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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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– denn wir hatten schon einen starken Marsch gemacht! – mit einem Labetrunk. Sodann begann die Auffahrt. Der Lilienstein ist ein fast senkrechter und wohl 1000 Fuß hoher Fels. Seine Form ist der eines Zuckerhuts zu vergleichen, dem die Spitze abgeschlagen ist. Um seinen Fuß hat sich der Schutt von Bergtrümmern angehäuft. Anfangs windet sich der Weg mit sanfter Steigung hinan; bald aber wird er steil, felsig und sehr beschwerlich. Wir mußten auf eingehauenen Stufen über mehre Abhänge klettern, und kamen durch eine Felsspalte zu einem, über eine tiefe Kluft führenden Steg. Hinter demselben wurde der Weg gefährlich. Der Tages zuvor gefallene, wolkenbruch-ähnliche Gewitterregen hatte streckenweise den Pfad ganz zerstört; um weiter zu kommen, mußten wir mehrmals auf Händen und Füßen rutschen. Endlich erreichten wir glücklich die letzte Felstreppe, und ein dreifaches Hurrah! grüßte den Obelisk, der auf dem Scheitel des Colosses steht, und der uns, aus der Tiefe gesehen, wie eine Nadelspitze vorgekommen war.
Die Sonne stand noch ziemlich hoch über dem Horizont; die Luft war rein. Erschöpft von der argen Strapatze setzten sich meine Begleiter auf die Steinbank; ich, als wäre mir der Standpunkt noch nicht hoch genug, kletterte den größten der umherliegenden Felsblöcke hinan, von dem die Umsicht nach allen Seiten frei war. Mein Blick wollte das große Panorama mit einem Zuge umreißen; er wollte messen, wollte die Entfernungen bestimmen: doch der überraschte, verwirrte Sinn war dem Vorsatz nicht gewachsen. Schwindelnd that ich ein paar Schritte vorwärts: da stand ich am Rande und sah hinab auf den tiefen Abgrund. Erschrocken setzte ich mich nieder, suchte mich zu sammeln und dann das unermeßliche Bild zu zerstückeln und in einzelne Rahmen zu fassen. Jede Parthie gestaltete sich zu einem großen, ruhigen Ganzen. Weile, tiefe Thäler, ein majestätischer Strom, bewaldete Berggipfel, dunkle Wiesengründe und weite, in allen Schattirungen von Grün gemusterte Fluren, die Städte, die Flecken, Dörfer und Meierhöfe, die blauen fernen Gebirge, – Alles hatte von diesem Standpunkte aus den Charakter hoher, prunkloser Einfachheit und ruhiger, stiller Abgeschiedenheit. Die Schatten der einzelnen Wolken jagten über die Szene, wie Kummer und Sorge, von denen ich damals noch nichts wußte, über das Menschenleben.
Ich war bemüht, mit Hülfe meiner unterwegs einstudirten, nicht ganz probefesten Topographie der sächsischen Schweiz die hervorragendsten Punkte zu erkennen, oder interessante aufzusuchen, als mich der frohe Zuruf meiner Genossen einlud, hinabzukommen. Hinter einem Feleblock hervor sah ich die prasselnde Flamme lodern, und ein ambrosianischer Hauch stachelte den mächtigsten aller Sinne unwiderstehlich auf. Einer der Gefährten hatte nämlich den klugen Einfall gehabt, in Pirna ein halbes Dutzend Bratwürste in sein Tornister zu packen, und auf dem von grünem Astholz improvisirten Roste dampften ihre Balsamdüfte zum Himmel. Ueber dem Opferherde bog ein wilder Rosenbusch seine blüthenvollen Zweige zur Flamme nieder – neben und über derselben welkten und dörrten
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/123&oldid=- (Version vom 9.2.2025)