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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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was es im Laufe von ein paar Jahrhunderten ohne Zweifel werden wird: eine Stadt von mehr als doppelter Größe, deren weitgestreckte Arme die umliegenden Orte erfassen und ihrem Körper in ähnlicher Weise einverleiben werden, wie solches z. B. von London geschehen ist. Wien mit seinen 400,000 Einw. ist noch viel zu klein im Verhältniß zu der großen Monarchie voll Kraft und strotzenden Lebens, deren Herz es ist, und wo die großen Schlagadern zusammenlaufen, welche den Kreislauf der Säfte durch das colossale Reich bedingen. Oesterreich ist viel volkreicher als Frankreich, und Paris hat 1,200,000 Einwohner; es ist dreimal so groß, als Preußen, und Berlin kömmt an Bevölkerung Wien ganz nahe. Wien liegt überdies günstiger als alle Hauptstädte Europa’s: an dem großen Strome, der die Verbindung des Morgen- und Abendlandes vermittelt; es ist der große Markt, wo sich die materiellen und geistigen Güter des Verstandes mit denen des Ostens naturgemäß tauschen; es ist der Ort, dessen ungeheuere commerzielle und industrielle Bedeutung kaum von der Gegenwart geahnet, erst von der Zukunft ganz erkannt und begriffen werden wird. Schon streckt es seine Verbindungen, als so viel Hebel seines Wachsthums und seiner Größe, mit jedem Jahre weiter gegen Ost und West; der Kanal, der die Donau und den Main verbindet, öffnet ihm die nördlichen Meere; die Eisenbahn nach Triest rückt die südlichen Wasserstraßen an seine Thore, und die großen Linien des mitteleuropäischen Eisenbahnnetzes laufen in ihm, als in ihrem südlichen Mittelpunkt, zusammen; nichts drückt die Mission, welche der österreichischen Kaiserstadt für die Zukunft vorbereitet wird, deutlicher, großartiger aus, als diese Verhältnisse, und in ihnen liegt auch die Gewährschaft für Wiens glänzendes Gedeihen und sein weiteres Wachsthum.
Nur im Westen läßt der Blick vom Wienerberge aus eine Reihe anmuthiger Orte in der Umgebung Wiens deutlich abgegrenzt unterscheiden: so Kloster-Neuburg, Döbling, Heiligenstadt, Geinzing, Sievering, Dornbach, Schönbrunn, Hietzing, Mödling und Laxenburg, der gemüthliche Sommersitz des österreichischen Herrschers. Alle diese Orte und noch zwanzig andere wimmeln im Sommer von Wiener Familien, welche mit glücklicher Empfänglichkeit dem Landleben leicht diejenigen Reize abgewinnen, welche der Städter allein auffindet,. die aber Denen verloren gehen, welche sie alltäglich und ohne Abwechselung vor Augen haben. Die sömmerliche Emigration beginnt in den ersten Maitagen, und wenn die letzten Trauben gekeltert sind, dann kehren auch die letzten Auswanderer in die Stadt zurück. Die Bevölkerung Wiens ist daher im Winter immer um 20 bis 25,000 Seelen größer, als in der schönen Jahreszeit.
Wer aber nicht auf dem Lande wohnen kann, der verschafft sich die ländlichen Freuden auf eine wohlfeilere Weise. Der Wiener braucht keine weitläufigen, kostspieligen Voranstalten; macht der Himmel ein heiteres Gesicht, so sind ein paar fröhliche Herzen, oder gleichgesinnte Familien bald gefunden, und gemacht wird die Landpartie in derselben Stunde, wo man sie beschlossen hat. Ein grüner Rasenfleck, ein schattiger Baum im
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/57&oldid=- (Version vom 2.2.2025)