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Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/065

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d. h. ein Kampf gegen das Übel und gegen die Not. Ja man könnte fast meinen, daß er das niederzwingende Gewicht des Elends und der Armut zu hoch taxiert, daß er sich zuviel damit abgegeben habe, und daß er den Kräften, die diesem Zustande gegenüber wirksam sein sollen – dem Mitleid und der Barmherzigkeit – eine zu große Bedeutung im Ganzen der sittlichen Lebensbewegung zugesprochen habe. Freilich auch dies wäre nicht richtig; denn er kennt eine Macht, die er noch für schlimmer hält als Not und Elend, das ist die Sünde, und er weiß von einer Kraft, die noch befreiender ist als die Barmherzigkeit, das ist die Vergebung. Darüber läßt sein Reden und sein Handeln keinen Zweifel. Fest steht also: Jesus hat die Armut und das Elend nie und nirgends konservieren wollen, sondern er hat sie bekämpft und zu bekämpfen geheißen. Diejenigen Christen, die im Laufe der Kirchengeschichte aufgetreten sind, um die Bettelei zu protegieren und eine allgemeine Verarmung anzuraten, oder die in sentimentaler Weise mit der Not und dem Elend kokettieren, können sich nicht mit Fug auf ihn berufen. Wohl aber hat er denen, die ihr ganzes Leben der Verkündigung des Evangeliums und dem Dienste am Wort weihen wollen – er verlangte das nicht von allen, sondern er sah darin einen besonderen Gottesruf und eine besondere Gabe – ihnen hat er befohlen, sie sollen sich alles Besitzes, also aller irdischen Güter entäußern. Doch hat er sie deshalb nicht auf das Betteln verwiesen. Sie sollen vielmehr gewiß sein, daß sie ihr Brot und ihre Nahrung finden werden. Wie er das gemeint hat, das erfahren wir aus einem Wort von ihm, welches zufällig in den Evangelien nicht enthalten ist, welches uns aber der Apostel Paulus überliefert hat. Er schreibt 1. Kor. 9: „Der Herr hat befohlen, daß, die das Evangelium verkündigen, sich auch vom Evangelium nähren sollen.“[WS 1] Besitzlosigkeit hat er von den Dienern am Wort, d. h. von den Missionaren, verlangt, damit sie ganz ihrem Berufe leben können. Er hat aber nicht gemeint, daß sie betteln sollen. Das ist ein franziskanisches Mißverständnis, welches vielleicht nahe liegt, aber doch vom Sinne Jesu abführt.

Gestatten Sie mir hier eine kurze Abschweifung. Diejenigen, die in den christlichen Kirchen professionsmäßige Evangelisten oder Diener am Wort innerhalb der Gemeinden geworden sind, haben es in der Regel nicht für nötig gehalten, jene Anweisung des Herrn, sich der irdischen Güter zu entäußern, zu befolgen. Sofern es sich

Anmerkungen (Wikisource)

  1. 1. Kor 9,14.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 061. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/065&oldid=- (Version vom 30.6.2018)