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Die Gartenlaube (1856)/Heft 35

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Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[465]
Der Schlüssel zum Engpaß.
Erzählung eines alten Tyrolers.

Lenore war in den westlichen Gebirgen der Schweiz geboren. Als sie das dreizehnte Jahr erreicht hatte, heirathete ihre Mutter, die Wittwe war, einen Tyroler und verließ ihre Heimath für immer.

Diese Heirath war nicht nach dem Sinn von Lenorens Bruder, der mit ihr in derselben Stunde geboren war und den sie mit ungewöhnlicher Zärtlichkeit liebte. Ehe daher noch das Ehepaar die Hälfte der Reise nach unserm Thale zurückgelegt hatte, wanderte er nach Norden und trat in bairische Dienste.

Lenore weinte eine Zeit lang bitterlich über seinen Verlust; allmälig tröstete sie sich, als sie hörte, daß er Soldat geworden sei und hin und wieder auf allerlei Umwegen noch Zeichen seines Andenkens zu ihr gelangten.

Bald kamen auch eigne Herzensangelegenheiten, denn Lenore war zur Jungfrau herangewachsen und Hans fand das Lächeln des fremden Mädchens noch verlockender als die Gemsenjagd. Er war der verwegenste Jäger und der sicherste Schütze im Thale, und da er jung und schön und dabei aufrichtig und edeln Herzens war, so billigte man die gegenseitige Liebe des schönen Paares in der ganzen Gemeine; wir betrachteten Lenore bereits als eine der Unsrigen und sie galt allgemein für das schönste Mädchen im Thale.

Zwischen die Freierei und die Hochzeit fiel aber die Mißhandlung unseres Landes und die Rache. Selbst unsere alten Felsen färbten sich roth von dem Wiederschein der Alarmfeuer und unser Bergstrom noch röther von dem Blut unserer Angehörigen und ihrer Freunde.

Da war nur ein Herz im Dorfe, welches nicht fühlte wie die andern und dies war Lenore’s. Ihr Bruder war bairischer Soldat und obgleich sein Regiment noch nicht zu dem Heuschreckenschwarm gestoßen war, welcher die Früchte unserer Thäler aufzehrte, so stand es doch nahe an der Grenze und konnte bald in Tyrol erwartet werden.

Lenore dachte an all’ diese Dinge, bis sie beinahe wahnsinnig wurde. Bei den Versammlungen in unserem Dorfe lauschte sie mit glühenden Wangen auf die Reden ihres jungen Geliebten, mit denen er, gleich wie mit einer Trompete, die Herzen seiner Kameraden erregte; aber wenn sie allein war, dann weinte sie, als wolle sie nimmer wieder aufhören.

Es war nicht eben sonderbar, daß sie befürchtete, ein Grenzregiment möge durch einen der großen Pässe marschiren, die in das Innere des Landes führten; aber daß sie hoffen konnte, ihren Bruder zu sehen, – ihn aus einem Corps von vielen Tausenden herauszufinden, die vielleicht in geschlossener Kolonne marschirten, oder Zoll für Zoll ihren Weg erkämpften, – und sich einzubilden, ihn unter solchen Umständen für die Sache der Ehre und Freiheit gewinnen zu können, muß sicher einer Art von Wahnsinn zugeschrieben werden.

Sie war selten zu Hause. Sie brachte ganze Tage und manchmal ganze Nächte damit zu, durch die Pässe zu wandern und den Schritten des Krieges zu folgen. Sie sprach selten und aß kaum genug, ihr Leben zu erhalten, und wenn die Natur sie zu einem fieberischen Schlafe zwang, so fuhr sie nach wenigen Minuten unerquickt daraus empor, als ob sie sich ihre Nachlässigkeit vorwerfe. Allmälig erlangte sie solche Kenntniß der wilden Lokalitäten in diesem Theile des Gebirges, als nur irgend Jemand jemals besessen hat.

Unterdessen füllte sich unser Thal mit Kriegsleuten, denn Hofer und seine Gefährten sammelten sich in großer Anzahl, um die Pässe des Brenners zu bewachen. Dies ist der Hauptweg in das Innere des Landes und die Landstraße nach Italien.

Lenore war die wachsamste und, man muß sagen, die geschickteste der tyrolischen Schildwachen; denn ihre Fähigkeiten waren durch Uebung erhöht und aufgeregt durch die stärksten und heiligsten Gefühle, welche das Herz eines Weibes bewegen können.

Der Hauptpaß und der einzige von dem man meinte, daß er einem bedeutenden Truppencorps den Durchgang erlaube, war nicht so sehr der Gegenstand ihrer sorgfältigen Aufmerksamkeit, als die kleineren Gebirgsschluchten, die nur dem Gemsjäger bekannt sind. Sie kam zu diesem Verfahren durch den Gedanken an die blutige Lehre, welche der Feind kürzlich erhalten hatte und bildete sich ein, daß, während er den Hauptpaß angriff, er auf andern Wegen das verhältnißmäßig kleine Truppencorps der Tyroler zu umzingeln versuchen würde. Wurde dies Manöver beschlossen, so war es wahrscheinlich, daß ihres Bruders Regiment mit der Ausführung beauftragt werden würde, denn es war gänzlich aus Bergbewohnern, meistens Schweizern gebildet, welche an Klippen und Bergströme von Jugend auf gewöhnt waren. Was sie indessen dabei in etwas beruhigte, war der Umstand, daß es nur einen einzigen Paß gab, durch welchen eine zu diesem Dienst ausersehene Kolonne frei genug passiren konnte, um von irgend welchem Nutzen zu sein, und diesem Fleck widmete sie daher ihre ganze Aufmerksamkeit.

Man hatte noch keine bestimmte Nachricht erhalten, ob die [466] bairischen Truppen, die nach dem Brenner marschiren sollten, schon von Innsbruck aufgebrochen wären, allein man erwartete sie jeden Augenblick. Lenore begab sich wie gewöhnlich bei Tagesanbruch auf ihren Posten und setzte sich hinter einen Felsen, von dem aus sie den Engpaß übersehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Alles war Stille und Einsamkeit wie bei ihren früheren Wachen; aber endlich entdeckte ihr scharfes Auge zwischen den entfernten Felsen eine springende Gemse, deren eigenthümliche Bewegung darauf schließen ließ, daß sie Menschen gesehen oder gehört habe. Es verging noch eine Stunde und endlich sah sie eine menschliche Gestalt in derselben Richtung. Diese Gestalt blieb zwei Stunden auf demselben Fleck, setzte sich auf den Felsen und schien ein Ziegenhirt zu sein, der seine Heerde überwacht; dann verschwand sie.

Einige Zeit darauf sah sie dieselbe Gestalt in der Nähe des Engpasses, wo sie sich selbst verborgen hielt. Der Mann war in der Kleidung eines ärmeren Gebirgsbewohners und mit Angelgeräthschaften versehen. Er legte sich endlich am Rande des Bergstromes nieder und schien an nichts weiter zu denken als daran, wie er ein Mittagessen erhalten könne, ehe die Sonne hoch genug heraufstieg, um jede Wahrscheinlichkeit auf Erfolg zu vernichten.

Erst als es Mittag war und die ganze Natur von der Hitze ohnmächtig schien, erhob sich der Fischer und stieg schnell die Seite der Schlucht hinauf. Es geschah dies nicht, um unter einem der Bäume Schutz vor der Sonne zu suchen; denn er erschien und verschwand bald hier und bald da, überschritt einige Mal den Bergstrom und stieg dann wieder so hoch hinauf, daß man ihn am Rande des Horizonts sehen konnte, aufrecht und stillstehend zwischen den Lärchen, mit denen die Höhen besetzt waren.

Mehr als einmal war er über eine Stunde lang unsichtbar, aber wenn er wieder zum Vorschein kam, war er stets Lenoren näher.

Endlich sank die Sonne langsam hinter das Gebirge und der Mantel der Nacht breitete sich rings umher. Sie fuhr noch fort zu spähen, allein mehr mit dem Ohr als mit dem Auge, und als endlich der zögernde Mond am Himmel heraufstieg, hatte sie die Ueberzeugung, daß der spähende Schatten noch immer umher schwebte.

Bald entdeckte ihr geübtes Ohr die Schritte eines Mannes und das Knacken der Zweige, wie er zwischen den Bäumen empor kletterte; aber der Himmel war nun so mit Wolken bedeckt, daß der Mond, obwohl beinahe voll, die Scene nur spärlich beleuchten konnte.

Durch das Geräusch naher Schritte erhielt sie die Ueberzeugung, daß der Spion in der Nähe und daß das Geheimniß des Engpasses, welches er nach ihrer Ueberzeugung suchte, nahe daran war, entdeckt zu werden.

Der Felsen, hinter welchem sie verborgen war, schien die Schlucht mit einer unübersteiglichen Barriere zu verschließen und für jeden, der sich nicht ganz genau gerade an dem Flecke befand, war es schwierig, wenn nicht unmöglich, zu muthmaßen, daß ein schmaler Pfad um den Fuß dieses Felsens herumführte und den Eingang in die ganze Schlucht eröffnete.

Lenore starrte mit Leib und Seele durch die Spalte, welche durch zwei sich nicht vollkommen berührende Felsen gebildet wurde, und die ihr bis dahin als Beobachtungsfenster gedient hatte; aber als ein Ton, welcher dem Schnaufen eines Menschen oder eines Thieres glich, ihr Ohr erreichte, stand sie, dazu durch einen unwiderstehlichen Antrieb gezwungen, plötzlich auf und sah, sich über den Abgrund lehnend, auf den Pfad hernieder.

Gerade in diesem Augenblicke tauchte der Mond aus seinem Wolkenschleier hervor und erhellte den Fleck so deutlich wie mit Tageslicht. Ein Mann stand unten, mit aufwärtsgerichtetem Gesicht und einer Hand auf dem Kolben einer Pistole in seinem Gürtel, als ob er durch das geringe Geräusch, welches sie gemacht hatte, beunruhigt worden wäre. Der Mann war ihr Bruder!

Ein unwillkürlicher Freudenschrei war die erste Aufwallung, der sich Lenore bewußt war. Es war ihr Bruder – ihr Zwillingsbruder! Sein Gesicht war gleichsam ihr eignes Spiegelbild in irgend einem schwarzen See, der von Felsen überschattet ist! Es ist unmöglich zu sagen, welches die Gefühle des bairischen Soldaten bei diesem Begegnen waren; aber aus dem stillen Anschauen beider ist es wahrscheinlich, daß er entweder mit seiner Schwester sympathisirte, oder daß eine Anwandelung eines abergläubischen Entsetzens ihm für den Augenblick Sprache und Bewegung nahm. Im nächsten Augenblick hörte man in der Ferne ein leises Pfeifen; der Mond verschwand ebenso plötzlich wieder als er erschienen war und der Spion, der schleunigst die Seite der Schlucht hinabglitt, verlor sich zwischen den Bäumen, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

Lenore wartete eine Weile. Sie wagte es sogar endlich, den Namen ihres Bruders zu rufen, allein der mürrische Wiederhall von den Felsen war die einzige Antwort, und als dieser Laut murmelnd erstorben war, sprang sie vor Angst und Bangigkeit in die Höhe.

Was sollte sie thun? Sollte sie den Baiern gestatten, gleich einem Strom von Blut und Feuer durch das Thal, ihrer zweiten Heimath, zu streichen? Sollte sie die Sache aufopfern, mit welcher das Leben ihres Geliebten identisch war? Oder sollte sie ihren einzigen Bruder den Feinden opfern, die nach seinem Blute dürsteten?

In den Kampf ihrer Gefühle mischten sich selbst einige desselben Nationalgeistes, welcher den Handel veredelt, durch den der Schweizer seinem Herrn sein Blut verkauft. Ihr Bruder, so schien es, hatte das Vertrauen seines Offiziers; da man ihn so herumstreifen ließ, mußte er den Ruf der Treue und des Muthes, erlangt haben; er war auserwählt worden, mitten unter tausend Gefahren einen Weg für seine Kameraden auszuspähen und vielleicht das Unternehmen zu leiten.

Lenorens Herz verlangte nach ihrem Bruder, ebenso wie das Herz einer Mutter nach ihrem einzigen Sohne schmachtet. Sie dachte, wie er gewachsen seit sie ihn zuletzt gesehen – wie stark er geworden war – wie stolz von Ansehn und wie schön und tapfer – und Thränen der Liebe und des Stolzes flossen aus ihren Augen.

Diese Thränen schmolzen indessen nicht den Entschluß hinweg, den sie gefaßt hatte. Mitten in der Nacht klopfte sie an das Fenster von Hansens Schlafkammer in seiner einsamen Hütte.

Als der junge Mann sie bei dem schwachen Schein des Mondes erblickte mit ihrem blassen Gesicht und gelöstem Haar, welches über ihre Schultern flatterte, glaubte er, daß ein Geist vor ihm stände und mußte sich vor Schrecken am Fenster halten, während er ein Stoßgebet an die Mutter Gottes murmelte.

„Sei nicht erschrocken,“ sagte sie, „zieh’ Dich an, bewaffne Dich und folge mir ohne ein Wort und auf der Stelle.“ Sie setzte sich dann nieder und lehnte sich erschöpft gegen die Mauer, bis ihr Geliebter fertig war. Als er stille herauskam, sprang sie auf und glitt vor ihm hin bis sie den Fleck erreichten, wo sie ihren Bruder gesehen hatte.

„Hans,“ sagte sie, „für lange Erklärungen ist keine Zeit übrig. Die Baiern sind nahe: wie nahe, weiß ich nicht – aber näher als Du denkst. Während der Hauptpaß angegriffen wird, soll eine Abtheilung um diesen Felsen herum schleichen und von der Höhe ihrer eignen Gebirge wie ein Geier auf die Tyroler stürzen. In dieser Abtheilung – wahrscheinlich an ihrer Spitze – wird mein Bruder sein!“

Sie hatte kaum ihre Rede geendet, als Hans zum Fuße des Felsens hinuntersprang und sich in einem Augenblick von der Zugänglichkeit dieses Passes überzeugte.

„Du hast unser Dorf, vielleicht unser Land gerettet, Lenore,“ sagte er, als er zurückkehrte.

„Höre, ich habe noch etwas zu sagen.“

„Sprich, während wir gehen; stütze Dich auf meinen Arm und laß uns so schnell nach Hause, als es Deine Kraft erlaubt.“

„Ich will es hier sagen. Ich kann nicht mit Dir gehen, denn ich bin gänzlich erschöpft und wenn ich es auch könnte, ich wollte nicht. Ich habe Dir gesagt, mein Bruder wird in der Abtheilung sein. Wird er durch Dich oder Deine Kameraden getödtet – oder verwundet, nur eine goldene Locke auf seinem theuern Haupte verletzt –“

„Lenore, was meinst Du?“

„Höre!“ und sie kniete auf den Felsen nieder, auf welchem sie stand und erhob ihre Hände zum Himmel: „wenn ein Blutstropfen meines Bruders vergossen wird, so schwöre ich –“

„Höre mich schwören!“

„Schwöre nicht! Du wirst handeln, ich weiß es, wie es sich für einen Mann und einen Tyroler schickt; was mich anbetrifft, so habe ich auch meine Pflichten. Ich schwöre, wenn die [467] Entdeckung, die ich nun gemacht habe, den Verlust von meines verstorbenen Vaters Sohn – meines einzigen – meines Zwillingsbruders zur Folge hat, – dann soll sich eher die Hölle mit dem Himmel verbinden, als das Blut unserer Geschlechter! Es ist keine schwere Sühne, Hans, der Verlust selbst einer so treuen Hand als dieser – und vielleicht würde ich als fromme Schwester sie durch meine Thränen und meine Gebete zu erleichtern versuchen. Aber ich weiß, daß Du eben so zärtlich als tapfer bist; ich weiß, daß wenn Dein Auge auf seinem Gesichte ruht, welches Du durch das meine erkennen kannst, Du daran denken wirst (und sie ließ sich von ihrem Geliebten an seine Brust drücken, während ihre Stimme durch Thränen erstickt wurde, die sie nicht länger zurückhalten konnte) – daß Du daran denken wirst, daß er – der Bruder Deiner Lenore ist!“ –

„Möge mich Gott verlassen,“ schrie Hans, „wenn ich es nicht thue! Der Arm soll verdorren, der anders auf sein Haupt fällt als in Güte und Gnade!“

Er hatte kaum geendet, als ein ferner Kanonendonner das Anrücken des Feindes verkündete, der bereits die Außenposten der Tyroler angegriffen hatte. Hans drückte seine Geliebte an sein Herz, küßte ihre blasse, feuchte Wange und sprang über die Felsen hinweg zum Sammelplatze seiner Kameraden.

Als Hans das Hauptquartier der Tyroler erreichte, fand er Alles in guter Ordnung. Hofer war von seiner zuverlässigen Schaar umgeben; jeden Augenblick kam ein Bote mit Nachrichten an; die Bewegungen der Baiern waren so gut bekannt, als hätte man ihre ganze Armee vor Augen und kein anderes Gefühl ward in den Reihen der Tyroler laut, als Ungeduld.

Einige kleine Abtheilungen waren abgesendet worden, um den Feind bei seinenn Eintritt in die Gebirgsthäler zu beunruhigen; allein es war beschlossen, daß das Hauptcorps einen entscheidenden Kampf in der vortheilhaften Stellung versuchen sollte, die es gegenwärtig einnahm.

Unter diesen Umständen machten die Nachrichten, welche Hans brachte, wenig Eindruck auf die Anführer. Er hatte keine andere Gewährschaft als die eines Mädchens, welches als halb närrisch galt und deren Bruder vor allen Dingen in bairischen Diensten war. Außerdem war Hans zu glücklich auf der Jagd und bei den Preisschießen gewesen, um ohne Feinde zu sein, und das Resultat seiner Mittheilung war ein Befehl, entweder zu den Plänklern zu gehen, oder hinten zu bleiben.

„Ihr werdet dies bereuen!“ sagte der Gemsenjäger, als er seinen Hut ärgerlich in die Stirn drückte und sich anschickte, fortzugehen. „Ich für meinen Theil habe kein Recht, mein Vaterland zu verlassen, weil seine Angelegenheiten durch unfähige oder eigensinnige Leute geführt werden. Ich gehe, um wenigstens eine treue Brust zwischen den Tyrannen und sein Opfer zu werfen.“

Eine Stunde, nachdem er den Rath der Anführer verlassen hatte und Lenore allein in ihrer Wohnung saß, hob sich die Klinke und Hans, dem sein Lieblingshund folgte, trat mit schnellen aber nicht übereilten Schritten herein.

„Lenore,“ sagte er ihre Hand ergreifend und sorgenvoll in ihr abgezehrtes, marmorbleiches Gesicht blickend, „sind die Nachrichten, die Du mir gabst wahr, so wirst Du mich nicht mehr wiedersehen. Nimm diesen Hund, laß ihn mir nicht dahin folgen, wo vielleicht ohne ihn zu viel Todte sein werden. Lenore, falle ich, so hab’ ihn meinetwegen lieb und glaube bis zum letzten Augenblicke Deines Lebens, daß Du, nach meinem Vaterlande, mir das Theuerste auf der Welt warst.“ Während er so sprach, küßte er ihre blassen Lippen und ging.

„Hans!“ rief sie aufspringend und ihm zur Thüre nacheilend, „denke daran, daß Du Lenorens Leben bist!“

„Lebe wohl – lebe wohl!“ – Der Hund winselte und heulte vorwurfsvoll, als er sich von seinem Herrn getrennt sah; Lenore warf sich auf die Knie, um ihren sinkenden Muth durch Gebet aufzurichten.

Schrecklich verging der Tag und Lenore, welche durch ihr Gebet Ruhe gefunden hatte, wurde auf’s Neue durch Gedanken emporgeschreckt, welche sich dunkel und unbestimmt gleich Gespenstern in ihrem Traum erhoben. Diesen Augenblick horchte sie, ob sie nicht irgend einen unterscheidbaren Laut von der Schlucht her vernehmen könne, – im nächsten lief sie an die Thür, als sei sie entschlossen, ihrem Geliebten zu folgen und sein Schicksal zu theilen. Eine geheimnißvolle Ahnung hielt sie jedoch stets zurück; wenn sie ihre Hand zur Klinke erheben wollte, so zitterte sie und es fehlte ihr der Muth sie zu öffnen, und endlich setzte sie sich wieder, denn ihre Beine konnten sie in der That nicht länger tragen, und versank in eine Art von Gefühllosigkeit, welche – wenn dergleichen möglich ist – gleich Elend ohne Bewußtsein zu sein schien.

Aus diesem Zustande ward sie emporgeschreckt durch ein Geheul von Hansens Hund, das durch das Haus erschallte. Das Thier hatte lange Zeit in tiefem Schlaf gelegen; allein durch einen Traum erweckt, sprang es auf und blickte ernsthaft und jammervoll in Lenorens Gesicht. In diesem Augenblick durchkreuzte der Gedanke an ihren Bruder ihren Kopf. Ihr Herz klopfte heftig, denn sie hatte, seit Hans sie verlassen, nicht an ihren Bruder gedacht.

„O heilige Mutter Gottes!“ rief sie fast kreischend, „wenn er falsch sein könnte, – und ich habe das Blut meines Zwillingsbruders für einen Kuß verrathen! Warum heultest du, stummer Zeuge? Warum, mein treues Thier?“

Der Hund winselte, leckte ihre Füße, und kroch dann auf dem Bauch zur Thür.

„Geh – fliege und ermahne ihn, den Bruder seiner Lenore zu schonen!“ rief sie, und mit fieberhaft gerötheten Wangen und dem Feuer des Wahnsinns im Blick öffnete sie die Thür, und als der Hund mit freudigem Gebell davon sprang, sank sie in einen Stuhl und brach in ein schreiendes, hysterisches Gelächter aus, welches weithin im Dorfe gehört wurde.

Hans hatte unterdessen, wie gewöhnlich bewaffnet, allein den Weg nach dem geheimen Engpaß eingeschlagen. Er lag hier zwei Stunden lang unter demselben Felsen, der Lenoren als Beobachtungsplatz gedient hatte, in der Absicht, mit seiner nimmer fehlenden Büchse die Führer der Baiern wegzublasen, wenn sie vorrückten, und dann mit dem Schwert in der Hand den Engpaß so lange zu vertheidigen, als seine Kräfte ausreichen würden.

Dadurch wurde für seine Landsleute wenigstens Zeit gewonnen, denn der Pfad war so eng, daß er es nur mit einem der Feinde auf einmal zu thun haben konnte. Kein Feind zeigte sich jedoch; allmälig bezog sich der Himmel immer schwärzer und es fing an zu regnen, als ob Himmel und Erde zusammen kommen wollten.

Hans ward ungeduldig. Er fing fast an, die erhaltene Nachricht zu bezweifeln, stand endlich von seinem Lager auf und in das Dickicht von Föhren und Lärchen lauschend, beschloß er, die Schlucht bis zu ihrem Ende auszukundschaften, um entweder mit den Baiern zusammenzutreffen, oder sich zu überzeugen, daß Lenore sich geirrt habe.

Er war noch nicht weit gegangen, alle Augenblicke horchend und um sich schauend, wie ein Wild aus seinem Lager, als ein dumpfes unbestimmtes Gemurmel im Grunde der Schlucht ihn überzeugte, daß die Zeit und die Feinde gekommen wären. Sie wurden ihm durch eine Reihe von Felsen verborgen, welche über den Fluß hinweg hingen, und krochen wahrscheinlich mühsam längs des Randes des Wassers – wenn nicht die bisherige Dürre, die erst seit den letzten zwei Stunden unterbrochen war, ihnen einen breitern Weg für ihren Marsch vorbereitet hatte.

Da der Streifen von Dickicht ohne Unterbrechung von dem Platze, wo er stand, bis zu dem fortlief, den er sich zum Schauplatz seines Kampfes ausgewählt hatte, so war der Weg ohne Gefahr, und selbst wenn der Zwischenraum weniger gedeckt gewesen wäre, so war es bei der Plötzlichkeit und Heftigkeit des Regens nicht unwahrscheinlich, daß die Gewehrschlösser seiner Feinde durchnäßt waren, da die Baiern in solchen Dingen in ihrer Ausrüstung weit weniger vorgesehen waren, als die tyroler Jäger.

Hans entschloß sich daher, die Seite der Schlucht hinabzugleiten, um durch die Zwischenräume der Felsen einen Blick auf die Truppen zu erlangen, gegen deren Uebermacht er kämpfen sollte, und im Fall der Entdeckung verließ sich der Gemsjäger auf seine Büchse und auf die Schnelligkeit seiner Füße.

Als er den Rand des Dickichts erreicht hatte, fand er, daß zwischen demselben und dem Felsen noch ein beträchtlicher Erdabhang lag, von welchem der Regen den Pflanzenwuchs hinweggespült hatte. Während er überlegte, ob es möglich sein würde, ihn im Fall der Entdeckung mit genügender Eile wieder zu erklimmen, brach der Baumast, an welchem er sich hielt und er schnurrte – nicht ganz willenlos, aber doch ohne die Vorsicht, die er sonst angewendet haben würde – bis an den Rand des Felsens, [468] gegen den er mit solcher Gewalt anrannte, daß sich ein Stein ablöste und hinunter fiel.

Der Blick, den er auf das Bette des Flusses werfen konnte, bevor er seinen Kopf zurückzog, war zwar nur ein blitzschneller, allein er war hinreichend, ihn für seine Heimath zittern zu machen.

Volle siebenhundert Mann waren unter ihm, die mit so regelmäßiger Ordnung am Rande des eingetrockneten Flusses marschirten, als sei ihr Weg eine Landstraße. Ihre Gewehre glitzerten auf ihren Schultern und sowohl die Ausrüstung wie der Anblick und die Haltung jedes einzelnen Mannes verrieth die geübten Lohnkämpfer.

Das Fallen des Steines schien durch die Leute, welche die Vorhut bildeten, bemerkt zu werden; allein es ward wahrscheinlich der Heftigkeit des Regens zugeschrieben, der noch fortwährend niederströmte. Der Umstand diente jedoch als Vorwand, einen sich erhobenen, lärmenden Streit mit großer Erbitterung fortzusetzen, und augenblicklich konnte Hans hören, wie das Wort „Halt“ von Kompagnie zu Kompagnie gerufen wurde und das ganze Truppenkorps stehen blieb.

„Beim Teufel,“ sagte eine rauhe Stimme an der Spitze, „ich will Niemand zu Gefallen so toll und blind vorwärts gehen. Himmel Donnerwetter! Was sollen wir hier, wenn unsere Kameraden an der andern Seite der Berge an der Arbeit sind?“

„Und dann,“ setzte ein Anderer hinzu, „wenn wir ankommen (und es hat nicht den Anschein, als wenn wir überhaupt ankommen werden), nachdem der Hauptpaß genommen ist, werden dann nicht selbst die versprengten Ueberreste der Tyroler stark genug sein, uns in Stücke zu hauen?“

„Aber das ist noch nicht Alles,“ stimmte ein Dritter ein, „obgleich das, beim Teufel, richtig genug ist! Ich selbst sah einen Stein von diesem Felsen hier fallen oder vielmehr ich fühlte ihn; doch das ist nicht hin noch her. Wir Alle kennen die Pfiffe von diesen Malefizbauern, die von Ehre und Kriegsgebrauch nichts wissen, und einen Offizier niederschießen, wie ich einen Wolf wegpaffen würde. Nun ist die Sache die: wird unser Führer weggeblasen, ehe wir den Punkt erreichen, den er den Schlüssel zum Passe nennt, wer, zum Teufel, soll uns denn das Schloß aufschließen? Wenn unser General sich nicht stark genug hielt, den Feind auf ehrliche Weise mit uns zu schlagen – wie wird es ihm ohne uns gehen? Und endlich – Himmel Donnerwetter! – wenn wir nicht in Sterzing zur Nacht essen, wo werden wir denn überhaupt etwas bekommen?“

Ein heiseres Beifallsgemurmel folgte dieser Rede, während Hans seinen Stutzen anlegte und auf eine Gelegenheit paßte, des Führers ansichtig zu werden, von dessen Leben der Erfolg der Expedition und vielleicht der des Krieges selbst abhing.

Es gelang ihm, zu einer Stelle zu kriechen, von wo aus er durch eine einzige Bewegung seines Kopfes die ganze vor ihm liegende Scene überblicken konnte, und dann wartete er, bis irgend ein Sprecher die unruhige Zuhörerschaft anredete und sie vielleicht nöthigte, ihre Augen nach einer andern Seite zu richten.

Er brauchte nicht lange zu warten. Eine Stimme, welche von einer Erhöhung in der Mitte des Flusses auszugehen schien, fing an, sich in verdrießlichem Tone auszulassen, der mit Zorn und Verachtung gemischt war.

„Kameraden,“ sagte der Redner, „ich habe Euch nicht in Bezug auf die Zeit getäuscht, wovon Ihr Euch überzeugen könnt, wenn Ihr nach der Uhr seht, obgleich die Hindernisse auf dem Wege daran Schuld sein mögen, daß sie Euch länger geworden, als uns lieb ist. Was nun die Entfernung anbetrifft, so versichere ich Euch heilig, daß wir nicht mehr als zweihundert Schritt von einer Stelle sind, von der aus ich Euch mit dem Finger den Schlüssel des Engpasses zeigen kann. Es ist wahr, daß bis dahin Eure Sicherheit von der meinigen abhängt, allein wollt Ihr demselben Glück, welches uns so viele Stunden begleitet hat, nicht noch fünf Minuten folgen? Zu gleicher Zeit stelle ich es Jedem, der keine Lust hat, vorwärts zu gehen, mit Vergnügen frei, umzukehren, und verzichte auf mein Recht, solche Aufführung Verrath oder Desertion zu nennen; denn bald werden wir Thaten und nicht Worte nöthig haben. Und nun, Ihr Alle, welche Ihr die Lust zu dem Abenteuer verloren habt, rechts um, kehrt Euch! und die Uebrigen vorwärts! Vorwärts für Baiern! Marsch!“

Hans erhob seinen Stutzen und brachte ihn in eine Richtung mit dem Felsen und dem Fleck, von woher die Stimme kam; allein der Redner hatte seinen Platz verlassen und die ganze Kolonne war wieder in Bewegung.

Der Tyroler verließ nun seinen Posten ebenfalls und rannte, hinter den Felsen fortschießend, ungefähr zwanzig Schritt weiter. Hier bohrte er eilig durch dickes Moos, welches den Gipfel bekränzte, eine Oeffnung, die ihm für seinen Büchsenlauf eine bessere Lage darbot und ein besseres Zielen erlaubte, und erlangte den vollen Anblick seines Mannes. Das Gewehr des Baiern deckte jedoch seinen Hals, und seine helmartige Kopfbedeckung war mit Metall beschlagen, und wenn er es versuchte, ihn in den Körper zu treffen, so war zu befürchten, daß die Kraft der Kugel entweder durch den Arm gebrochen werden, oder nur in der Seite eine leichte Wunde machen möchte. Hans rannte daher wieder weiter.

Das nächste Mal war der Führer umringt und durch einen Soldatenhaufen vollständig gedeckt. Der höhere Theil des Weges, wo derselbe den Rand des Wassers verließ und den Felshang hinauf lief, war nahe, es war der Fleck, von welchem der Führer ganz richtig gesagt hatte, daß er von hier aus den Schlüssel des Passes mit dem Finger zeigen könne.

Hans bereuete bitterlich, daß er nicht gefeuert hatte, als sich die Gelegenheit ihm darbot; allein Alles, was er nun thun konnte, war, den Platz zu erreichen, wo die Kolonne das Aufsteigen beginnen wollte und dort, wenn sich keine günstige Gelegenheit darbot, seine Aufgabe ungesehen auszuführen, die Aufmerksamkeit des Opfers dadurch auf sich zu ziehen, daß er sich kühn bloßstellte.

Er erreichte eine Stelle, die eigens für den Meuchelmord geschaffen schien. Der Felsen überhing hier den Fluß, der unten im Dunkeln aus tiefen Ufern dahin rollte und der Wanderer, der von dem tiefen Pfad herauf stieg, war genöthigt, gerade auf der Kante zu gehen, wenn er die Höhe der Klippen erreichen wollte.

In dieser Lage mußte er von Jemand, der hinter den Felsen stand, die in gezackten Lücken und Spalten gebrochen waren, vollkommen gesehen werden. Hier kroch der Gemsenjager, hier drückte er – seinen Stutzen am Backen – seinen Finger am Drücker und Mord in seinen Gedanken, der so schön aussah wie Tugend, und es vielleicht auch war.

Im nächsten Augenblick erschien der Führer, der seinen Kameraden vorangeeilt war, vollkommen sichtbar auf dem Rande der Klippe. Er war ein junger Mann – in Wahrheit ein bloßes Bürschchen – von geschmeidiger und beweglicher Gestalt. Sein Gesicht war jedoch nach einer andern Richtung gewandt, als er die Gelegenheit des Ortes zu prüfen schien, und Hans wartete geduldig, bis er sich herumwenden würde, da er entschlossen war, sein Opfer gerade in die Stirn zu treffen, aus Furcht, daß seine Kugel sonst irgend einem versteckten Schutz in der Kleidung begegnen möchte.

Der Jüngling wandte sich um und sein Auge ruhte für einen Moment gerade auf dem Fleck, wo der Schütze lag. Hans wurde wie blind. Das Blut strömte ihm aus jeder Ader des Körpers mit einer Gewalt zum Herzen, die augenblickliches Ersticken drohte. Seine Sinne verwirrten sich; es war ihm, als habe er einen schrecklichen Traum, aber inmitten von all dem erschien der Gedanke an Lenore mit niederschmetternder Bestimmtheit. Das war Lenore’s Auge, das war ihr Mund – ihr ganzes Antlitz! Ihr Bruder – der wandernde Schweizer – der arme, freudlose Bursche, war der Führer der Baiern.

Da war keine Zeit zum Ueberlegen – oder vielmehr da war zu viel. Schrecklich waren diese Augenblicke, die in ihrem kleinen Kreise genug Seelenangst einschlossen, um eine ganze Lebenszeit zu verbittern.

Der Jüngling sprang in stolzer Ungeduld auf die Klippe, welche seine Aussicht versperrte. Aus den Kehlen der Baiern ertönte schon ein halb unterdrücktes, wölfisches Geschrei bei der Aussicht, aus der Schlucht heraufzusteigen, die sie so lange verschlungen hatte.

Hans brach in kalten Schweiß aus. In diesem Augenblicke rollte der Ton einer fernen Kanonade schwerfällig über das Gebirge. Der Hauptpaß war ohne Zweifel forcirt und die Tyroler waren auf ihr Dorf zurückgetrieben. Der Schweiß trocknete auf Hansens Stirn, seine Muskeln zogen sich zusammen, sein Gesicht wurde starr und so weiß wie Marmor. Der Angstruf Lenorens, als ihr Bild vor seinen Augen vorüber schwebte, wurde erstickt in dem Schrei seines Vaterlandes. Er feuerte; der Bruder seiner

[469]

Aus den liefländischen Wäldern.


Geliebten machte einen Sprung von mehreren Fuß in die Höhe, und stürzte dann in den Bergstrom, eine blutende Leiche!

Ein Ton wie ein heftiges und schmerzliches Stöhnen rann durch die Reihen der Soldaten, und als darauf eine plötzliche Stille folgte, hörte man nichts, wie das dumpfe Fallen des Körpers, als der Bergstrom das Blutopfer gierig verschlang.

Im nächsten Augenblick hatten die Männer ihre Gewehre an der Schulter und sahen nach der Richtung hin, von welcher der Schuß gekommen war, in der Erwartung, die ganze Macht der Bauern gleich Erscheinungen auf den Höhen zu erblicken. Sie sahen auf dem Gipfel nur einen einzelnen Mann mit gesenkter Büchse, der wilden Blicks auf die rothen Zeichen starrte, welche der Fluß hinwegschwemmte. Ein Augenblick ward in Erstaunen und Verwirrung verloren, allein im nächsten wurden mehr als fünfzig Gewehre auf einmal abgedrückt. Die größte Anzahl versagte, da das Pulver auf der Pfanne durch den Regen verdorben war; aber einige Schüsse gingen los. Den Hut des Tyrolers sah man zuerst fallen, dann einen Fetzen des Aermels flattern.

Der Schmerz der Wunde schien den Trieb der Selbsterhaltung zu erwecken, der für einige Augenblicke in der Verzweiflung seines Herzens erstickt war; der Mörder wandte sich und floh.

Das Geheimniß des Engpasses war bewahrt. Nackt und schrecklich hing der Wachtfelsen über die Schlucht, welche er in einer Weise verschloß, die nicht die geringste Hoffnung auf einen Durchgang aufkommen ließ, und Hans floh in einer entgegengesetzten Richtung die Felswand hinauf, indem er die Soldaten nach einer Stelle zu locken gedachte, auf welcher sie von vielen Häusern und Dörfern seiner Landsleute gesehen werden konnten.

Er floh in Sicherheit. Ein Zauber schien sein Leben zu erhalten, denn die Kugeln der Baiern, die seiner Fährte schnaubend wie Bluthunde folgten, splitterten die Büsche und rissen die Erde rings um ihn auf, ohne ein Haar seines unbedeckten Hauptes zu verletzen.

Mit einem kräftigen Sprunge erreichte er den Wald und war gerettet; aber in demselben Augenblicke übertönte ein lautes und scharfes Geheul das Geschrei der Soldaten, und man sah [470] seinen Hund am Rande des unglücklichen Felsens! Das Thier starrte einen Augenblick auf den Kampfplatz, und rannte dann hinunter durch den Engpaß. Das Geheimniß war entdeckt.

Die Baiern gaben es auf, einen einzelnen Feind zu verfolgen und liefen, um sich des Schlüssels des Engpasses zu versichern. Hans kam ihnen jedoch zuvor. Er kämpfte, als sei die Kraft seines Vaterlandes in seinem einzigen Arm. Durch die Ueberzahl zurückgedrängt – schwach, blutend, verstümmelt – vertheidigte er jeden Schritt, jeden Zoll des engen Durchganges.

Seine heldenmüthige Aufopferung war nicht vergebens. Gerade als ihn Kraft und Leben verließen, kamen seine Landsleute herbei, die soeben eine Abtheilung des Feindes geschlagen hatten, um auch die Angreifer des Engpasses zu vernichten.

Sein Ehrendenkmal ist neben dem der andern tyroler Helden im Herzen seiner Landsleute errichtet, wenn auch seinen Ruheort nur ein bescheidener Erdhügel bezeichnet.

Lenore überlebte ihren Geliebten lange Jahre, ein Gegenstand der höchsten Achtung für ihre Umgebung; und wenn sie, das Gesicht in einen dichten, schwarzen Schleier gehüllt, ein Körbchen mit Blumen am Arm, ihren täglichen Gang zum Grabe ihres Geliebten machte, dann entblößten sich ehrfurchtsvoll die Häupter von Jung und Alt, die ihr begegneten.

Den Hund hat sie treu gepflegt bis an sein Ende.




In einem liefländischen Edelhofe.
(Mit Abbildung.)

…Ich hatte bereits mehrere genußreiche Tage in einer mir innig befreundeten, liebenswürdigen deutschen Familie in L. in Liefland verlebt, als wir eines Morgens heiter an dem Frühstücktische beisammen saßen. Die beiden blondlockigen, blühenden Kinder meines Freundes spielten vor uns mit einem zottigen großen Hunde, Hinko genannt, der sich, vielleicht in Folge treuer Dienstleistungen, manche Freiheit herausnehmen durfte und allein in dem Familienzimmer geduldet wurde. Plötzlich hörten wir einen gellenden Schrei draußen nach dem Backhause zu; Hinko vergaß sofort das Spielen, sprang auf und durch das offene Fenster des Parterrezimmers hinaus. Wir selbst traten erschreckt an das Fenster. Ueber den Hof liefen mehrere Arbeitsleute, und aus dem Backhause sprang ein – Wolf, der in den nicht fernen Wald zu entkommen suchte. Hinko aber hatte ihn bald eingeholt und griff ihn ohne Zögern an. Der Wolf drehete sich um und der Kampf begann, ein schreckliches Schauspiel. Die beiden starken wüthenden Thiere hatten sich bald fest in einander verbissen, und es ließ sich nicht errathen, nach welcher Seite sich der Sieg neigen würde, als einer der Leute, ein Mann schon über die Mitte der Jahre hinaus, hinzu kam, und mit einem Beile dem Wolfe mächtige Hiebe versetzte, so daß er bald leblos zu seinen Füßen lag.

Wir Alle gingen hin. Hinko war übel zugerichtet. Der alte Mann, der den Wolf erschlagen hatte, streichelte den treuen Hund liebkosend, und nahm den Blutenden mit sich, um ihm die Wunden mit einem Balsam zu waschen. Aus dem Backhause kam ein junger Bursch, der erzählte, er habe sich über die Kohlen gebückt gehabt, um seine Pfeife anzuzünden, als er den Wolf dicht neben sich gesehen. Da es dunkel gewesen, habe er ihn für Hinko gehalten, und die Hand nach ihm ausgestreckt, der Wolf aber sich emporgerichtet, um ihn zu packen und da sei er so erschrocken, daß er so laut als möglich um Hülfe geschrieen, der Wolf aber davon gelaufen.

Der Vorgang war die natürliche Ursache, daß fast den ganzen Tag über von ihm und von andern ähnlichen gesprochen wurde. Ich äußerte zunächst meine Verwunderung darüber, daß der Wolf vor allem das Backhaus aufgesucht habe und man erzählte mir, der Wolf scheine wie der Bär das Brot sehr zu lieben, denn nichts locke so sicher ihn an, als der Geruch von frischem Brote. „Eine Bauerfrau, die eben frische Brote aus dem Backofen genommen, mußte das Haus auf einige Minuten verlassen. Ihre beiden kleinen Kinder standen an der Bank, auf welcher die noch heißen Brote lagen. Kaum hatte sie den Rücken gewandt, so sprang ein Wolf in die Stube herein. Die schreienden Kinder ließ er unbeachtet, aber ein Brot nahm er von der Bank. Die Mutter, die ihre Kinder ängstlich schreien hörte, eilte zurück, und in der Thür jagte der Wolf, mit dem heißen Brot in der Schnauze, an ihr vorüber. Die alte Frau, setzt die Erzählerin hinzu, hat mir die Geschichte oft erzählt, und sie bemerkte am Schlusse jedesmal: so kam ich um das allergrößte Brot, aber wie gern ließ ich es dem Wolfe, da er meinen Kindern nichts zu leid gethan!“ – Hier bei uns selbst ist schon früher einmal ein ähnlicher Fall vorgekommen. Eine Magd trug gegen Abend zwei noch warme Brote aus dem Backhause über den Hof, wo ihr ein großes Thier entgegen kam. Auch sie hielt es für Hinko. Aber das Thier sprang an ihr auf, und sie fühlte die scharfen Klauen auf ihren nackten Armen. In ihrer Verzweiflung schob sie ihm eines der Brote in den aufgesperrten Rachen und der Wolf lief, wie es schien, vergnügt damit davon.

Abends kamen Gäste und nun wurden Wolfsgeschichten in Menge, theils komische, meist aber gräßliche, haarsträubende erzählt. Zwei davon ergriffen mich tief. Die eine war erst im Sommer des vorigen Jahres auf einem benachbarten Gute vorgekommen, und die bejahrte Frau des Besitzers desselben theilte sie uns selbst mit. „Die junge Frau eines nach den dortigen Verhältnissen ziemlich wohlhabenden Bauers wusch eines Tages vor der Thür ihres Hauses und ihr vierjähriges Töchterchen spielte neben ihr. Das Haus steht allein auf einer Art Insel in sumpfigem Boden. Die Frau arbeitete emsig, und hatte sich tief über die Waschwanne gebeugt, als ein lauter Schrei des Entsetzens sie nöthigte, sich umzusehen. Eine große Wölfin hatte das Kind, das den einen Arm nach der Mutter ausstreckte, an der Schulter gepackt. Man denke sich, was die arme Mutter bei diesem Anblicke und dem Angst- und Schmerzesgeschrei ihres Kindes empfand. Sie stand indeß so nahe, daß sie mit dem ersten Griffe nach dem Kinde dessen Kleidchen erfaßte und mit der andern mit aller Kraft den Wolf auf die Schnauze schlug, während sie halb wahnsinnig um Hülfe schrie. Ihr Schreien aber rief Niemanden herbei und erschreckte auch den Wolf nicht, der eben so wenig die Faustschläge der Frau beachtete, die er vielleicht kaum fühlte. Er blieb natürlich auch nicht stehen, sondern lief mit seiner Beute rasch davon und zog die Mutter mit sich fort, die krampfhaft festhielt. So ging es zwei, drei schreckliche Minuten lang, und die Frau konnte nichts thun, als ihr Kind wenigstens nicht loslassen. Der Wolf nahm seinen Weg nach einer bewaldeten, sehr unebenen Stelle hin, und hier fiel die Frau in dem raschen Laufe über einen Baumstumpf. Dabei zerriß sie das Kleidchen ihres Kindes und es blieb ihr nur das Stück davon, das sie so fest gehalten hatte, in der Hand. Das Kind war, verhältnißmäßig, selbst im Rachen des Wolfes ruhig gewesen, so lange es sich von der Mutter festgehalten wußte, jetzt aber erfüllte sein Jammergeschrei den Wald weit und breit. Die Mutter raffte sich schnell wieder auf, lief dem Räuber, der ihr Kind fortschleppte, über Stock und Stein, durch Dornen und Gestrüpp nach und fühlte nicht, wie sie sich blutig ritzte. Der Wolf beschleunigte indeß seinen Lauf, das Gebüsch wurde dichter, der Boden unwegsamer; bald verschwand das Thier der Mutter aus den Augen und das Geschrei ihres Kindes allein bestimmte noch die Richtung, der sie zu folgen hatte. Und unermüdet eilte sie dieser Stimme nach, während sie hier einen Schuh aufhob, den ihr Kind verloren hatte, dort einen Fetzen seines Kleides mit nahm, den ein Dornbusch abgerissen hatte. Sie strengte sich zum schnellsten Laufe an, und was eine Mutter in der Verzweiflung vermag, ist unberechenbar, aber sie vermochte den Räuber nicht einzuholen, und die Stimme des Kindes wurde schwächer und schwächer, bis gar nichts mehr von ihr zu hören war.

„Die arme Mutter sah allerdings endlich wiederum etwas von ihrem Kinde, aber ich vermag es nicht zu nennen,“ setzte die Erzählerin hinzu, der die Thränen in die Augen traten und die kaum noch zu sprechen vermochte. Wir, die wir zuhörten, wollten [471] auch nicht wissen, was die Frau gesehen, denn wir hatten bereits genug des Grauens. „Denken Sie sich,“ fuhr die Erzählerin fort, „den Jammer der Armen, als ihr Mann Abends nach Hause kam und nach dem Töchterchen fragte, nach dessen Liebkosungen er sich sehnte! Sie sagte mir, sie habe das Stückchen von dem Kleide, das sie in der Hand behalten und den kleinen Schuh vor ihn hingelegt, wie sie ihm aber das Entsetzliche berichtet, das sie betroffen, wisse Gott allein, sie habe keine Erinnerung daran.“

Die beiden Kinder des Herrn vom Hause hatten in athemloser Spannung zugehört, die Aermchen dabei fester und fester um die Mutter geschlungen und sich dichter und dichter an dieselbe geschmiegt. Die Mutter aber schloß, als die Erzählerin endigte, beide fest an ihr Herz, und die Thränen stürzten ihr stromweise über die Wangen, Thränen der Freude, daß sie ihre Kinder sicher bei sich habe, Thränen des Mitleids über eine Mutter, die so viel gelitten!

Die Rührung hatte uns Alle übermannt; es herrschte tiefe Stille und ich freute mich fast, als einer der Anwesenden begann:

„Ich kenne auch eine Wolfsgeschichte von einer Mutter und einem Kinde, aber sie ist ganz anderer Art, wahrscheinlich auch schon bekannt, und ich weiß nicht, ob ich sie erzählen, und damit einen schneidenden Mißton in die jetzige Stimmung bringen darf.“

„Erzählen Sie! Erzählen Sie!“ rief man von verschiedenen Seiten, vielleicht um aus der Rührung herauszukommen. Schämen sich doch Manche der Thränen, die verrathen, daß auch sie ein mitleidendes, ein sogenanntes weiches Herz haben, während sie dafür gelten wollen, als könne nichts ihre kalte Gleichgültigkeit erschüttern; denn es gibt gar wunderliche männliche Koketten.

„Die Gräfin von Z… im Gouvernement … hatte – es werden nun acht bis zehn Jahre her sein – mit zwei ihrer Kinder zu Schlitten einen Besuch bei ihrer Schwester in deren nahe gelegenem Schlosse gemacht. Nachmittags, als sie nach Hause zurückkehren wollte, änderte sich das Wetter und es begann zu schneien; trotz aller Bitten aber ließ sich die Gräfin nicht bewegen, zu bleiben, sondern fuhr ab. Der Kutscher trieb die Pferde zu rasender Eile an, aber das Schneegestöber wurde immer heftiger und – kurz man kam vom Wege ab und der Kutscher, den der Schnee blendete, wußte bald nicht mehr, wo er war. Um den Schrecken zu mehren, bemerkte die Gräfin dicht neben ihr an der Seite ein eigenthümliches Schnauben, und als sie sich scheu umsah, erkannte sie zwei mächtige Wölfe, die sie mit den gräßlichen Augen gierig anstierten und so nahe waren, daß sie jeden Augenblick fürchten mußte, von ihnen gepackt zu werden. Ihr jüngstes Kind hatte sie, um es zu beruhigen, auf ihren Schooß in ihren Pelzmantel genommen, und es war da eingeschlafen. Sie schrie dem Kutscher wiederholt den Befehl zu, rascher zu fahren, damit sie aus dem Walde hinauskämen, aber der Sturm heulte so stark, daß ihr Befehl nicht gehört wurde. Auch war es nicht nöthig, denn die Pferde konnten nicht schneller laufen. Trotzdem hielten die Wölfe Schritt, ja sie schienen näher zu kommen; die Gräfin glaubte den heißen Athem der gierigen Thiere an ihrer Schulter zu fühlen. Ja, jetzt berührte sie der eine bereits mit der Schnauze; sie schielte athemlos über die Achsel; sie sah den blutrothen Rachen; sie glaubte schon die scharfen weißen Zähne in ihrem Fleische zu fühlen. Da packte sie in der Verzweiflung mit beiden Händen ihr Kind, das ahnungslos in ihrem Schooße schlief und – warf es den Wölfen hin, um ihr eigenes Leben zu retten. Die Wölfe stürzten über die Beute her, sie blieben zurück, die unnatürliche Mutter hörte einen Schrei ihres Kindes und – in diesem Augenblicke erreichte der Schlitten das Ende des Waldes, in dessen Nähe das heimathliche Schloß lag. Die Frau Gräfin war gerettet, wie aber sie ihrem Gatten berichtet hat, wo sein Töchterchen geblieben, „nach dessen Liebkosungen er sich sehnte,“ weiß ich nicht und mag es auch nicht wissen.“

Diese Erzählung erregte allgemeinen Unwillen, namentlich unter den anwesenden Frauen und der Herr vom Hause äußerte: „da lobe ich meinen Hinko, der mir viel lieber ist als solch’ ein Weib. Er hat heute sich brav bewiesen, aber seine Hauptheldenthat ist wahrscheinlich den meisten meiner freundlichen Gäste unbekannt und da so viel schon von Wölfen die Rede gewesen ist, will ich noch die Geschichte von dem Kampfe erzählen, den mein Barthel – der heute den Wolf niederhieb – und Hinko vor mehren Jahren mit Wölfen zu bestehen hatten, dann mag es genug sein von den häßlichen Bestien. – Es war ein harter, schneereicher Winter und Barthel ritt eines Tages in meinem Aufträge wegen eines wichtigen Geschäftes nach –, das bekanntlich über zehn Werste von hier liegt. Die Geschäfte wurden besorgt, und Barthel machte sich auf den Heimweg, der eine lange, lange Strecke weit zwischen hohen Schneewänden hinführte und so schmal war, daß zwei Schlitten kaum einander ausweichen konnten. Mit einem Male bemerkte Barthel, daß das Pferd von selbst rascher zu laufen anfing; auch ließ es einen leisen ängstlich wiehernden Ton hören. Es sah vor sich hin; Alles war da wie gewöhnlich: eine weite Schneefläche mit einzelnen beschneiten Bäumen, darüber der Himmel hell und klar, aber kein lebendes Wesen weit und breit. Er sah hinter sich: eine weite Schneefläche, einzelne Bäume, aber auf dem schmalen Wege im Schnee ziemlich nahe hinter dem Pferde drei oder vier Wölfe. Hielt das Pferd aus, blieb es auf dem gebahnten Wege, so war allerdings nicht viel zu fürchten, zumal er die Heimath bald erreichen mußte; prallte aber das Pferd scheu bei Seite und gerieth in den Schnee, so war es verloren und er wahrscheinlich mit ihm. Barthel klopfte liebkosend das Pferd, das darauf die Ohren emporrichtete, die es in Angst zurückgelegt hatte und es suchte seinen Lauf zu beschleunigen. Er drehte sich dann in dem Sattel um und schrie die Wölfe gewaltig an, aber sie fürchteten sich nicht. Außer einem Beile, das er immer bei sich führt, hatte er keine Waffe. Das Beil nahm er zur Hand und er hatte besonders einen auffallend großen Wolf in den Augen, der den andern voraus war. Das Pferd war von Schweiß bedeckt, denn es jagte im angestrengtesten Galopp. Trotzdem kam der große Wolf näher und näher, bald so nahe, daß er Barthel am Beine fassen oder das Pferd packen konnte. Es wurde also die höchste Zeit, zu handeln. Barthel führte denn auch einen mächtigen Beilhieb von dem kleinen Pferde herunter nach dem Wolf, den er zwar nicht traf, der aber in den Schnee stolperte und also bald weit überholt war.

Noch lag eine Werst zwischen dem Hause Barthel’s und dem Walde, dessen Ende er eben erreicht hatte. Der Weg wurde hier breiter; die Wölfe konnten sich freier bewegen und sie schienen vor das Pferd kommen zu wollen, um dasselbe von vorn zu packen. Da prallte dies plötzlich bei Seite und Barthel, der die Augen von den Wölfen nicht abgewendet, flog hinunter in den Schnee. Im nächsten Augenblicke fühlte er die scharfen Klauen eines Wolfes auf der Brust, aber er schüttelte die wüthende Bestie ab, sprang auf und hieb den Wolf mit dem Beile nieder, das er zum Glück in der Hand behalten hatte.

Das Pferd war in Schnee gerathen und konnte da nicht schnell laufen. Es war von hungrigen heulenden Wölfen umringt, die es zu packen versuchten. Es schlug heftig nach hinten aus und schmetterte so allerdings einen der blutgierigen Verfolger nieder, aber während es sich in dieser Weise von einem seiner Feinde freimachte, wurde es von mehreren gleichzeitig von vorn und an der Seite gepackt und trotz aller Anstrengungen niedergerissen. Es schrie laut auf vor Schmerz unter den Zähnen der Wölfe und den Klauen, die lange, blutige Furchen in seine Haut zogen. Es schüttelte den Hals verzweifelnd, die an ihm fest verbissenen Bestien abzuwerfen. Es bot seine ganze Kraft auf, sich wieder empor zu arbeiten, aber kaum hatte es sich halb aufgerichtet, als es die Wölfe von Neuem niederzogen. Endlich brach es zusammen, denn Einer hatte ihm die Kehle zerbissen, und nun lag es zuckend da in einem See von Blut, während die Bestien Stücke des noch warmen Fleisches ihm abrissen und in gieriger Hast verschlangen. Barthel war zu weit entfernt, als daß er dem Pferde hätte beistehen können, wenn es auch räthlich gewesen wäre, den Kampf mit der Meute hungriger Wölfe aufzunehmen. Und während er eine Minute vielleicht dastand und von fern das Pferd zerreißen sah, stürzten zwei andere Wölfe aus dem Walde dicht hinter ihm heraus. Er bückte sich eben, das Beil aufzuheben, das ihm entfallen war, als ihn die Wölfe packten, niederrissen und am Boden festhielten. Von Wölfen zerrissen zu werden, ist ein gräßlicher Tod und Barthel erhielt durch die Verzweiflung so ungeheuere Kraft, daß er sich noch einmal, auf wenige Sekunden, von den Bestien frei machen konnte; aber sein Blut hatte den Schnee gefärbt und der Anblick desselben stachelte die Gier der Wölfe auf’s Aeußerste an.

Hier aber muß ich von dem braven Hinko sprechen. Er [472] hatte still in der Stube neben der Frau Barthel gelegen und geschlafen. Mit einem Mal – wahrscheinlich als das Pferd den Schmerzensschrei ausstieß – spitzte er die Ohren, horchte und stand auf. Dann ging er an die Thür, schnoberte und winselte. Da die Thür sich nicht öffnete, ging Hinko zur Frau, wedelte mit dem Schwanze, lief wieder an die Thür, kratzte an derselben und winselte. Der Hund deutete in ähnlicher, wenn auch nicht so dringender Weise, jedesmal die Ankunft Barthel’s an; die Frau glaubte also, ihr Mann sei in der Nähe und machte die Thür auf. Der Hund jagte sofort nach dem Walde hin, obgleich auf dem Wege dahin weder Barthel noch sonst Jemand zu sehen war.

Barthel seinerseits rang noch immer mit den Wölfen. Man sagt, die, welche in Todesgefahr wären, hätten keine Zeit an etwas Anderes, als an die Abwehr zu denken. Es ist nicht wahr; Barthel hat mir gestanden, daß er in jenen Augenblicken, als die grünen Augen der Wölfe ihn anstierten, als er die scharfen Zähne und Klauen an seinem Leibe fühlte, an seine Frau, an sein Kind gedacht und wie sie jammern würden, wenn man seine verstümmelten Ueberreste finde. Gerade diese Gedanken, sagt er, hätten ihm noch einmal Kraft gegeben, ihn veranlaßt noch einmal Alles aufzubieten, um den Arm frei zu machen. Er verzweifelte aber an dem Gelingen; die Besinnung wollte ihm bereits schwinden, da hörte er ein wüthendes Knurren und mitten hinein in den Knäuel, den er mit den beiden Wölfen bildete, stürzte ein anderes Thier. Die Wölfe ließen ab von dem Manne; Barthel konnte aufspringen und er erkannte den getreuen Hinko, über den nun die Bestien herfielen. Ihn konnte er unmöglich zerreißen lassen und er wankte hinzu, ihm beizustehen. Da sah er das Beil, das er früher verloren. Er raffte es auf und nun war er des Sieges gewiß. Zwar floß das Blut ihm an den Gliedern herunter, aber er konnte die Arme noch brauchen und mächtige Hiebe führte er mit dem Beile nach den Wölfen. Bald lag der Eine todt vor ihm und im nächsten Augenblick grub sich das Beil tief auch in den Hals der großen Bestie, die den treuen Hinko gepackt hatte.

Blutend wankte Barthel mit dem blutenden Hinko seinem nicht mehr fernen Hause zu. Die Frau schrie entsetzt laut auf als sie ihn eintreten sah. Sein Anblick war freilich grauenvoll genug. Sein Rock von Schaffell hing in Fetzen um ihn her, denn die Klauen der Wölfe hatten ihn wie Messer zerschnitten; die rechte Achsel war ganz bloßgelegt, nicht nur bis auf das Fleisch, sondern bis auf den Knochen und das lange Haar in blutige Stränge zusammengeklebt. Fast noch schlimmer war Hinko zugerichtet, aber in liebender Pflege erholten Beide sich bald wieder.“ –

Der alte Hinko, welcher während der Erzählung mehrmals mit dem Schweife gewedelt hatte, als verstehe er, daß von ihm die Rede fei und freue sich, daß man seinen Muth anerkenne, wurde von mancher schönen Hand gestreichelt, als die Erzählung geendigt war. Bald darauf brachen die Gäste auf, ich aber nahm mir vor, die Wolfsgeschichten niederzuschreiben für die Leser der Gartenlaube, zumal mein Freund mir als Andenken eine Skizze überließ, in welcher er, nach der Schilderung Barthel’s, den Kampf des Pferdes mit den Wölfen so getreu als möglich darzustellen versucht hatte.




John Charles Fremont.[1]
„Nominirter“ Präsident der Freimänner in den vereinigten Staaten.

In Nordamerika ist jetzt eine interessante Zeit. In allen Städten und Flecken, in allen Landgemeinden und in jedem Farmhause herrscht das regste politische Leben. Ueberall werden die großen Streitfragen des Landes discutirt und wird für die verschiedenen Parteien geworben; die Zeitungen liegen gegen einander zu Felde und in den Centralorten werden Volksversammlungen abgehalten, denn es gilt, sich für die große Schlacht zu rüsten, die im Herbst bei der Präsidentenwahl geschlagen werden soll und deren Ausfall bedeutungsvoller für die Zukunft Amerikas ist, als je.

Hie Buchanan, hie Fremont, hie Fillmore!“ schallt es durch das ganze Land, und jede der dadurch bezeichneten Parteien glaubt den Sieg davon tragen zu können. Die Einstimmigkeit, welche bei der vorläufigen Ernennung dieser drei Kandidaten geherrscht hat, zeigt bereits, wie concentrirt ihr Interesse ist, und wie scharf sie auf ihr Ziel hindrängen.

Wie sollte es aber auch anders sein? Ist doch die Geschichte in der jüngsten Zeit schon thätig gewesen, und hat Jedem, der sehen will, die Augen geöffnet über die Krisis, welcher Amerika entgegengeht, wenn es sich nicht dazu aufrafft, sie kräftig zu bestehen!

Der Bürgerkrieg in Kansas und die revolutionäre Nothwehr, zu welcher das Volk in Californien gezwungen wurde, hat allen ehrlichen Leuten, denen es um das zukünftige Wohl Amerika’s zu thun ist, gezeigt, daß sie die Hände nicht länger in den Schooß legen, sondern dazu helfen müssen, den ihnen drohenden Zustand abzuwehren. Die Demokratie des Südens hat den Gipfel ihrer Macht und ihres Uebermuths erreicht, und wenn es ihr jetzt gelingt, durch Kansas die Zahl der Sclavenstaaten zu vermehren, so ist der Norden in Gefahr, vollends unterjocht zu werden, und die Errungenschaften seiner Entwickelung in Frage gestellt zu sehen.

Es zeigt sich jetzt, wie unrecht der Norden daran gethan hat, dem Süden nachzugeben und sich zu enthalten, die Sclaverei als Prinzip anzugreifen. Der Süden hat ihm das Sclavenfanggesetz aufgedrängt, welches jeden freien Staat zum Schauplatz der nichtswürdigsten Sclavenhetzerei macht, welche die Humanität tödtet und die Bewohner Amerika’s zu der niedrigsten Stufe wilder Völkerstämme herabwürdigt. Die daraus erwachsene Rohheit greift jetzt auf das brutalste nach der Herrschaft, so daß sie sich selbst nicht schämt, im Senat von Washington mit Stockprügeln zu agiren, und unbewehrte Greise zu überfallen, weil sie gegen die Sclaverei gesprochen haben.

Dieselbe Rohheit streckt ihre Hand zur Eroberung des ganzen amerikanischen Kontinents aus, und will es dabei selbst auf einen Krieg mit Europa ankommen lassen, während sie im Innern die fremden Einwanderer von allen Staatsämtern auszuschließen und ihnen für die Duldung amerikanische Sitten und amerikanische Glaubensheuchelei aufzuzwingen trachtet.

Alles dies gehört zum Wesen der amerikanischen Demokratie. Mit der vollständigen Entfaltung desselben hat aber auch dessen Verleben begonnen. Dem Norden muß jetzt der Beruf zu Theil werden, den Süden zu überwinden. Selbst wenn es ihm auch jetzt noch nicht gelänge, den Sieg bei der Präsidentenwahl zu erringen, muß er ihm zu Theil werden, wenn er in seiner feindlichen Stellung beharrt und dasselbe Mittel der Drohung, die Union aufzulösen, anwendet, durch das bisher der Süden seine Zwecke durchsetzte.

Der Süden hat den großen Vortheil, einig zu sein, während der Norden gespalten ist. Selbst jetzt ist er es noch. Ein Theil desselben geht mit den Demokraten und obwohl die Whigs längst die Aussicht verloren haben, eine herrschende Partei zu bilden, klammern sie sich noch einmal an Fillmore an, der in ruhigeren Zeiten auf den Präsidentenstuhl gelangte, und suchen ihn mit Hülfe des Restes der als eigene Partei völlig zerstobenen Know-nothings (der exclusiven Amerikaner, die von nichts etwas wissen wollen, als von sich und ihren Rechten) emporzuheben. Daß sie nicht siegen können, steht bereits fest, denn alle energievollen Männer des Nordens haben sich der Partei zugewandt, die entschlossen sind, Amerika endlich zu einem wirklich republikanischen Lande zu machen, und ihm deshalb vor Allem die Grundfreiheit zu erkämpfen, deren es bedarf, um in sich frei zu werden.

Die Republikaner Nordamerikas sind die Vertreter der Neuzeit, und ihnen muß deshalb auch die Zukunft gehören. Die Demokraten des Südens haben ihre Staaten verwildern und entarten lassen, so daß Amerika in sich zu Grunde gehen müßte, wie einst Griechenland und das römische Reich an der Sclaverei [473] zu Grunde gingen, wenn nicht zugleich eine andere, bessere Kraft auf dem amerikanischen Boden erwachsen wäre. Sie tritt erst jetzt wahrhaft auf den Schauplatz, und zum ersten Mal wird die Präsidentenwahl zu einer Entscheidungsschlacht über das Sklavereiprinzip werden.

Ein nicht geringes Gewicht hat dabei die deutsche Emigration in die Wagschale gelegt. Der gesammte jüngere Theil derselben, alle Männer von 1848 stehen auf Seiten der Republikaner und die Festigkeit, mit der sie für dieselben auftreten, und zwar nicht nur im Norden, sondern auch im Süden, hat den größten Eindruck hervorgebracht. Die 60,000 Turner in der Union, welche unter einander in Verbindung stehen, sind allein im Stande, wenn es darauf ankäme, ein Heer zu liefern, vor dem der Süden bald erbangen würde, falls seine Herrschsucht es bis zum Bürgerkriege kommen ließe.

So energievoll die Republikaner sich als Partei hingestellt haben, so charakteristisch sind sie auch in der Wahl ihres Präsidentschaftskandidaten zu Werke gegangen.

Sie haben einen Mann gewählt, der es verdient, der Held der Zukunft zu werden, weil er eben so viel Geist als Charakterkraft besitzt und bewiesen hat, daß er die letztere anzuwenden versteht.

Der 43jährige John Charles Fremont ist vielleicht der jüngste Kandidat, der für die Präsidentschaft aufgestellt worden ist, aber nichts desto weniger einer der Würdigsten, welche dazu erkoren wurden. Der „Pfadfinder“ Fremont, der Mann, dem Amerika den Besitz von Californien verdankt, ist der trefflichste Kandidat, den sie dem alten, schlauen, mit allen Listen vertrauten Diplomaten Buchanan gegenüberstellen konnten, und schon in diesem Gegensatze drückt sich eine historische Kraft aus.

Es liegt etwas Schicksalsvolles in Fremont’s bisheriger Wirksamkeit, und so erscheint auch das plötzliche Aufstellen seiner Kandidatur, die darum wieder nur um so magischer gewirkt hat. Er ist ein Mann, den das Glück emporgetragen hat, wie nicht bald einen Sterblichen, und doch ist es ihm auch nur wieder zum Theil geworden, weil er es zu benutzen wußte, und größer noch als das Verdienst, das er sich dabei erwarb, erscheint das ruhige, kühle Ablehnen dargebotener Herrschaft nach der Erreichung des ersten Zieles, dem Volk einen Dienst zu leisten. Und nichts desto weniger oder vielmehr gerade deshalb trägt ihn die Geschichte wieder empor, und er weigert sich nicht, ihr zu gehorchen.

Dies ist eine der interessantesten Erscheinungen der neuern Zeit, und wir können uns nicht enthalten, unsere Leser darauf hinzuweisen, indem wir ihnen ein Bild von Fremont’s bisheriger Wirksamkeit, so weit diese bisher durch amerikanische Zeitungen bekannt geworden ist, entwerfen.

Fremont ist der Sohn eines französischen Emigranten, den die Revolutionsstürme aus seiner Heimath trieben, und der nach vielfachem Umherirren eine Heimath in Virginien fand, wo er das Herz einer jungen schönen Waise mit einigem Vermögen errang. John Charles wurde im Jahre 1813 als erster Sohn dieser Ehe geboren. Wenige Jahre darauf starb der Vater und die Wittwe zog nach Charleston, um ihre Kinder dort besser erziehen zu können. John Charles wurde früh in ein Advokaturgeschäft gegeben; die Fähigkeiten, welche der Knabe dort zeigte, veranlaßte seine Verwandten jedoch, ihn zum Studiren auf das Charleston-College zu schicken.

Dort widmete er sich vorzüglich dem Studium der Mathematik; in seinem sechzehnten Jahre hätte aber beinahe die Liebe seinem Studium ein Ende gemacht. Ein schönes, junges, westindisches Mädchen mit „Rabenhaar und sanften, schwarzen Augen“ that es ihm an, und er vergaß über ihren Reizen nicht nur das Studiren, sondern verlor auch die Lust, die Vorlesungen zu besuchen, und als die Professoren ihn darüber zur Rede stellten – und er so kühn war, sein Recht, verliebt zu sein, zu behaupten, kam es zur Relegation.

Das war freilich ein böses Ereigniß für Fremont; ein amerikanischer Jüngling von sechzehn Jahren läßt sich indessen so bald nicht beugen. Er verließ das College und setzte sich als Lehrer der Mathematik in Charleston fest. Diese Thätigkeit sowie der Tod seiner Schwester und seines Bruders führten ihn wieder ernsteren Lebensanschauungen zu, er entsagte seiner jungen Liebe.

Nach einigen Jahren erhielt er eine Stelle als Lehrer der Mathematik auf der Kriegsschaluppe „Natchez“, mit der er eine zweieinhalbjährige Kreuzfahrt auf den amerikanischen Gewässern machte. Diese Reise weckte seinen Forschungsdrang und er beschloß, denselben auf das Festland zu übertragen. Nachdem er ein Jahr lang als Ingenieur für die Eisenbahn von Charleston nach Cincinnati eine noch unbetretene Gebirgsstrecke vermessen hatte, schloß er sich dem französischen Ingenieur Nicollet an, welcher das Gebiet zwischen dem Missouri und der britischen Nordwestgrenze zu durchforschen hatte. Nach der Rückkehr von dieser Reise wurde er zum Seconde-Lieutenant in dem topographischen Korps ernannt.

Während er mit Nicollet in Washington die Reiseergebnisse ausarbeitete, wurde er mit der Familie des Senators Benton bekannt, und dessen zweite Tochter, Jessie, fesselte sein Herz. Sie erwiederte seine Liebe und er warb um sie. Die Eltern wollten aber nichts von dem armen Lieutenant wissen, und er erhielt gleich darauf einen Regierungsauftrag zur Durchforschung des Moisnes-Flusses. Er führte ihn aus, kehrte aber nach Washington zurück, und erneuerte seine Werbung um Jessie Benton so ernst, daß die Eltern endlich nachgaben. Die Verbindung mit dem berühmten Staatsmanne förderte natürlich seine Laufbahn. Nachdem er dem Kabinet einen Plan zur Verbindung des Mississippi mit dem stillen Ocean vorgelegt, erhielt er den Auftrag, die westlichen Grenzgebiete nebst den „Felsengebirgen“ zu bereisen, und ging im Mai 1842 von Washington dahin ab. Seine Reisegesellschaft bestand aus 21 Mann, meistentheils canadischen Pelzjägern, die mit dem Prairieleben vertraut waren, und einem Deutschen, Preuß, als Assistenz-Ingenieur.

Die Feindseligkeit der Indianer gegen die Weißen legte ihm häufig Schwierigkeiten in den Weg; die Festigkeit, mit der er den Wilden entgegentrat, schüchterte sie jedoch so ein, daß sie ihn ungehindert ziehen ließen. Es gelang ihm, den Südpaß nach den mexikanischen Gebirgen aufzufinden, und den höchsten Gipfel der Felsengebirge, 13,570 Fuß über dem Golf von Mexico, zu ersteigen.

Der Bericht, den er nach seiner Rückkehr in Washington abstattete, enthielt so viel Neues, und eröffnete eine so günstige Aussicht auf den Erwerb der Westküste, daß die Regierung sofort beschloß, Fremont zu einer zweiten Expedition auszusenden.

Als er im Jahre 1843 von Kansas auszog, wußte man noch so viel wie Nichts von Californien. Die darüber vorhandenen Karten enthielten z. B. einen Fluß, der sich in die Bai von San Francisco ergießen sollte, und den sie Bona-Ventura nannten, der aber gar nicht existirt. Fremont war der erste wissenschaftliche Reisende, der diese Gebiete betrat.

Am Salzsee, wo jetzt die Mormonen leben, war damals eine Wüste, die Sierra Nevada, in der jetzt zahlreiche Amerikaner angesiedelt sind, eine große Schneeeinsamkeit und die schönen Thäler von Sacramento und San Joaquin, welche jetzt lachende Gefilde amerikanischer Kultur sind, waren damals nur von wilden Pferden, Hirschen und Eulen bewohnt. Fremont durchforschte den großen Thalkessel und die „drei Parks“ und bestimmte den Lauf der drei großen im Centrum der Felsengebirge entspringenden Flüsse, die nach Osten und Westen fließen.

Nach der Rückkehr von dieser Reise wurde Fremont zum Kapitain ernannt, und ihm gleichzeitig der Auftrag zu einer dritten Expedition ertheilt, deren Zweck die Durchforschung des großen Thalkessels und der Uferländer sein sollte. Je nähere Nachrichten Fremont über das Land gebracht hatte, desto begieriger wurde man auch in Washington nach dem Besitz desselben.

Fremont zog im Jahre 1844 zum dritten Male aus. Nach Untersuchung der Stromquellen eilte Fremont durch die Wüste, um die Sierra Nevada vor Hereinbrechen des Winterschnees zu erreichen. Damit waren schwere Entbehrungen verbunden. Tage lang fanden die Reisenden kein Wasser, und waren daher oft der Gefahr des Verschmachtens ausgesetzt. Dazu gesellten sich die Gefahren, welche die feindlichen Indianer brachten. Mehr als einmal mußte Fremont ihnen eine Schlacht liefern, und mehrere seiner Gefährten kamen dabei um’s Leben. Er selbst trotzte jedoch allen Gefahren, und schoß selbst einmal einen Indianer nieder, der einem seiner Freunde den tödtlichen Pfeil in’s Herz senden wollte.

In den Schneemassen der Sierra Nevada ging der Expedition ferner sämmtliches Rindfleisch verloren, und als Fremont nach Monterey am stillen Ocean eilte, um sich mit den mexikanischen Behörden in Einvernehmen zu setzen, kamen ihm Dragoner [474] des Gouverneurs der Provinz, General Castro, entgegen, welche ihm dessen Befehl brachten, augenblicklich das Land zu verlassen.

Fremont war in schlimmer Lage. Seine Expedition bedurfte der Stärkung, wenn sie nicht zu Grunde gehen sollte, und dazu gesellte sich noch die Beleidigung, welche der mexicanische General der amerikanischen Nation zufügte, während Fremont die Kraft fehlte, sie abzuwehren. Dennoch beschloß er, auch dieser Gefahr zu trotzen. Er erklärte, daß der Zustand seiner Expedition es ihm unmöglich mache, dem Befehle zu gehorchen, und bezog ein Lager auf einer Höhe bei Monterey, das er befestigen ließ.

Der General Castro rückte mit Truppen und Kanonen dagegen an und drohte, die Amerikaner zu vernichten, wagte aber nicht, anzugreifen. Fremont blieb ruhig stehen, bis eine Botschaft des amerikanischen Konsuls aus Monterey ihn veranlaßte, fortzuziehen, woran man ihn nicht hinderte.

Er wandte sich Oregon zu, und hatte bald darauf die Freude, zwei seiner frühern Reisegefährten zu treffen, welche ihm eine Verstärkung von neun Mann zuführten. Die Depesche der Regierung, welche sie ihm überbrachten, bestand nur aus einem Empfehlungsschreiben des Staatssekretairs Buchanan, dem der mündliche Auftrag hinzugefügt war, Alles zu thun, was die Bewohner des Landes für die vereinigten Staaten gewinnen könne.

„Das ist verdammt allgemein,“ sagte Fremont, als er diese Botschaft vernahm, „doch wir wollen sehen, was sich thun läßt.“

Im Mai 1846 kam er nach dem Sacramento Thale und fand das Land in der größten Aufregung. General Castro war, auf dem Marsche gegen die Ansiedler, und die Indianer warteten nur auf die trockne Jahreszeit, um sie anzugreifen und ihre Farmen niederzubrennen. Juntas waren versammelt, um das Land unter britischen Schutz zu stellen und hatten bereits große Länderstrecken an Engländer verschenkt, eine britische Flotte wurde an der Küste erwartet und der britische Vicekonsul Forbes hatte die Zügel der Herrschaft in der Hand. Der Krieg zwischen den vereinigten Staaten und Mexico war ausgebrochen; davon wußte Fremont indessen noch nichts, und er war ganz auf seine eigne Faust angewiesen, als er zu handeln begann. Die Lage war so kritisch, daß rasches Handeln nöthig war, und deshalb beschloß Fremont sofort, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen und das Laud für unabhängig zu erklären, um es vor den Mexicanern zu retten. Die amerikanischen Ansiedler eilten von allen Seiten in Fremont’s Lager mit Waffen, Pferden und Munition, wurden in Bataillone formirt und unter dem Banner des Eisbären – als Symbols des hartnäckigsten Widerstandes – führte sie Fremont gegen Castro. Dieser wich, wurde geschlagen und in dreißig Tagen war Nordcalifornien frei.

Castro floh dem Süden zu, Fremont erklärte das Land für unabhängig.

Während dieser Zeit hatte der Kommodore Sloat auf die Kunde von Fremont’s Auftreten in Californien mit einem Geschwader der amerikanischen Flotte so geschickt manövrirt, daß er den englischen Admiral Seymour über seinen Cours täuschte und plötzlich vor Monterey erschien. Sobald Fremont dies hörte, ließ er die Stadt besetzen. Wie erstaunte der Kommodore aber, als er hörte, daß Fremont auf eigne Hand handle. Da wurde ihm die Sache zu gefährlich, und er beschloß erst nach Washington zu reisen, um sich Befehle einzuholen.

Das Geschwader ließ er jedoch da und übertrug den Befehl über dasselbe dem Kommodore Strekton.

Noch mehr als Sloat gestaunt hatte, erstaunte der englische Admiral Seymour, als er die amerikanische Flotte in Monterey fand. Die Engländer hatten die Westküste immer halb und halb als ihr Eigenthum angesehen, weil Drake sie betreten und Neualbion getauft hatte, und der Krieg zwischen Mexico und der Union schien ihnen die passende Gelegenheit, sich auch faktisch in den Besitz des Landes zu setzen – da sahen sie mit Schrecken, daß die Amerikaner ihnen schon zuvorgekommen waren.

Fremont verlor auch jetzt keinen Augenblick. Er ließ das Sternenbanner aufziehen, Californien gehörte von da ab der Union und die Engländer wagten keinen Angriff, da ein solcher sie in einen Krieg mit den vereinigten Staaten verwickelt hätte.

Fremont ist daher der wahre Eroberer Californiens und er ist sicherlich einer der kühnsten, den die Geschichte aufzuweisen hat. Nach Vollendung dieser Aufgabe zeigte er aber auch sogleich, daß es ihm nicht um das Herrschen zu thun ist und daß er etwas Höheres kennt, als dieses.

Die Regierung von Washington sandte ihm die Ernennung zum Oberstlieutenant und er führte als natürlicher Gouverneur des Landes den Kampf desselben mit den Mexicanern fort, neben ihm war aber auch Strekton Gouverneur und mit dem General Kearney, welcher mit dem Auftrag, Californien zu erobern, aus Mexico einrückte, erschien ein Dritter. Beide ertheilten ihm Befehle, und da diese häufig widersprechend waren, mußte Fremont sich weigern, ihnen zu gehorchen, bis entschieden sei, wem der Oberbefehl gebühre.

Kearney war damit jedoch so wenig zufrieden, daß er Fremont verhaften und vor ein Kriegsgericht stellen ließ. Fremont entwickelte diesem seine triftigen Gründe, ein Kriegsgericht urtheilt jedoch immer im Sinne dessen, der es beruft, und so hatte auch Fremont das Vergnügen, von ihm als Rebell verurtheilt zu werden. Es war jedoch zugleich so gütig, ihn mit Rücksicht auf seinen Patriotismns der Gnade des Präsidenten Polk zu empfehlen.

Diese wurde ihm natürlich auch zu Theil. Polk gab ihm seinen Degen zurück, bestätigte ihn in Rang und Amt und erklärte, daß er, obwohl das Urtheil des Kriegsgerichtes formell begründet sei, eher Anspruch auf Belohnung, als auf Strafe habe.

Polk bot ihm demgemäß die Gouverneurstelle an, Fremont lehnte sie jedoch ab und zog es vor, als Privatmann in Californien zu bleiben.

Erst nach einigen Jahren ließ er sich bewegen, als Vertreter des Staates Californien in den Senat der Union einzutreten. –

Die Zeit, welche er in Californien zubrachte, benutzte er so gut, wie es nur geschehen konnte. Er kaufte dort so viel Land an, daß er dadurch einer der reichsten Leute Amerika’s wurde, und schrieb zugleich ein treffliches Buch über seine Expedition, das ihm die Bewunderung und Hochachtung der gesammten wissenschaftlichen Welt eintrug und dem namentlich Alex. von Humboldt Beifall schenkte. Es ist eben so reich an neuen Beobachtungen und Naturschilderungen, als fesselnd durch die Ausführung, so daß es sich fast wie ein Roman liest, und wesentlich dazu beigetragen hat, das Interesse für Californien zu wecken und zu erhöhen.

In politischer Beziehung galt Fremont bis dahin für einen Anhänger seines Schwiegervaters Benton, der ein Demokrat im Sinne des Missouri-Compromisses, d. h. ein solcher ist, welcher die Sklaverei auf das Gebiet des Südens beschränkt wissen will und der das Sklavenfanggesetz und die Nebraska-Bill verwirft.

Trotz der Verwandtschaft mit Benton hat Fremont aber auch keinen Anstand genommen, sich von diesem zu trennen und auf die Seite der Republikaner zu treten, als es sich darum handelte, einen entscheidenden Schritt zum Wohle des Landes zu thun.

Er sieht ein, daß es von nun an einer Bekämpfung der Sklaverei als Prinzip bedarf.

Die Republikaner sind natürlich auch die Gegner des Knownothing-Treibens, und wollen die volle Freiheit der Einwanderung aufrecht erhalten. Drittens verwerfen sie die Annexationsgelüste der Demokratie, weil diese zu leicht in einen Krieg mit Europa verwickeln würden. Fremont hat diese Grundsätze gleichfalls angenommen. So kühn er für den Erwerb Californiens handelte, als dieses durch die Kraft des amerikanischen Volkes erworben werden durfte, so entschieden verwarf er alle ungerechten Eroberungskriege.

In Bezug auf die Sklavenfrage hat er das Jedem einleuchtende Prinzip hingestellt, daß das Recht der freien Arbeit verlangt, daß ihr kein neu erworbenes Gebiet der Union entzogen werden darf. Es hieße ihr die natürliche Frucht ihres Fleißes nehmen, wenn man sie zwinge, in Koncurrenz mit Sklavenarbeit zu treten und sich dadurch selbst zur Sklaverei zu erniedrigen.

Wenn das Glück Fremont auch jetzt begünstigte und ihn auf den Präsidentenstuhl höbe, so wäre dies für die Zukunft Amerikas von unnennbarer Wichtigkeit.

Kansas würde für das Freistaatsprinzip gerettet und es wäre eine Gesetzgebung in Bezug auf die Sklaverei zu erwarten, welcher den Norden völlig vor ihr sicher stellen und damit dem Süden auch die Aussicht nehmen würde, sein Prinzip jemals wieder zur Herrschaft zu bringen.

[475] Nicht minder wichtig wäre Fremont’s Wahl für Europa, da sie die Gefahr, welche England von einem Kriege mit Amerika droht, sofort und wahrscheinlich für lange Zeit beseitigen würde.

Eben dieser günstigen Aussicht wegen dürfen wir jedoch kaum darauf hoffen, Fremont jetzt schon gewählt zu sehen. Die Demokratie ist noch zu mächtig, sowohl durch ihren Reichthum, als durch die Furcht des Nordens vor einer Trennung von dem Süden, als daß es den Republikanern schon gelingen könnte, die Demokratie zu überwinden. Sie hoffen es freilich, aber wir können ihre Hoffnung nicht theilen.

Müßte Fremont indessen jetzt noch Buchanan weichen, so bliebe er doch als Mann der Zukunft bestehn und ihm würde immer eine wichtige politische Rolle zu Theil werden, weil die Republikaner Alles anzuwenden haben, zu verhindern, daß Kansas zum Sklavenstaate gemacht werde, und daraus leicht ein Krieg zwischen dem Norden und Süden entstehen kann, der die Union faktisch aufhöbe.[2] – „Old Buck“ (Buchanan) würde freilich, sobald er gewählt wäre, sich bemühen, diese Gefahr zu beseitigen, indem er zu vermitteln suchte, aber die Dinge sind so weit gediehen, daß nur die Vermittlung möglich ist, welche die Demokraten zum Nachgeben veranlaßt.

Die Republikaner werden ihnen daher fortan ihre Gesetze vorschreiben, und ihr Führer Fremont ist der Mann, der die Gestaltung der Zukunft in der Hand hat, sobald er ihre Forderungen mit der rechten Energie verfolgt.

Die Wahl des Präsidenten geschieht, wollen wir noch erwähnen, durch Wahlmänner, welche die Wahlstimmen des Staates vertreten und der Verfassung gemäß theils von der Gesetzgebung der einzelnen Staaten, theils vom Volke gewählt werden können, in der jüngsten Zeit aber durchweg vom Volke erwählt wurden, so daß die Wahl ebensowohl eine direkte, als eine indirekte ist, denn indem Jeder den Wahlmann nach seiner Partei wählt, stimmt er damit zugleich für den Präsidenten,und sobald die Wahlmänner erwählt sind, weiß man, wie das Resultat der Wahl ausfallen wird. Formell treten die Wahlmänner am ersten Mittwoch des December zusammen und geben ihre Stimmen in jedem Staate ab, welche der Congreß entgegennimmt.

Äm Fall keiner der Kandidaten eine absolute Majorität hat, bestimmt der Congreß den Präsidenten und Vicepräsidenten nach der Mehrheit der Stimmenanzahl.

Die Union enthält 16 freie und 15 Sklavenstaaten, und die Wahlstimmen sind folgendermaßen vertheilt: 1) freie Staaten: Maine 8, New-Hampshire 5, Vermont 5, Massachusets 13, Rhode Island 4, Connecticut 6, New-York 35, New-Jersey 7, Pennsylvania 27, Ohio 23, Indiana 13, Illinois 11, Michigan 6, Wisconsin 5, Iova 4, California 4, zusammen 176. 2) Sklavenstaaten: Delaware 3, Maryland 8, Virginia 15, North-Carolina 10, South-Carolina 8, Georgia 10, Florida 3, Alabama 9, Mississippi 7, Louisiana 6. Texas 4, Tennessee 12, Kentucky 12, Missouri 9, Arkansas 4, zusammen 120. Gesammtsumme 296. Zur Erwählung sind somit nöthig 149 Stimmen. Ueber die Stimmen der Staaten entscheidet die einfache Majorität derselben. Wenn von Neu-Yorks 35 Stimmen z. B. 20 für Fremont, 8 für Buchanan und 7 für Fillmore gehn, so hat New-York für Fremont entschieden. Jeder Wahlmann ist gehalten, streng für das Ticket (den Wahlzettel) zu stimmen, für das er gewählt ist, und ein Betrug oder eine Täuschung der Urwähler durch die Wahlmänner ist nicht möglich.

Von der Persönlichkeit Fremont’s wäre noch Manches zu sagen. Doch darüber herrschen noch verschiedene Urtheile, die sich erst später consolidiren werden. Nur so viel ist sicher bekannt, daß er ein gedrungener, energischer Mann mit freiem Bartwuchse in ziemlich germanisch aussehendem, ausdrucksvollem Gesichte, ein Mann von großer Vorliebe für deutsche Bildung ist, Deutsch spricht und sich eben so sehr auf die Deutschen verläßt, wie diese, namentlich die 60,000 Turner, auf ihn. Man darf hoffen, daß er diesmal oder über 4 Jahre mit Hülfe derselben siegen wird. Damit ist dann auch ein wirkliches transatlantisches Deutschland gewonnen, um so mehr, als sich Amerika selbst nur dadurch aus Verwilderung und nacktem Materialismus retten kann, daß es sich seiner ursprünglichen Kraft und Größe, welche in den anglosächsischen, altgermanischen Institutionen liegt, erinnert und sich wieder aus dieser alten Quelle erfrischt. Die alten germanischen Institutionen, von Parlamentsakten in England überwuchert, flohen nach Amerika und entwickelten sich dort mit Urwaldskraft. Mit den von Geld- und Habgier ausgerotteten Urwäldern sank auch diese Kraft und wurde kahle, trockne, verspekulirte Ebene. Fremont ist mit seiner deutschen Bildung und seinem deutschen Heere von 60,000 Turnern Persönlichkeit und Repräsentant der alten germanischen Freiheitsinstitutionen gegenüber dem verspekulirten, versklavten Yankeeismus.




Blätter und Blüthen.

Das Associationswesen in Belgien, Frankreich und England.

Die Leser der Gartenlaube haben sich so entschieden für unsere deutschen Associationen interessirt, daß es ihnen sicher von Interesse sein wird, etwas über den Stand dieser hochwichtigen Angelegenheit in den obengenannten Nachbarländern zu erfahren. Während bisher ein ziemlich mühsames Studium dazu gehörte, und man aus einer Menge einzeln verstreuter Notizen sich nur ein höchst unvollständiges Bild der einschlagenden Zustände verschaffen konnte, hat sich ein auch um die deutschen Associationen hochverdienter Mann, der Professor Huber, gegenwärtig in Wernigerode am Harz, der schwierigen und mühsamen Arbeit unterzogen, Alles hierher Gehörige zu sammeln und durch eigne Anschauung an Ort und Stelle zu prüfen und zu sichten. Die reiche Ausbeute seiner Entdeckungsreise – denn eine solche verdient das Unternehmen genannt zu werden – liegt nun gegenwärtig in seinen „Reisebriefen aus Belgien, Frankreich und England im Sommer 1854, zwei Bände 8., Hamburg, Agentur des rauhen Hauses,“ vor, einem Werke, welches man für Jeden, der den Stand der Sache gründlich kennen lernen will, für unentbehrlich achten muß. Von den großartigen Cités ouvrières zu Paris bis zu den Associationen abgelegener Vorstädte, von den Unternehmungen der belgischen Regierung bis zu den zahlreichen Privatvereinen Englands gibt das Buch die werthvollsten statistischen und geschäftlichen Details. Bei der Beschränktheit des uns gestatteten Raumes lassen wir nur in Kürze einige Fingerzeige in Bezug auf den reichhaltigen Inhalt hier folgen, welche besser, als jede Empfehlung, dazu dienen werden, das Publikum für die Lektüre des interessanten Buches zu interessiren.

Von den vier Cités ouvrières zu Paris bestehen drei in einem einzigen großen Hofe, eine in einzelnen kleinen Wohnhäusern mit Gärten und gemeinschaftlichen Wirthschaftsgebäuden. Ausgeführt und benutzt ist bisher nur eine der erstern, die Cité Napoleon, ein Gebäude von drei Stockwerken, welches Wohnungen von einer Stube, zwei Kammern, Küche und Vorplatz zum jährlichen Preise von 200–300 Franken enthält, einem Miethzins, der nicht viel geringer als der gewöhnliche ist, wofür aber die Wohnungen besser sind und obenein ein gemeinschaftliches Wasch- und Badehaus enthalten.

Die Arbeiterkolonie zu Mühlhausen im Elsaß, 1851 von einer Aktiengesellschaft mit einem Kapitale von 900,000 Franks gegründet, hatte bis 1854 200 Wohnhäuser gebaut und wollte noch 100 hinzufügen, jedes für eine Familie mit Gärtchen, welche gemiethet und als Eigenthum gegen gewisse, nicht lästige Abschlagszahlungen erworben werden können. Sie ist eine wahre Musteranstalt für gemeinnützige Baugesellschaften dieser Art, und ihr Beispiel nicht genug anzuempfehlen.

Eine diesen Bestrebungen verwandte Wirksamkeit, die Arbeiter mit einem kleinen Grundeigenthum zu verseben, üben die in England bestehenden 130 Gesellschaften zur Erwerbung von Ländereien im Großen und deren Parzellirung, ursprünglich zu dem Zweck, zur Parlamentswahl stimmfähig zu machen. Sie repräsentiren ein Aktienkapital von 3,600,000 Pfund St., hatten bis 1854 bereits 310 Güter gekauft und in 19,500 Parzellen ausgethan, welche großentheils mit einem Wohnhause bebaut wurden.

Eine enorme Bedeutung haben ferner in England die vom Verfasser als Distributiv-Associationen bezeichneten Vereine, welche die Anschaffung von Bedürfnissen im Großen bezwecken, um ihren Mitgliedern bei Abnahme kleinerer Parthien billige Preise und gute Qualität zu sichern. So zählte man in England, ohne Irland, 190 solcher cooperative-stones, d. h. von Associationen gegründete Läden und Magazine, welche sowohl die billige Versorgung ihrer Mitglieder, als eine Dividende am Geschäftsgewinn gewährten, und von denen einzelne sich bis zu einem jährlichen Umsatz von 12,000 Pfund und mehr erheben.

Auch für die Kooperativ-Associationen, die Vereinigung von Arbeitern einer bestimmten Branche zum Betriebe eines Gewerbes für gemeinschaftliche Rechnung ist in England das Meiste geschehn. Der Verfasser [476] weist 35 nach, wovon 15 auf London kommen. Sie zählen gegen 25,000 Mitglieder, welche sich dadurch von bloßer Lohnarbeit zum selbstständigen Geschäftsbetriebe aufgeschwungen haben, indem Jeder zwar für seine geleistete Arbeit Stücklohn erhält, außerdem aber Antheil am Geschäftsgewinne hat. Meist von höchst ärmlichen Anfängen ausgehend, haben sich fast alle zu einem gedeihlichen Verkehr aufgeschwungen. Meist gehören die Geschäfte der eigentlichen Handwerksindustrie an, doch beweisen zwei Maschinenbauwerkstätten und eine Baumwollspinnerei, welche dazu gehören, daß die Association auch bei Fabrikunternehmungen mit Erfolg angewendet werden kann. Ueberhaupt bewährt sich dabei der Satz: daß die Association die einzige Verkehrsform für die unbemittelte Arbeiterklasse ist, welche dazu dient, den bisherigen handwerksmäßigen Gewerbebetrieb derselben in den für die Zukunft allein noch möglichen fabrikmäßigen überzuleiten.

Die französischen Kooperativ-Associationen sind fast einzig auf Paris beschränkt, wo deren gegenwärtig sich noch 31 meist in blühendem Zustande befinden. Sie gehören ebenfalls fast durchgängig der Handwerksindustrie an, welche sie jedoch auf fabrikmäßigen Fuße in großen Ateliers betreiben.

Wie übrigens auch Privatunternehmer das Wohl ihrer Arbeiter allmälig mehr in das Auge fassen, beweisen einige interessante Beispiele in England. So die Price’s patent-candle-company von 400 Aktionären, die in vier Fabriken an 4000 Arbeiter beschäftigt, darunter 1500 Kinder. Sie hat eine Fabrikschule auch für Erwachsene, veranstaltet besondere Vergnügungsparthien mit den Kindern, hält ihnen Spielplätze etc. Für die Arbeiter bestehen Wasch-, Bade- und Speiseanstalten, auch können sie durch Anlegung ihrer Ersparnisse im Geschäft mit der Zeit selbst Aktionäre werden. Ferner die Fabrik des Herrn Salt zu Saltaire auf 700 Arbeiter Cottages (kleine Wohnhäuser mit Gärten) berechnet, von denen bereits 100 fertig sind, mit Kirche, Schulen, Gesellschaftshaus, Bäckerei, Vorraths-, Verkaufshaus, Gartenanlagen, Spielplätzen etc.

Doch wir überschreiten den uns gestatteten Raum, wollten wir des vielen Interessanten auch nur flüchtig Erwähnung thun, und rathen den Lesern, sich statt dieser trocknen Aufzählung, an das Buch selbst zu machen, das wohl kein Einsichtiger ohne Befriedigung aus den Händen legen wird.




Grunert, der bekannte stuttgarter Schauspieler, erzählt in der Europa folgende, so viel wir wissen noch unbekannte Anekdoten aus Schiller’s Leben.

In der Karlsschule durften die Schüler am Sonntag die Weste nur mit drei Knöpfen schließen, um das Jabot breit herausstehen zu lassen; in der Woche mußten sie vier Knöpfe an der Weste schließen. Die Putzsüchtigen unter den jungen Leuten knöpften aber auch an den Schultagen nur drei zu und freuten sich über den weitausgelegten Busenstreif. Einst wurde Schiller’s Nebenmann von dem vorgesetzten Offizier darüber zurecht gewiesen und entschuldigte sich mit dem Vorgeben, der Knopf sei „zufällig aufgesprungen.“ Am andern Tage war Sonntag; Schiller hatte gedichtet und kam unbekümmert um die militärische Regel mit geschlossener Weste zur Parade. Hauptmann Schmeckenbecher macht ein finsteres Gesicht. „Schiller!“ – „Herr Hauptmann?“ – „Was ist heut’ für ein Tag?“ – „Hm – Sonntag.“ – „Mit wieviel Knöpf’ ist das Gillet am Sonntag geschlossen?“ – „Hm – mit drei.“ – „Wieviel hat Er zu?“ – „Ich? – eins – zwei – drei – vier.“ – „Wie kommt das?“ – „Ah – ’s ischt mir einer zugesprunge!

Als er an den Räubern arbeitete, und auch gerade einiges daraus vorlas, wurde er vom Hauptmann Schmeckenbecher unterbrochen, der seine Visitation hielt. Ein ernster Verweis über die laute Unterhaltung reizt den aufgeregten Dichter und als Schmeckenbecher zur Thür geht, fährt jener mit den Worten heraus: „So einen Hauptmann schnitz’ ich mir aus ’ner gelben Ruben!“ – Aber der Hauptmann hatte es gehört. Am andern Morgen traten die Schüler in Reih’ und Glied, denn der Herzog erscheint. Er mustert sie lange; endlich ruft er: „Schiller!“ – Schiller tritt vor. – „Hat Er gesagt, so einen Hauptmann schnitz’ ich mir aus einer gelben Rübe?“ – „Ew. Durchlaucht, ich kann’s nicht leugnen.“ – „Schmeckenbecher, laß’ Er eine gelbe Rübe und ein Messer holen.“ – Eine Pause tritt ein. Der Herzog steht vor Schiller; dieser blickt zur Erde; endlich wird gelbe Rübe und Messer gebracht und auf einen Wink des Herzogs in Schiller’s Hände geschoben. – „Nun schnitz’ Er mir einmal einen heraus!“ – Schiller, feuerroth, beginnt in der Verlegenheit an der Rübe zu schnitzeln; Alles staunt; auch der Herzog, auf sein spanisches Rohr gestützt, sieht verwundert zu und sagt nach einer Weile halblaut zu seinem Adjutanten: „Es wäre doch verflucht, wenn er einen herausbrächte!




Weibliche Bildung und Erziehung. – „Es ist überflüssig, über die Nothwendigkeit einer umfassenden Ausbildung des weiblichen Geschlechtes Beweise vorzubringen; denn Jedermann erkennt, daß der Abstand zwischen der Bildung des Mannes und des Weibes in unserer Zeit des geistigen Vorwärtsschreitens immer mehr hervortritt. Darüber nur kann eine Meinungsverschiedenheit obwalten, wie weit oder wie eng man das Bildungsbereich des weiblichen Geschlechtes abgrenzen wolle. Indem ich es versuchen will, hierüber die Ansichten zu entwickeln, auf welchen die zu gründende Anstalt beruhen soll, glaube ich es gleich von vorn herein hervorheben zu müssen, daß ich den Uebergriffen einer sogenannten Frauen-Emancipation gegenüber vor allen Dingen die Stellung der Frau als Gattin, Mutter, Hausfrau mit aller Energie gewahrt wissen will. Diesen drei Seiten der Frauenstellung muß aber noch eine vierte hinzugebildet werden: die als Glied der bürgerlichen Gesellschaft. Die Erziehung des Herzens und des Körpers zu sittlicher und leiblicher Gesundheit versteht sich von selbst, umso mehr, als die Mutter die Bildnerin des kommenden Geschlechtes ist. Und zwar ist sie dies mehr, als man gewöhnlich glaubt, ja als es den Müttern selbst bewußt sein mag, denn fast keines großen Mannes Entwickelungsgeschichte verfehlt, die ersten Keime seiner Größe als Aussaat der Mutterhand nachzuweisen. – Vielfache Betrachtungen haben mich gelehrt, daß eine solche Anstalt eifrig dahin zu wirken habe, der Unnatur und Verbildung, um nicht zu sagen Ueberbildung, entgegen zu arbeiten, welche nicht selten das Ergebniß gewisser vornehmer Pensionate sind, und die sogar an Mädchen von kaum vierzehn Jahren wahrhaft widerlich hervortritt. Dabei begegnet man an solchen Kindern neben einem mehr als sichern Auftreten in den Kreisen Aelterer und einer an sich erfreulichen Gewandtheit in der Unterhaltung einer kläglichen Leerheit und Armuth an allem soliden Wissen.“ – „Für die gebildete Frau – ich denke hierbei überhaupt nicht an gelehrte – ist Vermögens- und Standesunterschied von keinem so großen Einfluß, wie für den Mann, welcher der Außenwelt gegenüber seine Stellung zu nehmen und zu behaupten, während die Frau ihren Blick nach Innen auf den Kreis ihres Hauses und auf den Kreis ihres Umganges zu richten hat. Bei dieser Auffassung der weiblichen Stellung macht es in der Bildung des Weibes keinen wesentlichen Unterschied, ob ihr Mann als großer Grundbesitzer Hunderttausende kommandirt, oder in der bescheidenen aber behaglichen Stellung als Beamter, Kaufmann, Fabrikant, Gelehrter. Gutsbesitzer oder Gewerbsmann steht. Der einzige erhebliche Unterschied, der sich hier geltend machen könnte, betrifft das Auftreten der Frau in der Gesellschaft. Die Gattin des Reichen findet hier ihren Haltpunkt in dem Reichthum ihres Gatten und sie steht für Jedermann dann in einer, ich möchte sagen Ehrfurcht gebietenden Haltung da, wenn sie außer jenem nur entlehnten Stützpunkte auch den eigenen der Bildung und des Wissens in sich trägt. Letztere den heranwachsenden Hausfrauen nach meinen Kräften mit geben zu helfen, ist das Ziel meinen Vorhabens.“ –

„1) Voran geht die wirthschaftliche Bildung, durch welche allein den jungen Mädchen ihre dereinstige Stellung als Frau lieb und wichtig gemacht werden kann. Nur die in allen wirthschaftlichen Angelegenheiten geübte Braut wird einst eine rechte Hausfrau sein. Daher sollen je nach der Art der Beschäftigungen fortdauernd oder nach der Reihenfolge die Pensionärinnen, mit Ausnahme der gröbern Arbeiten, alle in der Hauswirtschaft vorkommenden Geschäfte selbst üben, vom Markteinkauf bis zur Führung der Wirthschaftsbücher. Davon ist die Aufsichtsführung natürlich nicht ausgeschlossen, daher die Aufsicht über die Küchenarbeiten, die Wohn-, Schlaf, und Arbeitsräume neben der täglichen praktischen Beschäftigung dabei, Wochenweise unter den jungen Mädchen abwechseln soll. – – „2) Nächst den eigentlichen Wirthschaftsarbeiten soll eine besondere Aufmerksamkeit auf Erweiterung der Geschicklichkeit in den sogenannten weiblichen Arbeiten gerichtet werden; ich verstehe darunter: schön Nähen, Schneidern, Zuschneiden, Ausbessern, Stopfen, Plätten, Sticken u. s. w.“ (Punkt 3. behandelt den eigentlichen Unterricht in solchen Wissenschaften und Fertigkeiten, welche nicht in dem Bereich der Hausfrau im engeren Sinne zu liegen pflegen: Uebung in der schriftlichen Darstellung, Naturgeschichte, Ueberblick von der hauswirthschaftlichen Chemie, Vorlesen, Zeichnen, Körperübungen, einschließlich des Tanzens, Musik, Gesang, Sprachen.) – „4) Um den Pensionärinnen Gelegenheit zu bieten, sich mit Umsicht und Anstand als Frauen vom Hause bewegen zu lernen, wird bei den den Winter über allwöchentlich wiederkehrenden geselligen Abendunterhaltungen eine nach der andern mit der Rolle des Empfangs geladener Gäste und mit der Besorgung der Küche betraut werden. Musik und Gesang, bildende und unterhaltende Vorträge, Tanz in sehr beschränktem Maße, sollen mit geselligen Spielen abwechseln. Letztere werden um so mehr meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, als hierin leider sehr oft wirklich unterhaltender Stoff und Anstand vermißt wird. Dennoch scheinen sie mir zur Erreichung meines Zieles unentbehrlich, da namentlich durch sie Gelegenheit geboten ist, junge Mädchen im geselligen Umgange mit jungen Männern an diejenige anmuthige und sichere Haltung zu gewöhnen, welche eben so weit von befangener Ungelenkheit wie von haltloser Ungebundenheit entfernt ist. – Dies sind die Hauptpunkte, welche ich bei der Führung der mir anvertrauten Mädchen unverrückt im Auge haben werde. Alle vereinigen sich dahin, dieselben für die Familie und, so weit es das Weib berührt, für das Leben tüchtig vorzubereiten.“

Vorstehend haben wir einige Hauptsätze des Programms zu einer Erziehungs- und Bildungsanstalt für aus der Schule entlassene Töchter mitgetheilt, welche Ostern 1857 die Frau unseres Mitarbeiters, des Professor Roßmäßler, in Leipzig eröffnen wird. Dadurch wollten wir zugleich die Aufmerksamkeit unserer Leser und Leserinnen auf diese Anstalt um so geflissentlicher lenken, als die in dem Mitgetheilten ausgesprochenen Grundsätze uns einer gesunden weiblichen Erziehung und Bildung durchaus zu entsprechen scheinen und in dieser umsichtigen Auffassung uns wenigstens zur Zeit noch keine ähnliche Anstalt bekannt ist. Wir sind gern erbötig, etwaigen Anfragen nähere Auskunft zu vermitteln.
Die Red.

Nicht zu übersehen!

Alle Einsendungen von Manuscripten, Büchern etc. etc. für die Redaktion der Gartenlaube sind stets an die unterzeichnete Verlagshandlung zu adressiren.

Leipzig.
Ernst Keil.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Ein authentisches Portrait dieses jetzt so wichtigen Mannes, welches noch nicht in unsern Händen ist, liefern wir in einer der spätern Nummern.
  2. Er ist, wenn auch in der Minorität bei der Präsidentenwahl, erst recht der Mann der Zukunft, weil die Freimänner, die in ihm einen Kopf gefunden, dann auch sehen, wie viele Glieder und Organe dazu gehören. Deren sind so viele und gesunde, daß sie mit Zuversicht den Sieg bei der nächsten Wahl darauf sichern können.