Zum Inhalt springen

Das Wesen des Christentums/Fünfte Vorlesung

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« Vierte Vorlesung Adolf von Harnack
Das Wesen des Christentums
Sechste Vorlesung »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).


[48]
Fünfte Vorlesung.




Am Schlusse der letzten Vorlesung habe ich auf die Seligpreisungen verwiesen und in Kürze angedeutet, daß sie in besonders eindrucksvoller Weise die Religion Jesu darstellen. Ich möchte Sie an eine andere Stelle erinnern, welche zeigt, daß Jesus in der Übung der Nächstenliebe und Barmherzigkeit die eigentliche Bethätigung der Religion erkannt hat. In einer seiner letzten Reden hat er vom Gericht gesprochen und in einem Gleichnisse es anschaulich gemacht, nämlich in dem Gleichnisse vom Hirten, der die Schafe und die Böcke scheidet. Den einzigen Scheidungsgrund aber bildet die Frage der Barmherzigkeit. Sie wird in der Form aufgeworfen, ob die Menschen Ihn selbst gespeist, getränkt und besucht haben, d. h. sie wird als religiöse Frage gestellt; die Paradoxie wird dann aufgehoben in dem Satze: „Was ihr dem Geringsten unter meinen Brüdern gethan habt, das habt ihr mir gethan.“[WS 1] Deutlicher kann man es nicht vor die Augen malen, daß im Sinne Jesu Barmherzigkeit das Entscheidende ist, und daß die Gesinnung, in der sie geübt wird, auch die richtige religiöse Haltung verbürgt. Inwiefern? Weil die Menschen in der Übung dieser Tugend Gottes Nachahmer sind: „Seid barmherzig wie euer Vater im Himmel barmherzig ist.“[WS 2] Das Majestätsrecht Gottes übt, wer Barmherzigkeit übt; denn Gottes Gerechtigkeit vollzieht sich nicht nach der Regel: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“[WS 3], sondern steht unter der Macht seiner Barmherzigkeit.

Lassen Sie uns einen Augenblick hier verweilen: es war ein ungeheurer Fortschritt in der Geschichte der Religion, es war eine[49] neue Religionsstiftung, als einerseits in Griechenland durch Dichter und Denker, andererseits in Palästina durch die Propheten die Idee der Gerechtigkeit und des gerechten Gottes lebendig wurde und die überlieferte Religion umbildete. Die Götter wurden auf eine höhere Stufe gehoben und versittlicht; der kriegerische und unberechenbare Jehovah wurde zu einem heiligen Wesen, auf dessen Gericht man sich verlassen konnte, wenn auch in Furcht und Zittern. Die beiden großen Gebiete, die Religion und die Moral, bisher getrennt, rückten nahe zusammen; „denn die Gottheit ist heilig und gerecht“. Was sich damals entwickelt hat, ist unsre Geschichte; denn es gäbe überhaupt keine „Menschheit“, keine „Weltgeschichte“ im höheren Sinn ohne jene entscheidende Wandlung. Ihre nächste Folge läßt sich in die Maxime zusammenfassen: „Was ihr nicht wollt, daß euch die Leute thun, das thut ihnen auch nicht.“ Diese Regel, so nüchtern und dürftig sie erscheint, enthält doch eine ungeheure sittigende Kraft, wenn sie auf alle menschlichen Beziehungen ausgedehnt und mit Ernst beobachtet wird.

Aber sie enthält doch nicht das Letzte. Der letzte mögliche und notwendige Fortschritt war erst vollzogen – wiederum eine neue Religionsstiftung! –, als sich die Gerechtigkeit der Barmherzigkeit unterwerfen mußte, als der Gedanke der Brüderlichkeit und der Aufopferung im Dienste des Nächsten souverän wurde. Die Maxime scheint auch diesmal nüchtern – „Was ihr wollt, das euch die Leute thun, das thut ihnen auch“[WS 4] –, und doch führt sie, richtig verstanden, auf die Höhe und schließt eine neue Sinnesweise und eine neue Beurteilung des eigenen Lebens ein. Der Gedanke: „Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen“[WS 5], ist uns mittelbar mit ihr gesetzt und damit eine Umwertung der Werte in der Gewißheit, daß das wahre Leben nicht an diese Spanne Zeit geknüpft ist und nicht am sinnlichen Dasein haftet.

Ich hoffe damit, wenn auch in Kürze, gezeigt zu haben, daß auch in dem Kreise der Gedanken Jesu, der durch die „bessere Gerechtigkeit“[WS 6] und das „neue Gebot der Liebe“[WS 7] bezeichnet ist, das Ganze seiner Lehre enthalten ist. In der That, jene drei Kreise, welche wir unterschieden haben – das Reich Gottes, Gott als der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele, die in der Liebe sich darstellende „bessere“ Gerechtigkeit – fallen zusammen; denn das Reich Gottes ist letztlich nichts anderes als der Schatz, den die Seele an dem ewigen und barmherzigen Gott besitzt, und von hier[50] aus kann in wenigen Strichen alles entwickelt werden, was die Christenheit als Hoffnung, Glaube und Liebe auf Grund der Sprüche Jesu erkannt hat und festhalten will.


Wir gehen weiter. Nachdem wir die Grundzüge der Verkündigung Jesu festgestellt haben, versuchen wir, in dem zweiten Abschnitte die Hauptbeziehungen des Evangeliums im einzelnen zu behandeln. Wir heben sechs Punkte bezw. Fragen hervor, die, weil sie an sich die wichtigsten sind, auch zu allen Zeiten als solche empfunden und beurteilt wurden. Und mag auch im Laufe der Kirchengeschichte die eine oder die andere Frage einige Jahrzehnte hindurch in den Hintergrund getreten sein, so kehrte sie doch immer wieder, und zwar mit verdoppelter Kraft, zurück:

  1. Das Evangelium und die Welt, oder die Frage der Askese,
  2. Das Evangelium und die Armut, oder die soziale Frage,
  3. Das Evangelium und das Recht, oder die Frage nach den irdischen Ordnungen,
  4. Das Evangelium und die Arbeit, oder die Frage der Kultur,
  5. Das Evangelium und der Gottessohn, oder die Frage der Christologie,
  6. Das Evangelium und die Lehre, oder die Frage nach dem Bekenntnis.

An diesen sechs Fragen – die vier ersten gehören zusammen, die beiden folgenden stehen für sich – hoffe ich, die wichtigsten Beziehungen der Verkündigung Jesu, freilich nur in Umrissen, darstellen zu können.

1. Das Evangelium und die Welt, oder die Frage der Askese.

Es ist eine weitverbreitete Meinung – in den katholischen Kirchen herrscht sie, und viele Protestanten teilen sie heute –, das Evangelium sei im letzten Grunde und in seinen wichtigsten Anweisungen streng weltflüchtig und asketisch. Die einen verkündigen diese „Erkenntnis“ mit Teilnahme und Bewunderung, ja sie steigern sie bis zu der Behauptung, eben in dem weltverneinenden Charakter liege, wie im Buddhismus, der ganze Wert und die Bedeutung der genuinen christlichen Religion beschlossen. Die anderen betonen die weltflüchtigen Lehren des Evangeliums, um dadurch seine Unver-[51] einbarkeit mit den modernen sittlichen Grundsätzen darzuthun und die Unbrauchbarkeit dieser Religion zu erweisen. Einen[AU 1] eigentümlichen Ausweg, eigentlich ein Produkt der Verzweiflung, haben die katholischen Kirchen gefunden. Sie erkennen, wie bemerkt, den weltverneinenden Charakter des Evangeliums an und lehren dem entsprechend, daß das eigentliche christliche Leben nur in der Form des Mönchtums – das ist die „vita religiosa“ – zum Ausdruck komme; aber sie lassen ein „niederes“ Christentum ohne Askese als „noch ausreichend“ zu. Diese merkwürdige Konzession mag hier auf sich beruhen bleiben: daß die volle Nachfolge Christi nur den Mönchen möglich ist, ist katholische Lehre. Mit ihr hat ein großer Philosoph und noch größerer Schriftsteller unseres Jahrhunderts gemeinsame Sache gemacht: Schopenhauer feiert das Christentum, weil und sofern es große Asketen wie den heiligen Antonius oder den heiligen Franciscus erweckt hat; was darüber hinausliegt in der christlichen Verkündigung, erscheint ihm unbrauchbar und anstößig. In viel tieferer Betrachtung als Schopenhauer und mit einer hinreißenden Kräftigkeit der Empfindung und Macht der Sprache hat Tolstoi die asketischen und weltflüchtigen Züge des Evangeliums ausgehoben und zur Nachachtung zusammengefaßt. Man kann auch nicht verkennen, daß das asketische Ideal, welches er dem Evangelium entnimmt, warm und stark ist und den Dienst am Nächsten einschließt; aber die Weltflucht erscheint auch bei ihm als das Charakteristische. Tausende unserer „Gebildeten“ lassen sich durch seine Erzählungen an- und aufregen; aber im tiefsten Grunde sind sie beruhigt und erfreut, daß das Christentum Weltverneinung bedeutet; denn nun wissen sie bestimmt, daß es sie nichts angeht. Mit Recht sind sie nämlich gewiß, daß ihnen diese Welt gegeben ist, um sich innerhalb ihrer Güter und Ordnungen zu bewähren; verlangt das Christentum etwas anderes, so ist seine Widernatürlichkeit erwiesen. Weiß es diesem Leben keinen Zweck zu setzen, verschiebt es alles auf ein Jenseits, erklärt es die irdischen Güter für unwert und leitet es ausschließlich zur Weltflucht und zu einem beschaulichen Leben an, so beleidigt es alle Thatkräftigen, ja letztlich alle wahrhaftigen Naturen; denn diese sind gewiß, daß uns unsre Fähigkeiten gegeben sind, damit wir sie gebrauchen, und die Erde uns zugewiesen ist, damit wir sie bebauen und beherrschen.

Aber ist das Evangelium nicht wirklich weltverneinend? Es sind sehr bekannte Stellen, auf die man sich beruft und die eine[52] andere Deutung nicht zuzulassen scheinen: „Ärgert dich dein Auge, so reiß es aus und wirf es von dir; ärgert dich deine Hand, so haue sie ab,“[WS 8] oder die Antwort an den reichen Jüngling: „Gehe hin und verkaufe alles, was du hast, so wirst du einen Schatz im Himmel haben,“[WS 9] oder das Wort von denen, die sich um des Himmelreichs willen selbst verschnitten haben, oder der Spruch: „So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“[WS 10] Nach diesen Worten und anderen scheint es ausgemacht, daß das Evangelium durchaus weltflüchtig und asketisch ist. Aber ich stelle dieser These drei Betrachtungen gegenüber, die in eine andere Richtung führen. Die erste ist aus der Art des Auftretens Jesu und aus seiner Lebensführung und -anweisung gewonnen; die zweite gründet sich auf den Eindruck, den seine Jünger von ihm gehabt und in ihrem eigenen Leben wiedergegeben haben; die dritte endlich wurzelt in dem, was wir über die „Grundzüge“ des Evangeliums ausgeführt haben.

1. In unseren Evangelien finden wir ein merkwürdiges Wort Jesu; es lautet: „Johannes ist gekommen, aß nicht und trank nicht; so sagen sie: Er hat den Teufel. Des Menschen Sohn ist gekommen, isset und trinket; so sagen sie: Siehe wie ist der Mensch ein Fresser und ein Weinsäufer.“[WS 11] Also einen Fresser und Weinsäufer hat man ihn genannt neben den anderen Schmähnamen, die man ihm gab. Hieraus geht deutlich hervor, daß er in seiner ganzen Haltung und Lebensweise einen anderen Eindruck gemacht hat als der große Bußprediger am Jordan. Unbefangen muß er den Gebieten, auf denen herkömmlich Askese getrieben wurde, gegenüber gestanden haben. Wir sehen ihn in den Häusern der Reichen und der Armen, bei Mahlzeiten, bei Frauen und unter Kindern, nach der Überlieferung auch auf einer Hochzeit. Er läßt sich die Füße waschen und das Haupt salben. Weiter, er kehrt gern bei Maria und Martha ein und verlangt nicht, daß sie ihr Haus verlassen. Auch diejenigen, bei denen er freudig einen starken Glauben findet, läßt er in ihrem Beruf und Stand. Wir hören nicht, daß er ihnen zuruft: Gebt alles preis und folgt mir nach. Augenscheinlich hält er es für möglich, ja für angemessen, daß sie ihres Glaubens an der Stelle leben, an die sie Gott gestellt hat. Sein Jüngerkreis erschöpft sich nicht in den wenigen, die er zu direkter Nachfolge aufgerufen hat. Gotteskinder findet er überall; sie in der Ver-[53] borgenheit zu entdecken und ihnen ein Wort der Kraft sagen zu dürfen, ist ihm die höchste Freude. Aber auch seine Jünger hat er nicht als einen Mönchsorden organisiert: was sie zu thun und zu lassen haben im Leben des Tages, darüber hat er ihnen keine Vorschriften gegeben. Wer die Evangelien unbefangen liest und nicht Silben sticht, der muß erkennen, daß man diesen freien und lebendigen Geist nicht unter das Joch der Askese gebeugt findet, und daß daher die Worte, die in diese Richtung weisen, nicht versteift und verallgemeinert werden dürfen, sondern in einem weiteren Zusammenhange und von einer höheren Warte zu beurteilen sind.

2. Es ist gewiß, daß die Jünger Jesu ihren Meister nicht als weltflüchtigen Asketen verstanden haben. Wir werden später sehen, welche Opfer sie für das Evangelium gebracht und in welchem Sinne sie auf die Welt verzichtet haben – aber offenbar ist, sie haben nicht asketische Übungen in den Vordergrund gestellt; sie haben die Regel aufrecht erhalten, daß ein Arbeiter seines Lohnes wert sei; sie haben ihre Frauen nicht fortgeschickt. Von Petrus wird uns zufällig erzählt, daß ihn sein Weib auf seinen Missionsreisen begleitet hat. Wenn wir von dem Berichte über den Versuch in der Gemeinde zu Jerusalem absehen, eine Art von Kommunismus herzustellen – und wir dürfen ihn bei Seite lassen, da er unzuverlässig ist und der Versuch außerdem nicht asketischen Charakter getragen hat –, so finden wir im apostolischen Zeitalter nichts, was auf eine Gemeinschaft prinzipieller Asketen hindeutet, dagegen überall die Überzeugung als die herrschende, daß man in seinem Beruf und Stand, innerhalb der gegebenen Verhältnisse, ein Christ sein soll. Wie anders ist dem gegenüber von Anfang an im Buddhismus die Entwicklung verlaufen!

3. – das ist das Entscheidende –: ich erinnere Sie an das, was wir in Bezug auf die leitenden Gedanken Jesu ausgeführt haben. In den Ring, der durch Gottvertrauen, Demut, Sündenvergebung und Nächstenliebe bezeichnet ist, kann keine andere Maxime, am wenigsten eine gesetzliche, eingeschoben werden, und er macht es zugleich offenbar, in welchem Sinne das Gottesreich die „Welt“ zu ihrem Gegensatze hat. Wer den Worten: „Sorget nicht“[WS 12], „Seid barmherzig wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“[WS 13], etc. etwas Asketisches mit dem Anspruch auf gleiche Wertschätzung zuordnet, der versteht den Sinn und die Hoheit dieser[54] Sprüche nicht, der hat das Gefühl dafür verloren oder noch nicht gewonnen, daß es einen Zusammenschluß mit Gott giebt, der alle Fragen der Weltflucht und Askese hinter sich läßt.

Aus diesen Gründen müssen wir es ablehnen, das Evangelium als eine Botschaft der Weltverneinung zu verstehen.

Aber Jesus spricht von drei Feinden, und ihnen gegenüber giebt er nicht die Losung aus, sie zu fliehen, sondern er befiehlt, sie zu vernichten. Diese drei Feinde sind der Mammon, die Sorge und die Selbstsucht. Beachten Sie wohl, von Flucht oder Verneinung ist hier nicht die Rede, sondern von einem Kampfe, der bis zur Vernichtung geführt werden soll; jene finstern Mächte sollen niedergerungen werden. Unter Mammon versteht er irdisches Geld und Gut im weitesten Sinn des Worts, irdisches Geld und Gut, welches sich zum Herrn über uns und uns zu Tyrannen über andere machen will; denn Geld ist „geronnene Gewalt“[AU 2]. Wie von einer Person redet daher Jesus von diesem Feinde, wie wenn es sich um einen gewappneten Ritter oder um einen König, ja wie wenn es sich um den Teufel selbst handelte. Ihm gegenüber gilt das Wort: „Ihr könnet nicht zweien Herrn dienen.“[WS 14] Wo nur immer irgend etwas aus dem Gebiete dieses Mammons einem Menschen so wertvoll wird, daß er sein Herz daran hängt, daß er vor dem Verluste zittert, daß er nicht mehr bereit ist, es willig preiszugeben, da ist er schon in Banden geschlagen. Deshalb soll der Christ, wenn er diese Gefahr für sich fühlt, nicht paktieren, sondern kämpfen, und nicht nur kämpfen, sondern den Mammon abthun. Gewiß, wenn Christus heute unter uns predigte, er würde da nicht allgemein reden und allen zurufen: „Gebt alles weg,“ aber zu Tausenden unter uns würde er so sprechen, und daß kaum Einer sich findet, der jene Sprüche des Evangeliums auf sich beziehen zu müssen meint, soll uns wohl bedenklich machen.

Und das zweite ist die Sorge. Es mag uns auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, daß sie von Jesus als ein so furchtbarer Feind bezeichnet wird. Er rechnet sie zum „Heidentum“[WS 15]. Zwar hat auch er im Vaterunser beten gelehrt: „Unser Brot für den morgenden Tag gieb uns Tag um Tag“[WS 16]; aber solche zuversichtliche Bitte nennt er nicht Sorge. Er meint jene Sorge, die uns zu furchtsamen Sklaven des Tages und der Dinge macht, jene Sorge, durch welche wir stückweise an die Welt verfallen. Sie ist[55] ihm ein Attentat Gott gegenüber, der die Sperlinge auf dem Dache erhält; sie zerstört die Grundbeziehung zum himmlischen Vater, das kindliche Vertrauen, und vernichtet so unser inneres Wesen. Auch in diesem Punkte, wie in Bezug auf den Mammon, müssen wir bekennen, nicht ernst und tief genug zu empfinden, um der Predigt Jesu in vollem Umfang Recht zu geben. Aber es fragt sich, wer recht hat – Er mit dem unerbittlichen „Sorget nicht“[WS 17] oder wir mit unseren Abschwächungen –, und etwas davon fühlen wir wohl, daß ein Mensch dann erst wirklich frei, kräftig und unüberwindlich ist, wenn er alle seine Sorge abgestreift und auf Gott geworfen hat. Was könnten wir ausrichten und welche Macht würden wir besitzen, wenn wir nicht sorgten!

Und endlich drittens: die Selbstsucht. Selbstverleugnung, nicht Askese ist es, was Jesus hier verlangt, Selbstverleugnung bis zur Selbstentäußerung. „Ärgert dich dein Auge, so reiß es aus; ärgert dich deine Hand, so haue sie ab.“[WS 18] Wo nur immer ein sinnlicher Trieb in dir übermächtig wird, so daß du gemein wirst oder dir ein neuer Herr in deiner Eigenlust entsteht, da sollst du ihn vernichten – nicht, weil die Verstümmelten gottwohlgefällig sind, sondern weil du dein besseres Teil anders nicht zu bewahren vermagst. Das ist ein hartes Wort. Es wird auch nicht erfüllt durch eine generelle Verzichtleistuug, wie die Mönche sie üben – nach ihr kann alles beim alten bleiben –, sondern nur durch einen Kampf und die entschlossene Entäußerung am entscheidenden Punkte.

Allen diesen Feinden, dem Mammon, der Sorge und der Selbstsucht, gegenüber gilt es, Selbstverleugnung zu üben, und damit ist das Verhältnis zur Askese bestimmt. Diese behauptet den Unwert aller irdischen Güter an sich. Dürfte man aus dem Evangelium eine Theorie entwickeln, so würde man nicht auf diese Lehre geführt; denn „die Erde ist des Herrn, und was darinnen ist“[WS 19]. Aber nach dem Evangelium soll man fragen: Können und dürfen mit Besitz und Ehre, Freunde und Verwandte Güter sein, oder habe ich sie abzuthun? Wenn einige Sprüche Jesu uns hier in genereller Fassung überliefert und wohl auch so gesprochen sind, so sind sie nach dem Gesamtinhalt der Reden zu begrenzen. Heilige Selbstprüfung, ernste Wachsamkeit und Vernichtung des Gegners verlangt das Evangelium. Darüber aber kann kein Zweifel sein, daß Jesus in viel größerem Umfange, als wir es[56] gern wahr haben wollen, Selbstverleugnung und Entäußerung verlangt hat.

Fassen wir zusammen: Asketisch im prinzipiellen Sinn des Worts ist das Evangelium nicht; denn es ist eine Botschaft von dem Gottvertrauen, der Demut, der Sündenvergebung und der Barmherzigkeit: an diese Höhe reicht nichts anderes heran, und in diesen Ring kann sich nichts anderes eindrängen. Weiter, die irdischen Güter sind nicht des Teufels, sondern Gottes – „Euer himmlischer Vater weiß, daß ihr dies alles bedürft; er kleidet die Lilien und ernährt die Vögel unter dem Himmel.“[WS 20] Askese hat überhaupt keine Stelle im Evangelium; es verlangt aber einen Kampf, den Kampf gegen den Mammon, die Sorge und die Selbstsucht, und es verlangt und entbindet die Liebe, die da dient und sich opfert. Jener Kampf und diese Liebe sind die „Askese“ im evangelischen Sinn, und wer dem Evangelium Jesu eine andere aufbürdet, der verkennt es. Er verkennt seine Hoheit und seinen Ernst; denn es giebt noch etwas Ernsteres als „seinen Leib brennen lassen und seine Habe den Armen geben“[WS 21], nämlich Selbstverleugnung und Liebe.

2. Das Evangelium und die Armut, oder die soziale Frage.

Dies ist die zweite Beziehung des Evangeliums, welche wir ins Auge fassen wollten, und sie ist mit der ersten nahe verwandt. Auch hier wieder begegnen uns in der Gegenwart verschiedene Anschauungen, bezw. zwei Anschauungen, die sich gegenüber stehen. Die einen sagen uns, das Evangelium sei in der Hauptsache eine große soziale Botschaft für die Armen gewesen, alles andere an ihm sei etwas Sekundäres – zeitgeschichtliche Hüllen, alte Überlieferungen oder Umbildungen durch die ersten Generationen. Jesus sei ein großer sozialer Reformer gewesen, der die in tiefem Elend schmachtenden unteren Stände habe befreien wollen; er habe ein soziales Programm aufgestellt, welches die Gleichheit aller Menschen, die Befreiung aus wirtschaftlicher Not und die Erlösung von Druck und Übel enthalten habe. So allein, fügen sie hinzu, könne man ihn verstehen, und so sei er gewesen, oder vielleicht – weil wir ihn nur so verstehen können, ist er so gewesen. Seit Jahren werden Broschüren und Bücher in diesem Sinne über das Evan-[57] gelium geschrieben, gutgemeinte Darstellungen, die Jesus Christus auf diese Weise verteidigen und empfehlen wollen. Aber unter denen, welche das Evangelium für eine wesentlich soziale Botschaft halten, finden sich auch solche, die den umgekehrten Schluß ziehen. Indem sie nachzuweisen suchen, daß in der Verkündigung Jesu alles auf eine wirtschaftliche Umgestaltung hinauslaufe, erklären sie das Evangelium für ein ganz utopisches, unbrauchbares Programm: Jesus schaute mit einem sanften, aber blöden Blick in diese Welt hinein; aus den unteren und gedrückten Ständen auftauchend, teilte er den Argwohn der kleinen Leute gegen die Großen und Reichen, verabscheute allen gewinnbringenden Handel und Wandel, verkannte die Notwendigkeit des Gütererwerbs und spielte demgemäß sein Programm darauf hinaus, eine allgemeine Armut in der „Welt“ – dafür hielt er Palästina – zu verbreiten und dann im Gegensatze zu dem irdischen Elend sein „Himmelreich“ zu erbauen, ein Programm, an sich undurchführbar und kräftige Naturen abstoßend. So ungefähr urteilt ein anderer Teil unter denen, die das Evangelium mit einer sozialen Botschaft identifizieren.

Aber dieser Gruppe, die, in der Betrachtung einig, in der Beurteilung auseinander geht, stehen andere gegenüber, die einen ganz entgegengesetzten Eindruck vom Evangelium aufgenommen haben. Sie erklären, jede direkte Teilnahme Jesu an den wirtschaftlichen und sozialen Zuständen seiner Zeit, und noch mehr, jede prinzipielle Teilnahme an ökonomischen Fragen überhaupt werde in das Evangelium lediglich hineingelesen; dieses habe mit wirtschaftlichen Fragen schlechterdings gar nichts zu thun. Jesus, so sagen sie, hat wohl Bilder und Paradigmen jenen Gebieten entlehnt und hat sich auch persönlich der Elenden, Armen und Kranken herzlich angenommen; aber seine rein religiöse Predigt und seine Heilandswirksamkeit habe die Verbesserung der irdischen Lage jener Leute schlechterdings nicht ins Auge gefaßt; man verweltliche daher seine Zwecke und Absichten, wenn man sie auf soziale Verhältnisse beziehe. Ja es giebt nicht wenige unter uns, die ihn für einen „Konservativen“, wie sie selbst sind, halten: er habe als „gottgesetzt“ alles respektiert, was an sozialen Unterschieden und Ordnungen damals vorhanden war.

Sie erkennen, hier sind sehr verschiedene Stimmen laut geworden, und mit Hartnäckigkeit und Eifer werden die verschiedenen Standpunkte vertreten. Wenn wir nun versuchen wollen, die den[58] Thatsachen entsprechende Stellung zu finden, so haben wir eine kurze zeitgeschichtliche Vorbemerkung zu machen.

Die sozialen Zustände, wie sie im Zeitalter Jesu und schon geraume Zeit vorher in Palästina herrschten, sind uns nicht hinreichend bekannt. Aber gewisse Hauptzüge vermögen wir festzustellen und können namentlich ein Doppeltes konstatieren:

1. Die herrschenden Klassen, zu welchen vor allem die Pharisäer und auch die Priester gehörten – diese z. T. verbunden mit den irdischen Machthabern –, besaßen wenig Herz für die Not des armen Volkes. Es mag nicht viel schlimmer gewesen sein, als es bei jenen Klassen zu allen Zeiten und bei allen Völkern zugeht, aber es war schlimm. Und es kam hier noch hinzu, daß das Interesse für den Kultus und für die kultische „Gerechtigkeit“ die Teilnahme für den Armen und die Barmherzigkeit zurückdrängte. Die Bedrückung und Tyrannei seitens der Reichen war längst ein stehendes und unerschöpfliches Thema der Psalmisten und aller wärmer Empfindenden geworden. Auch Jesus hätte nicht so von den Reichen sprechen können, wie er gesprochen hat, wenn sie nicht damals in gröblicher Weise ihre Pflichten vernachlässigt hätten.

2. In den Kreisen des gedrückten und armen Volkes, in dieser großen Masse von Not und Übel, unter jenen zahlreichen Leuten, für die das Wort „Elend“ oft nur ein anderer Ausdruck für das Wort „Leben“, ja das Leben selbst ist – in diesem Volke hat es, wie wir sicher erkennen können, damals Kreise gegeben, die mit Inbrunst und unerschütterlicher Hoffnung an den Zusagen und Tröstungen ihres Gottes hingen, in Demut und Geduld wartend auf den Tag, da ihre Erlösung kommen werde. Oft zu arm, um auch nur die dürftigsten kultischen Segnungen und Vorteile erwerben zu können, gedrückt und gestoßen, in Ungerechtigkeit mißhandelt, konnten sie nicht zum Tempel aufschauen; aber sie blickten auf den Gott Israels, und heiße Gebete stiegen zu ihm empor: „Hüter, ist die Nacht schier hin?“[WS 22] So waren sie aufgeschlossen und empfänglich für Gott, und in manchen Psalmen und der ihnen verwandten späteren jüdischen Litteratur ist das Wort „die Armen“ geradezu eine Bezeichnung für die Empfänglichen, die auf den Trost Israels warteten. Diesen Sprachgebrauch fand Jesus vor und hat sich ihm angeschlossen. Wir können daher, wenn wir in den Evangelien auf das Wort „die Armen“ stoßen, nicht ohne weiteres nur an die wirtschaftlich Armen denken. Thatsächlich fiel damals die[59] wirtschaftliche Armut und die religiöse Demut und Aufgeschlossenheit (im Gegensatz zur sublimen „Tugendübung“ der Pharisäer und ihrer Routine in der „Gerechtigkeit“) in weitem Umfange zusammen. War dies aber der herrschende Zustand, dann ist deutlich, daß wir unsere heutigen Kategorien „arm und reich“ nicht ohne Umstände auf jene Zeit übertragen dürfen. Doch sollen wir nicht vergessen, daß in dem Wort „Arme“ in der Regel auch damals die wirtschaftliche Not miteingeschlossen war. Wir werden daher in der nächsten Vorlesung zu untersuchen haben, in welcher Richtung wir Unterscheidungen zu machen vermögen, bezw. ob es möglich ist, den Sinn der Worte Jesu zu treffen trotz der eigentümlichen Schwierigkeit, die in dem Begriff der „Armut“ liegt. Doch können wir im voraus die Hoffnung hegen, hier nicht im Dunklen bleiben zu müssen; denn das Evangelium in seinen Grundzügen wirft auch einen hellen Schein auf das Gebiet dieser Frage.




Anmerkungen des Autors (1908)

  1. Diese Satzgruppe würde ich jetzt so fassen: „Einen eigentümlichen Ausweg, eigentlich ein Produkt der Verzweiflung, haben die katholischen Kirchen gefunden. Sie gestehen zwar einerseits zu, daß das christliche Lebensideal auch innerhalb des weltlichen Lebens (durch Glaube, Liebe und Hoffnung – so die römische Kirche) zu erreichen sei, aber die eigentliche Nachfolge Jesu erkennen sie in der Askese (dem Mönchtum), erblicken nur in ihr die christliche Vollkommenheit und zugleich eine höhere Verdienstlichkeit und einen sicheren Weg zum ewigen Leben. Dadurch aber wird auf das christliche Leben innerhalb der Welt ein schwerer Schatten geworfen, und auch theoretische Aussagen darüber fehlen nicht, das das mönchische Leben nie eigentliche vita christiana sei, das engelgleiche Leben, jenes andere nur ein „niederes“ Leben, ja eigentlich nur ein eben noch zugelassenes.“
  2. Daß Geld „geronnene Gewalt“ ist hat Tolstoi gesagt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 25,40.
  2. Lk 6,36.
  3. Mt 5,38.
  4. Mt 7,12.
  5. Mt 10,39.
  6. Mt 5,20.
  7. Joh 13,34.
  8. Mt 5,29.
  9. Mt 19,21.
  10. Lk 14,26.
  11. Lk 7,33f.
  12. Mt 6,25.
  13. Lk 6,36.
  14. Mt 6,24.
  15. Mt 6,32.
  16. Mt 6,11.
  17. Mt 6,25.
  18. Mt 5,29f.
  19. Ps 24,1. Vgl. 1.Kor 10,26.
  20. Vgl. Mt 6,26.28.
  21. 1.Kor 13,3.
  22. Jes 21,11.


« Vierte Vorlesung Adolf von Harnack
Das Wesen des Christentums
Sechste Vorlesung »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).