Die Familie Orleans
Das deutsche Volk wurde in neuester Zeit wiederholt durch Zeitungsnachrichten von feindseligen Umtrieben der Orleans beunruhigt. Wenn auch der Beweis dafür noch nicht, wenigstens dem Publikum noch nicht erbracht wurde, daß die berüchtigte Fälschung diplomatischer Urkunden einem Mitgliede dieses Hauses zur Last fällt, dürfte es doch an der Zeit und von Nutzen sein, über die Geschichte der Vielgenannten sich zu unterrichten.
Da keine Familie völlig mit ihrer „Tradition“ zu brechen vermag, wird die Vergangenheit den gegenwärtigen Gliedern als Richtschnur, uns als Fingerzeig, vielleicht als Warnung dienen.
Ein Umstand sichert den Orleans von vorneherein Ansehen und Wichtigkeit: weitverzweigt, besitzen sie ungeheure Reichtümer. Ich will nicht behaupten, daß Macht in allen Fällen Geld ist; aber jedenfalls ist Geld ist civilisirten Staaten Macht.
Ludwig Philipp, der Bürgerkönig, minder freundlich auch der Barrikadenkönig genannt, verstand es trefflich, bei den altehrwürdigen Herrscherhäusern sich in Gunst zu setzen, trotzdem er seine Thronerhebung einer Revolution verdankte. Vater von fünf Söhnen und drei Töchtern, erreichte er für seine sämmtlichen Kinder Verbindungen mit legitimen Höfen. Für seinen ältesten Sohn Ferdinand, Herzog von Orleans, erhielt er die Hand einer durch Gaben des Geistes und des Herzens ausgezeichneten deutschen Prinzessin, Helene von Mecklenburg. Der Erstgeborene aus dieser Ehe ist Ludwig Philipp Albert, Graf von Paris, vermählt mit Infantin Isabella von Spanien. Derselbe ist heute das Haupt der Familie. Für die Orleanisten ist er Philipp VII., der rechtmäßige König der Franzosen.
Der Bruder dieses Fürsten, Robert, Herzog von Chartres, unbestritten der ritterlichste unter den lebenden Orleans, hat viele Freunde in der Armee.
Der zweite Sohn des Bürgerkönigs, der Herzog von Nemours, freite ebenfalls eine Deutsche, Viktoria, Prinzessin von Sachsen-Koburg, die dem Gatten einen großen Theil des gewaltigen Kohary’schen Vermögens zubrachte. Die zwei Söhne und zwei Töchter aus dieser Ehe traten wieder mit europäischen Fürstenhöfen in Familienverbindung.
Der dritte Sohn Ludwig Philipp’s, der Prinz von Joinville, vermählte sich mit der Tochter des Kaisers von Brasilien, deren Mitgift denjenigen der Schwägerinnen sicherlich nicht nachstand.
Der reichste jedoch von Ludwig Philipp’s Söhnen wurde sein vierter, der Herzog von Aumale. Er erbte die 30 Millionen [082] des letzten Herzogs von Condé. Dieser war im Jahre 1830 im Schloß St. Leu unter räthselhaften Umständen erhängt aufgefunden worden; sein Testament setzte nicht die nächsten Verwandten, die Rohans, sondern sein Pathenkind, den Herzog von Aumale, zum Erben ein. Der von den Rohans angestrengte Proceß ging verloren; doch die Feinde der Orleans verharrten bei der Behauptung, daß Ludwig Philipp und sein Rathgeber Talleyrand die 30 Millionen „erschlichen“ hätten.
Heute ist Aumale der „Gelehrte“ in der Familie; der palmengestickte Frack des Akademikers schmückt ihn. In jüngeren Jahren, als sein Vater noch lebte, hatte er sich als Generalgouverneur von Algier in den Kämpfen mit den Beduinen als tapferer Soldat bewährt. Bei seinem Ruhm, bei seinem Reichthum würde er unter allen Brüdern wohl die besten Aussichten gehabt haben, die Krone des Vaters zurückzuerlangen; allein da die beiden Söhne, die ihm seine Gattin, eine Tochter des neapolitanischen Königshauses, geboren hatte, in jugendlichem Alter starben, zog sich der Herzog vom politischen Schauplatz zurück und lebt nur noch seinen Studien.
Der jüngste Sohn Ludwig Philipp’s, der Herzog von Montpensier, wurde der Gatte Luisa Fernanda’s, der Schwester der Königin Isabella von Spanien. Die Heirath sollte den Anfall Spaniens an das Haus Orleans vorbereiten. Aber obschon der Herzog seinem Ziele mehr als einmal nahe schien, erreicht hat er es heute noch nicht.
Wie bei der Brautwahl für die Söhne, so läßt sich auch bei der Verheirathung der Töchter die Familienpolitik Ludwig Philipp’s erkennen. Luise wurde die Gattin des ersten Königs der Belgier, Leopold von Koburg, dessen Enkelin Stephanie seit 1881 dem Kronprinzen von Oesterreich vermählt ist; Marie heirathete einen Herzog von Württemberg, Clementine einen Herzog von Koburg. Der Sohn der letzteren ist der jetzt vielbesprochene Fürst von Bulgarien.
Dies ist die Familie, dies sind ihre Verbindungen. Das Stammgut, die Schätze der Herzoge von Penthièvre, wurden um so und so viele fürstliche Vermögen vermehrt. Man kann ohne Uebertreibung sagen, daß diesem Hause zur Erfüllung ehrgeiziger Wünsche unermeßliche Hilfsmittel zu Gebote stehen. Zu welchen Wünschen halten sie sich nun kraft ihrer Ueberlieferungen für berechtigt?
Ueber die Familie Orleans sind namentlich in Frankreich sehr viele Bücher geschrieben worden. Es läßt sich aber davon sagen: so viel Bücher, so viel Meinungen.
Während Tournois sogar einen Philipp Egalité als „großmüthigen und edeldenkenden Märtyrer der Freiheit“ feiert, stellt Montjoie denselben Mann, die „interessanteste Persönlichkeit der Familie“, als entmenschten Caliban der Revolution an den Pranger; während Laurentie’s Geschichte des Hauses wie eine furchtbare Anklageakte gegen den Orleanismus sich liest, Dumas Vater über den pfahlbürgerlichen, geizigen Ludwig Philipp mit dem Birnenkopf sich weidlich lustig macht, und vollends in Cretineau’s Geschichte des Julikönigthums die Vorfahren des Bürgerkönigs sammt und sonders als feige Giftmischer und ehrsüchtige Hochverräther erscheinen, kurzum, so ziemlich alle Napoleonisten, Republikaner und Legitimisten unter den Historikern in wildester Leidenschaftlichkeit gegen „die Pest der französischen Nation“ sich überbieten, schreiben getreue Diener des Hauses wie Montalivet im Lobe der ganzen Sippe wie der einzelnen Glieder ihre Feder stumpf. Mit der Lebhaftigkeit der Franzosen und ihrem blind ergebenen Eifer für die Partei scheint der ruhige, streng sachliche Vortrag des Geschichtsforschers unverträglich zu sein. Suchen wir den ebenso Vergötterten, wie Verlästerten gerecht zu werden!
Seit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts pflegten die Könige von Frankreich ihren Söhnen den Titel eines Herzogs von Orleans beizulegen – ein Brauch, der mit Erinnerungen aus der Merovingerzeit in Zusammenhang gebracht wird. Wiederholt erregten Herzoge von Orleans, von ehrgeizigen Absichten geleitet, Thronstreitigkeiten und Bürgerkrieg. „Die Herzoge von Orleans,“ erklärt Cretineau, „mochten sie den Häusern Valois, Angoulème oder Bourbon angehören, waren zu allen Zeiten verdächtige Unterthanen, durch den Orleanismus ist die Revolution gezeugt, durch den Orleanismus ist sie bis heute am Leben erhalten worden.“
Der Stammvater der noch gegenwärtig so weitverzweigten Familie ist Philipp von Orleans, der zweite Sohn Ludwig’s XIII., der Bruder Ludwig’s XIV. Es wird behauptet, derselbe habe auf Mazarin’s Anordnung eine ähnliche Erziehung wie Achilles am Hof von Skyros erhalten, damit der Prinz, unwissend und verweichlicht, dem königlichen Bruder nicht gefährlich werde, und auch der König selbst soll die Talente des Jüngeren mit Absicht und Methode niedergehalten haben – „le secret du Roy“ nennt es der Abbé Choisy. „Frankreich hat schon zu viel durch den Ehrgeiz nachgeborener Prinzen gelitten; sie sollen gehorchen lernen; diese Kenntniß allein ist ihnen notwendig.“ Wenn solche Hoffnungen wirklich gehegt wurden – der erwachsene Philipp entsprach ihnen. Nicht Kriegsdienst, nicht Staatskunst zogen ihn an; und er fühlte sich eine Stütze der „Gesellschaft“; die Triumphe im Empfangssaal und Damenzimmer waren sein Ehrgeiz. Auf Befehl des Königs bestieg er auch einmal das Schlachtroß; man ließ ihn ein paar Städte einnehmen und eine Schlacht gewinnen; dann mußte er alsbald wieder an den Hof zurück und mit Anmuth und Würde nichtsthun.
Als er sich 1661 mit Henriette, der Tochter des unglücklichen Karl Stuart, vermählte, wurde ihm das Palais Royal, das einst Kardinal Richelieu für sich erbaut und in seinem Testament der Krone Frankreichs vermacht hatte, als Wohnsitz angewiesen. Schon wenige Jahre später wurde dort die Leiche der jungen Herzogin aufgebahrt. Daß sich trotzdem „Monsieur“ – diesen Titel führte offiziell der Bruder des Königs – in seinen „kleinen Vergnügungen“ nicht stören ließ, mag den Argwohn hervorgerufen haben, Henriette von Orleans sei nicht eines natürlichen Todes gestorben. Eine förmliche Untersuchung wurde eingeleitet, ergab jedoch keinen Beweis einer Schuld des Gatten. Schon wenige Monate später führte der König seinem Bruder eine zweite Gattin, eine deutsche Prinzessin, die bekannte Pfälzerin Liselotte, zu. Ein Lobredner des Hauses Orleans, Tournois, will alle geistigen Vorzüge der Fürsten dieser Familie auf jene deutsche Stammesmutter zurückführen; von ihr, die inmitten des hohlen Hoflebens in Versailles ihrer biderben Denk- und Redeweise treu blieb, stamme „die Art, freimüthig und selbständig zu denken, zu reden und zu handeln, welche den Prinzen von Orleans von jeher eigen war“.
Heute würde wohl die Abstammung von jener Frau nicht so geflissentlich hervorgehoben werden – war sie doch vor allem eine echte Deutsche! Jedenfalls gebührt ihr das Verdienst, zum Reichthum der Orleans den Grund gelegt zu haben; durch Sparsamkeit und Ordnung wurde es ihr möglich, den Familienbesitz durch stattliche Güter zu vermehren. Der Gatte hatte aber für die trefflichen Eigenschaften Liselottens kein Verständniß; er sah nur ihre Häßlichkeit; als sie, väterlicher Mahnung gehorsam, darnach trachtete, ein herzlicheres Verhältniß anzubahnen, gab er zu verstehen, sie möge ihn „um Gottes willen weniger lieb haben, weil ihm das gar zu ungelegen wäre“. Er verbrachte seine Tage in Ueppigkeit und Schwelgerei; doch wurde er, wie erwähnt, ebenso durch des Bruders allmächtigen Willen wie durch eigene Neigung in glänzendem Müßiggang festgehalten; denn weder ein Kommando, noch eine Anstellung an Staatsdienst wurde ihm übertragen. Als sich einmal der Bischof von Valence beim König dafür verwendete, dem Herzog, der sich doch in jungen Jahren bei Zütphen und Saint Omer ausgezeichnet habe, möge doch eine Armee anvertraut werden, schritt Ludwig zum Erstaunen und Entsetzen der Höflinge an die Thür, schlug allen Gesetzen der Etikette zuwider selbst die Flügel aus einander und deutete durch eine nicht mißzuverstehende Handbewegung dem Prälaten an, daß lästige Bittsteller besser draußen blieben.
Philipp starb in St. Cloud am 9. Juni 1701. „Im Grund des Herzens war er gut,“ urtheilt über ihn die Frau, die er auf so demüthigende Weise vernachlässigt hatte, „und wenn er weniger auf schlechte Gesellen gehört hätte, wäre er der beste Mensch von der Welt gewesen!“
[088] Auf Philipp’s gleichnamigen Sohn, der bei dem Tode des Familienhauptes 27 Jahre zählte, hatten sich die glänzenden wie die schlimmen Eigenschaften des Vaters vererbt. Trotz heftigen Widerstrebens der Mutter, die, wie St. Simon sagt, „als Fürstin von altem Schlage in Sachen des Anstandes unerbittlich war“, mußte er eine natürliche Tochter seines königlichen Oheims, Mademoiselle von Blois, heirathen. Schon zu Lebzeiten des Vaters hatte er im pfälzischen Erbfolgekrieg Proben von Muth und militärischem Geschick gegeben, gleich seinem Vater aber in Versailles nur frostigen Dank geerntet. Es läßt sich ohne Mühe nachweisen, daß dem Herzog auch während des spanischen Erbfolgekrieges nur die schwierigsten und undankbarsten Aufgaben übertragen wurden. Es ist wahr, er verlor die Schlacht von Turin, aber hauptsächlich in Folge der Lahmheit des ihm an die Seite gestellten Marschalls Marsin, der jeden kühnen Entschluß des Herzogs als abenteuerlich verurtheilte und im entscheidenden Augenblick eine geheime Ordre des Königs vorzeigen konnte, die dem Marschall allein Verfügung über die Truppen gestattete. Der Herzog sollte nicht als Sieger heimkehren: so war es der „Wille“, so war es „System des Königs“.
Nicht besser erging es dem Herzog auf dem Kriegsschauplatz in Spanien; auch hier wurde er gerade in dem Augenblicke abberufen, da die Aragonesen, Engländer und Portugiesen zurückgedrängt worden waren und Spanien als befreit angesehen werden [090] konnte. Die Abberufung war erfolgt auf Verlangen Philipp’s V., der durch geheime Umtriebe des Vetters seinen spanischen Thron bedroht glaubte. Dieser Argwohn war auch, wie wir heute bestimmt wissen, nicht unbegründet. Philipp von Orleans war eben nicht der brave Soldat, der nur in Erfüllung seiner militärischen Pflichten sein Ziel und seinen Lohn erblickt; darauf sich stützend, daß sein Vater ehedem gegen das Testament Karl’s II. von Spanien und die Erhebung Philipp’s von Anjou auf den spanischen Thron protestirt hatte, trat er sogar mit den Engländern in geheime Verbindung und war bereit, den Neffen Philipp nicht etwa, wie er glauben machen wollte, dem Vortheil Frankreichs, sondern seinem Ehrgeiz zu opfern. Natürlich mochte ihn der ohnehin so mißtrauische König nach solchen Erfahrungen noch um so weniger mit wichtigen Aufgaben betrauen. So wurde denn das Palais Royal wieder der Schauplatz der wildesten Orgien. Philipp begünstigte zwar die Künste, aber nur, in so weit sie Sinnengenuß gewährten und Prachtliebe befriedigten, er liebte Philosophie, aber nur diejenige, die alles lernt, um das Nichts zu lehren; er pflog intimen Verkehr mit Männern der Wissenschaft, aber nur um ihre Kenntnisse zu phantastischen Experimenten zu mißbrauchen. Er wechselte seine Gunstdamen wie die Kleider und verpraßte die Nächte mit Genossen, die er verachtete; St. Simon erzählt, der Herzog selbst habe die Gäste des Palais Royal mit dem Wort Roué, das heißt Geräderter, Galgenstrick, charakterisirt. Er betrieb die Korruption wie eine Kunst und schwang sich darin, unterstützt durch elegante Erscheinung und verführerische Redegabe, zum Meister auf.
Aus solchem Betragen läßt sich erklären, daß bei Hofe und in Volkskreisen der Verdacht erwachen konnte, der Herzog sei nicht bloß ein leichtsinniger Wüstling, sondern ein verbrecherischer Streber, der durch seine Schwarzkünstler nicht auf den Stein der Weisen fahnden, sondern rasch und spurlos wirkende „Successionspulver“ fabriciren lasse. Der Argwohn schien grauenhafte Bestätigung zu finden, als im Jahre 1712 binnen zehn Monaten drei Thronfolger, der Dauphin und die Herzöge von Burgund und Bretagne, also Großvater, Vater und Kind, nach einander von jähem Tode dahingerafft wurden, so daß von den legitimen Nachkommen des greisen Königs nur noch sein zweiter Enkel, Philipp V. von Spanien, und sein Urenkel, der zweijährige Ludwig, am Leben waren. So allgemein wurde dem Herzog die Schuld an dem düsteren Verhängniß beigemessen, daß er nicht mehr seinen Palast verlassen durfte, da er Gefahr lief, vom wüthenden Volke gesteinigt zu werden. Alle verdammten ihn, nur Einer nicht: König Ludwig war nicht zu überreden, daß der Herzog so ruchlosen Frevels fähig sei, und die Thatsache, daß der sonst so Argwöhnische an die Schuldlosigkeit Philipp’s glaubte, hat diesen nicht bloß vor dem Gefängniß bewahrt, sondern erwirkte für ihn auch vor dem Richterstuhl der Geschichte ein freisprechendes Urtheil.
Da aber Philipp fortfuhr, mit cynischen Principien und sittenlosem Wandel zu prunken, während Ludwig in seinen letzten Lebensjahren immer tiefer in Frömmelei versank, bestand die Entfremdung zwischen den Beiden fort. Die Mißgunst Ludwig’s XIV. trat noch in seinem Testament zu Tage, indem er gegen alle Tradition Philipp nur eine untergeordnete Stellung im Regentschaftsrath für die Dauer der Minderjährigkeit des Thronfolgers eingeräumt wissen wollte.
In Frankreich sind aber allezeit die Menschen mächtiger gewesen als die Gesetze. Nach dem Tode Ludwig’s XIV. (2. September 1715) ließ Philipp durch das Parlament von Paris das Testament für null und nichtig erklären und trat als „Regent“ die Herrschaft an.
Sein Regierungsprogramm läßt sich in einen Satz zusammenfassen: er strebte das Gegentheil von allem an, was sein Vorgänger hochgehalten hatte.
Für die auswärtige Politik war maßgebend, daß er die Unterstützung der vom englischen Thron gestoßenen Stuarts aufgab. Wie schon der „prince-philosophe“ noch zu Lebzeiten Ludwig’s XIV. zum Aergerniß von ganz Versailles Sympathie mit der „glorreichen“ Revolution von 1688 und Bewunderung der britischen Verfassung kundgegeben hatte, so strebte der Regent für Frankreich engstes Bündniß mit England an. Während er aber in jungen Jahren für Krieg und kriegerischen Ruhm geschwärmt hatte, erblickte er nunmehr, genöthigt durch die trostlose Finanzlage des Reichs, seine wichtigste Aufgabe in wirthschaftlichen Reformen. Daß ihm der gute Wille nicht fehlte, braucht nicht bezweifelt zu werden; daß er aber verkehrte Mittel wählte, indem er allzu einseitig den Industrialismus, ja das schädlichste Börsenspiel begünstigte, daß er nur das Volk verdarb und den Staat an den Rand des Abgrundes zerrte, beweist ein einziger Name. Es genügt, den Günstling des Regenten zu nennen, den allmächtigen Chef der Staatsbank und Erfinder aller möglichen wirthschaftlichen Arkana, den eben so leichtfertigen wie genialen John Law. Doch hat die Geschichte der Regentschaft nicht ausschließlich dunkle Blätter aufzuweisen. Manche harte, ungerechte Verordnung des absolutistischen Systems Ludwig’s XIV. wurde gemildert; das Ansehen der Parlamente hob sich, die Gerichtshöfe wurden wieder unabhängig; vor allem hörte die von Frau von Maintenon befohlene Verfolgung der Gewissen auf. St. Simon spricht deshalb mit Bewunderung von den Talenten und Kenntnissen des Regenten und entschuldigt dessen Lebenswandel mit der Lafterhaftigkeit des Jahrhunderts. Voltaire rühmt, daß von allen Nachkommen Heinrichs IV. Philipp von Orleans dem Ahnherrn am ähnlichsten gewesen sei; durch Tapferkeit, Frohsinn, Freimuth, geistvolle Rede, auch durch seine Gesichtszüge, ja durch sein ganzes Wesen habe er an den Bearner erinnert. Ein Historiker freilich, der seine Moral nicht aus Bayle schöpft und bei der Sittenlosigkeit des 18. Jahrhunderts an die dadurch hervorgerufenen Gräuel der großen Revolution denkt, kann nicht so mildes Urtheil fällen, kann nur bedauern, daß die liebenswürdigen Vorzüge untergingen in schmachvollen Ausschweifungen. Philipp starb unwürdig, wie er gelebt hatte, am 2. December 1723.
Wie ein Wunder mag es erschienen sein, daß der Sohn des Regenten, Louis, inmitten der zügellosen Frivolität des Palais Royal Reinheit der Sitte und frommen Sinn bewahrte. Als ob er seine Tage der Sühne für die Lasterhaftigkeit seiner Familie geweiht hätte, lebte er nur dem Gebet und dem Studium; der Vater soll einmal vorwurfsvoll zu ihm gesagt haben: „Du wirst nie etwas Anderes sein, als ein anständiger Mensch!“
Natürlich diente der andächtige Verkehr eines Orleans mit dem Jenseits den beaux-esprits von Versailles und Paris als Zielscheibe des Witzes. Der „Betbruder“ zog sich also gänzlich vom Hofleben zurück und fand in der Abtei St. Geneviève ein stilles Asyl.
Gegen die Gelassenheit und Beschaulichkeit „Génovevains“ und seiner frommen Gemahlin, einer badischen Prinzessin, stach das unruhige Temperament ihres Sohnes, Ludwig Philipp’s, merkwürdig ab. Der war mit Leib und Seele Soldat und focht unter den Bravsten bei Dettingen und Fontenoy. Ob er auch Befähigung zum Strategen besaß, wurde nicht erprobt; denn aus dynastischen Rücksichten wurde auch ihm, der überdies ein Gegner der Pompadour war, ein wichtigeres Kommando nicht anvertraut. Trotzdem war der ritterliche Prinz ein Liebling des Volks, das ihn den „König von Paris“ nannte, ein Gegenstück zum „König von Versailles“, den Etikette und Furcht von der Hauptstadt fern hielten. Dagegen war die Herzogin, eine geborene Fürstin Conti, allgemein verachtet; sie pflog Verkehr mit den radikalsten Freigeistern und sah nicht nur in gesellschaftlichen Formen, sondern auch in Moral und Weiblichkeit „Anachronismen“; sie war die würdige Mutter des „Bürgers Egalité“.
Louis Philipp Joseph, Herzog von Orleans, geboren am 13. April 1747 zu St. Cloud, gehört zu jenen widerwärtigsten Gestalten der Geschichte, auf welche das Wort des Tacitus anzuwendete ist: „Ich will nichts Falsches von ihm sagen und schäme mich, die Wahrheit über ihn zu sagen.“
Schon als Knabe und Jüngling galt er für frech und gemein; er lebte nur seinen Lüsten und prahlte mit zügelloser Liederlichkeit. Durch Vermählung mit Louise Marie, der einzigen Tochter des Herzogs von Penthièvre, des letzten Nachkommen der illegitimen Sippe Ludwig’s XIV., gelangte er in Besitz des ungeheuren Vermögens, das Ludwig seinen natürlichen Kindern überlassen hatte; Tournois weist spöttisch darauf hin, daß jener König selbst durchaus gegen seinen Willen zum Reichthum der Familie des gehaßten und gefürchteten Bruders den Grund legte. Auch nach der Hochzeit blieb das Palais Royal ein Tummelplatz der Libertinage. Zweifellos ist vieles nicht wahr, was Pamphletisten aus den Volkskreisen und Memoirenschreiber vom Hofe zu Versailles über diesen Orleans der Nachwelt überliefert haben. Daß er um der Erbschaft willen den Prinzen von Lamballe vergiftet [091] und lästige Verwandte und gefährliche Widersacher mit Gift und Dolch aus dem Wege geräumt habe, ist eine unerwiesene Behauptung. Man würdigt ihn auch unverdienter Auszeichnung, wenn man ihn, „le genie même du mal“, den Vater der Revolution nennt, der allein den Sturm gegen Thron und Altar entfesselt und die Hunderttausende von umsturzsüchtigen Kommunisten und Schwärmern wie ein Feldherr geleitet habe. Dazu fehlte ihm der große Zug; er gehörte nie zu den eigentlichen Führern; denn es gebrach ihm ebenso an Muth wie an Ueberzeugungstreue. Allerdings haben die systematisch betriebene Verdächtigung der Königin, die Opposition der von ihm beeinflußten Journale, das Buhlen eines Prinzen von Geblüt um die Gunst der niedrigsten Volkskreise die allgemeine Aufregung und Verwirrung gesteigert, und es steht heute fest, daß einigen „großen“ Revolutionsmännern, u. A. dem nicht selten mit Brutus verglichenen Camille Desmoulins, schon vor den Tagen des Bastillensturmes ein regelmäßiger Sold im Palais Royal ausbezahlt wurde. Es war auch politische Berechnung im Spiele, wenn der Herzog die Anglomanie in Mode zu bringen suchte, sein Haar ungepudert trug, in Pantalons und langem Rock promenirte, seinen Wagen selbst kutschirte, nach englischer Sitte Kaufläden in seinen Palast aufnahm, kurz, alles nachmachte, was er während eines kurzen Aufenthalts in England gesehen hatte; es war damit beabsichtigt, dem Volk den Gegensatz zwischen dem alten Frankreich und dem „jungen“ Europa vor Augen zu bringen und sich selbst als vorurtheilslosen Freund der Gleichheit aller Stände, als Mann der Zukunft zu empfehlen.
Als Marie Antoinette im Januar 1788 durchgesetzt hatte, daß Herzog Philipp als notorischer Urheber der gegen die Königin in Umlauf gesetzten Lästerschriften auf sein Gut Villerscaterets verbannt wurde, legte das Parlament von Paris gegen diese Bestrafung Protest ein. Allerdings handelte es sich zunächst um die Principienfrage, aber auch die „Bürgerfreundlichkeit“ des Betroffenen war in Betracht gezogen worden. Ludwig XVI. mußte nachgeben und die Verbannung aufheben – es war ein Vorspiel zu den verhängnißvollen Auftritten des nächsten Jahres.
Welche Rolle spielte Orleans in den Revolutionstagen? Wenn wir Tournois Glauben schenken dürften, hätten wir uns zwei Lager zu denken: hier den König, beherrscht von der intriguanten „Oesterreicherin“, zu gefährlichsten Mißgriffen verführt durch seine aus Deutschen, Schweden und englischen Jakobiten zusammengesetzte Umgebung, – dort das Volk, das seinen König aus unwürdigen Banden befreien will, das instinktmäßig um einen Mann sich schart, der mit der abgelebten Vergangenheit gebrochen hat, als Sohn der Gegenwart sich fühlt und erhobenen Hauptes in die Zukunft blickt, das heißt, um den Herzog von Orleans. Wie wäre aber mit dieser Charakteristik die Thatsache zu vereinen, daß den Zug des entmenschten Pöbels nach Versailles kein Anderer in Scene gesetzt hat, als der „Kousin“ des Königs, der mithin an den Gräueln des 5. und 6. Oktober 1789 die Hauptschuld trägt!
Necker äußert in seinen Denkwürdigkeiten, der Herzog habe nur beabsichtigt, den König zu ängstigen und zur Flucht zu bewegen, um sich dann von seinen Getreuen zum Generalstatthalter ernennen zu lassen. Allein schon Oncken hat auf eine Angabe des Polizeiministers Real hingewiesen, wonach der Herzog am Abend des 6. Oktobers zu seinem Bankier sagte:
„Zahlen Sie heute nichts! Das Geld ist nicht verdient, der Tropf lebt noch!“
Ist dies die Sprache eines „nur von der unwiderstehlichen Macht der Umstände gefangenen Unglücklichen“? In den herzoglichen Gemächern des Palais Royal saßen die „Freunde der Freiheit“ über die „Feinde des Volkes“ zu Gericht, und die im Palais Royal eingerichteten Kaffeehäuser Foy, Valois, Corazza etc. waren die Mittelpunkte der revolutionären Bewegung. Freilich hielt der Herzog anfänglich noch für angemessen, sich von seinen Standesgenossen nicht gänzlich zurückzuziehen, aber das „Es lebe der Herzog von Orleans, es lebe der Vater des Volkes!“ im Munde der Sansculottes und Megären, die auf ihren Piken Köpfe von erschlagenen Gardisten im Triumph herumtrugen, gab Aufklärung, wessen sich der König und die Seinen von diesem „Nachkommen des heiligen Ludwig“ zu versehen hätten.
„Herr d’Orleans,“ schrieb Lafayette an den Bailli Ploën, „hat niedrig spekulirt auf die Krone, wobei sein Leben das einzige war, was er nicht aufs Spiel setzte, und sein Geld das einzige, dessen Verlust ihn schmerzte!“
Welche Stirn muß der Mann gehabt haben, der, obwohl seit Juni 1791 Mitglied des Jakobinerklubs, doch noch beim Lever des Königs sich einfand, angeblich um sich ein Kommando zu erbitten, damit er sich der lästigen Zudringlichkeit der Pariser entziehen könnte! Freilich fand er bei den Getreuen des Königs nur eine Aufnahme, wie er sie verdiente. Die Kavaliere drängten ihn, wie der Minister Motteville erzählt, ziemlich unsanft zur Thür, und als er ins Gemach der Königin trat, wo die Tafel gedeckt war, wurden rasch die Schüsseln entfernt, aus Furcht, der ungebetene Gast möchte im Vorbeigehen ein Pülverchen in die Speisen mischen. War dies aber unverdiente Unbill für einen Prinzen, der im Jakobinerklub zur Schmach seiner Mutter versicherte, er sei gar kein Orleans, sondern der Sohn eines Kutschers Lacroix; der den Namen Egalité annahm und eine Erklärung veröffentlichte, er werde stets der Pflichten eingedenk sein, die ihm der stolze Name auferlege? Im Sinn und nach dem Herzen von Gracchus Babeuf und Genossen erfüllte er auch dieses Versprechen, indem er in der berüchtigten Konventsitzung am 17. Januar 1793 auf die Frage, ob „Louis Capet“ des Todes schuldig, mit einem lauten „Oui!“ antwortete. Sogar bei den Mitgliedern des Bergs und bei den Tricoteuses auf der Tribüne wurde ein Murren der Entrüstung laut, und als Egalité noch einmal die Worte sprach. „Ich stimme für den Tod!“ riefen zahlreiche Stimmen: „Oh, horreur, oh ce monstre!“
Doch nachdem einmal das Haupt des unglücklichsten Königs der Guillotine zum Opfer gefallen war, wurde die Revolution immer unersättlicher, bis sie zuletzt die eigenen Kinder verschlang. Es ging in Erfüllung, was der Girondist Manuel nach jener Abstimmung Philipp’s prophezeit hatte. „Heute ist er Richter, morgen wird er Henker sein, übermorgen Opfer!“
Schon wenige Tage nach dem Königsmord dennucirte Buzot im Konvent „eine Partei, die er nicht nennen wolle, die für den Tod des Königs nur deshalb stimmte, um einen andern König zu erheben.“ Damals wurde die Warnung nicht beachtet; Egalité war ja der Zechkumpan Danton’s, des „Bonvivants in der grausen Tragödie“, der Busenfreund Desmoulin’s, des „Generalanwalts der Laterne“.
Allein nach dem Abfalle des Generals Dumouriez von der Sache der Republik schlug die Stimmung gegen Philipp jählings um. Der Sohn, Louis Philipp, Herzog von Chartres, war im Lager Dumouriez’ – Grund genug, um den Vater zu verdächtigen, daß auch er im Grunde des Herzens die Republik nicht liebe oder wohl gar zu stürzen wünsche. Robespierre, der nie zu den Freunden des Herzogs gehört hatte, in den Tagen der „Orgien des Blutdurstes“ der eigentliche Gebieter Frankreichs, ließ den abtrünnigen Bourbon verhaften und vor das Tribunal stellen. Trotz der Erklärung, er halte zwar den Sohn für unschuldig, wolle aber, wenn ihm dessen Schuld nachgewiesen werde, wie ein zweiter Brutus handeln, wurde Philipp zum Tode verurtheilt. Am 6. November 1793 starb er durch Henkershand auf dem nämlichen Eintrachtsplatz, wo König Ludwig das Schaffot bestiegen hatte. In den letzten Augenblicken legte Philipp eine Würde an den Tag, die er im Leben nur allzu häufig hatte vermissen lassen. Beaulieu, der ihn vom Fenster seiner Zelle durch den Gefängnißhof schreiten und den verhängnißvollen Karren besteigen sah, versichert: „Man hätte ihn eher für einen General halten können, der seine Truppen zur Heerschau führt, als für einen Verurtheilten, der sich zum letzten Gang anschickt.“
Als der Zug mit dem Armensünderwagen in die Nähe des Palais Royal kam, fing eine Rotte bewaffneter Arbeiter mit den Soldaten der Eskorte Händel an, wurde aber rasch zurückgedrängt.
Der Vorfall veranlaßte ein Gerücht, orleanistische Parteigänger hätten die Absicht gehegt, den Gefangenen zu befreien, Robespierre zu ermorden und den Herzog zum Diktator zu erheben, und der Anschlag sei nur durch zufällige Abwesenheit Robespierre’s vereitelt worden. Ob ein derartiges Komplott wirklich bestand, ist nicht festzustellen. In den Memoiren des damaligen Präsidenten des Konvents, Barère, findet sich die Behauptung, der ganze Proceß gegen Philipp Egalité sei von den Emigranten angestiftet worden und Robespierre sei nur das Werkzeug der in Koblenz geplanten Intrigue gewesen; auch die Wahrheit dieser Angabe ist nicht erhärtet.
[092] Der Titel eines Herzogs von Orleans, den ganz Europa nur mit Abscheu aussprach, war das einzige Erbe, das auf Philipp’s Sohn, Louis Philipp, geboren 6. Oktober 1773, überging.
Der Prinz hatte eine sorgfältige Erziehung genossen, insofern er fünf lebende Sprachen und eine Menge Kenntnisse erlernt hatte; im Uebrigen war die Methode der Erzieherin, der bekannten Schriftstellerin Frau von Genlis, die im Palais Royal eine zweideutige Stellung einnahm, so radikal wie möglich gewesen. Demgemäß schwärmte schon der Knabe für die Principien der Revolution; der Siebzehnjährige trat trotz der Abmahnung seiner Mutter in den Jakobinerklub ein und verrichtete hier gleich anderen Novizen den Dienst eines Thürhüters und Ausrufers. Als jedoch Buzot im Konvent jenen Angriff auf die Familie Orleans richtete, erblickte Ludwig Philipp darin eine Mahnung, sich aus der „großen Falle Paris“ zu retten, und begab sich ins Lager Dumouriez’. Der Kommandant der Nordarmee hielt große Stücke auf den Prinzen und dachte ihm bei seinen Restaurationsplänen eine hervorragende Stellung zu, wenn auch nicht die Krone. In der Schlacht bei Neerwinden am 18. März 1793 befehligte „General Egalité“ das Centrum. Als der geschlagene Dumouriez mit den Oesterreichern in Unterhandlung trat, ging auch Ludwig Philipp zu den Feinden über, erlangte aber nur einen Paß, um in der Schweiz eine Zuflucht zu suchen. Von allen Mitteln entblößt, nahm er unter dem Namen Chabaud-Latour eine Stelle am Kollegium zu Reichenau an; in deutscher Sprache lehrte er Geschichte, Geographie und Mathematik, auch Französisch und Englisch. Da er sich aber auch in jenen Klostermauern vor Verfolgung der Aristokraten nicht mehr für sicher hielt, verließ er im Juni Reichenau, nicht ohne sich ein Zeugniß seiner guten Führung als Lehrer ausstellen zu lassen. Nun irrte er, ohne einen Sou in der Tasche zu haben, monatelang in der Schweiz umher, bis General Montesquiou dem Flüchtling die Mittel bot, nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika auszuwandern, wohin ihn der amerikanische Gesandte in Paris, Morris, eingeladen hatte.
Nachdem er noch vorher die skandinavischen Staaten bereist hatte, schiffte er sich mit seinen zwei jüngeren Brüdern nach Amerika ein. Er besuchte die großen Handelsmetropolen des Westens und dehnte seine Wanderung bis in die von Indianerstämmen bewohnten Prairien aus. Nach mannigfaltigen Abenteuern kehrte er 1800 nach London zurück. Da das Direktorium die 1797 verordnete Zurückgabe des konfiscirten dynastischen Hausguts wieder rückgängig gemacht hatte, sah sich der Herzog abermals genöthigt, fremde Hilfe anzurufen; er wandte sich an die – Bourbons. Durch Vermittelung des Grafen Artois (nachmals Karl X.!) fand der Gesuchsteller trotz aller störenden Erinnerungen gnädige Aufnahme bei dem Roi en exil, Ludwig XVIII. Die Fürsprache der Bourbons verschaffte dem Herzog den Bezug einer beträchtlichen Jahresrente aus den Fonds der englischen Regierung. Nach dem Tode seiner beiden Brüder Montpensier und Beaujolais begab er sich nach Palermo, wo damals der durch Murat aus Neapel verdrängte königliche Hof residirte. Der gemeinsame Haß gegen Napoleon überbrückte auch hier die Kluft zwischen ihm und dem Bourbon Ferdinand, und nachdem die Geschmeidigkeit des Herzogs auch über die Abneigung der Königin, einer Schwester Marie Antoinettens, gesiegt hatte, erhielt er die Hand der Tochter des königlichen Paares, der herzensguten Marie Amalie; am 25. November 1809 wurde in Palermo die Hochzeit gefeiert.
In den Briefen Ludwig Philipp’s aus jener Zeit giebt sich leidenschaftliche Erbitterung über Napoleon kund, während mit Enthusiasmus von den Pflichten gegen die königliche Familie gesprochen wird.
„Niemals würde ich eine Krone annehmen,“ schrieb er 1808 an seine künftige Schwiegermutter, „so lange ich nicht nach unserm Erbfolgegesetz dazu berechtigt bin. Für Schmach und Schande würde ich es ansehen, wollte ich der Nachfolger Bonaparte’s werden und eine Stellung einnehmen, die nur durch nichtswürdigen Meineid zu erringen, durch Schurkerei zu behaupten wäre. Mich beseelt anderer Ehrgeiz; ich will am Sturz der Herrschaft Bonaparte’s Antheil haben, will auch ein Werkzeug der Vorsehung sein, um die Menschheit von einem Tyrannen zu befreien und auf den Thron meiner Väter wieder meinen königlichen Gebieter und ebenso auf alle gestürzten Throne die rechtmäßigen Herrscher zurückzuführen. Ich will der Welt zeigen, daß ein Mann wie ich jede Usurpation verachtet und verabscheut und daß nur Emporkömmlinge ohne Familie und ohne Ehre sich etwas aneignen, was ihnen eine günstige Gelegenheit in die Hände spielt.“
Mit solcher Pietät gegen das alte Königthum stand freilich des Herzogs Vorliebe für England und englisches Wesen in einem gewissen Widerspruch.
„Ich habe mein Vaterland so früh verlassen,“ schreibt er einmal an den Bischof von Landaff, „daß ich kaum etwas von französischer Art an mir habe, vielmehr in Wahrheit England angehöre, nicht bloß aus Gründen der Dankbarkeit, sondern auch der Neigung und des Geschmacks.“
Im Gefolge der Bourbons kehrte der Sohn des Bürgers Egalité im Mai 1814 nach Paris zurück. Kurz vorher hatte er nochmals Ludwig XVIII. seiner unbedingten Ergebenheit versichert und überschwänglicher Freude Ausdruck gegeben, daß endlich das Ungeheuer (ce monstre) gestürzt werde; es sei an der Zeit, ein Ende zu machen mit der Revolution und ihrer niedrigsten Ausgeburt, Bonaparte, den er zwar hasse, aber noch gründlicher verachte. Wie grell sticht gegen solche Worte die Proklamation Ludwig Philipp’s von 1840 ab, wo von Napoleon, dessen „Reliquien“ soeben nach Paris gebracht wurden, gesagt ist: „Er war König und Kaiser zugleich, er war der wahre legitime Herrscher unseres Landes!“
Ludwig XVIII. gab dem Herzog alle Hausgüter zurück und verhalf ihm überdies zur Wiedererlangung des Vermögens seiner Mutter, der Erbtochter des Herzogs von Penthièvre. Der Herzog verfügte jetzt über Reichthümer, welche den Besitz sämmtlicher Prinzen der älteren Linie weit überragten. Fortan war es die Hauptsorge des ehemaligen Lehrers von Reichenau, seinen Besitz zu vermehren; er liebte das Geld an sich, seine Schätze sollten ihm aber auch politische Vortheile zuwenden; denn wenn er auch öffentlich dem regierenden Monarchen unterthänigste Ergebenheit bezeugte, ließ er sich doch schon unmittelbar nach seiner Rückkehr angelegen sein, eine oppositionelle Partei um sich zu sammeln, indem er bald seine Eigenschaft als Mitglied der bourbonischen Familie, bald seine jakobinische Vergangenheit hervorkehrte. In diesem Bestreben wurde er durch die Abneigung der älteren Linie der Dynastie gegen jedes Zugeständniß in konstitutionellem Sinne unterstützt. Schon im Januar 1815 wurde ein Komplott aufgedeckt, dessen Theilnehmer, hauptsächlich dem Officiersstand angehörig, Ludwig XVIII. eine neue Konstitution aufnöthigen oder den verfassungsfreundlichen Herzog von Orleans auf den Thron erheben wollten. Natürlich wurde der König mißtrauisch gegen den Vetter; allein es ließ sich nicht beweisen, daß dieser selbst die Verschwörer begünstigt hätte. Während der hundert Tage floh auch Orleans mit der königlichen Familie nach England, aber Napoleon’s Niederlage führte „der in Orleans verkörperten Idee“ neue Anhänger zu. Vier Tage nach der Schlacht bei Waterloo schrieb Marschall Soult an Napoleon: „Der Name Orleans ist im Munde fast sämmtlicher Generäle!“
Zwischen den Anhängern des Napoleonischen Cäsarenthums und der absolutistischen Monarchie erwuchs der „tiers parti“, eine Mittelpartei, die ein auf politische Freiheit sich stützendes Königthum aufrichten wollte. Im Palais Royal pflegten sich die Benjamin Constant, Lafitte, Sebastiani, Stanislas, Girardin und andere Vertreter der liberalen Opposition zu versammeln. Von Wichtigkeit war es, daß Thiers und Mignet, die Hauptmitarbeiter des „Constitutionnel“, des angesehensten liberalen Organs, die zu den beliebtesten und berühmtesten Wortführern des Liberalismus zählten, die Vertretung der orleanistischen Wünsche und Interessen übernahmen. Wiederholt bildeten sich Verschwörungen zu Gunsten des Herzogs, doch dieser leugnete jede Betheiligung ab.
„Der Herzog bewegte sich nicht, und doch sah der König, daß er gehe; diese Art unbeweglicher Thätigkeit beunruhigte ihn; aber wie sollte er Jemand am Gehen hindern können, der keinen Schritt zu thun schien?“
Weder Ludwig XVIII. noch sein Nachfolger Karl X. konnten ihrem Wunsche gemäß den Vetter exiliren; denn dieser gab sich keine Blöße und erfreute sich solcher Beliebtheit, daß es gefährlich war, ihn anzutasten.
[115] Als Karl X. am 25. Juli 1830 jene verhängnißvollen, von dem Minister Polignac aufgesetzten „Ordonnanzen“ unterzeichnete, welche die eben vollzogenen Wahlen für ungültig erklärten, ein neues Wahlrecht oktroyirten und die Presse unter strengste Bevormundung stellten, traten sofort Thiers und andere Vertreter der Presse mit Ludwig Philipp in Verbindung, ohne daß der Vorsichtige aus seiner passiven Rolle herausgetreten wäre. Rasch theilte sich jedoch die Aufregung weiteren Kreisen mit und bald handelte es sich nicht mehr um einen Protest gegen mißliebige Maßregeln, sondern um eine allgemeine Schilderhebung gegen das bourbonische Königthum. Der von Thiers im „National“ verfochtene Satz: „Der König herrscht, aber regiert nicht!“ wurde die Losung des Tages. In einer nach Beginn des Kampfes zwischen den Volksmassen und den Truppen, und zwar ebenfalls von Thiers verfaßten Proklamation war hervorgehoben, daß Karl X., an dessen Händen Bürgerblut klebe, nicht mehr Oberhaupt Frankreichs bleiben und nur der Herzog von Orleans als Freund der Freiheit die Ordnung wiederherstellen könne. Ludwig Philipp selbst aber gab kein Lebenszeichen. Er hielt sich in einem Pavillon „la laiterie“ im Park seines Landhauses zu Neuilly versteckt; er wollte sich erst finden lassen, wenn der in den Straßen von Paris hin- und herwogende Kampf entschieden, zu seinen Gunsten entschieden sein würde.
Erst als am dritten Tage der Bankier Lafitte die Nachricht überbracht hatte, daß das Volk Sieger geblieben sei, und als eine Kammerdeputation ihn dringend aufforderte, nach Paris zu kommen, um das Vaterland vor der Sturmfluth der Anarchie zu retten, erklärte er sich bereit, dem Ruf der Vorsehung und der Mitbürger Folge zu leisten. Nächtlicher Weile begab er sich nach Paris und betrat, nachdem er den Anruf der Schildwache mit dem Losungswort: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! beantwortet hatte, das Palais Royal. Noch fuhr er fort zu versichern, er hege keinen anderen ehrgeizigen Wunsch, als den, zu den besten Bürgern gezählt zu werden, und er wolle einfacher Bürger sein und bleiben. Dabei war nicht zu unterscheiden, wo die Wahrheit aufhörte und die Täuschung anfing. Am Morgen des 31. Juli ließ Ludwig Philipp den Herzog von Mortemart, der dem nach St. Cloud geflüchteten König Karl die Ablehnung der Vermittelungsvorschläge durch die Kammer melden sollte, zu sich bitten.
Mortemart erzählte später, Orleans habe auf ihn den Eindruck eines Fieberkranken gemacht. „Macbeth Bourgeois“ verrieth die innere Aufregung durch die Todtenblässe seines Gesichtes. Schweiß stand ihm auf der Stirn, sein Blick war unstät, die Stimme gebrochen. „Schildern Sie Sr. Majestät, wie schmerzlich berührt ich bin ob der neuesten Vorgänge; nur gezwungen bin ich nach Paris gekommen, denn man hätte mir sonst Frau und Kinder gefangen genommen. Ueberbringen Sie aber meine Erklärung: ich will lieber den Tod erleiden als die Krone annehmen!“
Noch am nämlichen Tage erließ Orleans einen Aufruf, worin er sich bereit erklärte, den Posten eines Generalstatthalters anzunehmen, und mit einem echt französischen Schlagwort schloß. „Die Charte wird künftig eine Wahrheit sein!“ Da aber noch immer in den Straßen nur Hochrufe auf die Freiheit und auf Lafayette ertönten, wurde im Hôtel de Ville eine theatralische Scene aufgeführt, welche ihren Zweck, die Sympathie der Menge auf den künftigen König zu lenken, nicht verfehlte: Ludwig Philipp trat mit Lafayette ans Fenster, entfaltete die Trikolore und umarmte den General. Die auf dem weiten Platz versammelte Menge brach in Jubel aus – die neue Dynastie war von der Revolution anerkannt. Nun wurde rasch der Thron für den Roi-Citoyen aufgerichtet. Am 3. August rückte die Pariser Nationalgarde vor Rambouillet, um Karl X. zur Abreise zu zwingen; noch war der Bourbon nicht auf britischem Boden angelangt, als das Parlament am 7. August mit 219 gegen 33 Stimmen in der Person Ludwig Philipp’s einen Nachfolger ernannte. Als die Frage laut wurde, ob der neue König den Namen Philipp VII. annehmen solle, rief Dupin, dem Herzog von Orleans sei die Krone übertragen, „nicht weil, sondern obwohl er ein Bourbon sei.“ In Uebereinstimmung mit dieser Erklärung nannte sich der Erwählte „Ludwig Philipp I., König der Franzosen.“
Nun wurde die Charte in liberalem Sinne reformirt, so daß der Bürgerstand recht eigentlich der Träger der neuen Ordnung sein sollte. Der König selbst fuhr fort, wie ein einfacher Privatmann aufzutreten; in bürgerlichem Anzug, gewöhnlich mit dem Regenschirm in der Hand, machte er seine Promenaden; nach wie vor besuchten seine Söhne das Collège Henri IV. Diese wohlberechnete Schlichtheit war für die Pariser etwas Neues, also etwas Anziehendes; der Bürgerkönig war eine Zeit lang wirklich populär. Zwar begannen die Legitimisten und die Anhänger der Republik bald einen heftigen Kampf gegen die Autorität des Julikönigthums und der hohe Adel verbündete sich mit den Kommunards, um den tiers parti und dessen Oberhaupt zu schädigen. Allein Ludwig Philipp obsiegte ohne viel Blutvergießen sowohl über die Restaurationsversuche der Herzogin von Berry, die ihrem Sohne die Krone retten wollte, wie über die Putsche der Cavaignac’s und Raspail’s. Obwohl kein Fürst Europas so häufig von Mörderhand bedroht war wie Ludwig Philipp, mied er nie die Oeffentlichkeit und die Gefahr, und die ersten mißlungenen Attentate steigerten noch die Sympathie mit dem unerschrockenen Regenten, von dessen Wohlwollen manches geschickt verbreitete Abenteuer, von dessen Welterfahrung manches kluge Wort in Kronrath und Kammer Zeugniß gab.
Ungünstiger schien sich anfänglich das Verhältniß zum Ausland zu gestalten. An den Höfen wurde befürchtet, daß die französische Regierung die revolutionären Geister in ganz Europa entfesseln und eine Aera des Kriegs heraufbeschwören werde, wie Napoleon I. Die ersten Annäherungsversuche wurden ziemlich schroff zurückgewiesen; ja, Zar Nikolaus gab barsch und bündig zu verstehen, daß er einen Usurpator nicht anerkennen wolle.
Allein die Besorgniß der Fürsten erwies sich als unbegründet. Nicht bloß wurde der revolutionären Propaganda von der französischen Regierung kein Vorschub geleistet, sondern der „neue Cromwell“ suchte sogar mit einer gewissem demüthigen Unterwürfigkeit die Souveraine darüber zu beschwichtigen, daß er das europäische Staatswesen nicht stören werde. Zwar wurde mit England „entente cordiale“ angeknüpft und die Verbrüderung „der zwei großen, dem liberalen Fortschritt zugewandten Verfassungsreiche“ in Paris und London mit wohlklingenden Worten gefeiert; aber den in Polen, Italien, Deutschland entweder für ihre Nationalität oder für liberale Reformen kämpfenden Parteien blieb die erhoffte und erbetene Unterstützung Frankreichs versagt.
Man ist nicht berechtigt, zu bezweifeln, daß Ludwig Philipp aufrichtig bedacht war, die Wohlfahrt von Staat und Volk zu fördern; die eifrigste Sorge verwandte er aber auf Befestigung seiner Dynastie und Vermehrung des Hausguts. Dieser „wirthschaftliche, hausväterliche Sinn“ verleitete ihn nicht selten zu einer Handlungsweise, die mit patriotischen Pflichten nicht vereinbar war oder doch den von einem Roi-Citoyen gehegten Erwartungen nicht entsprach. Ungünstigen Eindruck machte es, daß er das ganze große Vermögen auf seine Kinder überschreiben ließ, während früher das Privatvermögen der Könige mit den Krondomänen vereinigt gewesen war. Die Geltendmachung des Condé’schen Testaments zu Gunsten des Herzogs von Aumale gab Anlaß zur Verleumdung, der Tod des Erblassers sei im Interesse des Erben gewaltsam herbeigeführt worden. Mit mehr Recht wurde getadelt, daß Ludwig Philipp auch nach der Uebersiedlung in die Tuilerien fortfuhr, an der Börse zu spekuliren, und allerlei politische Manöver zu Gunsten seiner Privatkasse ausführen ließ.
Immer lauter erscholl die Klage, daß Landmann, Bürger und Arbeiter unter härterem Druck zu leiden hätten, als in den Zeiten der absoluten Monarchie, während eine neue privilegirte Kaste alle Macht in Händen habe, die Bankiers und Großindustriellen, die „Herzenskinder“ des „Königs der Börse“; die neue Verfassung beruhe nicht auf demokratischer Grundlage, sondern stehe unter dem Bann einer Vermögensherrschaft, deren materielles Wesen auf alle Kreise entsittlichend wirke.
[122] Wenn die Unzufriedenheit mit der inneren Politik der Regierung, dem „Kultus des goldenen Kalbes“, der Popularität Ludwig Philipp’s Abbruch that, so gab die Verquickung der auswärtigen Politik mit dynastischen Rücksichten den Gegnern eine noch gefährlichere Waffe in die Hände. Um seine Familie in den Kreis der legitimen Höfe aufgenommen zu sehen, ließ der von Barrikadenkämpfern erhobene König, ohne nur durch ein Wort sein Mißfallen auszudrücken, die italienischen Revolutionäre von den Oesterreichern niederschießen und überließ Polen, dessen Befreiungskampf das französische Volk mit stürmischer Begeisterung aufgenommen hatte, seinem traurigen Schicksal. Je offener sich aber das Königthum von den Grundsätzen der Julikämpfer entfernte, desto mehr Kraft und Ausdehnung gewann die Opposition. Ganz Frankreich ward überdies unterwühlt von geheimen Gesellschaften, deren Ideal die Republik oder der Kommunismus war.
Noch andere Klagen wurden laut. Der sonst so sparsame König verwendete große Summen auf Ausbau und Ausschmückung des Palais Royal. „Ich bin nicht umsonst in meiner Jugend Schüler David’s gewesen,“ soll er erwiedert haben, wenn gegen die Kostspieligkeit dieser Bauten und anderer künstlerischer Unternehmungen Einspruch erhoben wurde. Ungeheure Summen verschlang der Umbau des Schlosses zu Versailles, das er in ein großartiges, „à toutes les gloires de la France“ gewidmetes Nationalmuseum umwandeln ließ. Montalivet, der eine Zeit lang Minister des Innern war und bei Ludwig Philipp in hoher Gunst stand, versichert, für die Ausstattung von Versailles seien 23 Millionen Franken geopfert worden.
Vermuthlich hoffte der König, seine Pietät für die Lieblingsschöpfung Ludwig’s XIV. werde dazu beitragen, die alten privilegirten Stände, Adel und Klerus, mit der neuen Dynastie auszusöhnen. Während aber in diesen Kreisen nur von „Profanation des Königshauses“ gesprochen wurde, erregte die Sorgfalt für die „blendenden Dekorationen des absolutistischen Regiments“ in den Volkskreisen Argwohn und Mißstimmung. Während bei anderen Gelegenheiten über Geiz und Knickerei des Königs geklagt wurde, nannte man ihn seines Bauluxus wegen einen Verschwender.
„Fontaine“ (der Hofbaudirektor), so wurde gespottet, „wird seinem Herrn nicht genug Geld übrig lassen, um ein Landhaus in England bauen zu können!“
Ludwig Philipp hörte sich gern den Friedenskönig nennen und betonte häufig, daß seine Regierung zwar nicht mit kriegerischen Triumphen prunken könne, wie die Aera Napoleon’s I., aber auch nicht, wie jene, zahllose Menschenopfer vom Lande heischte. Er wußte aber zu gut, welch unwiderstehlicher Zauber dem Wort „gloire“ trotz Moskau und Waterloo für das ganze französische Volk innewohne. Deshalb wurde der von Karl X. ins Auge gefaßte Plan der Unterwerfung Algiers mit leidenschaftlichem Eifer aufgegriffen.
Die an sich nicht gerade glänzenden Erfolge über Abdelkader boten immerhin Gelegenheit zu Aufzügen mit malerisch kostümirten Zuaven und Spahis und zu Lobreden auf den Gewinn eines Landes, das wenigstens halb so groß wie Frankreich selbst. Dagegen wies die Opposition in Kammer und Presse darauf hin, daß Frankreich in Algerien nichts gefunden habe als ein Massengrab für seine Soldaten, während noch fraglich sei, ob das Gebiet zu behaupten sein werde.
Einen schweren politischen Fehler beging die Regierung damit, daß sie, um ihre Vorurtheilslosigkeit zu beweisen, selbst dazu beitrug, daß der Bonapartismus in Frankreich wieder auflebte. Allerdings war im Jahr 1832 der Tod des Sohnes Napoleon’s I., des ehedem so hochgefeierten „Königs von Rom“, in Frankreich fast unbeachtet geblieben; aber zumal in der älteren Generation war die Verehrung für den Sieger von Marengo und Austerlitz noch nicht erstorben. Um auch diese ehrwürdige Tradition für das orleanistische Hausinteresse nutzbar zu machen, ordnete Ludwig Philipp Abholung der Gebeine des großen Todten in St. Helena an, und am 15. December 1840 wurde eine prunkvolle Trauerfeier veranstaltet; der König selbst nahm im Invalidendom die „Reliquien“ in Empfang und hielt Reden, deren chauvinistischer Ton mit früheren Kundgebungen grell kontrastirte. Dadurch konnte er aber nicht vergessen machen, daß diese Reliquien nicht durch die früher so stürmisch geheischte „Revanche pour Waterloo“, sondern durch eine Art Kaufvertrag von England zurückerlangt worden waren. In Wort und Bild wurde von den Gegnern der Regierung darob gespottet, daß der „Spießbürgerkönig“ auch bei dieser Gelegenheit nur als Krämer „gehandelt“ habe.
Das Mißbehagen wuchs, als die Regierung, indem sie konservative Interessen zu fördern gedachte, dem mächtig aufstrebenden Ultramontanismus Vorschub leistete.
Die in Paris allein nach Hunderttausenden zählenden Proletarier vollends waren nicht, wie der Bürgerstand, unzufrieden mit einzelnen Thaten der Regierung, sondern wollten überhaupt keine Regierung. Aufgestachelt durch die Lehren Proudhon’s und Louis Blanc’s forderten sie Niederwerfung der Macht des Kapitals, radikale Umgestaltung der socialen Verhältnisse.
„Unser Land,“ schrieb Thiers, der zu den „Gründern“ des Julikönigthums gehört hatte, im Jahre 1847 an einen Freund, „geht mit Riesenschritten einer Katastrophe entgegen, vor oder nach dem Tode des Königs; es wird Bürgerkrieg geben, Revision der Charte, vielleicht Personalveränderungen an hoher Stelle.“
Die Opposition gegen das Regiment, „das zu seinem Wesen und seinen Ueberlieferungen in geradem Widerspruch steht: ghibellinisch in Rom, jesuitisch in Bern, österreichisch in Piemont, russisch in Krakau, französisch nirgends“ – nahm einen immer drohenderen Charakter an. Die nach der Ablehnung einer Reform des Wahlgesetzes von den Antragstellern veranstalteten sogenannten Reformbankette leiteten die revolutionäre Bewegung ein. Auf einem Bankett zu Lille setzte Ledru Rollin die Weglassung des üblichen Toastes auf den König durch; auf einem Fest der „neuen Brüder“ in den Champs Elysées zu Paris rief der Dichter Lamartine: „Das Königthum wird enden, nicht wie dasjenige von 1789 in seinem Blut, sondern in der selbstgedrehten Schlinge.“ Auch die Treue der Bourgeoisie, die bisher als Stütze des Thrones gegolten hatte, gerieth ins Wanken.
„Es hat nichts auf sich, wenn man angegriffen wird,“ klagte Ludwig Philipp; „aber es ist ein Verhängniß, wenn man auf keinen Vertheidiger zählen kann.“
Endlich stieg die Opposition aus den Bankettsälen und von der Rednertribüne des Parlaments in Waffen auf die Boulevards von Paris. Die Kanonen von Montmartre vermochten das gefährdete Königthum nicht zu retten. Nach dreitägigem Straßenkampf (22. bis 24. Februar 1848) war die Sache des Königs verloren. Er selbst, der in der Gefahr zwar kaltblütig blieb, aber nicht die Kraft zu handeln in sich fand, sah sich genöthigt, durch eine Hinterpforte aus den Tuilerien zu fliehen, und zwar so hastig, daß er nicht einmal das Nothwendigste mit sich nehmen konnte; der reichste König Europas mußte auf der Durchreise durch Versailles von einem Getreuen ein paar tausend Franken borgen, um für sich und seine Familie die Kosten der Ueberfahrt nach England zu bestreiten.
Vor der Flucht hatte Ludwig Philipp eine schriftliche Erklärung abgegeben, daß er zu Gunsten seines Enkels, des Grafen von Paris, auf die Krone verzichte. Die Mutter des Prinzen, Helene von Mecklenburg, die sich in dieser Katastrophe ihrer Tante, der willensstarken Dulderin Luise von Preußen, würdig bewährte, trat in einer stürmischen Sitzung des Parlaments für das Recht ihres Sohnes tapfer ein, allein ihre Stimme ging unter im Tumult [123] der eindringenden Menge. Mit Mühe konnte die deutsche Frau vor der Wuth der von Aufregung und Wein trunkenen Barrikadenkämpfer gerettet werden. Das Bild Ludwig Philipp’s im Sitzungssaal wurde von hundert Kugeln durchbohrt, der Thron zu Füßen der Julisäule zertrümmert, endlich nach wüsten Orgien des souveränen Straßenpöbels am 27. Februar die Republik proklamirt.
August von Rochau, der in seiner Geschichte des Julikönigthums die günstigen Seiten der Regierung Ludwig Philipp’s mit Wärme hervorzuheben pflegt, kann nicht umhin, auf die merkwürdige Thatsache hinzuweisen, daß der Anhang des Königs und des Hauses Orleans schon am 25. Februar so völlig zerstoben war, wie wenn es nie eine orleanistische Partei gegeben hätte. Während Karl X. von der Trauer und der Treue der Legitimisten ins Exil begleitet wurde, folgte dem durch die Februartage entthronten König höchstens ein rein menschliches Mitleid. Die Erklärung dieser Thatsache, meint Rochau, dürfe aber nicht darin gesucht werden, daß die Juliregierung schwerere Schuld auf sich geladen oder mehr Feinde gehabt hätte, als das Königthum der Restauration.
„Die legitimistische Hingebung an die Bourbons war eine Glaubenssache und ganz unabhängig von den persönlichen Eigenschaften, politischen Leistungen, von Glück und Unglück der rechtmäßigen Dynastie; die orleanistische Gesinnung dagegen ging von einer politischen Berechnung aus und mußte also, der Natur der Sache nach, mit der Richtigkeit dieser Berechnung stehen und fallen; der Legitimismus war Schwärmerei, der Orleanismus war Politik.“
Als „Graf von Neuilly“ ließ sich Ludwig Philipp in Claremont in der Grafschaft Surrey nieder. Hier starb er auch am 26. August 1850; im naheliegenden Weybridge fand er die letzte Ruhestätte.
Zwei Söhne des Königs, der Prinz von Joinville und der Herzog von Aumale, standen während des Februaraufstandes in Algier, jener als Admiral der Mittelmeerflotte, dieser als Statthalter und Befehlshaber einer ansehnlichen Armee. Es wurde in Paris befürchtet, daß sie sich weigern würden, die im Hôtel de Ville eingesetzte provisorische Regierung anzuerkennen. Als jedoch der Astronom Arago, der in diese Regentschaft gewählt worden war, die Prinzen aufforderte, um der Ruhe des Vaterlandes willen sich der Macht der Verhältnisse zu fügen, legten beide das Kommando über ihre Truppen, auf deren Ergebenheit sie ja doch nicht zählen konnten, nieder und begaben sich zu ihrem Vater nach England.
Diese Gefahr war also glücklich abgewendet, aber Bürgerblut floß noch in Strömen, als in den Junitagen die Socialisten versuchten, an Stelle der Trikolore die rothe Fahne aufzupflanzen, statt der Konstituante einen Wohlfahrtsausschuß einzusetzen, statt der konservativen Republik die Anarchie zu proklamieren. Nachdem endlich Cavaignac das Proletariat niedergekämpft hatte, wurde nicht dieser Retter der bürgerlichen Gesellschaft, sondern der von Ludwig Philipp als ungefährlicher Abenteurer betrachtete und behandelte „kleine Neffe des großen Oheims“, Ludwig Bonaparte, zum Präsidenten der Republik ernannt; der populäre Name hatte bei dem durch das allgemeine Stimmrecht plötzlich zu politischer Uebermacht gelangten Bauernstand den Ausschlag gegeben. „Im Angesicht Gottes und des französischen Volkes“ gelobte Bonaparte der demokratischen Republik unverbrüchliche Treue. Wer die Geschichte Frankreichs kannte, mochte wohl nicht überrascht sein, als nach dem blutigen Staatsstreich vom 2. December 1851 der „Prinzpräsident“ Bonaparte unbeschränkte monarchische Gewalt erlangte, am 2. December 1852 der „erbliche Kaiser“ Napoleon III. feierlichen Einzug in die Tuilerien hielt.
Wie der neue Imperator gegen alle widerstrebenden Elemente mit beispielloser Härte vorging und die Gesellschaft, wie das Staatsleben aus den Fugen riß, so verfuhr er auch schonungslos gegen das Haus Orleans. Eine Verordnung vom 22. Januar 1852 verhängte über alle Besitzungen, die Ludwig Philipp auf seine Kinder überschrieben hatte, die Konfiskation, da das Privateigenthum der Könige vom Staatsschatz nicht getrennt werden könne. Nach dem Urtheil der bedeutendsten Juristen konnte darin nur eine brutale Gewaltmaßregel erblickt werden; da aber die in den „Idées Napoléoniennes“ so gefeierte Gleichheit des Rechts für Alle niemals so gänzlich verschwunden war, wie in den Tagen des dritten Kaiserreichs, blieb der Protest der Orleans einfach unbeachtet. Sie mußten auch mit ansehen, wie alle Fürsten Europas, zumal Alexander II., mit dem Kaiser der Franzosen wie mit einem lieben Freund und Bruder verkehrten, während Zar Nikolaus niemals aufgehört hatte, seine Geringschätzung des „Kronenjägers“ Ludwig Philipp an den Tag zu legen.
Dagegen bildete sich wieder eine orleanistische Partei in Frankreich selbst in Folge der vielen Mißgriffe und Uebergriffe Napoleon’s. Legitimisten, die in Erwägung der unbesiegbaren Gleichgültigkeit und Lahmheit Heinrich’s V. die Hoffnung auf eine Restauration der Bourbons aufgaben, – Imperialisten, welche der militärisch polizeiliche Terrorismus des dritten Kaiserreichs ernüchtert hatte, – Republikaner, welche nicht länger im Schlepptau fanatischer Socialisten bleiben wollten, vereinigten sich in dem Wunsche, Frankreichs Thron wieder auf den Boden der Volkssouveränetät gestellt und mit einem Orleans besetzt zu sehen.
Daß Napoleon III. selbst die Bedeutung dieser feindlichen Bestrebungen nicht unterschätzte, beweist das geflügelte Wort über die Orleans, das er in Umlauf setzte: „Sie sind geborene Verschwörer.“ So lange er regierte, gelang es den Söhnen und Enkeln des Bürgerkönigs nicht, festen Fuß im Vaterland zu fassen; erst nachdem durch das nämliche Volk, das am 8. Mai 1870 dem Regiment Napoleon’s ein glänzendes Vertrauensvotum ausgestellt hatte, am 4. September 1870 auf die Nachricht von der Katastrophe von Sedan die Absetzung des „feigen Despoten“ verhängt worden war, brachen für die verbannten Prätendenten bessere Zeiten an. Am 8. December 1871 wurden durch Dekret der Nationalversammlung der Familie Orleans alle beweglichen und unbeweglichen Güter zurückgegeben. Damit waren die Orleans wieder „aktionsfähig“. Der Herzog von Aumale wurde bald darauf vom Generalrath der Oise zum Präsidenten gewählt; Aumale und Joinville traten in die Kammer ein. Der Präsident der Republik, Thiers, beobachtete gegenüber den Nachkommen des Königs, dessen einflußreichster Rathgeber er lange Zeit gewesen war, eine gewisse wohlwollende Neutralität; es wurde sogar behauptet, die Anhänglichkeit des Herrn Thiers an die Republik werde mit seiner Präsidentschaft stehen und fallen; denn er sei von Grund des Herzens Monarchist und werde nur durch den Starrsinn der extremen Royalisten immer wieder ins republikanische Lager zurückgedrängt.
Ein Sieg über die konservative Republik wäre nur möglich gewesen, wenn sich alle monarchischen Elemente offen und aufrichtig verbündet hätten. Deshalb wurde auch von dem alten General Changarnier und anderen Orleanisten eifrig am Zustandekommen einer „Fusion“ der Anhänger der beiden Linien des Königshauses gearbeitet. Im Sommer 1873 schien ein Ausgleich nahe gerückt zu sein. Der Graf von Paris begab sich nach Frohsdorf, um „Henri Quint“, dem Grafen von Chambord, als dem Chef des Gesammthauses zu huldigen. Allein bald trat zu Tage, daß es in Chambord’s Schloß bei äußerlichen Ceremonien geblieben, nicht eine wirkliche Versöhnung zu Stande gekommen war; der Gegensatz zwischen der weißen Fahne und der Trikolore bestand fort. Graf Chambord selbst wies darauf hin, daß man „nicht in der Personenfrage, sondern in den Principien das Heil Frankreichs zu suchen habe“; in den Principien gingen aber die Forderungen der beiden Familien nach wie vor auseinander. Die Orleans verlangten nach der Tradition ihres Hauses Anerkennung einer liberalen Verfassung; Chambord wollte bedingungslos sein gutes Recht anerkannt wissen und sah in jedem Zugeständniß ein seiner Ehre zugemuthetes Opfer. Er wolle niemals „König der Revolution“ werden, erklärte er in einem Briefe an einen Getreuen in Chesnelong, er werde nie auf Bedingungen oder Bürgschaften sich einlassen: „mon principe c’est tout.“
Viele Anhänger der Orleans wollten deshalb auch nach der Fusion lieber „die Republik der ehrlichen Leute“ erhalten als eine monarchisch-klerikale Reaktion heraufbeschwören, und so kam die republikanische Verfassung vom 24. Februar 1875 mit dem Septennat eines Präsidenten zu Stande. Aufs Neue schien eine Entscheidung im Sinn der Royalisten bevorzustehen, als Heinrich V. am 24. August 1883 aus dem Leben schied und der ans Sterbelager nach Frohsdorf geeilte Graf von Paris als Philipp VII. die Huldigung vieler angesehener Legitimisten empfing. Allein eine Gruppe von „reinen“ Royalisten will auch heute nichts von „Egalité IV.“ wissen, und dieser selbst, der durch Dekret des Senats vom 22. Juni 1886 aus Frankreich ausgewiesen wurde und seither in England oder Oesterreich sich aufhielt, scheint nicht so viel Thatkraft zu besitzen, daß er den Versuch wagte, das aus den Fugen gerissene Staatswesen Frankreichs zur alten monarchischen Einheit zurückzuführen.
[124] Wird ein anderer Orleans mächtiger, kräftiger, glücklicher sein? Wer möchte, wenn er erwägt, auf wie schwachen Widerlagen die Republik aufgerichtet ist, dem Programm: Versöhnung der traditionellen Monarchie mit der modernen Gesellschaft, des erblichen Rechts mit dem nationalen! – die Zukunft absprechen? Die Orleans suchen aber heute ihren Vortheil in anderer Empfehlung. Sie wollen die „ersten Patrioten Frankreichs“ sein und glauben die Liebe zum Vaterland am besten dadurch zu beweisen, daß sie als die unversöhnlichsten Feinde der Deutschen sich gebaren. Wird ihnen diese Politik frommen? Wer Wind säet, wird Sturm ernten!