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Das Wesen des Christentums/Sechste Vorlesung

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« Fünfte Vorlesung Adolf von Harnack
Das Wesen des Christentums
Siebente Vorlesung »
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[60]
Sechste Vorlesung.




Ich habe am Schluß der letzten Vorlesung auf das Problem hingewiesen, welches die „Armen“ im Evangelium bieten. Die Armen, die Jesus in der Regel im Auge hat, sind auch die Empfänglichen, und daher ist das, was von ihnen gesagt wird, nicht ohne weiteres auf Arme überhaupt anzuwenden. Wir müssen daher aus dem Zusammenhang, der uns hier beschäftigt, alle die Sprüche Jesu ausscheiden, die offenkundig auf die „geistliche“ Armut sich beziehen. Hierher gehört z. B. die erste Seligpreisung, mag man sie nun in der Fassung des Lukas oder des Matthäus gelten lassen; denn die ihr zugeordneten Seligpreisungen stellen es sicher, daß Jesus an die innerlich empfänglichen Armen gedacht hat. Aber wir haben nicht die Zeit, alle einzelnen Sprüche durchzugehen; es muß genügen, durch einige Hauptbetrachtungen die wichtigsten Punkte festzustellen.

1. Jesus hat den Besitz irdischer Güter als eine schwere Gefahr für die Seele betrachtet, weil er hartherzig macht, in irdische Sorgen verstrickt und zu gemeinem Wohlleben verführt. Ein Reicher wird schwerlich ins Himmelreich kommen.

2. Die Behauptung, Jesus habe eine allgemeine Verarmung und Verelendung so zu sagen gewünscht, um dann über diesen miserablen Zustand sein Himmelreich heraufzuführen – eine Behauptung, der man in verschiedenen Wendungen begegnet –, ist falsch. Das Gegenteil ist richtig. Er hat Not Not und Übel Übel genannt. Weit entfernt, sie zu begünstigen, hat er das lebendigste und kräftigste Bestreben gehabt, sie zu bekämpfen und zu beseitigen. Sein ganzes Wirken ist auch in diesem Sinne Heilandswirken gewesen,[61] d. h. ein Kampf gegen das Übel und gegen die Not. Ja man könnte fast meinen, daß er das niederzwingende Gewicht des Elends und der Armut zu hoch taxiert, daß er sich zuviel damit abgegeben habe, und daß er den Kräften, die diesem Zustande gegenüber wirksam sein sollen – dem Mitleid und der Barmherzigkeit – eine zu große Bedeutung im Ganzen der sittlichen Lebensbewegung zugesprochen habe. Freilich auch dies wäre nicht richtig; denn er kennt eine Macht, die er noch für schlimmer hält als Not und Elend, das ist die Sünde, und er weiß von einer Kraft, die noch befreiender ist als die Barmherzigkeit, das ist die Vergebung. Darüber läßt sein Reden und sein Handeln keinen Zweifel. Fest steht also: Jesus hat die Armut und das Elend nie und nirgends konservieren wollen, sondern er hat sie bekämpft und zu bekämpfen geheißen. Diejenigen Christen, die im Laufe der Kirchengeschichte aufgetreten sind, um die Bettelei zu protegieren und eine allgemeine Verarmung anzuraten, oder die in sentimentaler Weise mit der Not und dem Elend kokettieren, können sich nicht mit Fug auf ihn berufen. Wohl aber hat er denen, die ihr ganzes Leben der Verkündigung des Evangeliums und dem Dienste am Wort weihen wollen – er verlangte das nicht von allen, sondern er sah darin einen besonderen Gottesruf und eine besondere Gabe – ihnen hat er befohlen, sie sollen sich alles Besitzes, also aller irdischen Güter entäußern. Doch hat er sie deshalb nicht auf das Betteln verwiesen. Sie sollen vielmehr gewiß sein, daß sie ihr Brot und ihre Nahrung finden werden. Wie er das gemeint hat, das erfahren wir aus einem Wort von ihm, welches zufällig in den Evangelien nicht enthalten ist, welches uns aber der Apostel Paulus überliefert hat. Er schreibt 1. Kor. 9: „Der Herr hat befohlen, daß, die das Evangelium verkündigen, sich auch vom Evangelium nähren sollen.“[WS 1] Besitzlosigkeit hat er von den Dienern am Wort, d. h. von den Missionaren, verlangt, damit sie ganz ihrem Berufe leben können. Er hat aber nicht gemeint, daß sie betteln sollen. Das ist ein franziskanisches Mißverständnis, welches vielleicht nahe liegt, aber doch vom Sinne Jesu abführt.

Gestatten Sie mir hier eine kurze Abschweifung. Diejenigen, die in den christlichen Kirchen professionsmäßige Evangelisten oder Diener am Wort innerhalb der Gemeinden geworden sind, haben es in der Regel nicht für nötig gehalten, jene Anweisung des Herrn, sich der irdischen Güter zu entäußern, zu befolgen. Sofern es sich[62] um Priester bez. Pastoren und nicht um Missionare handelt, kann man auch mit einigem Rechte einwenden, daß sich der Befehl auf sie nicht beziehe; denn er setzt das Amt der Ausbreitung des Evangeliums voraus. Man kann ferner sagen, daß man aus den Anweisungen des Herrn über das Gebot der Liebe hinaus keine unverbrüchlichen Gesetze machen dürfe, sonst schädige man die christliche Freiheit und verschränke der christlichen Religion das hohe Recht, in ihrer Ausgestaltung dem Gange der Geschichte unbefangen folgen zu dürfen. Aber es läßt sich doch fragen, ob das Christentum nicht Außerordentliches gewonnen hätte, wenn seine berufsmäßigen Diener, die Missionare und die Pastoren, jene Regel des Herrn befolgt hätten. Mindestens aber sollte es bei ihnen strenger Grundsatz sein, sich um Besitz und irdische Güter nur so weit zu kümmern, daß sie selbst nicht anderen zur Last fallen, darüber hinaus aber sich ihrer zu entäußern. Aber ich zweifle auch nicht, es wird die Zeit kommen, in der man wohllebende Seelsorger ebensowenig mehr vertragen wird, wie man herrschende Priester verträgt; denn wir werden in dieser Beziehung feinfühliger, und das ist gut. Man wird es nicht mehr für schicklich, im höheren Sinn des Wortes halten, daß jemand den Armen Ergebung und Zufriedenheit predigt, der selbst wohlhabend ist und um die Vermehrung seines Besitzes eifrig sorgt. Ein Gesunder mag wohl einen Kranken trösten; aber wie soll der Besitzende den Besitzlosen von dem Unwert der Güter überzeugen? Die Anweisung des Herrn, daß der Diener am Wort sich des irdischen Besitzes zu entäußern hat, wird in der Geschichte seiner Gemeinde noch zu Ehren kommen.

3. Ein soziales Programm in Bezug auf Überwindung und Beseitigung von Armut und Not – wenn man darunter ganz bestimmte Anordnungen und Vorschriften versteht – hat Jesus nicht aufgestellt. Er hat sich nicht in wirtschaftliche und zeitgeschichtliche Verhältnisse verstrickt. Hätte er es gethan, hätte er Gesetze gegeben, die für Palästina noch so heilsam gewesen wären – was wäre damit erreicht worden? Sie wären heute nützlich gewesen und morgen veraltet, und sie hätten das Evangelium belastet und verwirrt. Man muß sich auch hüten, solchen Anweisungen, wie die: „Gieb jedem, der dich bittet“[WS 2] und ähnlichen, ihr Maß zu nehmen. Sie wollen doch aus der Zeit und der Situation verstanden sein. Sie beziehen sich auf die augenblickliche Not des Bittenden, die mit einem Stück Brot, einem Trunk Wasser, einem Kleidungsstück, um die[63] Blöße zu decken, gestillt ist. Wir dürfen nicht vergessen, wir befinden uns mit dem Evangelium im Orient und in wirtschaftlich ziemlich unentwickelten Verhältnissen. Jesus ist kein sozialer Reformer gewesen. Er konnte auch einmal den Satz aussprechen: „Arme habt ihr allezeit bei euch“[WS 3], und damit, wie es scheint, andeuten, daß sich die Verhältnisse nicht wesentlich ändern würden. Erbschlichter wollte er nicht sein, und tausend Fragen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens würde er ebenso zu entscheiden abgelehnt haben wie die Zumutung, eine Erbschaftsangelegenheit in Gang zu bringen. Und doch hat man je und je gewagt, aus dem Evangelium ein konkretes soziales Programm abzuleiten. Auch evangelische Theologen haben es versucht und versuchen es noch. Ein Unternehmen, an sich hoffnungslos und gefährlich, aber vollends verwirrend und unerträglich, wenn man die zahlreichen „Lücken“, die man im Evangelium findet, durch alttestamentliche Gesetze und Programme „ergänzt“.

4. Niemals, selbst im Buddhismus nicht, ist eine Religion mit einer so thatkräftigen sozialen Botschaft aufgetreten und hat sich so stark mit ihr identifiziert wie im Evangelium. Inwiefern? Weil mit dem Worte: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“[WS 4] hier wirklich Ernst gemacht ist, weil Jesus mit diesem Worte hineingeleuchtet hat in alle konkreten Verhältnisse des Lebens, in die Welt des Hungers, der Armut und des Elendes, endlich weil er jene Maxime als eine religiöse, ja als die religiöse ausgesprochen hat. Ich erinnere Sie nochmals an das Gleichnis vom jüngsten Gericht, in welchem die ganze Frage nach dem Werte und der Zukunft der Menschen von der Übung der Nächstenliebe abhängig gemacht ist; ich erinnere Sie an das andere Gleichnis von dem reichen Mann und dem armen Lazarus. Und noch eine Geschichte möchte ich anführen, die wenig bekannt ist, weil sie in dieser Fassung nicht in unsern vier Evangelien, sondern im Hebräerevangelium steht. Dort ist die Erzählung vom reichen Jüngling also überliefert: „Ein Reicher sprach zum Herrn: Meister, was muß ich Gutes thun, damit ich das Leben habe. Er antwortete ihm: Mensch, halte das Gesetz und die Propheten. Jener erwiderte ihm: Das habe ich gethan. Er sprach zu ihm: Gehe hin, verkaufe alles, was du besitzest, und teile es den Armen aus und komm und folge mir. Da fing der Reiche an, sich den Kopf zu kratzen, und die Rede gefiel ihm nicht. Und der Herr sprach zu ihm: Wie kannst Du sagen, ,Ich habe das Gesetz und die Pro-[64] pheten gehalten‘, da doch im Gesetz geschrieben steht: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst? Siehe, viele deiner Brüder, Söhne Abrahams, liegen in schmutzigen Lumpen und sterben Hungers, und dein Haus ist voll von vielen Gütern, und nichts kommt aus ihm zu ihnen heraus.“[WS 5] – Sie sehen, wie Jesus die materielle Not der Armen empfunden und wie er die Abhilfe solcher Not aus dem Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“[WS 6], abgeleitet hat. Die sollen nicht von Nächstenliebe sprechen, die es ertragen können, daß neben ihnen Menschen im Elend verkümmern und sterben! Das Evangelium predigt nicht nur Solidarität und Hülfeleistung – es hat an dieser Predigt seinen wesentlichen Inhalt.[AU 1] In diesem Sinne ist es im Tiefsten sozialistisch, wie es im Tiefsten individualistisch ist, weil es den unendlichen und selbständigen Wert jeder einzelnen Menschenseele feststellt. Seine Tendenz auf Zusammenschluß und Brüderlichkeit ist nicht sowohl eine zufällige Erscheinung in seiner Geschichte als vielmehr das wesentliche Element seiner Eigenart. Das Evangelium will eine Gemeinschaft unter den Menschen stiften, so umfassend wie das menschliche Leben und so tief wie die menschliche Not. Es will, wie man richtig gesagt hat, den Sozialismus, der da auf der Voraussetzung widerstreitender Interessen ruht, umwandeln in den Sozialismus, der sich auf dem Bewußtsein einer geistigen Einheit gründet. In diesem Sinne kann seine soziale Botschaft überhaupt nicht überboten werden. Was ein „menschenwürdiges Dasein“ ist, darüber haben sich im Laufe der Zeiten, Gott sei Dank! die Urteile sehr verändert und verfeinert. Aber auch Jesus kannte diesen Maßstab. Hat er doch einmal, fast mit Bitterkeit, über seine eigene Lage geäußert: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlegt.“[WS 7] Die Wohnung, das zureichende tägliche Brot, die Reinlichkeit – alle diese Bedürfnisse werden von ihm gestreift, und er hat ihre Befriedigung für notwendig erachtet für die Bedingung des irdischen Daseins. Kann einer sie sich nicht schaffen, so sollen die andern für ihn eintreten. Deshalb kann darüber kein Zweifel sein, daß Jesus heute auf Seiten derer stehen würde, die sich kräftig bemühen, die schwere Notlage des armen Volkes zu lindern und ihm bessere Bedingungen des Daseins zu schaffen. Der täuschende Satz von dem freien Spielraum der Kräfte, dem „Leben und leben lassen“ – „Leben und sterben lassen“, hieße es besser – läuft dem[65] Evangelium stracks entgegen. Und nicht als unseren Knechten sollen wir den Armen helfen, sondern als unseren Brüdern. Endlich, unser Reichtum gehört nicht uns allein. Das Evangelium hat keine gesetzlichen Vorschriften darüber gegeben, wie wir ihn gebrauchen sollen; aber es läßt darüber keinen Zweifel, daß wir uns nicht als Besitzer, sondern als Haushalter im Dienst des Nächsten zu betrachten haben. Ja, fast scheint es, als habe Jesus eine Verbindung unter den Menschen für möglich gehalten, in der der Reichtum als Privatbesitz im strengen Sinn nicht existiert. Doch damit haben wir eine Frage berührt, die nicht leicht zu entscheiden ist und die vielleicht gar nicht aufgeworfen werden darf, weil die Eschatologie Jesu und sein besonderer Horizont hier hineinspielen. Wir brauchen sie auch nicht aufzuwerfen; das Entscheidende ist die Gesinnung, die Jesus der Armut und Not gegenüber in seinen Jüngern entzündet hat.

Das Evangelium ist eine soziale Botschaft von heiligem Ernst und erschütternder Kraft; es ist die Verkündigung der Solidarität und Brüderlichkeit zu Gunsten der Armen. Aber diese Botschaft ist verbunden mit der Anerkennung des unendlichen Wertes der Menschenseele, und sie ist eingebettet in die Predigt vom Reiche Gottes. Man kann auch sagen – sie ist ein wesentlicher Teil des Inhalts dieser Predigt. Aber Gesetze und Verordnungen oder Anweisungen, die jeweiligen Verhältnisse gewaltsam zu ändern, finden sich in dem Evangelium nicht.

3. Das Evangelium und das Recht, oder die Frage nach den irdischen Ordnungen.

Das Problem, in welchem Verhältnis das Evangelium zu dem Rechte sieht, umfaßt zwei Hauptfragen: 1. das Verhältnis des Evangeliums zur Obrigkeit, 2. das Verhältnis des Evangeliums zu den Rechtsordnungen überhaupt, sofern diese einen weiteren Spielraum haben als der Begriff „Obrigkeit“. Die Antwort auf die erste Frage ist nicht leicht zu verfehlen; die zweite Frage ist verwickelter und schwerer; auch gehen die Urteile über sie weit auseinander.

1. Jesu Verhältnis zur Obrigkeit – soll ich noch ausdrücklich daran erinnern, daß er kein politischer Revolutionär gewesen ist, und daß er auch kein politisches Programm aufgestellt hat? Er weiß gewiß, daß sein Vater ihm zwölf Legionen Engel zuschicken[66] würde, wenn er ihn bäte; aber er bat ihn nicht. Als sie ihn zum Könige machen wollten, entwich er. Zuletzt freilich, als er es für gut hielt, sich dem ganzen Volke als den Messias zu offenbaren – der Entschluß und seine Ausführung sind uns dunkel –, da zog er als König in Jerusalem ein; aber er wählte aus der Prophetie die Erscheinungsform, die von einer politischen Manifestation am weitesten ablag, und wie er sein messianisches Recht verstand, das zeigt die Austreibung der Krämer aus dem Tempel. In dieser Tempelreinigung wandte er sich nicht gegen die politische Obrigkeit, sondern gegen die, welche sich obrigkeitliche Rechte über die Seelen angemaßt hatten. In jedem Volke etabliert sich neben der besagten Obrigkeit eine unberufene, oder vielmehr zwei unberufene. Das ist die politische Kirche, und das sind die politischen Parteien. Die politische Kirche, im weitesten Sinn des Worts und unter sehr verschiedenen Masken, will herrschen; sie will die Seelen und die Leiber, die Gewissen und die Güter. Dasselbe wollen die politischen Parteien, und indem ihre Führer sich zu Leitern des Volks aufwerfen, entwickeln sie einen Terrorismus, der oft schlimmer ist als der Schrecken königlicher Despoten. So war es auch in Palästina zur Zeit Jesu. Die Priester und die Pharisäer hielten das Volk in Banden und mordeten ihm die Seele. Gegen diese unberufene Obrigkeit zeigte Jesus eine wahrhaft befreiende und erquickende Pietätslosigkeit. Er ist nicht müde geworden – ja er steigerte sich im Kampfe bis zum heiligsten Zorn –, diese „Obrigkeit“ zu befehden, ihre Wolfsnatur und ihre Heuchelei aufzudecken und ihr das Gericht anzukündigen. An der Stelle, an der sie befugt war, ließ er sie gelten: „Gehet hin und zeiget euch den Priestern.“[WS 8] Soweit sie wirklich das Gesetz Gottes verkündigten, erkannte er sie an: „Was sie euch sagen, das thut.“[WS 9] Aber eben diesen Leuten hielt er die furchtbare Strafpredigt Matth. 23: „Wehe euch, Schriftgelehrten und Pharisäern, ihr Heuchler, die ihr gleich seid wie die übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totenbeine und alles Unflats.“[WS 10] Gegenüber dieser geistlichen „Obrigkeit“ hat er also seine Jünger mit einer heiligen Pietätslosigkeit erfüllt, und auch von dem „Könige“ Herodes hat er mit bitterer Ironie gesprochen: „Gehet hin und saget diesem Fuchs.“[WS 11] Dagegen der wirklichen Obrigkeit gegenüber, die das Schwert führte, ist seine Haltung, soweit wir nach den spärlichen Zeugnissen zu urteilen vermögen, eine andere. Er erkannte ihr[67] thatsächliches Recht an und hat sich demselben niemals entzogen. Auch das Verbot des Eides ist nicht so zu verstehen, daß er den Eid vor der Obrigkeit mitgemeint hat. Mit Recht hat Wellhausen geurteilt, es gehöre nur ein Körnchen Salz dazu, um den Sinn des Verbots nicht zu verfehlen.[WS 12] Andererseits muß man sich hüten, Jesu Stellung zur Obrigkeit im positiven Sinne zu überschätzen. Man beruft sich gewöhnlich auf das viel citierte Wort: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“[WS 13] Allein dies Wort wird oft mißverstanden. Überall da wird es unrichtig gedeutet, wo man ihm den Sinn geben zu dürfen meint, Jesus habe Gott und den Kaiser als die beiden irgendwie nebeneinander stehenden oder gar innerlich verbundenen Gewalten anerkannt. Daran hat er nicht gedacht, vielmehr umgekehrt die Trennung und Scheidung der beiden Mächte ausgesprochen. Gott und der Kaiser sind die Herren zweier ganz verschiedener Gebiete. Die Streitfrage, um die es sich handelte, löste er eben dadurch, daß er auf diese Verschiedenheit hinwies, die so groß ist, daß ein Konflikt gar nicht entstehen kann. Das Silberstück ist etwas Irdisches und trägt das Bild des Kaisers; also gebe man es dem Kaiser; aber – das ist doch wohl die Ergänzung – die Seele und alle ihre Kräfte haben damit gar nichts zu thun; sie gehören Gott. Die Vermengung der Gebiete hat Jesus abwehren wollen: das ist zunächst das Entscheidende. Hat man dies allem zuvor betont, dann mag man auch hinzufügen, wie bedeutsam es sei, daß Jesus zum Gehorsam gegen die Steuerforderungen des Kaisers aufgefordert hat. Gewiß, das ist wichtig: er selbst respektierte die Obrigkeit und wollte, daß sie respektiert werde; aber in Bezug auf ihre Wertschätzung ist das Wort mindestens neutral.

Dagegen besitzen wir noch ein anderes Wort Jesu in Bezug auf die Obrigkeit, welches sehr viel seltener citiert wird und doch tiefer in die Gedanken des Herrn einführt als das eben besprochene. Wir wollen es kurz betrachten; es wird uns auch deshalb wichtig sein, weil es überzuleiten vermag zur Betrachtung der Stellung, die Jesus zu den Rechtsordnungen überhaupt eingenommen hat. Bei Markus c. 10, 42 lesen wir: „Jesus rief seine Jünger und sprach zu ihnen: Ihr wisset, daß die, welche als Herrscher gelten unter den Völkern, Gewalt gegen sie brauchen und die Mächtigen unter ihnen Macht gegen sie üben. So aber ist's nicht bei euch; sondern wer unter euch groß werden will, der wird euer[68] Diener sein, und wer unter euch der erste sein will, der wird (soll) der Knecht aller sein.“ Hier mögen Sie vor allem die „Umwertung der Werte“ bemerken. Jesus kehrt ohne Vorbehalt das übliche Schema um: Groß sein und an der Spitze stehen, das bedeutet ihm dienen; seine Jünger sollen nicht herrschen wollen, sondern sich jedermann gegenüber zu Knechten machen. Sodann aber beachten Sie, wie er die Machthaber, d. h. die Obrigkeit, wie sie damals war, beurteilt. Ihre Funktionen beruhen auf Gewalt, und eben deshalb fallen sie für Jesus außerhalb einer sittlichen Beurteilung, ja stehen derselben prinzipiell gegenüber: „so geht es bei den Machthabern zu.“ Jesus schreibt seinen Jüngern vor, es anders zu machen. Recht und Rechtsordnung, die nur auf Gewalt, auf faktischer Macht und ihrer Ausübung beruhen, haben keinen sittlichen Wert. Trotzdem hat Jesus nicht befohlen, daß man sich dieser Obrigkeit entziehen soll; aber man soll sie nach ihrem Werte, d. h. nach ihrem Unwerte schätzen, und man soll sein eigenes Leben nach anderen Grundsätzen, nämlich nach den entgegengesetzten, einrichten: nicht Gewalt üben, sondern dienen. Damit sind wir bereits auf das allgemeine Gebiet der Rechtsordnungen überhaupt hinübergetreten; denn allem Rechte scheint es wesentlich zu sein, daß es sich mit Gewalt durchsetzt, wenn es in Frage gestellt wird.

2. Hier begegnen uns nun wieder zwei verschiedene Anschauungen. Die eine – sie ist in neuerer Zeit besonders von Sohm in Leipzig in seinem „Kirchenrecht“ behauptet worden, und er berührt sich mit der Auffassung Tolsloi’s – lehrt, die Welt des Geistlichen stehe ihrem Wesen nach zu dem Wesen des Rechts im Gegensatz; im Widerspruch zur Natur des Evangeliums und zu der auf ihm sich gründenden Gemeinschaft sei es zur Ausbildung von rechtlichen Ordnungen in der Kirche gekommen. Sohm ist so weit gegangen, daß er in seinem Überblick über die älteste Entwicklung der Kirche geradezu einen Sündenfall der Christenheit in dem Momente annimmt, wo sie Rechtsordnungen in ihrer Mitte Raum gewährt hat. Indessen hat er doch das Recht auf seinem Gebiete nicht antasten wollen. Jedes Recht hat ihm aber Tolstoi im Namen des Evangeliums abgesprochen. Er lehrt, daß der oberste Grundsatz des Evangeliums laute, man solle schlechthin niemals auf seinem Rechte bestehen, und Niemand, auch die Obrigkeit nicht, soll dem Bösen äußeren Widerstand leisten. Obrigkeit[69] und Recht haben einfach aufzuhören. Demgegenüber finden wir andere, welche mit größerer oder geringerer Entschiedenheit behaupten, das Evangelium schütze das Recht und alle Rechtsverhältnisse, ja heilige sie und hebe sie damit in die göttliche Sphäre. Dies sind, kurz gefaßt, die beiden Hauptanschauungen, die sich hier gegenüber stehen.

Was nun die letztere betrifft, so bedarf es nicht vieler Worte. Es ist ein Hohn auf das Evangelium, zu sagen, daß es alles, was sich als Recht und Rechtsverhältnisse in einem gegebenen Momente darstellt, schütze und heilige. Gewähren lassen und dulden ist etwas anderes als bekräftigen und konservieren. Ja man muß ernsthaft fragen, ob auch nur von Duldung die Rede sein könne, und ob nicht Tolstoi hier richtig geurteilt hat. Um der Schwierigkeit der Sache willen müssen wir etwas ausholen:

Jahrhunderte hindurch hatten Bedrückte und Arme im Volke Israel nach ihrem Rechte geschrieen. In den Worten der Propheten und aus den Gebeten der Psalmisten vernehmen wir heute noch in ergreifender Weise diesen Schrei, der doch immer wieder überhört wurde. Es gab keine Rechtsordnung, die nicht unter der Gewalt tyrannischer Gewalthaber stand und von ihnen nach Gutdünken verkehrt und ausgebeutet wurde. Wir dürfen daher, wenn wir von Rechtsordnungen und -übung hier sprechen und Jesu Verhältnis zu ihnen untersuchen, nicht sofort an unsere Rechtsverhältnisse denken, die zum Teil auf dem Boden des Christentums erwachsen sind. Jesus stand in einer Nation, deren größere Hälfte Generationen hindurch vergebens ihr Recht verlangt hatte und die das Recht nur als Gewalt kannte. In einem solchen Volke mußte mit Notwendigkeit Verzweiflung an dem Rechte überhaupt Platz greifen; Verzweiflung sowohl in Bezug auf die Möglichkeit, auf Erden Recht zu bekommen, als – in umgekehrter Richtung – in Bezug auf die sittliche Zulässigkeit des Rechts. Etwas von dieser Stimmung kann man auch im Evangelium wahrnehmen. Aber, und dies ist das Zweite und korrigiert immer wieder diese Stimmung: Jesus ist mit allen wahrhaft Frommen felsenfest davon überzeugt gewesen, daß Gott schließlich Recht schafft. Schafft er es nicht hier, so schafft er es dort, und das ist die Hauptsache. In diesem Zusammenhange ist für Jesus die Idee des Rechts im Sinne der gerechten Vergeltung nicht eine verwerfliche, sondern eine hohe, ja beherrschende gewesen. Sie ist die Majestätsfunktion Gottes –[70] inwiefern sie durch seine Barmherzigkeit modifiziert wird, davon kann hier abgesehen werden. Also, daß Jesus das Recht als solches und die Rechtsübung abschätzig beurteilt habe, davon kann keine Rede sein. Jedem soll vielmehr sein Recht werden, ja noch mehr: seine Jünger werden einst an der Rechtsprechung Gottes teilnehmen und selbst richten! Nur das Recht, wie es mit Gewalt und daher als Unrecht geübt wurde, das Recht, welches wie ein tyrannisches und blutiges Verhängnis über dem Volke lag, das hat er beiseite geschoben. An das wahre Recht glaubte er, und er war auch gewiß, daß es sich durchsetzen werde; er war dessen so gewiß, daß er nicht meinte, das Recht müsse Gewalt brauchen, um Recht zu bleiben.

Das führt uns auf das Letzte. Wir besitzen eine Reihe von Sprüchen Jesu, in denen er seine Jünger angewiesen hat, auf alle Rechtsforderung zu verzichten und sich somit ihres Rechtes zu begeben. Sie alle kennen diese Sprüche. Ich erinnere nur an das Wort: „Ihr sollt nicht widerstreben dem Bösen, sondern so dir jemand einen Streich giebt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar, und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel.“[WS 14] Hier scheint eine Forderung aufgestellt zu sein, die das Recht verurteilt und das Rechtsleben auflöst. Je und je hat man sich daher auf diese Worte berufen, um, sei es die Unvereinbarkeit des Evangeliums mit dem wirklichen Leben, sei es den Abfall der Christenheit von ihrem Meister darzuthun. Dem gegenüber ist folgendes zu bemerken: 1. Jesus war, wie wir gesehen haben, von der Überzeugung durchdrungen, daß Gott das Recht schafft; zuletzt also wird nicht der Vergewaltigende siegen, sondern der Bedrückte wird sein Recht erhalten, 2. irdische Rechte sind an sich eine geringe Sache; sie zu verlieren bedeutet nicht viel, 3. die Verhältnisse sind so traurig, die Ungerechtigkeit hat auf Erden so überhand genommen, daß der Bedrückte sein Recht nicht durchzusetzen vermag, auch wenn er es versuchte, 4. – und das ist die Hauptsache, – wie Gott seine Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit durchwaltet und seine Sonne über Gute und Böse scheinen läßt, so soll der Jünger Jesu seinen Gegnern Liebe beweisen und sie durch Sanftmut entwaffnen. Das sind die Gedanken, welche jenen hohen Sprüchen zu Grunde liegen und die ihnen zugleich ihr Maß geben. Und ist die Forderung, die sie enthalten, wirklich eine so überirdische, unmögliche? Weisen wir nicht[71] auch im Kreise der Familie und der Freundschaft die Unsrigen an, so zu verfahren und nicht Böses mit Bösem und Scheltwort mit Scheltwort zu vergelten? Welche Familie, welcher Bund kann bestehen, wenn jeder in ihr nur sein Recht verfolgen wollte, wenn er nicht lernte, auf dasselbe, selbst bei einem Angriff, zu verzichten? Jesus sieht seine Jünger als einen Kreis von Freunden an, und er blickt über ihn hinaus auf einen Bruderbund, der sich ausgestalten und erweitern wird. Aber soll man auch dem Feinde gegenüber in allen Fällen auf die Verfolgung seines Rechts verzichten, soll man ausschließlich die Waffe der Sanftmut brauchen? Soll, um mit Tolstoi zu reden, die Obrigkeit nicht strafen (und damit überhaupt verschwinden), sollen die Völker nicht für Haus und Hof eintreten, wenn sie freventlich angegriffen werden etc.? Ich wage zu behaupten, daß Jesus bei jenen Worten an solche Fälle gar nicht gedacht hat, und daß die Ausdeutung in dieser Richtung ein plumpes und gefährliches Mißverständnis bedeutet: Jesus hat immer nur den einzelnen im Auge und die stetige Gesinnung des Herzens in der Liebe. Daß diese bei Verfolgung des eigenen Rechts, bei gewissenhafter Rechtsprechung und bei ernstem Strafvollzug überhaupt nicht bestehen könne, ist ein Vorurteil, für welches man sich vergebens auf den Buchstaben jener Sprüche beruft, die doch nicht Gesetze, also Rechtsordnungen, sein wollen. Das aber muß hinzugefügt werden, um der Hoheit der evangelischen Forderung nichts abzuziehen: der Jünger Jesu soll imstande sein, auf die Verfolgung seines Rechtes zu verzichten, und er soll mitarbeiten, daß ein Volk von Brüdern werde, in welchem das Recht sich nicht mehr mit Gewalt durchsetzt, sondern durch den freien Gehorsam des Guten, und welches nicht durch Rechtsordnungen verbunden ist, sondern durch Dienst in der Liebe.




Anmerkung des Autors (1908)

  1. S. Hatch, Die Gesellschaftsverfassung der christlichen Kirchen im Altertum (deutsch von Harnack, 1883), Schlußausführung.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. 1. Kor 9,14.
  2. Mt 5,42.
  3. Joh 12,8.
  4. Lev 19,18.
  5. Nach heutigem Forschungsstand eine Perikope des Nazaräerevangeliums, Fragment 16 (vgl. Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, hg. v. Wilhelm Schneemelcher, Tübingen 6. Aufl. 1990, Bd. I. S. 135).
  6. Lev 19,18.
  7. Mt 8,20.
  8. Lk 17,14.
  9. Mt 23,3.
  10. Mt 23,27.
  11. Lk 13,32.
  12. Julius Wellhausen, Das Evangelium Matthaei, 1904, S. 21.
  13. Mt 22,21.
  14. Mt 5,39f.


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