Die Ameise (Sechste Sammlung)
Die Ameise.
Ein Müßiggänger sah die Lilie
Des Feldes blühn, und hört der Vögel Chor
Lobsingen. „Bin ich denn nicht mehr als sie?
Sprach er. Wohlan! so sei mein Leben auch
Er ging zur einsam-frommen Wüstenei
Und harrete auf Offenbahrung. Da
Rief eine Stimme: „Schau zur Erd’ hinab,
Simplicius.“
Ameisen war vor ihm in lebender
Bewegung. Diese trugen eine Last,
Viel größer als sie selbst. Ein andrer Hauf’
Hielt Kräutersaamen in dem Munde, vest
Herbei, und dämmten ihren breiten Strom.
Die andern trugen für den Winter ein,
Und schroteten die Körner künstlich ab,
Daß ihre feuchte Wohnung nicht mit Kraut
Sie trugen einen Todten aus der Stadt.
Und keiner stört den andern; jeder wich
Beim Ein- und Ausgang seinem Nachbar aus.
Wer unter seiner Last erlag, und wer
Dem half man auf, man bot den Rücken dar -
Simplicius sah’s mit Verwunderung
Und sähe noch; hätt’ ihm die Stimme nicht
Gerufen: „Bist du nicht viel mehr als sie?“
Wie? hast du keinen Vater? keine Mutter?
Und keinen Freund und Armen, dem du jetzt
Beispringen könntest? Bist vom Himmel du
Entsprossen? keinem Menschen auf der Welt
Von dir gehöre? – Sieh das kleine Volk
Ameisen. Jede wirket ingemein,
Und ohne Eigenthum hat Jede gnug.“
Belehret kehrt Simplicius zurück
Im großen Ameishaufen dieser Welt
Die Gottesstadt, die (oft sich unbewußt)
Im Wirken fürs Gemeine lebt und webt,
Niemand für sich, für alle Jedermann.