würde, wenn er ihn bäte; aber er bat ihn nicht. Als sie ihn zum Könige machen wollten, entwich er. Zuletzt freilich, als er es für gut hielt, sich dem ganzen Volke als den Messias zu offenbaren – der Entschluß und seine Ausführung sind uns dunkel –, da zog er als König in Jerusalem ein; aber er wählte aus der Prophetie die Erscheinungsform, die von einer politischen Manifestation am weitesten ablag, und wie er sein messianisches Recht verstand, das zeigt die Austreibung der Krämer aus dem Tempel. In dieser Tempelreinigung wandte er sich nicht gegen die politische Obrigkeit, sondern gegen die, welche sich obrigkeitliche Rechte über die Seelen angemaßt hatten. In jedem Volke etabliert sich neben der besagten Obrigkeit eine unberufene, oder vielmehr zwei unberufene. Das ist die politische Kirche, und das sind die politischen Parteien. Die politische Kirche, im weitesten Sinn des Worts und unter sehr verschiedenen Masken, will herrschen; sie will die Seelen und die Leiber, die Gewissen und die Güter. Dasselbe wollen die politischen Parteien, und indem ihre Führer sich zu Leitern des Volks aufwerfen, entwickeln sie einen Terrorismus, der oft schlimmer ist als der Schrecken königlicher Despoten. So war es auch in Palästina zur Zeit Jesu. Die Priester und die Pharisäer hielten das Volk in Banden und mordeten ihm die Seele. Gegen diese unberufene Obrigkeit zeigte Jesus eine wahrhaft befreiende und erquickende Pietätslosigkeit. Er ist nicht müde geworden – ja er steigerte sich im Kampfe bis zum heiligsten Zorn –, diese „Obrigkeit“ zu befehden, ihre Wolfsnatur und ihre Heuchelei aufzudecken und ihr das Gericht anzukündigen. An der Stelle, an der sie befugt war, ließ er sie gelten: „Gehet hin und zeiget euch den Priestern.“[WS 1] Soweit sie wirklich das Gesetz Gottes verkündigten, erkannte er sie an: „Was sie euch sagen, das thut.“[WS 2] Aber eben diesen Leuten hielt er die furchtbare Strafpredigt Matth. 23: „Wehe euch, Schriftgelehrten und Pharisäern, ihr Heuchler, die ihr gleich seid wie die übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totenbeine und alles Unflats.“[WS 3] Gegenüber dieser geistlichen „Obrigkeit“ hat er also seine Jünger mit einer heiligen Pietätslosigkeit erfüllt, und auch von dem „Könige“ Herodes hat er mit bitterer Ironie gesprochen: „Gehet hin und saget diesem Fuchs.“[WS 4] Dagegen der wirklichen Obrigkeit gegenüber, die das Schwert führte, ist seine Haltung, soweit wir nach den spärlichen Zeugnissen zu urteilen vermögen, eine andere. Er erkannte ihr
Anmerkungen (Wikisource)
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 066. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/070&oldid=- (Version vom 30.6.2018)