereitet, und während der Neffe an seiner einsamen, stillen Bucht mit altenglischer Ruhe seine Angel mit dem Köder in die Fluth senkte, und die Bewegungen der künstlichen Fliege auf dem Wasser beobachtete, stieg Sir Humphrey in seinen Kahn, der bald an seiner Stelle lag und von dem schäumenden Gewässer in einer schaukelnden Bewegung erhalten wurde, ohne daß er übrigens auch nur einen Zoll breit von seiner Stelle wich. Sir Humphrey gab [491] sich, Alles um sich vergessend, dem vollen Genusse des Eindrucks hin, den die großartige Scenerie auf ihn machte.

Plötzlich weckte ihn ein gellender Schrei aus seinen stillen Beobachtungen und Betrachtungen, und ein Ruck des Kahnes, der das Hintertheil desselben herumwarf, und ihn mit seinem Breitbord dem Strome entgegenstellte; er erschrickt, blickt nach der Seite, woher der Ruck und Schrei kommt, und sieht seinen Bedienten verzweifelnd die Hände ringen und – das Haltseil – ihm entschlüpft. Die beiden Schiffer am andern Ufer strengen sich furchtbar an, den Kahn rückwärts und an dasjenige Ufer zu ziehen, auf dem sie ihren Posten haben; allein die Macht des Stromzuges übersteigt ihre Kraft; soll sie nicht das Seil in die Fluth reißen, so müssen sie es los und den Kahn und Sir Humphrey seinem Schicksale, nämlich mit dem Kahne in den Fall hinunter gerissen zu werden, überlassen. Vergeblich strengen sich die Starken an, den Kahn zu halten. Ihre Kräfte erlahmen; das Seil entgeht ihnen – und – der Kahn schwebt auf den aufbrausenden Wogen des Kammes, über den sich der Fluß hinabstürzt.

Denkt man sich in die Lage Sir Humphrey’s, so schwindelt es Einem auf ebener, trockener Erde! An ein Anderes, als mit dem Falle in das tiefe Becken hinabgeschleudert zu werden, wo dennoch, wie auch seit Jahrtausenden die wilden Wogen schlagen, lecken und peitschen, spitzige Felsen anstehen, war nicht mehr zu denken, wenn nicht ein kühner Sprung, riesige Kraft und außerordentliche Schwimmkunst rettet. Für dies Alles aber war es zu spät, denn mit furchtbarer Eile zieht das Wasser den Kahn dem brausenden Abgrunde zu. – Einen Augenblick hatte er selbst an diesen Rettungsversuch gedacht, aber ein Blick auf die außerordentliche Schnelle, Macht und Gewalt, womit der Wasserstrom nach der Tiefe zieht, überzeugt ihn, wie wenig das helfen kann.

Hören wir, wie er selbst mit kurzen, aber ergreifenden Worten seine Lage und Stimmung zeichnet:

„Also noch einen Blick nach dem heitern Himmel und der lachenden Erde unter dem Regenbogen; ein paar Worte des Gebetes an den Urquell des Lichtes und des Lebens – und einen Augenblick ungeheures Toben und Nacht, die mich umgeben!“

Begreiflicher Weise entschwand ihm schnell das Bewußtsein[WS 1]. –

Auf einer Sommerreise im untern Italien, gerade ein Jahr früher, als dies entsetzliche Abenteuer dem großen Naturforscher begegnete, saß er auf einem mächtigen Quadersteine, den eine stolze Pinie beschattete, und betrachtete in stummem Staunen die gewaltigen Ueberreste des Tempels von Pästum. Sir Humphrey war weniger Kenner als Freund der Alterthümer; weniger eingeweiht in die Regeln altgriechischer Architektur, als er ihre kolossalen und herrlichen Werke bewunderte. Dennoch wünschte er über Manches eine aufklärende, tiefer eingehende Belehrung und vermißte sie in diesem Augenblicke recht sehr schmerzlich. Da hielt unfern von ihm ein Wagen, aus dem ein Mann ausstieg, dessen Kleidung zwar unscheinbar, dessen Haltung und Wesen aber etwas imponirend Hohes hatten. Der Fremde grüßte leicht, aber sehr zuvorkommend, besah mit Ruhe die edlen Reste einer untergegangenen Welt und trat dann, von der stechenden Sonne belästigt, zu Sir Humphrey, mit der Bitte, im Schatten der Pinie, auf dem Steine neben ihm Platz nehmen zu dürfen. So entspann sich auf die einfachste und natürlichste Weise ein Gespräch, und der artige Fremde entwickelte einen reichen Schatz kunstgeschichtlicher und architektonischer Kenntnisse, denen Sir Humphrey um so freudiger das Ohr lieh, als sie ganz seinem Bedürfnisse und seinen Wünschen entsprachen. Die Unterredung, welche bald auch in Gebiete übergriff, die Sir Humphrey Davy in seltenem Umfange beherrschte, war ganz geeignet, anderseitig Achtung zu erwecken. Sie dauerte lange, denn die Sonne neigte sich schon zum Niedergange, als der Fremde sich erhob, kurz, aber mit artigen und anerkennenden Worten sich empfahl, in seinen Wagen stieg und den Blicken Sir Humphrey’s entschwand. Es ärgerte ihn baß, den Fremden nicht nach seinem Namen gefragt zu haben, indessen hoffte er ihn doch wiederzusehen, allein nirgend, wie lange er auch in Italien weilte, sah er ihn wieder. Lange blieb ihm die lehrreiche Unterhaltung im Gedächtnisse. Das Bild des Fremden prägte sich ihm tief ein. Als er ihn aber nicht wiedersah, drängten die wechselnden, den Geist so sehr in Anspruch nehmenden Ereignisse, Anschauungen und Eindrücke, welche ihn überall in Italien erfaßten und fesselten, auch diese Erinnerung in den Hintergrund.

Der Fremde, welcher Sir Humphrey Davy so sehr angezogen hatte, war niemand anderes, als König Ludwig von Baiern, damals noch Kronprinz, welcher sich in jenem Sommer in Italien aufhielt, und seine reichen Kunstschätze studirte und sammelte.

Im folgenden Sommer war der kunstliebende Prinz nicht in Italien, wohl aber machte er eine Reise in die Hochlande Baierns und die angrenzenden Berggebiete Oesterreichs. Auf dieser Reise kam der Prinz gerade zu der Zeit, als Sir Humphrey und sein Neffe oberhalb des Traunfalles angelten und sich vergnügten an der reizenden Landschaft, unter dem Falle der Traun an, um Lachse zu angeln, die hier sehr häufig sind.

Es ist eine den Lesern bekannte Eigenthümlichkeit des Salms oder Lachses, daß er aus dem Meere in die Flüsse und Ströme steigt und von da selbst bis in die Quellgebiete derselben, in die kalten, seichten Bergbäche, um dort zu laichen. Kein Hinderniß ist schier im Stande, den Fisch in diesem instinktiven Wandern aufzuhalten. Er hat in seinem Schwanze eine so immense Muskelkraft, daß er sich über jede Stromschnelle, jedes Währ hinausschnellt und selbst die Fluthenmacht des Rhein- und des Traunfalles überwindet. Oft freilich macht er den Versuch, sich darüber hinwegzuschnellen, zwanzig bis dreißig Mal; wird allemal wieder zurück in das wirbelnde Becken des Falles geschleudert und sammelt immer wieder neue Kraft, um den mächtigen Schwung noch einmal zu versuchen, bis er endlich gelingt oder der Fisch ein anderes Nebengewässer aufsucht, das seinem Triebe genügt. So findet es sich denn, daß die mächtigen Lachse, welche aus dem schwarzen Meere die Donau und die Traun heraufsteigen, oft in außerordentlicher Menge in dem Becken, das der Traunfall ausgehöhlt hat, sich sammeln, um sich hinüberzuschwingen und oberhalb des Falles ihre Reise fortzusetzen. Da werden denn eine große Menge geangelt. Dies geschieht, begreiflicher Weise, nicht mit jenen schwanken Angelruthen, die sich zum Wanderstabe in einander schieben lassen, sondern mit verhältnißmäßig derben Stangen, Schnüren und Angelhaken. Auch der Kronprinz fand großes Vergnügen an diesem Angeln und stand eben unter dem Traunfalle, als Sir Humphrey das Unglück begegnete, daß sein Bedienter, weil ihm vom Halten gegen den mächtigen Zug des Stromes zum Falle die Hände völlig taub, gefühllos und unmächtig geworden waren, das den Kahn haltende Seil fahren lassen mußte.

Als nun der Kronprinz da unten steht und seinen gewaltigen Angelhaken in die wildtosende Fluth senkt, macht ihn plötzlich etwas Dunkeles über dem hell von der Sonne beleuchteten Wasserfalle aufmerksam. Er richtet schnell den Blick dahin und – seine Haare sträuben sich vor Entsetzen – denn – er erblickt hoch auf den sich aufbäumenden Wellen einen Kahn und in dem Kahne einen die Arme flehend gen Himmel hebenden Menschen, der in demselben Momente aber auch schon wirbelnd in der Fluth und von ihr verschlungen, und in der grauenvoll gähnenden Tiefe begraben ist.

Es war ein furchtbarer, erschütternder Anblick. Der Prinz wußte, daß in dem Becken abgewaschene Felsstücke mit scharfer Spitze und Kante liegen, daß also, wenn man auch den Leichnam finde, doch an ein Retten des Lebens nicht wohl zu denken sei. Voll Geistesgegenwart sagt der Prinz zu seinem Leibdiener, der unfern sitzend auch Zeuge des furchtbaren Schauspiels gewesen war: „bleibe hier bei mir und hilf mir den Körper heranziehen, wenn ihn das Wasser hebt!“

Kaum hatte der Kronprinz dies Wort gesprochen, so hob der Wellengischt den bleichen Leichnam Sir Humphrey’s wieder zur Oberfläche, und geschickt warf der Prinz den Angelhaken aus, der sich in Sir Humphrey’s Rock festhakte und nun zogen Beide, der Kronprinz und sein Diener mit Kraft, aber auch mit der nöthigen Vorsicht, daß die Schnur nicht zerreiße, den Körper zu sich heran. Dies gelang endlich vollkommen, und eben als ihn Beide auf den grünen Uferrasen ziehen und hinlegen, stürzen die beiden Bauern herbei, die auf ihrer Seite an dem Seile gehalten, aber außer Stande gewesen waren, gegen den Andrang der Fluth den Kahn zurückzuziehen. Schnell ließ ihn nun der Prinz in den Ort und zu dem Hause bringen, wo er wohnte und wo sein Leibarzt sich befand, der denn sofort kunstmäßig alle Belebungsversuche unternahm und emsig fortsetzte, bis er dem eifrig handanlegenden [492] Kronprinzen sagen konnte, ihre Bemühungen seien nicht vergebens, der Verunglückte werde bald sein Auge wieder aufschlagen. Dies geschah allerdings auch, aber der Blick war ohne geistigen Ausdruck. Er schloß ihn wieder und nachdem ihm der Arzt etwas eingeflößt, fiel er in einen tiefen Schlaf und ein wohlthätiger Schweiß bedeckte den Körper.

Der Kronprinz, der nicht vom Bette wich, und in dem Verunglückten bald wieder den Fremden aus Pästum erkannt hatte, hörte denn nun, wer er eigentlich sei, als der Neffe in Todesangst herbei eilte, der erst nach seiner Zurückkunft vom Angeln das grauenvolle Ereigniß aus dem Munde des treuen, sich nun voll Verzweiflung als Mörder seines theuern Herrn anklagenden Dieners vernommen hatte.

Der Kronprinz konnte sowohl den Neffen, als den verzweiflungsvollen Diener beruhigen und Letzterer erzählte unter tiefem Leide die ganze Geschichte.

Nach einer halben Stunde traten alle an das Bette, wo eben Sir Humphrey mit dämmerndem Bewußtsein zum Lebens- und Tageslichte erwachte. Als er den Fremden aus Pästum nun seinerseits auch erkannte, fragte er: „Bin ich denn in einer andern Welt oder noch auf dieser Erde?“

„Sie sind, freilich nach einem schauerlichen Bade, durch Gottes gnädiges Walten gesund in dieser schönen Welt; aber so wenig ich Ihnen die Wiederholung eines so ungemüthlichen Bades empfehle,“ schloß der Kronprinz, „kann ich Ihnen jetzt nicht rathen, viel zu reden. Ihre Gliedmaßen sind weidlich zerklopft und zerschellt; pflegen Sie also der Ruhe und binnen Kurzem werden Sie völlig hergestellt sein.“ Diese Mahnung bestätigte und bekräftigte vollkommen der Leibarzt des Kronprinzen und so blieb denn nichts übrig, als zu gehorchen, was Sir Humphrey auch um so lieber that, als er das Bedürfniß des Schlafes von Neuem fühlte und seine Gliedmaßen, die bald in allen möglichen Farben schillerten, abscheulich schmerzten. Der Kronprinz und Sir Humphrey’s Neffe zogen sich nun beruhigt zurück und warteten in Geduld die völlige Herstellung ab. Sofern nicht der Arzt Bedenken besonderer Art zu erheben nöthig fände, meinte er, werde morgen Alles wieder im besten Stande sein, abgerechnet die zerschellten Glieder, die denn doch der Verunglückte wohl noch eine Zeit lang nicht nur ungemüthlich fühlen, sondern auch säuberlich werde behandeln müssen.

Wie es der Leibarzt vorausgesagt, so kam es. Kein besonders zu beachtender Umstand trat ein, und am andern Morgen saßen Sir Humphrey und sein Neffe bei dem Kronprinzen zum Frühstücke, der voll Freude war über die gelungene Rettung, wie Humphrey Davy voll innigster Dankbarkeit gegen seinen Retter, der lachend bemerkte, es sei doch ein seltener Fall, daß ein königlicher Fischer einen so gelehrten Lachs geangelt habe.




An die Verehrer Schiller's.

Die kleine Stube, worin Schiller das Lied an die Freude dichtete und den „Don Carlos“ entwarf, bewahrt zu wissen, wünschen gewiß die Verehrer Schiller's.

Das Grundstück zu Gohlis, in dessen Nebengebäude sie liegt, kommt nächstens zum Verkaufe und es ist alsdann der Abbruch des baufälligen „Schillerhauses“ zu besorgen. Der Schillerverein hat sich niemals zur Aufgabe gestellt, Geld anzusammeln, und verfügt daher über keine Geldkräfte, sein Beruf aber ist, den Verehrern Schiller's diese Sachlage kund zu thun und sie aufzufordern, ihm Mittel zum Ankauf dieses Grundstücks und zur Erhaltung des Schillerhauses zu gewähren, sei es durch Schenkung, sei es durch Angebot von Darlehen, welche in Form von Aktien vorgestreckt, oder auch als Hypotheken auf das Grundstück selbst eingetragen werden könnten. Der unterzeichnete Vereinsvorstand bittet alle Vaterlandsfreunde, welche die Erinnerungen unseres klassischen Schriftthums pflegen, diese Sache des Nationalruhms als eigne Angelegenheit in ihren Kreisen zu betreiben, Sammlungen in einer der angegebenen Weisen ohne Verzug zu veranstalten und ihn von dem Erfolge ihrer Bemühungen zu benachrichtigen.

Die geehrten Redaktionen von Zeitungen werden um Aufnahme dieses Aufrufs ersucht.

Leipzig, den 24. August 1856.

Dr. Heinr. Wuttke. Dr. Carl Heyner. Heinrich Behr. Dr. Gustav Haubold.
Dr. M. Zille. Theodor Apel.




Aus der Criminalstube!

Bei Ernst Keil in Leipzig ist so eben erschienen und in allen soliden Buchhandlungen zu haben:

Erinnerungen an das geheime Inquisitionsverfahren.

Strafrechtsfälle aus den Untersuchungsakten dargestellt von W. Th. Kritz, Criminalamtsaktuar in Leipzig.

1. Bdchn. geb. 10 Bogen 12 Ngr.

Diese Schrift, welche sich ebensowohl durch die Gründlichkeit ihrer juristischen Behandlung, wie durch gute Auswahl der betreffenden Fälle auszeichnet, wird von allen Juristen und überhaupt allen Freunden der „criminalistischen Literatur“ mit großem Interesse gelesen werden. Das erste Bändchen enthält nur Leipziger Fälle: Auguste K–r Mord. – E. R. Lorenz. Raubanfall und Mordversuch. – Die Ermordung der Wittwe Friese zu Leipzig.




Aus der Fremde Nr. 36 enthält:

Auch eine Rettungsfahrt. – Schlangenbezauberuug. – Der Ocean-Telegraph. – Der alte Tiff. Ein Kapitel aus Mrs. Stowe’s neuem Romane. – Aus allen Reichen: Ein afrikanisches Wasserdorf.




Nicht zu übersehen!

Alle Einsendungen von Manuskripten, Büchern etc. etc. für die Redaktion der Gartenlaube sind stets an die uterzeichnete Verlagshandlung zu adressiren.

Leipzig.
Ernst Keil.




Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Bewußsein