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Die Gartenlaube (1854)/Heft 23

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[261]

No. 23. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Das Haus am Meeresstrande.
Eine pommersche Geschichte von Oswald Tiedemann.
(Fortsetzung.)

„Und doch,“ entgegnete Rudolf vollkommen ruhig, „haben Sie Ihre edlen Gesinnungen noch tiefer herablassen wollen. Ich war ein unfreiwilliger Zeuge Ihrer Anträge gegen meine Verlobte, die nur die Tochter eines ehemaligen Unteroffiziers, die Enkelin eines Bauern ist.“

Der Junker wurde sichtlich verwirrt und wagte nur von der Seite nach Katharina zu blicken. Er suchte sich zu verbessern: „Die Schönheit ist überall von Adel; ich sprach von den Männern.“

„Wie gut Sie aber immer zu unterscheiden wissen,“ bemerkte Rudolf, „haben Sie auch an der Tochter des Kreuzwirths gezeigt. Sie war sein einziges Kind und starb in der Blüthe ihrer Jahre.“

Feuerroth überfloß es das Gesicht des Junkers, er erhob die rechte Hand zum Schlage. Ruhig stand ihm der Maler gegenüber; das Auge Katharina’s blitzte, und rasch trat sie zwischen Beide. Sie sprach nicht, aber sie schien größer zu werden, wie gebietend streckte sie den Arm gegen den Edelmann aus.

„Was mengst Du Dich in unsern Streit?“ rief ihr derselbe zu. „Sei nicht vorwitzig, Katharina, es könnte auch Dich gereuen.“

Katharina ließ den erhobenen Arm langsam sinken und sagte: „Kann ich ruhig zusehen, gnädiger Herr, wenn Ihr meinen Bräutigam entehren wollt? Ich habe von meinem Vater immer sagen hören, daß ein Schlag die größte Entwürdigung ist. Ich versteh’s nicht recht, denn ich bin ein Weib und mich wird Niemand schlagen, aber ich glaube, mein Vater hat recht. Schon wie ich es sah, daß Ihr den Arm ausstrecktet, zitterte ich, nicht aus Furcht, daß Rudolf verletzt würde, nein, es war mir, als durchzuckt’ mich etwas Entsetzliches. Ich haßte Euch in dem Augenblicke, nun ist es wieder vorüber. Ihr sagt, Ihr wolltet mich nicht beleidigen, ich will’s Euch gern glauben, aber daß Ihr meinen Verlobten beleidigt habt, das ist doch wahr. Rudolf ist gut, er hat es nicht verdient, was Ihr ihm gesagt. Habt Ihr ihm doch nicht einmal seinen Gruß erwiedert, als er aus dem Hause kam. Euer Vater selbst, der auch ein stolzer Mann ist, hätte das nicht mal gethan; es zeigt von wenig gutem Herzen gegen uns Niedrige.“ – Der Junker neigte sich zu ihrem Ohr und flüsterte ihr zu: „Schilt nicht, Katharina, ich war eifersüchtig auf den Maler.“ – Sie erröthete, antwortete aber nicht. Rudolf sah zweifelhaft bald sie, bald Herrn von Riedd an, und wußte nicht recht, ob er sich über seine Braut freuen sollte oder nicht. In ihren Worten lag allerdings das unverholene Eingeständniß ihres beiderseitigen Verhältnisses, aber im Ganzen dünkten sie ihm ohne Wärme; die Leidenschaft der Liebe hätte seiner Ansicht nach erregter gesprochen. Es war ihm, als fürchte sie, den Junker zu kränken, als drücke es ihr das Herz ab, daß sie schon so viel thun mußte. Auch jetzt, wo sie es ruhig duldete, daß Herr von Riedd in seiner Gegenwart ihr etwas heimlich zuflüsterte, beschlich ihn ein neuer Argwohn, und sein Auge suchte halb verlangend, halb schmerzlich das ihrige. Sie blickte ihn ruhig und klar an; er konnte weder die Bestätigung seiner Befürchtungen, noch diese selbst in ihrem Auge lesen. Er wartete, daß sich Herr von Riedd entfernen würde, und um ihn dazu eher zu veranlassen, nahm er Katharina, die es ohne Weigern geschehen ließ, bei der Hand und sagte: „Wir wollen Deinem Vater entgegengehen; Du weißt, er hat es um diese Stunde verlangt.“ –

Der Junker pfiff seinem Hunde, den er mitgebracht, nickte Katharina vertraulich zu und entfernte sich, ohne den Maler auch nur eines Blickes zu würdigen. – Rudolf ließ Katharina’s Hand sogleich wieder fahren und meinte: „ich habe nur eine Ausrede gebraucht. Du bist doch nicht böse?“

„Nein, Rudolf, mir war es lieb, daß der Junker ging; es hätte noch größeres Aergerniß geben können.“

„Und Du sagst nicht, daß ich im Recht gewesen bin? Katharina, Du sagst das nicht?“

„Weiß ich es denn?“ versetzte sie, indem sie ihn auf die Bank vor dem Hause zog. „Ihr habt so rasch und so vornehm gesprochen, daß ich nicht Alles verstanden habe.“

„Und sagte Dir Dein Gefühl nichts? Sahst Du’s in meinem Gesicht nicht, daß ich um Dich litt, daß Du es warst, um die ich mich in den Streit einließ? Es wäre recht weh für mich, Katharina, wenn Du das nicht wüßtest. Du bist klug genug, um uns verstanden zu haben.“

„Was Du aber gleich ernst bist, Rudolf. Ich weiß, daß Du es gut mit mir meinst und Deine Frau will ich werden und keines Andern. Ich sehr es Dir an, Du denkst, ich halte etwas zu dem Junker. Denke, was Du willst, Rudolf, aber nicht schlimm von mir. Meine Mutter hatt’ ich viel zu lieb, als daß ich je ihre Worte vergessen sollte, die mich immer zu dem Besten ermahnten. Auch mein Vater, so rauh und heftig er mitunter ist, hält viel zu viel auf Ehre, als daß ich aus der Art schlagen und ihm Kummer machen sollte. Laß mich gewähren, Schatz, mit dem Junker; Dir schadet’s nichts und mir auch nicht, keiner Seele im Dorf.“

Er wurde zwar keineswegs durch ihre unverständliche Rede beruhigt, sie verstand es aber, durch Liebkosungen recht bald die letzte ernste Wolke von seiner Stirne zu verscheuchen.

[262] Nur einmal noch fragte er: „Und soll ich nicht auch wissen, was Dir der Junker zugeflüstert hat?“

„Warum nicht?“ sprach sie ohne Zögern, indem sie ihm die Worte desselben wiederholte.

Diese Offenheit stimmte Rudolf vollkommen heiter, er vergaß im Anschauen seiner Braut bald den Junker, den vorigen Auftritt, und scherzte mit ihr, die ihm willig die tausend kleinen Zärtlichkeiten Liebender zurückgab. –

Wie es aber stets zu geschehen pflegt, daß ein einmal angeregter Argwohn sich nicht wieder so leicht verscheuchen läßt, so geschah es auch bei Rudolf Elmer, der, nach Hause gekommen, immer wieder auf den Zwiespalt zurückkam, der in dem Wesen Katharina’s lag, als sie zwischen ihn und den Junker getreten war. – „Ist sie denn nicht treu? Ist sie falsch?“ fragte er sich wiederholt, um es heftiger zu verneinen, gleich daraus um es eben so heftig zu bejahen. –

Die Drohungen des Herrn von Riedd beunruhigten ihn nicht einen Augenblick. Für sich fürchtete er nichts, und wenn es nur mit seiner Braut anders gewesen wäre, so würde er den ganzen Vorfall bald vergessen haben. Er vermied es sorgfältig, ein Verbot der Feldmark zu überschreiten, er ging nicht wieder auf’s Schloß, trotzdem ihn der alte Freiherr eingeladen, so oft zu kommen, als er wollte; auf Umwegen suchte er den Meeresstrand und die Hütte Katharina’s auf. – Wohl dachte er auch manchmal daran, diese Gegend zu verlassen, denn die Zeit war längst verstrichen, die er sich für den Aufenthalt festgesetzt hatte, aber er gab immer wieder einen Tag zu und wiederholte das bereits vier Wochen hindurch. Seinen Aeltern hatte er von seinem Verhältniß zu der Tochter eines armen Fischers mit offener Wahrheit geschrieben; sie hatten ihm geantwortet, daß sie ihm stets freie Wahl gelassen und auch jetzt nicht dagegen sein würden. Mit dem Vater Katharina’s war er ebenfalls einverstanden, es war bereits Alles berathen worden, was zu einer Uebersiedlung nach Berlin nothwendig erschien; es lag nur an Katharina selbst, daß nicht schon das erste Aufgebot ihrer bevorstehenden Verbindung verkündigt worden war. So oft er deshalb in sie drang, ertheilte sie ausweichende Antworten und suchte ihn zu vertrösten. –

Er war daher nicht wenig überrascht, als wenige Tage nach dem Zusammentreffen mit dem jungen Freiherrn von Riedd, Katharina ihn unaufgefordert bat, die nöthigen Schritte beim Ortsgeistlichen einzuleiten. Daß er es mit dem freudigsten Herzen that, bedarf kaum der Erwähnung. Mit diesem wichtigen Schritte verschwand jeder Argwohn gegen die ungetheilte Liebe seiner Braut zu ihm; ein so wichtiger Akt konnte selbst auf die Gesinnungen des Junkers nicht ohne Einfluß bleiben.

Am nächsten Sonntag geschah das Aufgebot. Rudolf war mit seiner Braut, der er neue Kleider mit halbstädtischem Zuschnitt aus Berlin hatte kommen lassen, und seinem Schwiegervater, der seinen Rock in den besten Zustand zu versetzen sich Mühe gegeben hatte, in der gedrängt vollen Kirche. Wie es kam, wußte er selbst nicht, aber er war voller Unruhe, nicht so selig, wie man erwarten sollte; sein Auge irrte durch die Versammlung und suchte etwas, ohne daß er es selbst bezeichnen konnte. Er schaute nach dem Chor, der um das Schiff der Kirche herumlief; über der Brüstung lehnte der junge Freiherr, das Auge unverwandt auf Katharina gerichtet. Die schlummernde Eifersucht in Rudolf erwachte von Neuem; er konnte seinen Blick von der Gestalt des Junkers nicht trennen, der seinerseits die Braut mit seinen Augen zu verzehren schien. Katharina selbst war voller Andacht, sie sah Niemand als den Prediger, der eindringlich zu reden wußte und mehrere Mal hervorhob, daß vor Gottes Richterstuhle die Menschen gleich wären und die Hoffart verdammt würde. –

Nach der Kirche begleitete Rudolf seine Angehörigen nach Hause, verließ sie aber bald wieder, da es ihm unmöglich war, zu bleiben; es drängte ihn, allein zu sein. Katharina machte keinen Einwand, was sein ohnehin bewegtes Gemüth nur noch peinlicher stimmte. So kam er in seine Wohnung. –

Er mochte wohl unter den widerwärtigsten Empfindungen hier eine Stunde zugebracht haben, als an seine Thüre gepocht wurde und sein Wirth, gemeinhin der Kreuzwirth genannt, in’s Zimmer trat. Er war ein Mann in vorgeschrittenen Jahren. Sein Haar war fast weiß, die Gestalt, obwohl kräftig und gedrungen, gebückt, wahrscheinlich mehr in Folge eines tiefen Kummers, als aus Altersschwäche. Dieser Kummer sprach auch aus seinen stark durchfurchten Zügen, und nur das Auge deutete zuweilen auf ein erhöhtes Leben. Der Blick aber war seltsam, fast unheimlich, er irrte unruhig umher. Er trug einen gewöhnlichen Bauernrock von dunklem Tuch mit blanken Knöpfen, Kniehosen von gleichem Stoff und hohe rindslederne Stiefel.

Rudolf war von dem Besuche überrascht; es war das erste Mal, daß ihn sein Wirth besuchte. Er bot ihm einen Platz neben sich auf dem Sopha an, den dieser auch ungezwungen einnahm und fragte ihn: „Ei, Walther, was bringt Sie zu mir?“

Der Kreuzwirth, der einige Bildung genossen zu haben schien, entgegnete: „Sie wohnen nun über zehn Wochen in meinem Hause, Herr Elmer, ich habe Sie lieb gewonnen. Sie sind ein pünktlicher Zahler, still und immer zufrieden mit dem, was ich Ihnen geben kann.“

Er schwieg einen Augenblick und sah vor sich nieder, als besinne er sich auf etwas.

Rudolf lächelte: „Sie kommen doch aber gewiß nicht, um mir eine Lobrede zu halten? Deshalb steigen Sie doch wohl die Treppe nicht herauf?“

„Nein, Herr Elmer; ich bin besorgt um Sie. Es ist aber nur die Frage, ob Sie auch Alles werden hören können. In gewissen Dingen erträgt nicht Jeder einen Stoß, der ihm plötzlich versetzt wird.“

„Sie machen mich neugierig, Herr Walther.“ – Rudolf wurde beklommen.

„Lassen Sie das mit dem Herrn Walther, ich bin der Kreuzwirth schlechtweg. Ich mag mich gar nicht anders nennen lassen. Nun wissen Sie, ich habe Ihnen gerade nicht das Angenehmste mitzutheilen. Was ist Ihnen wohl gegenwärtig das Liebste?“

„Machen Sie keine große Vorrede, Kreuzwirth. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben. Ich bin erwachsen genug, um Ihnen ruhig zuzuhören.“ Der Maler gab sich alle Mühe, auch im Ton seine Worte zu bekräftigen.

„Ich komme aus dem Walde, Herr Elmer. Dort ist ein schönes Plätzchen, umgeben von Buchen und Eichen. Wir haben uns öfter schon gewundert, daß sie inmitten der Tannen und Lerchen wachsen. Es ist ein Wiesfleck, der dem gnädigen Schloßherrn gehört. Nahe daran hab’ ich aber auch ein Stückchen, das mir seit langem zu eigen. Ich wollte da eben nach meinen neuen Anpflanzungen sehen. Ich sah’ aber etwas ganz anderes, was ich gar nicht vermuthet. Ich hatte mich ganz still verhalten, mich konnte man nicht gewahr werden.“

„Und was sahn Sie denn, Herr Kreuzwirth?“

„Ihre Braut sah ich, Schilder’s Katharine mit dem Junker von Riedd zusammenstehen.“

„Das ist nicht wahr!“ rief Rudolf erbleichend.

Ruhig erwiederte Walther: „Es ist wahr! Gern wär’ ich näher gegangen, aber sie standen auf dem Wiesfleck, und den kann ich nicht leiden, ich gehe immer vorbei. Dort war es auch, wo meine Rosi, mein einziges Kind, mit dem Junker zusammenkam. Sie hat mir das später erzählt. Ja, ja, Herr Elmer, es ist ein eigen Ding mit den Mädchen. Wenn sie den Rockzipfel eines edlen Herrn erfassen können, lassen sie den ehrlichsten Kerl aus niedrigem Stande laufen. Ich hoffe das eigentlich gar nicht von der Katharina. Sie sind eine Partie für so eine Dirne, wie sie sich’s gar nicht träumen lassen dürfte Und dann! Die weiß recht gut, wie es meiner Rosi ergangen ist. Sie waren Freundinnen, freilich während der Liebschaft mit dem Junker und meinem Kinde, hinter die ich erst gekommen bin, wie das Unglück fertig war, da hatte die Freundschaft wohl ein Ende, denn die Schande mögen die Dirnen doch Niemand mittheilen; aber am Sterbebette meiner Rosi saß die Katharina; sie hatten sich vieles erzählt, sie mußte das wissen, wie’s mit dem Junker vorgegangen. Hat sie das vergessen, oder hat es sie nur noch mehr gereizt mit dem Junker sich zu schaffen zu machen? Mag nun sein, wie’s will, ich habe die Katharina mit dem Junker im Wald zusammengesehen. Sie thun mir herzlich leid, Herr Maler, auch der alte Schilder sollte mir leid thun, wenn er an seinem einzigen Kinde erlebte, was mir passirt ist. Mein Rücken ist davon krumm geworden und meine Haare fangen an schneeweiß zu werden. Das alles vor der Zeit. Aber der Kummer scheert sich nicht viel um die Jahre; er kehrt ein und macht sich breit, ohne daß man ihm einen Widerstand entgegensetzen kann.“ –

Rudolf war wie vernichtet. Sein Argwohn war also gerechtfertigt, [263] auf eine so grausame unerwartete Weise gerechtfertigt! Es bedurfte lange Zeit, bevor er sich von diesem Schlage erholen konnte. Es geschah aber doch, denn sein Stolz rief ihm zu, daß er seinem Schmerze nicht unterliegen dürfe, daß ein Mädchen, welches die redlichsten Absichten so von sich stieße, nicht mehr als seine Verachtung verdiene. Aber er liebte sie unendlich! Mit ganzer Gewalt mußte er sich an jenen Gedanken gewöhnen, um ihr Bild, das sich immer wieder schmeichelnd dazwischen drängte, zu verscheuchen. Er überlegte hin und her, was er thun sollte. Von einer augenblicklichen Abreise hielt ihn stets etwas zurück; zu einem plötzlichen Bruche, der Allen in der Umgegend Stoff zum Reden gegeben, konnte er sich auch nicht entschließen; er war in der allerübelsten Stimmung. …

Er warf einen Blick auf den Kreuzwirth, der noch immer auf seinem Platze saß, und der Gedanke stieg in ihm auf! Ob er! wohl auch die Wahrheit gesagt; vielleicht nicht aus Rachsucht für seine Tochter handle?

Rasch sagte er: „Könnt’ Ihr mir beschwören, Kreuzwirth, was Ihr mir gesagt?“

Der Kreuzwirth stand auf und erwiederte: „Vor Gott und vor den Menschen. Ich strebe nicht, Jemand wehe zu thun. Einen ausgenommen.“ – Mit diesen Worten verließ er das Zimmer. –

„Es ist nicht gelogen!“ – Rudolf stand eine Weile tief erschüttert inmitten des Zimmers, dann zuckte er auf, warf sich in einen Stuhl und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen …

Den folgenden Morgen durchlief ein seltsames Gerücht die Bewohner des Dorfes Kloster-Riedd, und machte, daß eine fast vergessene Geschichte wieder hervorgerufen wurde. Das Gerücht bestätigte sich bald. Der alte Freiherr hatte plötzlich einen Einfall bekommen, das Kloster wieder herzustellen und das alte Gemäuer untersuchen lassen. In einem tiefen Keller, unter Schutt und Kalk hatte man ein halb verrostetes Gewehr gefunden, das, auf das Schloß gebracht, von dem Freiherrn sogleich als sein Eigenthum und als dasjenige erkannt wurde, welches sein Sohn, der Junker getragen, als er von dem Unfall betroffen worden war. Vergeblich hatte man seit dieser Zeit nach der Flinte geforscht. Als der junge Freiherr von seinem Vater gefragt wurde, ob es auch wirklich dasselbe Gewehr sei, bejahte er es mit einfachen Worten, ließ sich aber noch immer nicht auf weitere Auseinandersetzungen ein. Was war auch mit dem Funde Großes erzielt? Der Name des Thäters stand nicht darauf geschrieben und da der Junker hartnäckig schwieg, so konnte es nicht viel nützen. Aber wer hatte das Gewehr in die Klosterruinen gebracht? Dieser Gedanke beschäftigte doch das ganze Dorf und namentlich den alten Freiherrn, in dem von Neuem die Lust erwachte, das räthselhafte Dunkel über den Vorfall zu lösen. Ungeachtet des Widerspruchs seines Sohnes, ließ er einen Preis auf die Entdeckung desjenigen, der die Flinte im Kloster verborgen, ausschreiben…

Das bestätigte Gerücht war auch bis zu Claus Schilder gedrungen. Er saß, eine Pfeife schmauchend mit seiner Tochter Katharina vor der Thüre und unterhielt sich mit derselben darüber.

Katharina meinte: „Wissen möcht’ ich doch, wie die Geschichte zusammenhängt. Daß der Junker auch gar nicht davon spricht; er müßte doch der erste sein.“

„Wird wohl seine guten Gründe haben,“ sagte der alte Soldat, indem er die Asche des Tabacks wegschüttete. „Manchmal ist’s besser, etwas zu verschweigen, als auszuplaudern. Der Junker wird wohl keine gute Rolle bei der ganzen Geschichte gespielt haben. Dann ist das ein übel’ Ding mit dem Schwätzen. Seinen Denkzettel hat er weg, und wenn er klug ist, wird er sich damit begnügen.“

„Was wißt denn Ihr davon, Vater?“

„Ja so! Ich habe da selber geschwätzt, als wüßt’ ich was davon. Den Henker auch! Es war meine Meinung, weiter nichts. Ueberhaupt, Dirne, thu’ mir den Gefallen, und sprich nicht mehr von der Geschichte. So lange ich hier wohne, ist so was Arges in dieser Gegend nicht passirt. Nie wär’ es auch wohl geschehen, wenn die Herrschaften aus dem Schlosse anders wären. Mit dem Alten mag’s noch gehen, der jagt wenigstens den Mädels nicht nach, aber der Junker! Daß Dich der Henker, Kathi, ich hab’ da etwas im Dorfe munkeln hören. Du hältst Zusammenkünfte mit ihm. Ich sag’ Dir, Dirne, treff’ ich Dich so, ich dreh’ Dir ohne weiters den Hals um. Du hast einen Schatz, einen braven respectablen Burschen, mach’ mir keine Flausen, und setz’ die Schande oben an, wie Kreuzwirths Rosi. Der arme Kerl, der Vater, duckt den Rücken, als müßt’ er Grünes lesen und schaut immer vor sich, als sucht’ er den Winkel, wo er sich niederlegen soll. Rudolf nimmt uns mit in die Stadt. Das kann ich für mein Alter brauchen. Geht’s quer, ich jag’ Dich aus dem Hause, dann magst zusehen, wo Du ein Unterkommen find’st.“ –

Der Alter war besonders guter Laune und lachte, als ihm Katharina erwiederte: „Ich denke, Vater, Ihr wollt’ mir den Hals umdrehen?“

„Das ist für das Schlimmste, für das Schlimme jag’ ich Dich aus dem Hause,“ sagte Claus. Indem kam der Junker durch den Wald.

„Wie der Bursche hinkt,“ fuhr der Soldat fort. „Sieht’s doch aus, als hätt’ ihm der Schuß übler gethan, wie man glaubt und wie es ihn erfreuen mag. Hätt’ er sich nur die Sache hinter die Ohren geschrieben, aber daran denkt er nicht. Die Hoffart sitzt ihm eisenfest im Genick. Was will er nur wieder hier? Mich kommt er doch wahrhaftig nicht zu besuchen. Das Ding passirt mir schon zu oft, ich kann da nicht ruhig zusehen; ich muß da einen Damm setzen. Wenn der Maler dahinter kommt, dürft’ es aus sein mit der Herrlichkeit in der Residenz, die ich so viele Jahre nicht gesehen, und immer nur als Soldat, das Gewehr auf der Schulter, den Tornister auf dem Buckel. Jetzt möcht’ ich sie sehen, die große Stadt; haben sie doch dem alten Fritzen ein prächtiges Denkmal gesetzt, das so groß sein soll, wie das Schloß des alten Herrn oben sammt dem Garten und den Kühställen. Mädel, bring’ mich nicht darum, ich sag’ Dir’s!“

Er wandte sich nach ihr um; sie war in’s Haus getreten. „Ja so, sie ist verschwunden,“ brummte der Vater. „Da kann ich lange auf eine Antwort warten.“

Der Junker war inzwischen ganz nahe herangekommen, sagte dem Alten einen „Guten Tag,“ und setzte sich ohne Umstände auf die Bank. Claus erwiederte den Gruß und rückte zurecht. „Auf der Jagd, gnädiger Herr?“ fragte er, indem er fortfuhr zu rauchen.

„Nicht auf Hirsche und Rehe,“ lachte Herr von Riedd, indem er seinem Hunde pfiff und ihm den Rücken streichelte. „Warum ist Katharina in’s Haus gegangen? Fürchtet sie sich vor mir?“

„Wo denken Sie hin, Herr Junker? Sie hat etwas für die Wirthschaft zu besorgen und wird wohl wieder herauskommen.“

„Ein schönes Mädel, die Katharina. Man sollte fast glauben, sie müßte andere Aeltern gehabt haben, denn sie ist weiß wie Milch und roth wie Blut, eine Gestalt, wie ich sie nicht schöner in der Residenz gesehen habe. Dabei hat sie auch etwas Apartes in ihrem Wesen, nicht so wie die andern Bauernmädel, die immer einhergehen, als wateten sie in Haufen Mist. Klug ist sie auch, gar sehr verständig, ich habe das manchmal erfahren.“

„Ei,“ entgegnete Claus halb geärgert, halb geschmeichelt, „das ist kein Wunder, daß das Mädel apart ist. Sie hat keine andern Aeltern, als mich und ihre Mutter, die nun schon lange gestorben ist. Aber das war auch eine seltene Frau. Fast noch schöner möcht’ ich sagen wie Katharina. Na, just behaupten will ich es nicht, denn Clemence, meine Frau, sah ich immer mit den Augen eines Liebhabers an. Es war ein seltener Fund, den ich da an dem Weibe gemacht. Der Krieg hatte ihr alles genommen, Vater und Mutter, die im Elsaß wohnten, und auch das Vermögen, Haus und Hof. Die Aeltern waren Bürgersleute, trieben einen Kleinhandel, im Kriege waren sie verkommen. Sie war demnach guter Leute Kind, Clemence, und es darf Euch nicht wundern, Herr Junker, daß Katharina darnach geworden, ganz wie die Mutter. Ich sag’ Euch, alle Kameraden waren nach ihr lüstern, aber den Kopf hätt’ ich Jedem eingeschlagen, der sich mehr als das Anschauen recht von weitem erlaubt hätte. Na, Gott sei’s gedankt! sie machte es nicht nöthig, meine arme Frau. Sie war mir ein getreues Weib bis an ihr seliges Ende!“ –

„So, so! Ich habe schon gehört von Euerem besonderen Glück, s’ ist wahr, Katharina ist ein apartes Mädel, aber da sie es ist, so solltet Ihr auch ein sorgsames Auge auf sie haben. Alter, und sie nicht dem ersten besten an den Hals werfen. Was ist das für ein Getreibe mit dem Maler, dem Rudolf Elmer? Ein hergelaufener Bursch, der oft das trockne Brot nicht im Hause haben mag. Ihr solltet Euch vorsehen, Claus. Wer bürgt Euch für seine Gesinnung? Niemand ist da, der ihn kennt, der von ihm aussagen kann. Er thut es selber mit argen Posaunenstößen, rühmt sich des Guten, geberdet sich absonderlich, und thut, als wär’ er [264] Unsersgleichen. Das ist er nicht, und ich wette, daß er ein ganz verdorbenes Herz hat und nur seine Residenz-Künste hier aufführen will. Er drückt sich viel zu lange hier im Dorfe herum. Wär’ es ihm Ernst um Euere Tochter, er müßte doch in die Residenz eilen, um alles zu Euerem Empfange vorzubereiten. Er lungert aber statt dessen immer hier herum und macht gar keine Anstalten, so bald wie möglich von hier fortzukommen. Ihr solltet dafür sorgen, Claus, da er’s nicht freiwillig thut. Es ist das eine Pflicht, die Ihr dem guten Rufe Katharina’s schuldig seid.“ –

Mit Verlaub, Herr Junker, was Ihr da gesagt, ist Alles nicht wahr und unnütz. Der Herr Elmer hat es nicht nöthig, Zeugen für seine Bravheit aufzustellen; das Herz sitzt ihm in seinen blauen Augen. Er ist zu mir gekommen und hat um meine Kathrine angehalten, wie Brauch und Sitte ist; das erste Aufgebot ist gewesen, er wird mein Schwiegersohn. Einen bessern wünsch’ ich mir gar nicht. Es fällt ihm nicht ein, sich wie Euresgleichen zu geberden, er ist fleißig und bescheiden. Er lungert und tagediebt auch nicht herum, dazu hat er keine Zeit. Er hat mir schriftlich bewiesen, daß er sich ein kleines Vermögen zusammengespart und ein gutes Auskommen hat. Seine Aeltern sind von der Heirath unterrichtet, sie wollen, wenn’s so weit ist, herüberkommen, sind demnach brave Leute. Es ist nichts gegen den Maler einzuwenden. Den Henker! ich möcht’ es Keinem aus dem Dorfe rathen, so zu mir zu reden, wie Ihr es eben gethan. Wenn ich Euch aber nun um etwas bitten darf, Herr Junker, so schwenzelt nicht so viel um mein Mädel herum. Ich hab’ es wohl bemerkt und kenn’ Euch zu gut, um nicht zu wissen, woher der Wind bläst. Nehmt Euch in Acht Ich dulde das nicht, daß man mein Kind hintergehen will. Mit Eueren glatten Worten könnt’ Ihr meinetwegen bereden, wen Ihr wollt, nur verschont mir mein Haus. Katharina ist dem Jungen, dem Rudolf, gut; legt keine Zwietracht dazwischen, sonst regnet’s derbe Unannehmlichkeiten. Ich bin kein Freund von vielem Federlesen, ich greife und packe zu, wo mir was ungelegen ist. Das alles sei Euch mit dem gehörigen Respect gesagt.“

„Hm! So weit ist es also schon gekommen?“ Der Junker scharrte mit dem Fuße im Sande, kreuzte die Arme und lehnte sich ganz an die Wand zurück.

„Ja, Herr Junker, gerade so weit, als nöthig war, ehrliche Kerle zu bleiben. Der Maler heirathet meine Tochter, damit basta!“ – Er blies im Zorn gewaltige Rauchwolken von sich und blieb sehr gleichgültig, als sich diese um das Gesicht des Junkers schlängelten.

Herr von Riedd bemerkte: „Ehrliche Kerle? Ist das so gar gewiß? Ihr werdet gehört haben, daß man ein Gewehr in den Klosterruinen gefunden hat? Es ist dasselbe, was ich an dem Tage trug, an dem ich eine meuchelmörderische Kugel in den Leib bekam. Wenn ich nun sagte, Ihr hättet das Gewehr in die Klosterruinen gebracht?“

Die Pfeife fiel dem alten Soldaten aus dem Munde; voller Verwunderung starrte er den Junker an. Endlich sagte er gefaßt, aber mit steigender Röthe im Gesicht: „Dann würdet Ihr lügen, Herr Junker. Ich sag’ Euch das gerade heraus, mögt Ihr’s gut oder übel nehmen. Was treibt Euch zu einem so bösen Ausspruch? Euer Gelüste, denn weiter ist es doch nichts, was Euch zu meiner Tochter zieht. Ich dächte, Ihr hättet des Denkzettels genug, um Euch dergleichen für immer vergehen zu lassen. Himmelsakrament! muß ich so etwas noch auf meine alten Tage erleben! Muß ich mich doch quälen und winden, um nur durch das elende Leben zu kommen, kein Mensch hilft mir, und dazu noch Schande! Es ist um zu bersten! Doch was, vielleicht toll’ ich umsonst, denn nimmer kann es Euch Ernst sein um eine falsche Anklage, die mich alten Mann früher in’s Grab brächte, als sich’s gebührt. Seid offen, Junker!“

„Was ist da offen zu sein? Ich werde thun, wie ich gesagt, wenn Ihr Euch nicht besser wegen Katharina besinnt. Nur ihretwegen hab’ ich bis jetzt geschwiegen. Als man mich hierher gebracht, verwundet, in Euere elende Baracke, da gefiel sie mir, und später, als wir öfter zusammengekommen, fing’ ich an, sie zu lieben. Jetzt kann ich nicht mehr von ihr lassen, und ich glaube, daß auch sie es nicht mehr kann. Mit dem Maler das ist nur Narrethei; aber ich bin dem Jungen gram, er ist jetzt genug verliebt, um mit wundem Herzen durchzugehen, und so mag’s geschehen. Katharina wird mein, Ihr habt ein gutes Leben, und die Sache ist abgethan! Wo nicht, so sprech’ ich, was ich Euch gesagt. Ich bin kein Lügner, denn, Claus, wie steht es denn um den Blutfleck, den Ihr an Euerem Kittel hattet? Es war das an demselben Tage, an welchem man mich zu Euch getragen.“

Der Alte hielt sich den Kopf mit beiden Händen, es tanzte Alles um ihn herum. Fast stotternd rief er: „Herr des Himmels, auch davon wißt Ihr? Von dem Blutfleck an meinem Rocke? Wer hat Euch das gesagt?“

„Katharina!“

„Meine Tochter?“ – Der Alte stand auf, seine Kniee zitterten, aber mit Riesenkraft nahm er sich zusammen, er eilte an die Thüre und schrie hinein: „Katharina, Dirne! Heraus vor Deinen Vater!“

Sie erschien, ruhig und arglos.

„Ist’s wahr,“ rief ihr der Vater zu, indem er sie an beiden Händen faßte und vorzog, „ist’s wahr, daß Du dem Junker von dem Blutfleck gesagt, den Du an meinem Rocke gesehen? Sprich! Es war an dem Tage, wo man ihn herbeigeschleppt, wo das arge Unwetter tobte. Sprich, sprich!“

„Ich hab’s gesagt, Vater!“

„Du hast’s gesagt?“ – Er schwankte und drohte rückwärts niederzusinken. Katharina unterstützte ihn rasch. Keinen Blick warf sie dabei auf den Junker, der ein triumphirendes Lächeln nicht verbergen konnte. Mit Mühe nur konnte sie verhindern, daß der Vater, als er sich etwas erholt hatte, sie nicht von sich stieß. Sie trat einige Schritte zurück, sah ihm in’s Gesicht und sagte: „Du mußt aber auch hören, Vater, wie ich’s gesagt habe. Es war zwischen mir und dem Junker die Rede von der traurigen Geschichte. Ich sagt’ ihm, daß Euch an dem Tag auch etwas Absonderliches passirt sein müßt’, denn Ihr wäret blutbefleckt nach Hause gekommen; was, wüßt’ ich freilich nicht. Ihr habt mir ein für allemal verboten, nach Dingen zu fragen, die mich nichts angingen, wie Ihr Euch ausdrückt. Nun aber hattet Ihr den Fleck gar nicht ausgewaschen, ich sah nichts Schlimmes drin und könnt’s wohl erzählen. Der Junker hatte auch gegen diese Rede nichts einzuwenden, und er muß doch gewiß alles wissen, wie sich’s zugetragen. Umsonst und wieder Nichts kriegt man keinen Schuß in den Leib. Wenn Ihr nun die Geschichten durcheinandermischt, Vater, so ist das nicht meine Schuld, und von Eurer Seite eine Uebereilung.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Besuch in Reinhardtsbrunn.

Es war an einem hellen Herbsttage, als ich mit meinem Skizzenbuch durch die alte Baumallee dem Schlosse Reinhardtsbrunn, der Sommerwohnung des Herzog Ernst von Gotha-Koburg, zuzog. Für das Auge eines Malers waren die Formen eines deutschen Baustyls in ihrer eleganten Anwendung mit der reichen Blumendecoration in dem üppigen Grün der Thallandschaft ein vortrefflicher Anblick. – Ich wurde in ein einfach, aber würdig decorirtes Empfangszimmer geführt. An der Wand hing unter andern guten Stücken ein großes Bild von dem Javanesen Raden-Saleh[WS 1], dessen persönliche Bekanntschaft ich einst in Dresden gemacht hatte. Es war wohl nicht das beste Bild, das er gemalt hat, aber in Farbe und Sujet sehr charakteristisch für ihn. Später erfuhr ich, daß Saleh längere Zeit die Gastfreundschaft des Herzogs genossen hatte und bei ihm und seiner Gemahlin in freundlicher Erinnerung stand.

Nach wenigen Augenblicken trat der Herzog selbst ein. Eine stattliche Gestalt von mehr als mittlerer Größe, kräftig gebaut, von hübschen männlichen Formen. Kopf und Figur erinnerten auffallend an die alten Portrait-Statuen seines Geschlechts, welche ich wenige Wochen zuvor auf einem fürstlichen Grabmal in der St. Moritzkirche zu Koburg gesehen hatte. Es war derselbe eigenthümliche Schnitt des echt deutschen Gesichts, kräftige Conturen,

[265]

Herzog Ernst von Koburg-Gotha.

belebt durch die blühende Farbe, durch zwei große braune Augen von sehr freundlichem Ausdruck und durch dunkelbraunes, dichtes Haar, welches in ziemlicher Länge glattgestrichen das Antlitz einfaßt. Intelligenz und Herzensgüte und ein lebendiges frisches Wesen waren bei der ersten Erscheinung des Fürsten zu erkennen.

Mit einer Freundlichkeit, so ungezwungen, wie man zu einem gleichstehenden Bekannten spricht, redete der Herzog mich an, und ich fühlte mich ihm gegenüber sehr bald frei und ungenirt. Ich legte meine Mappen auf, und der Herzog äußerte sich mit Einsicht über das, was in künstlerischer Beziehung an den Skizzen und Studien hervorzuheben war. Zuletzt, nach einer lebhaften Unterhaltung, hatte er die Güte, mich zu einem mehrtägigen Aufenthalte in Reinhardtsbrunn aufzufordern.

Seit jenem ersten Empfange habe ich öfter die Freude gehabt, seine Person, welche gegenwärtig so vielfach die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, zu sehen. Es war mir stets eine interessante Aufgabe, einen Fürsten aufmerksam zu beobachten, der einer jüngeren Generation angehörte, als ich selbst und der sich mir gegenüber in aller Unbefangenheit gab, wie er war.

Was mir zuerst am Wesen des Herzogs auffiel und mich zu interessanten Vergleichungen anstachelte, ist seine große Humanität. Es ist nicht die freundliche Artigkeit allein, welche bei Vornehmen nicht selten zu finden ist, auch nicht blos jene natürliche Herzlichkeit, welche den offenen Menschen von glücklicher Anlage so wohl steht, sondern noch etwas mehr. Ihm ist eigen eine lebhafte Freude an aller Tüchtigkeit, Selbstständigkeit, persönlichen Kraft, eine hohe Achtung vor jedem guten und schönen Streben, bei wem es sich auch finden mag. Ueberall, wo ihm Geist, ein [266] Gemüth, ein klarer ehrlicher Wille entgegentritt, fühlt er sich im innersten Herzen angesprochen. Mit solchen Menschen, wenn sie in seine Nähe kommen, verkehrt er als mit seines Gleichen in so offener, taktvoller, zarter Weise, daß seine eigene große geistige Bedeutung zunächst nur wie ein klares schönes Licht erscheint, welches dem Bilde des andern zu seiner besten Wirkung verhilft.

Nicht weniger stark aber ist sein Unabhängigkeitstrieb. Wie warm er sich auch der gemüthlichen Stimmung, dem Augenblicke, dem Geist eines Andern hingiebt – seine innere Freiheit opfert er doch niemals. Auch im äußern Leben ist ihm alle Géne, aller Zwang, der ihm von Andern kommt, verhaßt. Was sonst den regierenden Herrn nöthig, wie die Lebenslust ist, die Etikette des Hofes und das altfränkische Ceremoniell, wie es noch an den meisten deutschen Höfen sich findet, es ist ihm, insofern es geistlos oder anspruchsvoll auftritt, geradezu verhaßt und gern entzieht er sich ihm. Er hat bei sich das steife Würdenwesen der adeligen Hofämter fast ganz aufgehoben und den sogenannten privilegirten Ständen, wozu in kleinern Staaten auch die unverhältnißmäßig zahlreiche Coterie des Beamtenstandes gehört, zu ihrem unaufhörlichen Aerger keines von den gesellschaftlichen Hofvorrechten gelassen, in deren exclusivem Genuß vornehme Bedientennaturen so gern das höchste Glück finden.

Solche Eigenschaften mußten den Herzog bald populär machen. Für seine eigenen Länder bewirkte dies freilich noch mehr seine große Gutherzigkeit und Bravheit, sowie die Leichtigkeit, mit welcher Bittende ihn zu irgend einem persönlichen Opfer bringen konnten. Der Landmann, der Bewohner des Gebirgswaldes und der kleine Bürger haben kein zureichendes Urtheil über den Geist und die politische Richtung ihres Herzogs, aber haben im Stillen die Ueberzeugung, daß sie von einem guten Fürsten regiert werden, der nicht nur als Regent gewissenhaft, in strenger Gesetzlichkeit und rein von jeder vornehmen Sünde unter ihnen lebt, sondern der dem Einzelnen auch als Mensch bei jeder Gelegenheit die letzte Hülfe und Zukunft ist.

Mit einer ungemeinen Regsamkeit in Geschäften begabt, besitzt er dabei eine Ausdauer und eine Kraft, die ihm alle Anstrengungen leicht und kaum fühlbar machen. Und wie seine Lebenskraft groß ist, so ist auch der Kreis seiner Interessen von weitem Umfange. Erst spät, aber dann mit großer Energie und Schnelligkeit soll sein Geist sich entwickelt haben. Er hat das Glück gehabt, mit seinem Bruder einige Jahre in Bonn als immatriculirter Student ernsthaft zu studiren und die Collegia zu besuchen. Dort hat er vornehmlich Staatswissenschaft getrieben, aber auch ernste philosophische Studien gemacht. Auch die leichtern Talente, welche als ein Schmuck des Lebens betrachtet werden, hat er mit Eifer ausgebildet. Sein hervorstechendes Talent, das musikalische, hat er, wie allgemein bekannt, in verschiedenen Werken, welche der Oeffentlichkeit angehören, bewiesen. Mir scheint eine besonders hervortretende Eigenthümlichkeit seiner ungewöhnlichen musikalischen Begabung der große Reichthum an graciösen Melodien zu sein, welche auch in der Ausführung größer und mächtiger auftreten, als Dilettanten eigen ist.

Aber auch die sogenannten adeligen Virtuositäten unserer Zeit besitzt der Herzog in nicht gewöhnlichem Grade. Er gilt für einen festgeschulten Waidmann von sehr sicherer Hand und treibt das Waidwerk mit großer Freude; er ist ein vortrefflicher und waghalsiger Reiter und Rossebändiger und in Führung jeder Art von Waffe wohl erfahren. Und wie er bei solchen Eigenschaften in seinem Privatleben den Eindruck einer frischen, gesunden und tüchtigen Kraft macht, so hat er auch im öffentlichen als Regent, als General, als Politiker und vor allem als deutscher Patriot sich überall kräftig, gesund und edel gezeigt.

Es würde den Lesern der Gartenlaube zu lang werden, wenn hier im Einzelnen berichtet werden sollte, was er als regierender Herr für seine kleinen Länder gethan. Einige charakteristische Züge werden genügen. Als er im Jahr 1844 die Regierung antrat, fand er die damaligen Stände, namentlich in Koburg, in einem langjährigen, unfruchtbaren Zwiste mit der Regierung. Er erkannte, daß die Stände in mehreren Punkten im Rechte waren, und machte einer erbitterten Opposition dadurch mit einem Schlage ein Ende, daß er kurz erklärte: „Ihr habt Recht!“ – Im Jahre 1848 ergriff der Eifer der unruhigen Zeit auch seine Territorien. Mit klarem Blicke und der ihm eigenthümlichen Schnelligkeit kam er dem unruhigen Drängen, wo es ihm berechtigt schien, leitend und mäßigend entgegen, und trat auf der andern Seite gegen die Excesse und Uebergriffe der Tumultuanten, namentlich in den den Gebirgskreisen mit der persönlichen Entschiedenheit eines festen Willens auf. Sein Leben hat er dabei mit der größten Gleichgültigkeit oft in Gefahr gesetzt, aber auch die Freude gehabt, daß er da, wo er selbst vortrat, mit seinem Willen immer durchdrang. Als in den letztvergangenen Jahren das Doppelregiment der beiden kleinen Länder, das getheilte Wesen mit seinen ewigen Widersprüchen unerträglich und die Nothwendigkeit einer gemeinsamen Landesregierung unabweisbar geworden war, sprach er das schöne Fürstenwort: „Ich werde nie octroyiren, ich werde nie einen Riß in das gesetzliche Leben meiner Länder machen; aber ich werde die Regierung niederlegen, wenn meine Landtage das Nothwendige nicht einsehen wollen, denn eine fernere Regierung unter den bestehenden Verhältnissen ist unmöglich.“ Die Folge davon war, daß die neuen Wahlen ganz entschieden im Sinne der Regierung ausfielen.

Das Jahr 1848 eröffnete auch seinen kriegerischen Talenten ein weites Feld. Er übernahm in warmer Begeisterung für die Sache der Herzogthümer ein selbstständiges Commando in Schleswig-Holstein, und ihm ward das Glück, den glänzendsten Erfolg des ganzen verhängnißvollen Krieges, den Kampf bei Eckernförde (5. April), anzuführen. Bei dieser Affaire, in welcher seine persönliche Bravour und seine richtige Beurtheilung des Terrains gerühmt wird, erhielt er die tiefen Eindrücke, welche ein glorreicher kriegerischer Erfolg auf die Seele des Feldherrn auszuüben pflegt, nämlich Vertrauen zu sich selbst und zu den braven deutschen Truppen, welche er befehligte. An diesem Tage schlang sich ein festes Band um seine Seele und die von tausend deutschen Herzen, welche für die Größe unsers gemeinschaftlichen Vaterlandes schlagen, und dieses Band, durch Kugelregen und Blut geweiht, wird, so hoffen wir Alle, fest halten, was auch die Zukunft bringen möge. Die große Flagge vom Christian VIII. und der Degen Paludan’s hängen jetzt in den Waffensälen von Koburg, und wohl auch der Herzog erwartet, daß es nicht die letzten Beutestücke sein werden, welche er von Feinden deutscher Größe nach dem Schlosse seiner Väter sendet. – Er hatte bald Veranlassung, zu beweisen, daß sein Herz treu für die deutsche Sache schlug. Als die Herzogthümer durch die Großmächte den Dänen gebunden überliefert wurden, da war er der deutsche Fürst, welcher zu Frankfurt und überall, wo es galt, eifrig gegen alles Unrecht protestirte, das man den Schleswig-Holsteinern anthat; der mit Freuden den Flüchtigen, Verbannten ein Asyl auf seinem Grund und Boden eröffnete, ihre Privatrechte gegen die dänische Regierung nachdrücklich und mit Erfolg vertrat, und die Zumuthung, Einzelne auszuliefern, mit vornehmer Verachtung zurückwies.

Aber nicht den Holsteinern allein erwies er sich treu. In den bösen Jahren, welche herankamen, war mehr als ein Ehrenmann in Gefahr, sein Festhalten an Recht und Gesetz, gegenüber einer fanatischen Reaktion, mit Verlust des Amts und der Freiheit zu bezahlen. Für solche unschuldig Verfolgte wurde er Schützer und Helfer, den Hessen öffnete sich sein kleines Land als Asyl, wie den Holsteinern. Ja man erzählt sich in Gotha unter vier Augen oft, daß der Herzog den und jenen Flüchtling mit ansehnlichen Summen unterstützt und weiter geholfen habe.

Was den Herzog zumeist allen Deutschen theuer macht und was ihm eine Bedeutung verleiht, die weit größer ist, als der Theil der deutschen Bodenfläche, den er beherrscht, das ist seine politische Thätigkeit, sind die Grundsätze, welche er, vielleicht der einzige von allen deutschen Fürsten, mit warmer Begeisterung und mit Verläugnung seines eigenen Interessen von je geltend gemacht hat. Höher als das Stamminteresse seines Hauses hat ihm stets die Ehre und Größe Deutschlands gegolten. Lebhaft empfindet er den Jammer und das Misere der Kleinstaaterei, die Schwäche des Vaterlands gegenüber dem Auslande, den Mangel an Selbstgefühl und politischer Kraft, welcher in der jetzt lebenden Generation überall sichtbar wird. Mit hohem Fürstensinn hat er seit dem Jahre 1848 stets als Vorkämpfer auf der Seite gestanden, auf welcher die Vertreter der deutschen Interessen zu finden waren. Er begrüßte die Nationalversammlung zu Frankfurt als einen großen Fortschritt in der Bildung unserer staatlichen Zustände, obgleich er als Souverain eher, als ein Anderer einsah, daß ihre Aufgabe nicht vollständig zu lösen sein würde. Nach ihrer Auflösung sah er in dem Dreikönigsbündniß und der Union der kleinern deutschen Staaten mit Preußen die einzige Möglichkeit, [267] bessere Zustände herbeizuführen, größere Einheit, mächtigere Kraftentwickelung gegenüber dem Auslande. Er war einer der deutschen Souveraine, welche am Festesten am Bündniß hielten; er war der thätigste Theilnehmer, der Führer der patriotischen Fürstenpartei bis zu jenem Fürstencongreß in Berlin, den er selbst hervorgerufen und auf welchem von den Regierenden selbst der letzte Versuch gemacht wurde, den alten Bundestag zu vermeiden und den Grund zu legen zu einem festen deutschen Staatsbau. Er war damals der Feuergeist, welcher, als Sprecher der Fürsten, der patriotischen und hohen Gesinnung, die außer ihm die Großherzöge von Oldenburg und Weimar, der ritterliche Herzog von Braunschweig und andere kundgaben, Ausdruck und Form gab. Vieles Charakteristische erzählt man sich in seiner Umgebung über sein damaliges Auftreten gegen die lauten und heimlichen Feinde der Fürstenunion. Aber was der Herzog gewollt hatte für Deutschland und für Preußen, das war durch die russischen Drohungen und die preußische Regierung selbst vereitelt worden, und wohl hätte der Herzog manchen persönlichen Grund gehabt, sich selbst für verletzt zu halten und von der politischen Thätigkeit zum Vortheil einer Regierung zurückzuziehen, welche selbst ihren Vortheil so wenig verstand. Daß er Dies nicht that, daß er fortwährend treu zu Preußen hielt, das ist sein großes staatsmännisches Verdienst. Soweit sich aus der Ferne seine Ansichten beurtheilen lassen, wurzelt in ihm die feste Ueberzeugung, daß das preußische Volk und sein Staat bei der gegenwärtigen Lage Deutschlands die einzige Macht ist, von welcher große und dauernde Kraftanstrengungen für Gestaltung einer bessern deutschen Zukunft zu erwarten sind. Seine Thätigkeit in diesem Jahre zeigt, daß alle Schwächen und die zahlreichen Fehler der gegenwärtigen preußischen Regierung diese Ueberzeugung in ihm nicht erschüttert haben. Denn kaum war die Weltlage wieder so geworden, daß sich über alles Erwarten hinaus Vortheile für Deutschland aus der Konstellation hoffen ließen, so trat der Herzog wieder mit Vorstellungen und Mahnungen an die Lenker des preußischen Staats hervor. Mit leidenschaftlicher Begeisterung erscheint er gegenwärtig thätig, einen Anschluß der beiden Großmächte Deutschlands an den Westen herbeizuführen.

Gewiß hat er die Ansicht, daß die großen Verwickelungen, welche über Europa hereingebrochen sind, auch unerwartete Veränderungen in Deutschland herbeiführen müssen. Es ist ihm sicher nicht verborgen, daß die nächste große Katastrophe, wenn sie überhaupt eintritt, die Verhältnisse mancher souverainen Fürsten wesentlich umgestalten würde, und es gehört eine nicht gewöhnliche Selbstverleugnung dazu, wenn er trotzdem für das allgemeine deutsche Interesse arbeitet. Gegner und unverständige Lobredner haben in persönlichem Ehrgeiz das Motiv seiner jüngsten politischen Thätigkeit gesucht. Es ist anzunehmen, daß der Herzog Ehrgeiz besitzt, sicher aber nicht den kleinen Ehrgeiz, für sich selbst Etwas aus den Trümmern der alten Verhältnisse zu erbeuten; denn hätte er solche Hintergedanken, so würde sein rücksichtsloses, Hausinteressen und Regentenansichten wenig schonendes Vorgehen im höchsten Grade unpolitisch gewesen sein, weil es mehr geeignet war, ihm diplomatische Gegner, als Freunde zu machen. Wohl aber ist sein Ehrgeiz der einer tüchtigen und edlen Natur, welche das kleinere Interesse vergißt über dem höchsten Interesse des deutschen Vaterlandes. Es ist der Ehrgeiz, welchen jeder Patriot haben muß, den seine edle Natur und sein für alle idealen Gefühle empfänglicher Geist in vorzüglichem Grade ausgebildet hat, zu arbeiten, rastlos thätig zu sein und vorwärts zu treiben für ein großes, der höchsten Einsätze würdiges Ziel, für Deutschland selbst. Auf der andern Seite soll man aber auch nicht vergessen, daß der Herzog ein deutscher Fürst ist und den Stolz eines Fürsten hat, mit großen Mitteln und, so viel als möglich, durch eigene Kraft das Gute zu fördern. Politische Feinde und abgeschmackte Lobredner haben ihn hie und da zu schildern versucht als einen Demagogen, der gegen die Interessen seines Standes es nicht verschmähe, um die launische Volksgunst zu werben. Wer den Herzog persönlich kennt, weiß, daß bei seiner großen politischen Freisinnigkeit – dies Wort im besten Sinne gefaßt – doch auch ein starkes Gefühl von deutscher Fürstenehre und Größe in ihm lebt, daß er zwar oft veranlaßt ist, als Staatsmann für seine Zwecke Propaganda zu machen, aber dabei ein lebendiges Gefühl der Verachtung gegen Das empfindet, was man eine wohlfeile Popularität nennt. Er unterscheidet sich von manchem andern Souverain gerade dadurch, daß er Beruf und Pflicht eines deutschen Fürsten in der Gegenwart höher und größer auffaßt, und daß er, der durch seine Bildung, seine Familienverbindungen und eigene Anschauung die größten Staatsverhältnisse der Welt näher kennen gelernt hat, wahrscheinlich seine eigene Bedeutung als regierender Fürst in einer größern oder kleinern Landschaft Deutschlands nicht so hoch anschlägt, als andere Souveraine die ihrige. Ja es ist wohl möglich, obgleich auch seine nähere Umgebung darüber aus seinem Munde Nichts erfahren wird, daß er, der deutsche Regent, gerade das politische Scheinleben der Klein- und Mittelstaaten und ihre inneren Leiden so gründlich kennen gelernt hat. daß ihm die Regierung einer solchen Parcelle, gleichviel ob sie Königreich oder Herzogthum heißt, nicht als ein des höchsten Strebens würdiges Ziel erscheint.

So ist in flüchtigen Strichen der Charakter und das Wesen des liebenswürdigen Fürsten gezeichnet, welcher mehr als ein anderer das Prädicat „der Deutsche“ verdient. Ein bekannter Staatsmann gab als summirendes Urtheil über ihn den Ausspruch: „Er ist ein Kind seiner Zeit und kann daher vor den übrigen regierenden Fürsten in dem Sinne seiner Zeit handeln.“

Sie haben, lieber Freund, von einem Maler ein Bild verlangt; ich habe das Portrait in warmer Sommerbeleuchtung gemalt, mit der Liebe und Verehrung, welche ich auch in der Ferne für den Herzog empfinde. Ich hoffe, es wird Ihnen nicht nur den Eindruck machen, daß es einen warmen Ton hat, sondern auch, daß es Nichts als die Wahrheit enthält.




Bausteine zu einer naturgemäßen Selbstheillehre.
Stärkungsmittel.

Die falschesten Ansichten herrschen, bei Laien wie bei Aerzten, über die Stärkung unseres Körpers, zumal des kranken, geschwächten Körpers. Denn nicht ein einziges der gerühmten Stärkungsmittel, wie China, Eisen, Wein, Mineral- und Seebad, isländisches und Caraghenmoos, Sago, Arrow-Root, Revalenta u. s. w. stärkt und es giebt, trotz dem daß unsere Arzneimittellehren von herz-, magen- und nervenstärkenden Mitteln wimmeln, doch keine Stärkungsmittel in der Apotheke. Nur durch Hebung des Stoffwechsels läßt sich der Körper kräftigen und stärken (s. Gartenlaube Nr. 9). Es müssen deshalb die Bestandtheile des Körpers, vorzugsweise aber die des Muskel- und Nervensystems, theils richtig ernährt, theils durch zweckmäßige Abwechselung im Ruhen und Thätigkeit gehörig geübt und ausgebildet werden.

Eine richtige Ernährung unserer Körperbestandtheile ist aber nur dann zu ermöglichen, wenn dem Blute die Stoffe durch die Nahrungmittel zugeführt werden, aus denen unser Körper zusammengesetzt ist (s. Gartenlaube Jahrg. I. Nr. 32) und die hauptsächlichsten Stärkungsmittel sind deshalb passende Nahrungsstoffe (s. Gartenlaube Jahrg. I. Nr. 39). Unter diesen steht aber Blut, Milch (s. Gartenlaube Nr. 12), Ei, Fleisch und Fleischsaft (s. Gartenlaube Nr. 21) obenan, alle anderen Nahrungsmittel sind von geringerem Werthe, ja Sago, Arrow-Root, Revalenta, isländisches und Caraghenmoos können sogar nur als schlechte Nahrungstoffe, niemals aber als Stärkungsmittel angesehen werden, da sie fast blos stickstofflose Substanzen (Stärke, Pflanzenschleim) enthalten. Ebenso würden auch Austern für sich keine stärkende Nahrung abgeben, da sie blos aus Eiweiß bestehen. Stets ist übrigens neben kräftiger Nahrung auch die gehörige Menge Wasser und Kochsalz dem Körper zuzuführen. – Außer den Nahrungsstoffen verlangt nun aber das Blut auch noch die gehörige Menge Sauerstoff, wenn es richtig beschaffen sein und ernähren soll, sowie es ferner noch fortwährend von seinen schlechten Bestandtheilen befreit werden muß. Demnach würde die [268] Luft und das Athmen ebenfalls zur Stärkung des Körpers viel beitragen (s. Gartenlaube Jahrg. I. Nr. 17 und 51) und die gute Wirkung der Badekuren, besonders des Seebades, ist vorzugsweise der Luft zuzuschreiben. Jedoch müßte der Stärkungsuchende auch selbst noch vermöge der Willkür, welche er über seine Athembewegungen hat, öfters in reiner guter Luft kräftig ein- und ausathmen, zumal da hierdurch der Blutlauf nicht unbedeutend unterstützt wird. – Was ferner die Reinigung des Blutes betrifft (s. Gartenlaube Jahrg. I. Nr. 48), so kommt diese durch die Haut, die Lungen, die Nieren und die Leber zu Stande, und deshalb muß die Thätigkeit dieser Organe gehörig unterstützt werden, und zwar die Thätigkeit der Haut durch warme Bäder und Waschungen, die der Lungen durch kräftiges und tiefes Ein- und Ausathmen, die der Nieren durch reichliches Wassertrinken, die der Leber durch Bethätigung des Pfortaderblutlaufes (s. Gartenlaube Nr. 48). – Ist nun auf die angegebene Weise ein zur Stärkung passendes Blut hergestellt, so muß dasselbe aber auch ordentlich durch alle Theile des Körpers hindurchfließen, wenn es dieselben richtig ernähren soll, und deshalb ist der Kreislauf des Blutes, soweit es in unserer Macht steht, und zwar durch Bewegungen und kräftiges Athmen zu unterstützen (s. Gartenlaube Nr. 9. und Jahrg. I. Nr. 18). – Hiernach würde also das erste Erforderniß zur Stärkung des Körpers die gehörige Menge und richtige Circulation eines guten Blutes sein. Wenn nun aber auf der einen Seite die Erzeugung guten Blutes erstrebt werden muß, so darf auf der andern aber auch der Verbrauch desselben nicht außer Acht gelassen werden. Denn was würde die Einnahme von Blut helfen, wenn die Ausgabe davon im Verhältniß zur Einnahme zu groß wäre? Es würde trotz aller Blutbildung doch Blutarmuth (s. Gartenlaube Jahrg. I. Nr. 49) eintreten. Demnach muß Alles vermieden werden, was zu viel Blut consumirt und dahin gehören: angreifende körperliche und geistige Anstrengungen, gemüthliche und geschlechtliche Erregungen, Nachtwachen und der Mißbrauch starker Reizmittel (Spirituosa, kalte Douchen und Bäder, Elektrizität und Magnetismus).

Eine ordentliche Kräftigung und Stärkung des Körpers würde nun aber doch nicht erzielt werden, auch wenn das beste Blut in der gehörigen Menge und Ordnung durch den Körper strömte, sobald der Stoffwechsel in den zu kräftigenden Geweben nicht durch passendes und mit der erforderlichen Ruhe abwechselndes Thätigsein unterstützt wird. Trotz alles Fleischessens würde man doch keine kräftigen Muskeln bekommen, wenn man dieselben nicht ordentlich übte, und beim reichlichsten Milch- und Eiverbrauch müßte ein übrigens unthätiges Hirn- und Nervensystem doch schwach bleiben. Umgekehrt würde aber zu starkes und anhaltendes Thätigsein ebenso schwächen, wie dauernden Ruhen. Kurz nur bei einem zweckmäßigen Wechsel von Thätigsein und Ruhen kann das Neubilden und Abstoßen (der Stoffwechsel) unserer Körperbestandtheile vor sich gehen; denn während der Ruhe geschieht die Anbildung der jungen Substanz und in Folge des Thätigseins kommt das Absterben und Abstoßen (Mausern) der alten zu Stande. Zweckmäßig und die Kräftigung unterstützend ist nun aber der Wechsel zwischen Thätigsein und Ruhen nur dann, wenn er sich der Menge und Beschaffenheit der vorhandenen Gewebe und der Nahrungszufuhr anpaßt. Zu Anfange der Kräftigung, zumal bei Heruntergekommenen und Blutarmen, muß neben guter Kost und Luft die Ruhe das Thätigsein weit überwiegen und deshalb sind hier stärkere Bewegungen, sowie kalte Bäder geradezu schädlich, während langes und öfteres Schlafen, sowie Wärme sehr vortheilhaft ist. Nur nach und nach, mit der allmäligen Zunahme der Materie und der Kraft, darf das Thätigsein länger und anstrengender, die Ruhezeit dazwischen kürzer werden, die Behandlung mit Wärme zum Lauen und Kalten übergehen. Diese Regel ist aber bei der Kräftigung aller Organe, deren Thätigkeit von unserm Willen abhängig ist, zu beobachten, ebenso von allen wie von einzelnen Muskeln, vom Gehirne und Nervensysteme ebenso wie von den Sinnes- und Sprach- (Sing-)Werkzeugen u. s. w. Eben weil man diese Regel so selten ordentlich beobachtet, zeigen sich eine Menge Menschen bei aller Kräftigung doch körperlich und geistig sehr schwach. Vorzüglich unterliegt das arme Gehirn in den meisten Schulen einer schwächenden Kräftigung, weil hier auf den Ernährungszustand desselben gar keine Rücksicht weiter genommen wird, sondern um jeden Preis nur recht schnell Verstand gemacht werden soll. Die Folgen davon sieht man schon: bei allem Klugmachen werden die Menschen immer charakterloser, willensschwächer, abergläubischer, kurz dümmer. Aber nun gar erst die kaltwassersüchtigen Frauen mit ihren kalten Douchen und Waschungen, o! wie nervenschwach, nervös und reizbar! welch’ eine Mannquälerei!

Betrachten wir nun einmal die empfohlenen Stärkungsmittel etwas genauer. – Das Eisen wurde vor 3200 Jahren dem Iphikles vom Schäfer Melampus gegen Impotenz, mit trefflichem Erfolge wie die Sage berichtet, verordnet und zwar als Rost, der von einem alten Messer abgekratzt und in Wein getrunken werden mußte. Nun findet sich allerdings Eisen in unserm Blute und dient höchstwahrscheinlich zur Vermittelung der Sauerstoffaufnahme und Blutfarbstoffbildung, ist deshalb also ganz unentbehrlich zur Erhaltung des Körpers, aber für sich allein, ohne Eiweißsubstanzen, Fett, Wasser und Salze, würde es dem Körper gar nichts nützen; außerdem kommt es in den Nahrungsmitteln aus dem Thierreiche in hinreichender Menge vor, so daß es aus der Apotheke nicht geholt zu werden braucht. Jedoch kann es bei Schwäche mit Bleichsucht, wenn sonst die Verdauung in Ordnung ist, nicht schaden, daß ein Eisenpräparat oder sogen. Stahlwasser zugleich mit passenden Nahrungsmitteln genossen wird. – Die Chinarinde, welche einen Bitterstoff und einen Gerbstoff enthält und deshalb gelind reizend, sowie etwas zusammenziehend wirkt, soll deshalb stärken, weil Muskeln- und Nervenfasern, die in einen Chinabrei gelegt wurden, schwerer zerrissen, als wenn sie in bloßem Wasser eingetaucht lagen. Nun da schäle man seine Muskeln und Fasern aus dem Körper heraus und lege sie eine Weile in Chinabrei, wenn man sie stärken will; durch Einführen der China in den Magen erzielt man sicherlich keine Stärkung. – Sago, Salep, Arrow-Root u. dgl. sollen zwar Stärkungsmittel für kleine Kinder sein, aber sie sind nichts als einseitige und deshalb erbärmliche Nahrungsstoffe, weil sie wie die Kartoffel fast nur aus Stärke bestehen und höchstens Fett erzeugen. – Isländisches und Caraghenmoos, angeblich Stärkungsmittel für abgezehrte Lungenschwindsüchtige, sind den vorigen Mitteln gleich zu beurtheilen, denn das erstere Moos enthält neben etwas Bitterstoff nur stärkemehligen Nahrungsstoff, das letztere Moos aber nur Pflanzengallerte und Pflanzenschleim. – Die falsche Ansicht, daß Reizmittel, wie Spirituosa, Kaffee und Thee, ätherisch-ölige, gewürzhafte und balsamische Substanzen, stärken sollen, kommt daher, weil dieselben die Nerventhätigkeit etwas antreiben und dadurch scheinbar auf kurze Zeit ein besseres Kraftgefühl und stärkere Kraftäußerungen veranlassen. Sie ziehen dadurch aber eine um so größere Schwäche (Katzenjammer) nach sich, zumal wenn der Körper nicht die gehörige Menge von Blut und Nahrung zu verwenden hat. Diese Mittel sind der Peitsche zu vergleichen, die ein ermüdetes Pferd auf einige Zeit zum lebhafteren Laufen antreibt, aber auch das Stürzen desselben bedingen kann, während Ruhe und gutes Futter das Pferd zu neuen Kraftanstrengungen und zwar auf die Dauer tauglich macht. – Die Kaltwasserei, sowie die Seebaderei ist in den allermeisten Fällen auch nichts anderes, als ein, für den Augenblick erregendes und nachträglich Schwäche (besonders Nervenschwäche) hinterlassendes Reizungsverfahren. Ja da hierbei die Reizung so vieler Empfindungsnerven in der Haut, die sich alle in das Gehirn hineinziehen, dieses letztere Organ widernatürlich aufregen muß, so sieht man gar nicht selten Kaltwasserfanatiker ebenso wie Säufer, die ihr Gehirn durch Spiritus fortwährend stacheln, endlich verrückt oder blödsinnig werden. Etwas ganz anderes ist es, wenn man die Haut durch einen allmäligen Uebergang vom warmen zum lauen und kalten Bade gegen die äußere Kälte unempfindlicher macht, allein das ist nur keine Stärkung des Körpers durch Kälte. – Nochmals: nur nahrhaftes Essen und Trinken bei guter Luft, passender Thätigkeit und gehöriger Ruhe stärkt.
(Bock.) 

[269]
Wolfs-Ammen in Indien.

Erzählungen von wilden Thieren, welche zufällig oder absichtlich ausgesetzte Kinder gesäugt haben, findet man fast in allen Ländern und häufig in sehr verschiedener Weise. Sie bilden eine Lieblingsfabel in Bezug auf große Helden und Gründer einer Nation. Der Hirsch, der Bär, der Hund spielen in denselben eine Rolle, aber am Häufigsten kommt der Wolf darin vor. Wie viel an der Geschichte des Romulus wahr ist, wollen wir dahin gestellt sein lassen. Etwas Wahres liegt diesen Erzählungen indessen sicher zum Grunde, und vor Kurzem ist „ein Bericht über Wölfe, die Kinder in ihren Höhlen gesäugt haben, von einem indischen Beamten“ erschienen, welcher der Beachtung eines künftigen Nibuhr’s werth ist. Der Name dieses wohlbekannten Beamten würde, wenn er veröffentlicht worden wäre, hinreichende Garantien für die Wahrheit und Genauigkeit seiner Berichte geben. Diese sind aber auch von der Art, daß sie unmittelbar für sich selbst sprechen.

Der Wolf wird in Indien, wie früher auch im nördlichen Europa als ein heiliges Thier angesehen. Fast sämmtliche Hindu’s haben eine abergläubische Furcht ihn zu tödten oder zu verwunden, und ein Dorf, in dem sein Blut vergossen worden, hält sich für dem Untergange verfallen. Die natürliche Folge davon ist, daß in allen Distrikten, wo wenig Europäer wohnen, die Wölfe sich so vermehren, daß sie nicht nur die größten Verwüstungen unter dem Vieh anrichten, sondern auch Kinder fortschleppen. Nur eine Klasse der Bevölkerung, die allerunterste, die ohne festen Wohnsitz ist, wagt es dem Wolf nachzustellen, aber auch diese thut es nur in der Absicht, sich des Schmuckes zu bemächtigen, den die von den Wölfen gefressenen Kinder getragen haben. Leider kommt es auch noch in allen Theilen Indiens vor, daß Kinder ihrer goldnen und silbernen Armbänder wegen ermordet werden.

Der Wolf ist zuweilen gütiger als der Mensch. In der Nachbarschaft von Sultanpur, in dem Hügellande an dem Flusse Gumti giebt es vorzugsweise viel Wölfe, und hier begegnen wir auch zuerst den Wolf-Ammen.

Als einst ein Soldat das Ufer des Flusses bei Chandour entlang ging, sah er eine Wölfin mit drei Jungen und einem kleinen Knaben aus ihrer Höhle kommen. Der Knabe ging auf allen Vieren und war offenbar mit seinen wilden Gefährten sehr vertraut und die Wölfin beschützte ihn wie ihre Jungen. Sie gingen nach dem Flusse und soffen, und es gelang dem Soldaten sich unbemerkt zu verstecken. Er wollte sich des Knaben bemächtigen, der Grund war aber so uneben, daß er ihn nicht ereilen konnte. Sie flohen in die Höhle und der Soldat ging nach Chandour und holte von dort Leute mit Pieken, um den Wolf aus der Höhle auszugraben, die 6–8 Fuß weit war. Die Wölfin brach mit ihren Jungen und dem Knaben aus. Der Soldat und die flinksten jungen Leute verfolgten sie rasch zu Pferde, trieben die Wölfin mit ihren Jungen ab und bemächtigten sich des Knaben.

Er war augenscheinlich 9–10 Jahr alt und hatte alle Gewohnheiten eines wilden Thieres. Auf dem Wege nach Chandour suchte er in jede Höhle zu schlüpfen, der sie begegneten. Der Anblick eines Erwachsenen schüchterte ihn ein und er suchte sich fortzuschleichen, auf Kinder sprang er aber mit einem Geheul, das wie das eines Hundes klang, und wollte sie beißen. Gekochtes Fleisch mochte er nicht essen, aber auf rohes Fleisch stürzte er sich mit Begier, setzte sich damit an die Erde und verschlang es mit Lust. Er heulte ärgerlich, wenn ihm Jemand beim Essen nahe kam, wenn aber ein Hund zu ihm kam, hatte er nichts dagegen, sondern theilte das Fleisch mit ihm. Der Soldat überließ ihn dem Rajah von Hasuanpur, der den Knaben sah, sobald er eingefangen war. Auf dessen Veranlassung wurden seine Aeltern ausfindig gemacht, sie mochten aber nichts von ihm wissen, da er die Wolfsnatur beibehielt. Drei Jahre lang lebte er unter der Aufsicht des Capitains Nicholett und blieb stets ein bloßes Thier. Nie konnte man ihn dahin bringen, ein Kleidungsstück anzulegen, selbst nicht bei der größten Kälte; einmal zerriß er eine mit Baumwolle gestopfte Matratze und verschlang Stücke davon mit seiner Nahrung. Wenn ihm diese hingestellt wurde, lief er auf allen Vieren danach wie ein Wolf, und nur selten ging er aufrecht. Menschen scheute er stets und war nicht gern bei ihnen. Dagegen liebte er Hunde und Schakals sehr und theilte sein Essen mit ihnen. Nie sah man ihn lachen oder lächeln und nie hörte man ihn sprechen, außer wenige Minuten vor seinem Tode; da legte er die Hände an seinen Kopf, sagte, er thue ihm weh und verlangte Wasser. Nachdem er dies getrunken, starb er. Hätte dieser Knabe länger gelebt, so würde er vielleicht allmälig zur Vernunft gekommen sein, es scheint aber, daß die menschliche Natur durch die thierische völlig überwuchert war.

Ein zweites Beispiel lieferte die Nähe von Gumti. Im März 1843 ging ein Arbeiter, der in Chupra lebte, 20 Meilen von Sultanpur mit seiner Frau und einem drei Jahre alten Knaben, der sich vor Kurzem am Knie verwundet hatte, auf’s Feld um sein Korn zu schneiden. Während der Vater es einharkte, sprang plötzlich ein Wolf nach dem Knaben und schleppte ihn in’s Hügelland. Der Vater rief die Nachbarsleute zu Hülfe, aber sie konnten die Spur des Wolfes nicht auffinden.

Sechs Jahre später sahen zwei Sipahin aus Singramur auf der Jagd an einem Hügel drei Wolfsjunge und einen Knaben aus einer Höhle kommen, nach dem Flusse gehn und saufen. Die Sipahin gingen nach, die Wölfe waren aber schon wieder in der Höhle und der Knabe wollte ihnen eben nach, da ergriff ihn der Eine beim Fuß und zog ihn zurück. Er war so böse und wild, daß er nach dem Manne biß und sogar mit seinen Zähnen in das Rohr seines Gewehrs fuhr und es heftig schüttelte. Die Sipahin bemächtigten sich aber seiner, nahmen ihn mit sich und hielten ihn zwanzig Tage in ihrem Hause, während deren er nur rohes Fleisch essen mochte und mit Hasen und Vögeln gefüttert wurde. Da es ihnen schwer wurde, dies fortzusetzen, nahmen sie ihn mit sich nach dem Bazar in der Nähe von Koelepur, um mitleidige Leute aufzusuchen, die sich seiner annehmen könnten. An einem Markttage sah ihn dort ein Mann aus Chupra und erzählte nach seiner Rückkehr seinen Nachbarn von ihm. Der Vater des Kindes war schon todt, die Mutter lebte aber noch und forschte eifrig nach der Beschreibung. Als sie hörte, daß er ein Zeichen am linken Knie und drei Maale von den Zähnen eines Thieres an beiden Schenkeln habe, machte sie sich auf, ging nach dem Bazar und entdeckte noch ein drittes Maal, das der Knabe bei seiner Geburt hatte.

Sie nahm ihn mit sich in ihr Dorf, aber wie in dem vorher erwähnten Fall schien sein menschlicher Sinn ganz verschwunden zu sein. Seine Kniescheiben und Ellnbogen waren von dem Gehen auf allen Vieren ganz hart geworden, und obwohl er bei Tage in dem Dorf umherging, so stahl er sich Nachts gern nach dem Dickicht. Er lernte nicht sprechen, selbst nicht einmal artikulirte Laute hervorbringen. Wenn er trank, hielt er sein Gesicht über das Wasser, leckte es aber nicht auf, wie ein Wolf. Rohes Fleisch war ihm stets am Liebsten, und wenn ein Stück Vieh gefallen und dessen Haut abgezogen war, stürzte er sich in Gesellschaft der Dorfhunde auf das Fleisch und fraß davon.

Der Verfasser der oben erwähnten Schrift führt noch mehrere diesen ganz gleiche Fälle an. Wir übergehen diese und erwähnen nur eines, der der merkwürdigste von allen ist. Vor ungefähr sieben Jahren sah ein Soldat, der in Begleitung des Rajahs Hurdut Singh von Bondi am Ufer des Flusses Ghagra im Distrikt Bahraetch entlang ging, zwei Wolfkälber und einen Knaben trinken. Es gelang ihm, sich des Knaben zu bemächtigen, der ungefähr zehn Jahr alt und so wild war, daß er die Kleider des Soldaten zerriß und ihn an mehreren Stellen mit Bissen verwundete. Der Rajah ließ ihn zuerst festbinden und mit rohem Fleisch füttern, später erlaubte man ihm jedoch in dem Bazar von Bondi umherzugehen. Hier stahl er eines Tages ein Stück Fleisch aus einem Schlächterladen und als er dies bei einem andern wiederholte, schoß dieser mit dem Bogen nach ihm und der Pfeil drang durch seinen Schenkel. Ein Mann, Namens Janu, der Diener einen Kaufmanns aus Caschmir, der sich in Bondi befand, nahm sich mitleidsvoll seiner an, zog den Pfeil heraus und machte ihm ein Lager unter einem Mango-Baum zurecht, unter dem er selbst sein Zelt aufgeschlagen hatte. Dort fesselte er ihn an einen Zeltpfahl. Bis dahin hatte der Knabe nur rohes Fleisch gegessen, Janu brachte ihn aber dahin, daß er Reis und Hülsenfrüchte aß. Nachdem er sechs Wochen lang dort gefesselt gelegen hatte und [270] sein Schenkel durch häufige Einreibungen mit Oel geheilt war, ließ Janu ihn aufrecht stehen und gehen. Bis dahin war er nur auf allen Vieren gegangen. In vier Monaten fing er an zu verstehen und den ihm gegebenen Zeichen zu gehorchen. So lernte er die Pfeifen stopfen, Kohlen zum Anzünden holen und bringen, und was ihm sonst befohlen wurde. Aber nur einmal lernte er einen artikulirten Laut, dieser bestand in dem Namen der kleinen Tochter eines Schauspielers aus Caschmir, Abudes, die freundlich gegen ihn gewesen war. Der Geruch seines Körpers blieb immer widerwärtig, wieviel Mühe sich auch Janu gab, ihn durch Einreibungen mit in Wasser aufgelöstem Senfsaamen zu entfernen. Obwohl er dies Monate lang fortsetzte, während deren er nur Reis und Früchte zu essen bekam, wich der Geruch nicht. In einer Nacht, als der Knabe unter dem Mango-Baum lag, sah Janu zwei Wölfe zu ihm hinschleichen, nach ihm schnoppern und ihn anrühren, so daß er aufwachte. Statt aber sich vor ihnen zu fürchten, legte er seine Hände auf ihren Kopf und fing an mit ihnen zu spielen und Stroh und Blätter auf sie zu schütten, während sie um ihn herumsprangen. Janu wollte sie forttreiben, es gelang ihm aber nicht, so daß er unruhig wurde und die nächste Schildwacht herbeirief und ihr sagte, die Wölfe wollten den Knaben auffressen. Der Soldat erwiderte: kommt fort und laßt ihn, sonst fressen sie Euch auch noch auf. Als Janu sie fortspielen sah, schwand jedoch seine Furcht und er beobachtete sie ruhig. Endlich scheuchte er sie fort, aber in der nächsten Nacht kamen drei Wölfe und in der darauf folgenden ein vierter, der noch mehrere Male zurückkam. Janu glaubte, daß die ersten beiden wohl die Wolfskälber, mit denen er gefunden worden, gewesen sein und daß sie ihn an dem Geruche erkannt haben müßten, sonst hätten sie ihn wohl fortgeschleppt. Sie leckten sein Gesicht, als er seine Hand auf ihren Kopf legte. Als Janu’s Herr nach Luckno zurückkehrte, gestattete ihm dieser nach einigem Widerstreben, den Knaben mitzunehmen. Janu hielt ihn an einem Stricke, den er um seinen Arm geschlungen hatte und legte ein Bündel Kleider auf seinen Kopf. Sobald sie an einer Höhle vorbeigingen, suchte er das Bündel wegzuwerfen und machte verzweifelte Anstrengungen, zu entfliehen. Wurde er geschlagen, so erhob er bittend seine Hände, nahm das Bündel wieder auf und ging weiter. Bei der nächsten Höhle gerieth er aber in dieselbe Versuchung. Kurze Zeit nach ihrer Ankunft in Luckno wurde Janu von seinem Herrn auf zwei Tage fortgeschickt, und als er zurückkehrte, war der Knabe verschwunden. Zwei Monate darauf kam die Frau eines Webers nach Luckno mit einem Brief des Rajahs von Bondi, der bestätigte, daß ihr vier Jahre alter Sohn vor fünf bis sechs Jahren von einem Wolfe geraubt worden sei. Nach der Beschreibung, die Janu von ihm gab und nach den Zeichen, die er von ihm angeben konnte, war es ihr Knabe. Sie blieb noch längere Zeit in Luckno und man gab sich alle mögliche Mühe, ihn ausfindig zu machen. Sie war aber vergebens, man hat ihn nie wiedergefunden.

Der Knabe muß hiernach sechs bis sieben Jahre mit der Wölfin gelebt und mehre Würfe derselben gesehen haben. Der Verfasser der erwähnten Schrift hatte diese Nachrichten von Janu und dessen Herrn selbst, und beide erklärten, daß sie die volle Wahrheit enthielten.

Es ist bemerkenswerth, daß kein authentischer Fall festgestellt ist, daß völlig erwachsene Menschen in Wolfshöhlen gelebt haben. Der Verfasser der Schrift erwähnt eines alten Mannes in Luckno, der als Knabe bei der Hütte eines Eremiten in dem Walde von Oude Tarä, der dort starb, gefunden wurde, von dem es hieß, der Eremit habe ihn Wölfen abgenommen, und der deshalb der wilde Waldmensch hieß. Einmal, sagt der Verfasser, wurde er zu mir geschickt und ich sprach mit ihm. Seinen Zügen nach gehörte er dem Tharu-Stamme an, der nur in diesem Walde gefunden wird. Ich fragte ihn, ob er einige Erinnerungen davon habe, daß er jemals mit den Wölfen gelebt habe. Er sagte: „Der Wolf starb lange vor dem alten Eremiten.“ Dies gab mir jedoch nicht die Ueberzeuzung, daß er mit Wölfen gelebt hatte.

Einmal wurde ein Knabe nach der Stadt Hasanpur gebracht, der ersichtlich von Wölfen auferzogen war. Er schien zwölf Jahr alt zu sein, war sehr dunkelfarbig und hatte zuerst kurze Haare auf dem ganzen Leibe, die allmälig verschwanden, sobald er gewöhnt war, Salz mit seiner Nahrung zu essen. Er sprach nie, verstand aber Zeichen sehr gut. Was aus ihm geworden ist, hat man nicht erfahren können.

Die letzteren Fälle sind zweifelhaft, die ersterwähnten stehen aber als Thatsachen fest. Die Leser mögen selbst darüber urtheilen. Jedenfalls schienen sie uns so merkwürdig und lassen so viele interessante Muthmaßungen und Bemerkungen zu, daß wir hoffen, die Leser werden es uns Dank wissen, daß wir sie mit denselben bekannt gemacht haben.




Sebastopol,
Stadt und Hafen mit den Batterien und Zugängen.

Nachdem wir uns Kronstadt in einer frühern Nummer angesehen, müssen wir auch die andere Hauptwaffe Rußlands in der linken Hand in Augenschein nehmen. Sie heißt Sebastopol und erhebt sich auf der Halbinsel Krimm vom schwarzen Meere herauf, aus welchem dieser andere Arm Rußlands weiter um die Türkei und Europa herum strebt. – Sebastopol war noch am Anfange dieses Jahrhunderts ein elendes Tartarendorf. Seit einem halben Jahrhundert ist Rußland ununterbrochen im großartigsten Maße thätig gewesen, den Ort, den die Natur zu diesem Zwecke sehr begünstigte, in den stärksten militärischen Hafen für die Kriegsflotte des schwarzen Meeres umzuwandeln. Unser genauer, militärischer Plan zeigt uns mit einem Blick, wie großartig und umfangreich

[271] diese Thätigkeit gewesen.

Zuerst bildet das Meer vor Sebastopol einen großen Busen, aus welchem sich östlich eine ziemlich enge Meereszunge in’s Land hineinzieht. Aus dieser zweigt sich der eigentliche Hafen südlich ab. An beiden Seiten desselben steigen Stadt, Docks, Kasernen u. s. w. in die Höhe und gewähren vom Wasser aus einen ziemlich imposanten Anblick. Der Haupttheil der Stadt liegt an der westlichen Seite des Hafens, der hier mit dem Haupteinschnitt einen Winkel bildet. Der enge lange Haupthafen ist auf beiden Seiten ziemlich fett mit Batterien, Forts und Kanonenperlenreihen gespickt. Fahren wir auf der südlichen Seite herein, sehen uns zuerst zwei Batterien zwischen der Krouglaia- und Streletschkaia-Bai mit vielen hohlen Augen an. Eine kleine Strecke weiter sehen sich 51 Kanonen um, ob’s nichts für sie zu thun gäbe, da sie im Uebrigen blos die Quarantainebatterie bilden. Gleich darauf wohnen 84 Kanonen in zwei Etagen in sichern Räumen und dahinter als specielle Stadtwache an beiden Enden einer mit Schießlöchern versehenen Mauer 100 Kanonen. Kaum haben wir diese Wächter im Rücken, tritt uns breit und hoch sich bis an die Spitze, welche den eigentlichen Hafen mit dem Haupthafen bildet, den Hauptlandungsplatz, ausdehnend, das Fort Nikolas entgegen, in welchem 192 Kanonen in drei Etagen feste Anstellung gefunden haben. Ihm gegenüber erhebt sich auf einem Vorsprunge eine Gesellschaft von 80 Kanonen bis in’s dritte Stockwerk, welche die Bestimmung haben, den sehr engen Tugendpfad in den eigentlichen Hafen und zur Stadt sehr eifrig mit Dornen zu bestreuen. Die andere Seite der Stadt, fast nur aus Docks, Kasernen, Werften und Regierungsanstalten für die Marine bestehend, wird gegen den größeren Hafen noch durch eine starke Batterie geschützt. Von der andern Seite desselben werden die südlichen Kanonengesellschaften noch von sechs Hauptbatterien unterstützt, unter denen die doppelte Batterie mit 34, und vorn auf einem Vorsprunge am Eingange des größern Hafens das Konstantin-Fort mit 104 Kanonen die hauptsächlichsten sind.

Das Alles sieht, besonders wenn man in einer deutschen Gartenlaube sitzt, auch ohne Pulverdampf und tausendweise im Wasser oder in der Luft ihre Gruft findende Leichen fürchterlich aus, zumal, wenn die ganze Ausdehnung des Hafens Abends von den beiden Inkermann-Leuchtthürmen, die ihr Licht über sechs deutsche Meilen weit in’s Meer hinaus senden, erleuchtet wird; aber der Engländer Oliphant, der sich in der Verkleidung eines deutschen Bauern (deren viele um Sebastopol herum die ehemalige Kornkammer Constantinopels, die Krimm, alle Jahre füllen helfen) [272] in die Stadt und die Festungswerke hineinwagte, sagt in seinem Buche darüber, es sei Alles gar nicht so schlimm und weiß der englischen Flotte die totale Zerstörung Sebastopols und der ganzen russischen Marine sehr leicht zu machen. Ginge es nicht mit Gewalt auf dem Wasser durch die Kanonengrüße hindurch, gäbe es doch weiter südlich eine Menge unbeschützte Häfen und Buchten, in welche man hineinlaufen könne, um dann zu Lande und zu Fuße von hinten herum nach Sebastopol zu marschiren, obgleich man in den Häfen und Buchten theils auf Schlamm und Sandbänke, theils auf Felsen stoßen und nach zurückgelegtem glücklichen Landmarsch Schießmauern und Kanonen, Kasernen und unfreundlichen Bergen gegenüberstehen würde, von denen leicht Kanonen und Flinten herabwärts losgehen könnten, während die englischen und französischen Seesoldaten zu Lande mit ihren kurzen muthigen Messern gegen die langen Arme der Kanonen und konischen Spitzkugeln vergebens ankämpfen würden. Da übrigens der Admiral Dundas nicht erst auf diese Nummer der Gartenlaube warten wird, um zu erfahren, wie er Sebastopol nehmen oder nicht nehmen solle, wollen wir uns hier den Kopf nicht weiter mit strategischer Weisheit zerbrechen. Die englische Flotte hat so lange Muße gehabt, daß sie jedenfalls einen feinern Plan ausgesonnen haben wird, als wir vermuthen, wenn sie nicht etwa sprüchwörtlich gehandelt und den Müßiggang zu des Teufels Ruhebank gemacht haben sollte. Als Stadt bietet Sebastopol wenig Interessantes, da das ganze Leben sich auf Soldatenerscheinungen beschränkt, die nur insofern Bürgerliche, darunter einige deutsche Gastwirthe, unter sich dulden, als sie für die Bedürfnisse und die Bequemlichkeiten des Militärs zu sorgen haben.

Zu den größten Sehenswürdigkeiten für nicht militärisch-interessirte und passionirte Leute gehört ein großer Aquaduct, der sich von den Regierungsdocks an der südlichen Seite des großen Hafens als ein 10 Fuß breiter und beinahe drei deutsche Meilen langer Kanal hinzieht und dann parallel mit dem schwarzen Flusse im Inkermannthale (der den Hafen mit Süßwasser aber auch mit dem furchtbaren Süßwasserwurme versieht, welcher ganze Schiffe durchlöchert) hinläuft, um die Communication nach dem Innern der Insel zu erleichtern. An einer Stelle bildet er durch Felsen einen 300 Yards langen Tunnel, der als ein Meisterstück gilt. Die Hohlwege und Höhenzüge und Buchten um den größeren Hafen herum geben der ganzen Gegend ein wildromantisches Gepräge, das sich freilich bei trockenem Sommerwinde zuweilen Meilen weit in den entsetzlichsten Staub auflöst.




Blätter und Blüthen.

Cara Fatíma, die türkische Jungfrau von Orleans. Zwar ist sie nicht so jung an Jahren, und so alt in der Geschichte, so vergöttert von Schiller und verspottet von Voltaire, als die Jungfrau von Orleans, aber auch noch nicht von den Engländern verbrannt. Sie lebt und sitzt zu Pferde, wie ein Husaren-Lieutenant und führt die wuchtige Lanze. Cara Fatima ist eine Heroine, eine Königin des jetzigen Türkenkrieges, eine Prophetin dem Volke. Als solche darf sie nicht jung und schön sein. Und so ist sie auch nichts weniger als eine Jungfrau von Orleans oder eine Kiß-Amazone, sondern eine alte, kleine, braune Greisin von sechzig Jahren. Als sie mit etwa 300 Kriegern durch die Straßen von Constantinopel ritt, liefen Tausende zusammen und bewiesen ihr Andacht und Verehrung. Sie reitet mit ihren beiden weiblichen Lieutenants in männlicher Kleidung (alttürkisch). Dazu kommen die Costüme ihrer Soldaten, die alle Trachten und Waffen der Welt in sich zu vereinigen scheinen. Die feinsten Gewehre, Colt’s Drehpistolen, hölzerne Keulen mit Eisenspitzen, wie in den ältesten Zeiten, Pfeil und Bogen, Lanzen, Streitäxte – alle diese Waffen contrastirten oft mit der Uniform auf’s Pikanteste, da nicht selten die feinste, neueste Waffe mit dem rohesten Urcostüm sich vereinigt und der Träger einer preußischen Uniform die benagelte Herkuleskeule schwingt. Wo ist die Königin dieser Freischaaren hergekommen? „Man wußte nicht, woher sie kam“, wie Schiller von dem Mädchen aus der Fremde sagt. Ihre Soldaten verehren sie als Königin, Prophetin und Generalin. Sie ist nach Constantinopel gekommen, um dem Sultan ihre Dienste anzubieten und für die Aufrechterhaltung des Korans und der Türkei gegen die Moskowiter zu streiten. Einige haben behauptet, aus Liebe zu ihrem Ehemanne, der in einem Gefängnisse von Candia schmachte, sei sie Kriegsheldin geworden, um durch ihre Thaten die Regierung zur Gnade für ihn zu bewegen. Daß man keine Polizeiakten, keinen Paß mit Personalbeschreibung von ihr hat, erhöht das romantische Interesse an dieser seltsamen Erscheinung. Um aber unsere polizeilich gewöhnte Betrachtungsweise nicht ganz unbefriedigt zu lassen, erfahren wir, daß sie aus dem Stamme der wilden, kriegerischen Kurden hervorgeritten ist und ihre Soldaten der Mehrzahl nach auch Kurden sind.




Das Wrack. Die gräßlichsten Schreckensscenen zur See wurden neulich als offizieller Bericht mit dem Barkschiffe Cuba nach Sunderland gebracht. Das Liverpooler Schiff Bona Dea verließ am 22. Januar Havanna und war schon am 23. dem furchtbarsten Sturme Preis gegeben. In der Nacht erschütterte es eine vom Sturme gepeitschte Woge dermaßen, daß es sofort leck ward. Alle Hände pumpten sofort über 24 Stunden lang, wobei aber das Wasser bis in’s Mitteldeck stieg. Eine der gewaltigsten Wogen, die der Sturm über das Schiff hinwegschoß, riß den Capitain und vier Mann mit fort und mehrere folgende Wassermassen spülten Cajüten und Vorrathskammern so gründlich aus, daß nicht ein Krümel Brot, nicht ein Tropfen Trinkwasser auf dem Schiffe blieb. Masten und Segel waren dabei bis auf einen Stumpf des Mittelmastes und ein Stück altes Segel in der Segelkammer mit fortgerissen. Die Matrosen banden das Stück an den Stumpf und brachten so wieder 24 Stunden unter fortwährendem Orkane zu. Die Berichte des Schiffsbuchs lauten nun so:

Dienstag 24. Januar. Der Orkan wüthet fort und peitscht fortwährend Wogen über’s Deck. Fortwährendes scharfes Umsehen nach Hülfe war erfolglos.

Donnerstag 26. Ein großes Tuch ausgebreitet, Regenwasser zu fangen, doch die See ging stets darüber hin, so daß wir keinen Tropfen bekamen. Decke der Cajüte niedergerissen, in der Hoffnung, einige Reste Brot zu finden. Vergebens. Dritter Tag ohne irgend eine Nahrung und ohne Wasser. In der Nacht Klagen über Durst, doch die Leute blieben in Schranken.

Freitag 27. Sahen eine Barke bei Tagesanbruch. etwa 3 (engl.) Meilen ab. Doch sie wollte keine Notiz von unserm Wrack nehmen. Einige Leute waren nicht mehr zu halten, sie tranken Seewasser. Während des Tages eine Ratte gefangen und in gleichen Portionen unter sie vertheilt.

Sonnabend 28. Tranken viele Seewasser und kauten Blei und Taue.

Sonntag 29. Sahen zwei Schiffe, etwa 3 Meilen ab. Keine nahm Notiz von unserer schrecklichen Lage. Die Schrecknisse des Verhungerns brachen aus, der Durst quälte bis zum Wahnsinn. In der Nacht ward eine Katze bemerkt. Alle sprangen auf und zerrissen und verschlangen sie gierig. Bei einigen Leuten Symptome des Wahnsinns. Füße begannen zu schwellen.

Montag 30. Kein besseres Wetter. Keine Rettung. Furchtbar viel Seewasser getrunken.

Dienstag 31. Einige Leute wahnsinnig. Sprachen. Einen zu opfern, den das Loos träfe, die Andern zu retten. Abends 5 Uhr ein Schiff in Sicht; die ganze Nacht gewacht und gehofft, bei Tagesanbruch kein Schiff zu sehen.

Mittwoch 1. Febr. Die Leute loosten. Ein halbtodter Bursche, James Liley erbot sich freiwillig. Mr. M’Leod überredete sie, noch auf Rettung zu warten.

Donnerstag 2. Der Sturm mäßig. Die Leute nicht mehr zu regieren. Verlangen, daß James Liley geopfert werde. Der Sterbende that es selbst und zerschnitt seine Arme an zwei Stellen. Kein Blut. Die Leute saßen mit wirren Blicken um ihn herum. Plötzlich schnitt ihm Einer den Hals durch und – (was jetzt folgt, läßt sich ohne Schaudern nicht niederschreiben).

Freitag 3. Einige Leute wüthend wahnsinnig. Kriechen auf dem Deck herum in furchtbarem Zustande. Einige konnten sich nicht mehr bewegen.

Sonnabend 4. (Zwölfter Tag ohne Nahrung und Wasser.) Mr. M’Lead und zwei Matrosen noch allein fähig, aufrecht zu stehen. Die Andern liegen still, vier im Sterben. Das Seewasser hat ihre Leiden auf’s Furchtbarste gesteigert. Um 9 Uhr ein Schiff durch den Nebel bemerkt. – So weit das Tagebuch.

Das Schiff erwies sich als die Cuba von Sunderland auf dem Wege von Coquimbo nach Swansea[WS 2] (England) Capitain F. G. Orgen. Bis 1 Uhr Mittag waren sie alle an Bord gebracht. Die Wahnsinnigen wurden in einen reinlichen luftigen Raum unterm Hinterdeck getragen, die andern anderswo untergebracht und zuerst mit etwas gekochtem Reis- und Gerstenwasser erquickt. Samuel Blane starb gleich nachdem er gerettet war. Vier Andere starben an den folgenden Tagen, obgleich sie mit aller Vorsicht und Sorgfalt behandelt wurden. Sie blieben bis zum Tode wahnsinnig. Zwei wütheten bis zum letzten Athemzuge.

Die Geretteten, im Ganzen Sieben, wurden in Swansea[WS 3] an’s Land gesetzt und haben sich erholt. Zu beachten ist hierbei, daß diese Sieben nicht die körperlich Kräftigsten, wohl aber die moralisch Stärksten waren, die mitten in den Qualen des Hungers und den Wahnsinn erzeugenden Martern des Durstes so viel Willenskraft behalten hatten, kein Seewasser zu trinken. – Freilich hat auch zu ihrer Rettung der unglückliche Matrose und Held des Sterbens, James Liley, beigetragen. Ohne die Ratte, die Katze und den Menschen hätten sie natürlich während der zwölf Tage alle verhungern und verdursten müssen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Raden Saleh; Vorlage: Japanesen Rhaden-Saleh
  2. Vorlage: Swansen
  3. Vorlage: Swansen