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Antons Erben/II

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Textdaten
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Autor: W. Heimburg
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Titel: Antons Erben
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–14, S. 1–11, 38–48, 69–76, 101–108, 134–142, 166–175, 210–216, 248–254, 275–284, 304–312, 342–351, 368–375, 399–407, 439–442
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 8, S. 248–254

[248] Auf der Landstraße fährt ein Wagen, eine altmodische Kalesche mit Halbverdeck, plump und schwer wie man sie jetzt nicht mehr baut. Davor gespannt sind zwei dicke wohlgenährte Ackerpferde, braun und glänzend wie die Kastanien; der Lenker ist ein Knecht im Sonntagsstaat, nur die Mütze mit einer Silbertresse giebt ihm ein wenig das Ansehen eines Herrschaftskutschers; neben sich hat er einen Reisekorb und einige Schachteln und Taschen. Im Fond des Gefährts sitzen zwei Frauen, die Pastorin aus Wartau und Christel Mohrmann; sie haben sich die Hand gegeben und sprechen kein Wort, aber sie sehen sich mitunter an, und dann lächeln sie trübe.

Es ist ein Tag in der Mitte des Oktobers; die Obstbäume an der Chaussee sind ihrer Früchte beraubt und die Felder liegen kahl. Im Walde, an dessen Grenze sie eine Strecke lang dahinfahren, ist das Laub schon im Verfärben, glühendrot hängt die Eberesche an den Zweigen. Weit in der Ferne zieht sich das Gebirge hin, blau verschleiert, und hier und da brennt auf den Aeckern ein Kartoffelfeuer, und sein opalfarbener Rauch erfüllt die Gegend mit scharfem brenzligen Geruch.

Die dicken Gäule bringen mit ihrem gemütlichen Trab den Wagen doch endlich dem Ziele näher. Als sie ihn eine Anhöhe hinangeschleppt haben, sagt Christel zu der Schwester: „Dort drüben liegt Bärenwalde, Lotte, und das spitzige Dach nicht weit von der Kirche, das ist der Rödershof!“

Die Pastorin nickt. „Wie hübsch das Dorf daliegt, Christel, und wie stattlich! Die Gegend ist überhaupt schöner als bei uns, wo alles so flach und eben aussieht.“

„Ja, es ist schön hier und einsam, das Nest liegt ja weit genug ab von der großen Heerstraße. Freilich, solchen Boden wie Wartau giebt’s hier nicht, aber dann hätte ich den Rödershof auch nicht bezahlen können, Lottchen. Das dort sind meine Felder,“ sie deutet nach links hinüber, „und wenn ich vom Hofe hinaustrete, bin ich gleich auf eigenem Grund und Boden. Haben wir morgen schön Wetter, dann fahre ich dich hinaus, Lottchen.“

Die Pastorin nickt stumm; sie streift mit einem ängstlichen Blick die Schwester. Diese hat so etwas Stilles, so Strenges in den Augen, ihr Gesicht ist schmal geworden und in dem blonden Scheitel schimmern bereits einige weiße Haare. Wie muß sie sich gegrämt haben, die arme; ihr Schicksal war freilich auch danach.

Der Wagen fährt jetzt auf der Dorfstraße dahin; die Kinder, die eben aus der Schule kommen, schreien Christel ein „Daag!“ zu und die Weiber reißen die Fenster auf und sehen hinterher – die Rödersche hat ja wahrhaftig Besuch! Bis jetzt haben sie alle gemeint, die stehe allein in der Welt; keine Katze ist bei ihr gewesen, geschweige denn wer von der Verwandtschaft oder Freundschaft, so lange sie den Hof hat, und das war im verwichenen August ein Jahr.

Nun ist das Gefährt in einenn Thorbogen eingelenkt, den zwei plumpe Sandsteinpfeiler in der Mauer bezeichnen, und durchmißt einen Baumgarten, der das Haus umgiebt, einen alten Fachwerkbau, dessen hohes spitzes Dach über die beiden großen Linden hinausragt, die zur Seite der Hausthür stehen. Es ist kein Bauernhaus, dieses ziegelgedeckte sturmfeste Gebäude, es hat vielmehr einen herrschaftlichen Anstrich und sieht fast malerisch aus. Vor Jahren war Rödershof ein Vorwerk der großen Rüstorffschen Güter und fiel bei der Erbteilung einer älteren Schwester zu, die sich dieses Haus hinstellte, um ihre einsamen Tage hier zu beschließen. Laut der über der Hausthür angebrachten Jahreszahl ist es einhundertundsechsunddreißig Jahre alt.

Die Pastorin sieht ganz erstaunt auf dieses stattliche Anwesen, sie hat sich das alles so anders vorgestellt und sich Christel in einer Bauernkate gedacht, alle die Tage her, seitdem sie schrieb: „Ich habe mit meinem Kapital, das der Anwalt mir auszahlte, ein kleines Gut gekauft, so eins, das man hierorts ‚Klitsche‘ nennt; sobald ich eingerichtet bin, müßt ihr mich besuchen.“

Ein Mädchen in weißer Schürze und mit freundlichem jungen Gesicht ist jetzt aus der Thür getreten, heißt die Aussteigenden willkommen und wird der Pastorin vorgestellt: „Das ist Marie, Wirtschafterin, Köchin und Stubenmädchen in einer Person, liebe Lotte; und nun tritt ein, Schwester! Nicht wahr, Marie, das Mittagsessen ist bald fertig? – Geh nur in die Küche, ich besorge sonst alles und zeige meiner Schwester auch die Fremdenstube.“

Sie sind eine stattliche breite, aus Eichenholz gefügte Treppe emporgestiegen. Die Stufen sind in der Mitte schon ausgetreten, aber die dicken Säulen des Geländers könnten erst gestern fertig geworden sein, so unverändert und fast wie neu schauen sie aus. Der Vorsaal droben ist groß und geräumig; die Thüren aus Eichenholz, mit einfachen Zieraten versehen, vermutlich von derselben Künstlerhand, die das Treppengeländer schnitzte. Eine altmodische, sehr schadhafte, mit modernen Fetzen ausgebesserte Tapete bedeckt die Wände, der Boden ist mit Gips ausgegossen und ebenfalls stark ausgetreten. Aber trotzdem mutet es heimelig an; die Balken an der Decke sind so breit und ungefüg, sie scheinen zu sagen: wir sind stark, wir können schützen und decken vor Wetter und Unbilden, wer unter uns wohnt, hat Frieden.

Die Pastorin fühlt so ähnlich, indem sie sich umsieht. Christel öffnet eben eine Thür zur rechten Hand, der Gast tritt in das einfache Zimmer, und hier innen küssen und umarmen sich die zwei Schwestern zum erstenmal wieder, seitdem Christel ohne Lebewohl von Wartau gegangen ist.

„Hab’ Dank, daß du gekommen bist, Lotte, ich hatte so rechte Sehnsucht! Aber, siehst du, ich kann ja doch nicht zu euch.“

„Nein, Christel, nein, das kannst du nicht. – Robert läßt dich grüßen, er und die Kinder. Gottlob, daß ich dich gesund wiedersehe; wie haben wir doch immer mit Sorgen an dich gedacht, alte gute Christel!“

Christel geht nicht darauf ein; sie küßt nochmals die Schwester. „Mach’ dir’s bequem, und dann komm’ herunter! Linker Hand ist die Wohnstube; du mußt bald etwas Warmes essen, Lottchen.“ Dann ist sie gegangen und die Pastorin allein. Sie steht und sieht sich mit feuchten Blicken um. „Lieber Gott,“ sagt sie, „so allein in diesem weltvergessenen Winkel! Und sie konnte doch früher nicht leben ohne jemand zu haben, für den sie sorgte und schaffte. Doch wie nett sie es hier sich gemacht hat trotz alledem! Da ist ihre alte Kommode, die sie als Mädchen schon hatte, und dort der Spiegel, den sie von Mutter als einziges sich ausbat, als sie Hochzeit hielt; alles andere hat sie von ihren Spargroschen angekauft, [250] gekauft, das ganze bißchen Ausstattung. Das steht ja wohl nun unten, denn das hat sie ja auch zurückbekommen mit ihrem kleinen Vermögen – möcht’ wissen, ob er ihr dafür Zinsen gezahlt hat! Ihr Geld war ja doch der Grundstein seines jetzigen Wohlstandes. Ach, ich möchte vieles wissen, aber fragen kann man sie doch nicht danach.“

Sie streicht sich seufzend über den braunen schlichten Scheitel und geht dann nach unten. Als sie in das Wohnzimmer tritt, deckt Christel eben den Tisch; sie ist in einer großen leinenen Schürze und in einem sehr einfachen grauen Lüsterkleid. „Du mußt wirklich recht vorlieb nehmen,“ sagt sie mit frischer Stimme, „bist bei einer einfachen Bauernfrau, Lottchen, aber deinen Lieblingsbraten bekommst du doch; Nachbar Wendlandt hat Hühner geschossen.“

Es ist ein großes Zimmer mit alter, schon vielfach ausgebesserter Vertäfelung an den Wänden und mächtigem Balkenwerk unter der Decke. Um den riesigen Kachelofen von grüner Farbe – das einzige, was Christel für ihr eigenes Behagen angeschafft hat – zieht sich eine Ofenbank wie in einer richtigen Bauernstube. Er ist ein wenig angeheizt, und das macht es sehr gemütlich in dem niedrigen Raum. Die getäfelte Diele ist spiegelblank und Christels alte Möbel stehen wirklich hier unten, auch der Raritätenschrank, den sie als Mädchen schon besaß; sie sehen ganz stattlich aus. Ein paar Familienbilder hängen oberhalb der Vertäfelung an der einfach weiß getünchten Wand; in der tiefen Fensternische steht der Nähtisch, und über ihm hängt der Vogelbauer mit einem lustigen, goldgelben Mätzchen. Durch die mit einfachen Gardinen verhängten Fenster scheint die blasse Oktobersonne.

Marie kommt eben mit der Suppenschüssel. „Heute wird’s der Frau aber schmecken,“ sagt sie lächelnd, „wo sie nicht allein am Tische zu sitzen braucht; da wird die Frau auch nicht so schnell fertig sein wie sonst, wo man meint, es sei gar nicht möglich, daß sie gegessen hat.“

„Ja,“ nickt Christel, „das kannst du erleben, daß ich heute länger sitzen bleibe. Komm’, Lotte,“ und hinter ihren Stuhl tretend, spricht sie das Tischgebet.

Der Pastorin stehen schon wieder die Thränen in den Augen. „Ganz allein sitzt du hier beim Essen?“ fragt sie.

Christel bejaht. „Mittags immer.“

„Ach Gott, ach Gott, wie hältst du das nur aus, Christel? Mir schmeckte so allein kein Bissen.“

Christel sieht sie an. Ich habe Schwereres ausgehalten, sagen ihre Augen.

„Es ist nicht so schlimm, Lottchen,“ tröstet ihr Mund, „versalze dir die Suppe nur nicht mit deinen Thränen.“

Aber die Pastorin schluchzt immerfort, und endlich, als man beim Nachtisch ist, der aus Eierkuchen und geschmorten Pflaumen besteht, bricht sie in die Worte aus: „Warum bist du denn nicht lieber in Dresden geblieben und lebst von deinen Zinsen? Konntest ja Zimmer vermieten, oder so was? Großer Gott, Christel, hier mußt du ja tiefsinnig werden!“

„Lotte, du weißt ja gar nicht,“ sagt die Schwester, und sie legt den Löffel auf den Teller und schiebt diesen langsam zurück, „du weißt ja nicht,“ wiederholt sie, „wie ich mich gesehnt habe nach diesem Alleinsein, nach Luft, nach Arbeit, nach so viel Arbeit, daß ich gar nicht zum Denken kommen kann. Ich sollte da in Dresden müßig sitzen in einer Mietswohnung, ich, die, seit ich erwachsen bin, immer auf dem Lande war? Ich sollte da müßig sitzen, in einer engen Stube, ich, die überhaupt nur ruhig werden kann unter Gottes freiem Himmel, die ich keinen Atem kriege vor Bangigkeit beim Müßigsein?“

Sie ist ganz rot geworden; sie steht auf, stößt den Stuhl zurück und reckt die Arme, als müsse sie sich wehren gegen jemand, der sie in diese Mietswohnung schleppen will. „Lotte, bedenke doch,“ fährt sie fort, „wie ich an das Wirtschaften gewöhnt bin! In meiner Sehnsucht, in meinem Gram, da bin ich immer nur hinausgeflüchtet aus der Stube, bin umhergewandert in der Umgebung Dresdens, alle Tage, meilenweit. Nur keinen Menschen sehen, nur Einsamkeit, Luft! Und dann kam der Tag, wo die Gerichte uns endgültig losgesprochen hatten voneinander, und da, an dem nämlichen Tage kaufte ich mir ein Billet und fuhr ein Stück vom Böhmischen Bahnhof aus. Ich nannte eine Station, ein kleines Städtchen an einer Zweigbahn, von dem ich kürzlich hatte sprechen hören. Der Zufall fügte, daß auch gerade ein Zug dorthin abging. Bis ans Ziel fuhr ich gar nicht mit, in Dittsdorf stieg ich aus und lief auf gut Glück die Chaussee nach Bärenwalde zu. Wie ich da mitten im Dorfe stand, wurde mir so elend zu Mute, ich bekam starkes Kopfweh mit Schwindel und sah mich nach einer Bank um, wo ich ausruhen könnte. Das Thor zu dem Rödershof stand offen und ich schleppte mich bis hier herauf, nach der Bank unter der Linde; und da saß ich und saß, bis es dämmerig wurde, kein Mensch kam, alles öde, das Gehöft war wie ausgestorben. Endlich ging ich in die Hausthür hinein und fand eine alte Frau in der Küche, die Kartoffeln schälte, die übrigen Hausgenossen und das Gesinde war wohl auf den Feldern. Sie ließ ihre Arbeit, führte mich in diese Stube und holte mir ein Glas Milch, um das ich bat; dann setzte sie sich in den Lehnstuhl und klagte mir sehr geschwätzig, daß alle ihre Kinder in die Stadt gezogen seien, keins wolle den Bauern spielen, und ihre jüngste Tochter habe sich nun auch vor acht Tagen mit einem Lehrer in Dresden verlobt. Wenn sie den Hof nur erst verkauft hätte, sie wolle es in die Zeitung setzen lassen.

Ach, und es war so still hier und so friedlich, und die Alte weinte so heiße Thränen um ihr schönes Gütchen, auf dem sie so glücklich gewesen, lange Zeit. Es überkam mich gleich eine starke Sehnsucht, hier zu bleiben. Ich fragte nach diesem und jenem, und die Frau zeigte mir eifrig das Anwesen. Das alte Haus gefiel mir so gut mit seinem herrschaftlichen Anstrich, den acht großen Stuben und Kammern, dem Bodenraum und den tiefen Kellern. Daß hinter den Eichentäfelungen die Mäuse raschelten, das störte mich nicht, und ebensowenig der vernachlässigte Fußboden und die ausgetretenen Treppenstufen. Ich hatte nur den Eindruck, als könnte man hier geborgen sein vor allen Stürmen. Ich mußte auch den Hof, die Stallungen sehen; das war alles nicht so recht in Ordnung, aber der Viehstand nicht schlecht. Und da kam mir immer stärker der Gedanke, hier hinein möchtest du dich flüchten, und so unabweisbar wurde diese Vorstellung, so überzeugend, daß ich die alte Frau bat, vorerst noch nichts in die Zeitung zu setzen, ich wollte mir’s überlegen, ob ich das Gütchen nicht an mich bringen könnte. Ich habe dann mit dem Doktor gesprochen, und er und mein Anwalt sind mit hinausgefahren, haben gesehen, Erkundigungen eingezogen, und so ist’s gekommen. Wenn etwas mich aufrecht erhält, Lotte, dann ist’s meine altgewohnte Arbeit, und nun gräme dich nicht um mich, du hast selbst genug Sorgen,“ schließt sie und bringt dem Vogel ein Blättchen Salat.

„Aber Robert meint, so ein kleines Gut wirft gar nichts ab, und du könntest dabei nicht bestehen,“ beginnt kleinlaut die Pastorin von neuem, „und die Unbotmäßigkeit der Leute –“

Christel lächelt. „Ich will freilich keine Schätze sammeln, Lotte; frag’ Robert, ob er denn so wenig die Christel noch kennt! Ich habe, denk ich, Talent, auszukommen und zusammenzuhalten, und Aerger mit den Leuten, Lotte, den giebt’s nicht bei mir; du weißt ja, ich kann allerwege gut mit ihnen auskommen. Zuerst haben sie freilich im ganzen Dorfe gelacht, und meine Knechte mit, über das ‚Weibsen‘, das den Bauern spielen will; dann merkten sie, daß ich’s verstand; jetzt kommen sie schon zu mir und fragen mich um Rat. Nein, Lottchen, sorge dich nicht, und nun halt ein wenig Mittagsruhe; wenn ich zur Vesperzeit vom Hofe hereinkomme, weck’ ich dich, und dann habe ich einige Stunden Zeit zum Schwatzen bis gemolken wird, und du erzählst mir von daheim.“

Als gegen fünf Uhr das Kaffeegeschirr abgeräumt ist, sitzen die Schwestern zusammen auf dem Sofa und die Pastorin beginnt ihren Bericht. Sie spricht von ihrem Manne und von sich, von der Verlobung ihrer Aeltesten, und wie ihnen die Beschaffung der Aussteuer so schwer werde; sie spricht von der Schwester, die noch immer böse ist auf Christel und auch auf Pastors, weil – nun ja, sie ist eben böse. Sie meldet die Ereignisse von jeder einzelnen Familie in Wartau und weiß ganz wunderliche Auswege zu finden, wenn sie einmal der Pfad der Rede auf Schloß Wartau zuführt; sie redet zuletzt schon von der ganzen Nachbarschaft, und Christel hört stumm zu.

Endlich schweigt die Pastorin, und da fragt Christels verschleierte Stimme durch die Dämmerung: „Warum sagst du [251] gar nichts von ihm, Lotte? Ich möchte doch wissen, wie es ihm geht und ob er glücklich ist.“

„Du willst – von ihm – von Mohrmann?“ sagt die Schwester.

„Ja, Lotte! Ich denke ja fortwährend an ihn; ich gehöre nicht zu denen, die da verächtlich thun, wenn ihnen ein Leid geschah durch den Mann, den sie lieben, so als ob sie ihn haßten und ihn eigentlich all ihr Lebtag nicht gemocht hätten. Ich gestehe dir ganz offen, jede Minute meines Lebens ist er mir gegenwärtig, ich denke immer, ob er denn glücklich ist und gut versorgt. Also sprich nur ruhig von ihm, Lotte!“

„Du lieber Gott,“ seufzt die Schwester. „So bist du nun, und er, der weiß ja wohl gar nicht mehr, daß du existiert hast –“ will sie sagen, verschluckt es aber. „Was soll ich da reden?“ fragt sie dann, „das thut dir ja nur weh; laß uns lieber –“

„Mir thut noch weher, gar nichts mehr von ihm zu hören,“ antwortet leise die einsame Frau.

„Na, wie du willst. Er hat sie also geheiratet, das Fräulein Edith; sie haben den Superintendenten aus der Stadt gebeten, sie zu trauen, weil sie natürlich Robert nicht darum angehen konnten. Es ist eine kleine Hochzeit gewesen, ich glaube, nur die Altwitzens und ein paar Freunde der alten Fräuleins als Trauzeugen. Sie sind auch nicht in die Kirche gekommen; im großen Saal ist die heilige Handlung vollzogen worden, na – das ganze Schloß ist ja umgebaut und restauriert, die Heine sagt: ,feenhaft!’ Aber es hätte auch ’nen Groschen gekostet – Fräulein Tonette hat alles angegeben. Der Brautstand soll ja so ein bißchen sonderbar gewesen sein, und jetzt sieht man das Ehepaar auch nicht viel zusammen. Die junge Frau fährt jeden Tag hoch vom Bock ihren Dogcart, hinten auf den Diener. Sie haben natürlich, als sie von der Hochzeitsreise kamen – ja so! – Also, denke dir, diese Edith hat doch zu sonderbare Ideen: ließ sich in einem schwarzen Sammetkleid trauen, so’n junges Ding! Und dann gingen sie nach Venedig und da herum. – Siehst du, darüber habe ich mich auch so geärgert, Christel, mit dir ist er nie gereist, aber da kommt nun so eine kleine Gans und –“

Christel hat ganz stumm gesessen; jetzt legt sie beschwichtigend die Hand auf den Arm der Pastorin. „Wenn sie ihn nur glücklich macht, Lotte, das andere, das ist – – weißt du davon nichts?“

„Nein, das weiß ich nicht, natürlich nicht. Wer kann in einen Menschen hineinsehen, Christel? Er kommt mir sehr ernst aussehend vor, und die Heine sagt, er wäre nicht mehr so freundlich wie früher. Aber natürlich – jetzt, da soll er ja strahlen, jetzt, wo der Bube da ist, der – der –“

Sie hält erschrocken inne, denn die Schwester ist emporgeschnellt, wie vom Biß einer Schlange.

„Um Gotteswillen,“ schreit die nervöse Pastorin, „was ist dir denn?“ Aber Christel antwortet nicht, nur so ein dumpfer Laut kommt aus ihrer Kehle, und im nächsten Augenblick ist sie in die Schlafstube verschwunden und schließt hinter sich zu.

„Ach du liebe Zeit,“ jammert die Zurückbleibende leise, „hätt’ ich doch nur gar nicht gesagt, daß sie ein Kind haben auf dem Wartauer Schloß! Da thut sie so still und vernünftig, und nun fällt sie wohl gar noch in Ohnmacht. Christel!“ ruft sie an der Thür, „Christel, mach’ auf! Sei doch vernünftig, Kind!“

Aber Christel hört es gar nicht; sie sitzt in dem alten Sessel vor ihrem Bette und beißt die Lippen sich blutig und will mit schluchzender Seele Herr werden über ihr armes hungerndes neidisches Herz. Nicht in der Stunde, da sie den unseligen Brief las, nicht in der, wo sie Wartau verließ für immer, hat sie diesen heißen Schmerz empfunden wie jetzt. Ach, sie ist so schlecht, so schlecht, sie gönnt der andern nicht das Glück! Sie möchte sterben in diesem Augenblick! Sie will nicht weiter leben in dieser Oede, sie ist ja gar nicht so stark wie sie thut, ist gar nicht so resigniert wie sie selber geglaubt; sie ist ein einsames, elendes verstoßenes Geschöpf!

Und so sitzt sie lange, lange, nichts weiter fühlend als den heißen brennenden Schmerz in ihrer Seele.

Dort an der Thür klopft es jetzt mit hartem Finger. „Die Abendmilch ist herein!“ schreit Marie.

Christel taumelt empor und kühlt die Augen mit Wasser, und streicht das verwirrte Haar. „Weiter!“ sagt sie, „immer weiter, so lange es geht, aber – wozu eigentlich?“ Und als ihre Arbeit im Milchkeller gethan ist, wirft sie ein Tuch über den Kopf und wandert über den Hof ins Freie hinaus, und dort steht sie unbeweglich und sieht zum Himmel empor, an dem Millionen Sterne funkeln. Und da erst kommt allmählich ein wenig von ihrer alten Ergebung und Demut zurück.

Als sie zurückkehrt, ist sie äußerlich so ruhig wie immer, aber ihre Augen sind heiß vom Weinen, und an den Schläfen schimmern dunkelblau die Adern.

„Verzeih mir, Lottchen,“ bittet sie, „ich hatte – mir war auf einmal so schlecht geworden. Und nun erzähle mir noch rasch – ist die junge Frau gesund? Und wie alt ist denn jetzt der Junge?“

Die Pastorin streichelt ihr die Hand. „Zehn Tage just,“ sagt sie mitleidig, „und sie sind alle putzmunter. Und nun laß doch, Christel!“

„Ach nein, ich bin ja wieder ganz wohl, Lotte; hast du gehört, wem er ähnlich sieht?“

„Ihm nicht! meint der Doktor; schlägt in die Wartausche Familie, und aufgezogen wird er wie ein Prinz. Eine Amme haben sie, und eine Kinderfrau, und Fräulein Tonette thut, als sei sie die leibhaftige Großmutter – na, überhaupt – – ich kenne ja Mohrmanns Vermögensverhältnisse nicht so genau, aber er muß sehr reich sein, wenn er das Leben aushalten will, wie er es jetzt führt.“

Christel sieht sie ganz erschreckt an. „Ach ja,“ sagt sie, „er kann’s schon aushalten, Lotte, aber – er ist doch sonst so einfach und so sparsam.“

„Er – ja! Aber die Damen! Ach, geh’ her, Christel, laß uns von andern Dingen reden, bitte, bitte! Was kümmern dich die Wartauer noch? Ich habe mir, indes du draußen warst, das Haus angesehen; es ist so nett altmodisch, aber die drei schönen großen leeren Zimmer droben thun mir leid; du hast ja nur diese zwei hier unten eingerichtet außer der Gaststube?“

„Ja! brauchte ich denn mehr, Lotte?“

„Nein, du nicht, aber –. Ich wüßte schon was ich thäte, Christel, ich nähme mir junge Mädchen ins Haus und lehrte sie die Landwirtschaft! Da hättest du noch viel mehr Arbeit und wärst nicht so allein, dächtest nicht soviel an Vergangenes und überhaupt –“

Christel sieht nachdenklich an der Schwester vorüber, dann schüttelt sie den Kopf. „Ich habe meine Einsamkeit lieb; laß sie mir, Lotte.“

„Aber es brächte was ein, Christel.“

Da sieht Christel sie wieder an mit dem wehen Blick von vorhin. „Wozu? Ich habe genug für mich – allein.“




Am folgenden Tage lernt Frau Pastorin die Wirtschaft kennen, fünfzehn schmucke Kühe, vier Pferde, dazu Schweine, Hühner, Enten, Gänse, und die Scheuern und Kornböden wohlgefüllt. Auf der Tenne wird noch nach alter Art mit dem Flegel gedroschen, der Dreischlag klingt anheimelnd über den stillen Hof. Die Gespanne sind auf dem Felde, im Milchkeller schlägt Christel selbst die Butter aus; der Buttermann sitzt schon droben im Hausflur und wartet auf die herrliche frische Ware.

Rödershof-Butter ist so beliebt, versichert er, er könne gar nicht genug schaffen. Ein Schock Eier nimmt er obendrein mit; er bezahlt bar und Christel streicht gelassen das Geld ein.

Die Morgenmilch wird verbuttert; die Mittags- und Abendmilch geht in großen wohlversicherten Blechkannen nach Dresden. Christel erklärt der Schwester dies mit matter Stimme; sie hat die Nacht wenig geschlafen, auch ihr Aussehen und ihre Bewegungen sind müde.

„Bist du krank?“ fragt die Pastorin.

„Warum denkst du das?“ fragt Christel.

„Ich meine nur so – gestern warst du anders.“

„Das machte die Freude, dich zu sehen, Lottchen,“ weicht Christel aus. „Ich bin ganz gesund, ganz gesund!“ Und sie holt ihre Bücher und zeigt der Schwester, daß sie trotz allem schweren Anfang schon einen kleinen Ueberschuß hatte im letzten Jahre.

„Ach, mein liebes Christel,“ beginnt die Pastorin wieder, [252] „das ist ja alles recht gut und schön, aber daß du nachher gar so einsam bist, wenn du dich müde geschafft hast, das ist mir ein trauriger Gedanke.“

„O, ich habe auch Verkehr,“ lächelt Christel, „könnte ihn wenigstens haben. Pastors sind nette Menschen und Oberförsters auch, und der Gutsbesitzer Wendlandt ist ebenfalls ein ganz gebildeter Mann, leider ist seine Frau gestorben, kurz bevor ich herkam. Diese Leute alle fordern mich immer so freundlich auf, sie zu besuchen, kommen auch manchmal zum Nachfragen her, und später, wenn ich erst so recht in der Reihe bin mit der Wirtschaft, dann halte ich vielleicht mit; sie haben nämlich so eine Art Kränzchen. Jetzt überfällt mich noch immer gerad’ unter frohen Menschen mein Unglück so schwer, ich werde dann nur immer stiller. Nein, sorge dich nur nicht, Lotte: ich halte mir jetzt auch wieder unsere alte liebe ‚Gartenlaube‘ und lese auch sonst, sogar gelehrte Sachen. Ja, du wirst dich wundern, Lotte,“ und sie holt ein Buch vom Gesims der Vertäfelung, „da schau: ‚Die Königin des Tages‘ von M. W. Meyer. Ach du, da lernt man sich klein fühlen und seinen Schmerz als unbedeutend erkennen der großen unendlichen Schöpfung Gottes gegenüber.“

„‚Die Sonne und ihre Planeten, populäre Vorträge‘,“ liest verwundert Frau Pastorin. „Das hätte ich dir nie zugetraut, Christel!“

Christel lächelt und beginnt eben die Einnahmen und Ausgaben des Tages in ihr Buch einzutragen. Dann deckt Marie den Tisch zum Abendessen, ein Knecht schlägt draußen die Läden vor die Fenster, es ist so traut, so heimelig hier innen beim Lampenschein am warmen Ofen und der tickenden Schwarzwälder Uhr an der Wand.

Marie setzt vier Teller auf den Tisch. „Du mußt entschuldigen, Lotte,“ sagt Christel, „der Meier ißt abends hier mit, und die Marie auch, sie müssen etwas voraus haben vor den zwei Knechten und der Stallmagd,“ setzt sie erklärend hinzu, „wegen dem Ansehen, dem Respekt.“

Ein alter Mann von ungefähr sechzig Jahren tritt dann ein und setzt sich nach dem Abendgebet mit herzu; Marie, die eine Schüssel neuer Kartoffeln, sowie Hering, Schinken und Bier aufträgt, nimmt ebenfalls ihren Platz ein. Zuerst ist es ganz stumm am Tische, die Leute essen langsam und schweigend; ab und zu richtet Christel ein freundliches Wort an die Pastorin.

Als endlich der alte Mann gesättigt ist und sein Bier mit einem langen Zuge ausgetrunken hat, sagt er kurz: „Die Kartoffeln sind aufgeschlagen um fünfundzwanzig Pfennige, Frau.“

„Dann wollen wir sie hingeben, Hoch.“

„Die Frau hat wieder mal recht gehabt, als sie noch warten wollte,“ antwortet er, „hätt’s nicht geglaubt, daß sie heuer so gut in Preis kommen, die Kartoffeln. Wann soll ich sie hinüberfahren, Frau?“

„Nächste Woche, in den ersten Tagen. Das Fohlen kann mitlaufen bis Dittsdorf.“

„Verkauft, Frau?“

„Ja, heute früh an Reinhardt.“

„Ordentlich was gekriegt, Frau?“

„Mehr als Sie prophezeiten,“ lächelt Christel.

Der lächelt auch, ein listiges, schlaues Lächeln, das in diesem Fall besagen will: die läßt sich nicht ausfragen, alter Schwede, spar’ deine Mühe! Er erhebt sich und sagt: „Gute Nacht, beisammen!“

„Gute Nacht, Hoch!“

Und nun geht auch Marie, nachdem sie den Tisch abgeräumt hat, kommt aber wieder mit einem großen Korb voll Handarbeiten und setzt sich mit an den Tisch.

„Für die Dorfbewohner zu Weihnacht,“ erklärt Christel und beginnt eifrig zu nähen. „Du kannst heute abend zu deiner Pate gehen,“ sagt sie dann zu dem Mädchen, „um zehn Uhr bist du wieder daheim.“

„Dank schön, Frau!“

„Wie komisch die Anrede klingt,“ bemerkt die Pastorin, als das Mädchen sich entfernt hat.

„Ja, wie sollen sie mich denn aber nennen, Lotte? Frau Mohrmann? – Das kann ich nicht hören, und beim Vornamen will ich mich doch nicht rufen lassen von meinen Leuten.“

„Ja, du hast recht, Christel.“

Und nun sprechen sie noch von ihrer Kinderzeit, nur Wartau vermeiden sie.

Gegen Acht schlägt der Metallklopfer der Hausthür auf seine Platte, Christel erhebt sich und verläßt die Stube. Die Schwester hört, wie sie im Flur öffnet und wie eine Männerstimme fragt, ob man nicht störe. Gleich darauf tritt Christel wieder ein, hinter ihr ein großer schlanker Mann, so um die Fünfzig herum, mit stillem, aber intelligentem Gesicht, der sich etwas unbeholfen vor der Pastorin verbeugt.

„Liebe Lotte, das ist Herr Gutsbesitzer Wendlandt, mein Nachbar. Setzen Sie sich doch, Herr Wendlandt, und – womit kann ich dienen?“

Der Angeredete wird verlegen. Er habe keinerlei Anliegen, sei nur da vorübergegangen und die Lampe habe so freundlich durch die Ausschnitte der Läden geblickt; da habe er gedacht, die Frau Nachbarin sei just so allein wie er und freue sich vielleicht über eine Ansprache.

Christel sieht den Mann groß und zerstreut an, aber sie antwortet keine Silbe. Die Pastorin blickt von einem zum andern und plötzlich ist sie mit ihm im Gespräch. Er erzählt vertrauensvoll alle seine Schicksale – vier Kinder sind ihm gestorben, und zuletzt auch die Frau im Wochenbette, das Würmchen aber lebt. Es sei traurig in einem Hause, wo die Frau fehle.

Christel verläßt einen Augenblick die Stube, die Blicke des Mannes folgen ihr; als sie wiederkommt, trägt sie Bier und Gläser. Es ist mal so auf dem Lande, die Gastfreundschaft muß bewirtet werden. Sie hört gerade noch, wie er sagt: „Ja, die Frau Mohrmann – das ist ’ne Frau!“

Mit einem eigenartig kühlen Zug um den Mund bietet sie die Erfrischung an und bringt dann das Gespräch auf unpersönliche Dinge. Die Pastorin ist ganz erstaunt, wie der einfache Mann erzählen kann. Er ist dazumal vor Paris verwundet worden, hat lange gemeint, seinen Gutshof nicht mehr wiederzusehen, so schwer lag er danieder. Er spricht über Politik und über Steuern, über die schlechte Lage der Landwirtschaft wie ein Buch. Ab und zu sagt Christel ein Wort dazu, und als es zehn Uhr schlägt, erhebt sich der Gast.

„Wenn Sie mir erlauben wollten, wieder einmal abends vorzusprechen,“ sagt er zu Christel an der Hausthür, als er ihr zur „Gute Nacht“ die Hand schüttelt.

„Ach, lieber Wendlandt,“ antwortet sie, „ich bin noch nicht heraus aus meiner Trauer. Sie wissen wohl, ich habe meinen Mann verloren, anders wie Sie Ihre Frau, aber doch verloren, und ich weiß, ich werd’ mich nie davon erholen. Es giebt so viel lustige Menschen auf der Welt, gehen Sie zu denen – ich bin eine müde, traurige, einsame Frau und tauge nicht zum Schwatzen und Gemütlichsein – – nehmen Sie es mir nicht übel, ich spreche wie es mir ums Herz ist.“

Er läßt ihre Hand nicht los. „Nein, nein,“ murmelt er, „auch Sie müssen wieder anders ins Leben sehen, auch Sie, Frau Nachbarin!“

Aber sie entzieht ihm die Rechte gewaltsam. „Geben Sie acht, Herr Wendlandt, die Stufen sind ungleich und es ist dunkel,“ sagt sie herb, „Gute Nacht!“ Rasch und heftig schließt sie die Thüre hinter ihm und stößt den Riegel vor, daß es schallt. Mit großen unruhigen Augen kommt sie ins Zimmer zurück. Die Pastorin sitzt da und lächelt; zu sagen wagt sie nichts. Christel redet noch von ein paar gleichgültigen Dingen. Dabei räumt sie die Gläser ab und ergreift endlich die Lampe.

„Willst du nicht schlafen gehen, Lottchen? Komm’, ich leuchte dir hinauf.“

Wie sie oben sind, steckt Christel das Licht an auf dem Nachttischchen der Schwester, bleibt dann nach dem üblichen Gutenachtkuß an der Thüre stehen und schaut mit leeren Blicken an der Schwester vorüber. Die Pastorin kann sich abermals eines Lächelns nicht erwehren; sie hat noch etwas auf dem Herzen, denkt sie – der Wendlandt! Und in Zeit weniger Minuten hat sie sich ein Zukunftsbild ihrer Schwester ausgemalt, das an Vollständigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Ja, warum auch nicht? Warum soll Christel sich nicht trösten an der Seite eines andern über die herben Täuschungen ihrer ersten Ehe?

[254] „Du, Lotte,“ klingt’s jetzt zaghaft an ihrem Ohr, „sag’ doch –“

„Was denn, Christel?“

„Wie heißt er denn?“

„Wer?“

„Antons Kleiner.“ Christel ist rot geworden und putzt an ihrer Kerze.

„Er ist doch noch gar nicht getauft!“ ruft die Pastorin etwas enttäuscht und schüttelt den Kopf über das sonderbare Wesen der Schwester.

„Ach ja, freilich!“ antwortet Christel, „Gute Nacht, Lotte!“

Schlafen kann sie auch in dieser Nacht nicht. Seit gestern hört sie beständig ein Schlummerliedchen vor ihren Ohren, seit gestern schaukelt immerfort eine Wiege vor ihren Augen, und vor der Wiege liegt ein Mann auf den Knieen und staunt sein Kind an, seinen und Ediths Sohn, wie ein Wunder. Und aufstöhnend drückt sie den Kopf in die Kissen. Jetzt erst, das weiß sie genau, jetzt ist sie ganz aus seinem Herzen verdrängt, von jetzt ab wird kein einziger seiner Gedanken die kinderlose verstoßene Frau in der weiten Welt suchen.

Ach, wie einsam, wie unglücklich ist sie seit gestern!

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 9, S. 275–284

[275] Im obersten Geschoß des Wartauer Schlosses sind die Kinderstuben. Man hat nicht mehr genug an einer, denn vor drei Monaten ist ein Zwillingspärchen hinzugekommen zu dem Stammhalter, ein Mädchenpaar mit blondem Flaum auf den Köpfchen und den blauen Augen des Vaters.

Frau Edith Mohrmann plant ein großes Fest für die Taufe. Ihre Freundin Ma ist auf Besuch in Wartau, ebenfalls mit einem Kleinen; Edith hat sie gebeten, die Zeit während eines Kommandos ihres Gatten nach der Reichshauptstadt hier zuzubringen, und die hübsche junge Strohwitwe ist dieser Einladung mit vieler Freude gefolgt. Es ist aber auch geradezu entzückend auf Wartau, ein Aufenthalt, wie geschaffen, um sich zu erholen von dem knappen Garnisonsleben, in dem das Wirtschaftsgeld nie reichen will. Frau Ma hat hier bereits rote Wangen bekommen und das blasse Stadtkindchen quillt in der frischen Luft und bei der unverfälschten köstlichen Milch auf wie ein kleiner Pfannkuchen. Die Kinderfrau Ediths ist aber auch so vorzüglich, die beiden jungen Mamas brauchen sich thatsächlich um nichts zu kümmern. Gehegt und gepflegt wird das keine Gelichter, als wären es Fürstenkinder, und zu allem Ueberfluß wohnt dort oben Tante Tonette, die schier verliebt ist in den Aeltesten Ediths, in den kleinen Lothar, der äußerlich und innerlich ein echter Wartau zu werden verspricht und lachhaft dem Porträt ähnelt, das seinen Urgroßvater Lothar von Wartau als Kind darstellt.

Ja, Tante Tonette ist auf dem Gipfel ihrer Wünsche angelangt. Sie hat mit Vergnügen ihre Stuben im ersten Stock geräumt und ist nach oben gezogen in das Napoleonszimmer, denn Wartau ist wiedererstanden in allem Glanz vergangener Zeiten, Wartau ist der Brennpunkt der Geselligkeit im ganzen Umkreise; nirgends wird ein Haus in so vornehmem Stil geführt, nirgends giebt es eine so geschmackvolle Einrichtung, nirgends eine so bezaubernde Hausfrau wie hier, und – pflegt die alte Dame im stillen hinzuzusetzen – er stört ja nicht, er ist mit allem zufrieden.

Emma von Lattwitz und Edith sitzen auf der Terrasse unter rotgestreiftem Leinendach und unterhalten sich. Edith ist eine wunderschöne Frau geworden, voll aufgeblüht, groß und schlank. Sie trägt ein scheinbar sehr einfaches Batistkleid, aber die Stickerei läßt ein Unterkleid von gelber Seide durchschimmern, und wenn sie sich bewegt, rauscht diese Seide. Ma, neben ihr, ist in marineblaues Leinen gekleidet, Matrosenbluse und Rock mit weißen Litzen besetzt, sehr einfach, sehr billig, aber sie kann sich trotzdem neben Edith sehen lassen. Ihre Hände arbeiten fleißig an einem Kleidchen für das Kleine.

Man hat Thee getrunken trotz der Hitze; die zierlichen, echt japanischen Täßchen stehen da noch neben der silbernen Kanne und dem Kesselchen, dessen Spiritusflamme heruntergeschraubt ist. Eine große Schale purpurroter Rosen ist etwas zur Seite geschoben, um Edith Platz zu schaffen: sie schreibt in einem Notizbuche.

„Ich freue mich furchtbar,“ sagt sie eben, „und ich begreife nicht, daß ihr alle so kalt bleibt bei meiner Idee, ein Gartenfest im Rokokostil abzuhalten. Du ziehst ein sauersüßes Gesicht, Ma, und Tante Tonette meint, es würde Josepha unsympathisch sein, die sich nun endlich huldvoll herablassen will, zur Taufe auf Wartau zu erscheinen – mein Gott, wenn’s ihr nicht paßt, dann mag sie wieder abreisen, ich sehe nicht ein –“

„Di, ich freue mich ja schon, aber ich glaube, deinem Manne ist’s nicht recht, wenigstens vorhin bei Tische –“

„Anton?“ fragt Edith verwundert, „beste Ma, du siehst Gespenster! Uebrigens, was geht dich das an, wenn Anton sich ausschweigt über irgend eine Angelegenheit?“

„Aber, Edith, er ist doch der Hausherr, und ich möchte nicht, daß er glaubt, ich bestärke dich in deinen extravaganten Einfällen.“

„Extravagante Einfälle? Diese harmlose Sommermaskerade?“

„Na, ich danke!“ sagt Ma ernsthaft, „ich möchte diese harmlose Maskerade nicht bezahlen.“

„Ja, aber wie kommst du denn eigentlich auf alle diese Gedanken?“ fragt Edith. „Meinst du etwa, wir befinden uns plötzlich in so betrübenden Umständen, daß wir kein Tauffest ausrichten könnten? Oder – was meinst du?“

Ma lacht. „Ich bitte dich, Edith, davon ist gar keine Rede. Nur gestern mittag, als du zuerst von deinem Projekt sprachst, sagte dein Mann, daß ihm die Trockenheit dieses Sommers Anlaß zu schlimmen Befürchtungen wegen der Ernte gebe.“

„Ah! bah! das kenne ich! Der gute Anton kommt immer mit irgend einem Unkenruf dazwischen, wenn ich etwas Nettes will. Darauf gebe ich gar nichts mehr, nicht so viel!“ – Sie schnippst lustig mit den Fingern vor Mas Näschen. – „Im Anfang habe ich mich ein paarmal einschüchtern lassen, habe geweint und bin traurig gewesen; später kam ich dahinter, daß solche Prophezeiungen weiter keinen Zweck hatten, als ein bissel billiger wegzukommen von seinen Verpflichtungen. Das liegt so drin bei Naturen wie die seine – sparen! sparen! Das Leben zu genießen verstehen sie nicht. Jetzt höre ich es gar nicht mehr. Also, wenn das dein einziger Kummer ist, Schatz –“

„Aber, Di! Du kannst nicht leugnen, daß der diesjährige Sommer so heiß und trocken auftritt, als sei Mitteldeutschland die Sahara.“

„Und deshalb eben will ich die Taufe abends haben, Illumination des Gartens und im Naturtheater soll das Menuett getanzt werden – du wirst eine süße kleine Schäferin sein, Ma; du blau – ich rosa – zu nett!“

In diesem Augenblick tritt Anton Mohrmann in den Rahmen der Thür. Auch er hat sich verändert, vielleicht zu seinem Vorteil. Er hat nicht unbeeinflußt neben einer so eleganten Frau, wie Edith, gelebt; er ist tadellos angezogen, wenn auch schlicht und ohne Zugeständnis an Modethorheiten. Das Gesicht ist schmäler geworden, aber auf der Stirn zeigen sich ein paar Falten und die Augen haben nicht mehr den alten frohen Ausdruck; es liegt etwas Grübelndes in ihnen, als ob hinter der Stirn nicht einen Augenblick die Gedanken ruhten, allerhand quälende, nörgelnde Gedanken.

„Störe ich die Damen?“ fragt er, zieht aber nichtsdestoweniger einen Stuhl herzu und streckt die Hand bittend nach Edith aus. „Hast du noch eine Tasse Thee für einen Durstigen?“

„Nicht einen Tropfen,“ erwidert sie gelassen, macht aber weder Miene, nachzusehen, ob das Wasser noch heiß ist, noch eine frische Tasse zu bereiten. Dafür fragt sie: „Wo warst du eigentlich, Anton? Es sieht aus, als wärst du irgendwo auf den Knieen umhergekrochen.“

Er lacht plötzlich, sein ganzes Gesicht strahlt, und während er die Sandkörnchen mit dem Taschentuche von seinem Beinkleid abstäubt, sagt er: „Ich war bei den Kindern im Garten und habe für Lothar das Pferd vorgestellt, ist das ein Junge! Er bettelte so lange, bis ich ihm den Gefallen that. Der kleine Wicht kann den Unterschied zwischen Teppich und Rasenplatz eben noch nicht fassen. Ihr Fräulein Tochter, gnädige Frau, interessiert sich ebenfalls für diesen Sport, und so war ich abwechselnd Damen- und Herrenpferd.“

„Gott steh’ mir bei,“ lacht Ma, „das hätt’ ich sehen mögen! Sind die Zwillinge auch draußen?“

„Gewiß! Im ganzen vier Kinderwagen, vier Kinder und vier Aufsichtsdamen; Tante Tonette ist eben als Numero Fünf hinzugekommen.“

„O, bitte, Edith, laß uns hin,“ bettelt Ma, die eine ganz überglückliche Mutter ist.

„Später,“ wehrt diese, „es ist noch so heiß, und da du einmal hier bist, Anton – hast du die Einladungskarten bekommen?“

„Zu Befehl!“ antwortet er scherzend, aber das Lächeln ist aus seinem Gesichte verschwunden.

„Dann vergiß nicht die an Edi Waldenberg, Berlin W., Köthener Straße.“

„Natürlich nicht,“ sagt er zögernd.

Ma wird auf einmal feuerrot und dann steckt sie hastig den Finger in den Mund.

[276] „Haben Sie sich verletzt, gnädige Frau?“ fragt Anton.

„Ja – ich – ich stach mich ein wenig,“ stottert Frau von Lattwitz.

„Es bleibt also dabei, Schatz,“ fährt Edith zu ihrem Manne gewendet fort, die keinerlei Notiz genommen hat von dem kleinen Zwischenfall, „wir geben zur Taufe einen bal champêtre im Rokokokostüm?“

„Wie denkst du dir das?“ fragt er gepreßt.

„Nun, um sechs Uhr die feierliche Handlung –“

„In Mummenkleidung?“ bemerkt er fragend.

„Ach, wer denkt denn daran? Anton, du bist komisch! Die große Schar der Gäste wird erst auf sieben Uhr geladen; Vorschrift: gepudertes Haar und à la Watteau gekleidet. Souper im großen Saal, danach Polonaise durch den Garten und Tanz im Naturtheater. Es wird dir doch wahrhaftig kein Opfer sein, einen Bretterboden dort legen zu lassen? In den Lauben Erfrischungen und zur Abwechslung des Tanzes Blindekuh und dergleichen; bunte Laternen natürlich, bengalische Flammen und die Infanteriekapelle von drüben.“

„So! so! – Und daran ist nicht mehr zu rütteln?“ fragt er wieder.

„Gefällt Ihnen wohl nicht, mein Herr?“ giebt sie zurück.

„Ach gewiß, ganz ausgezeichnet! Wir sprechen noch darüber,“ bricht er ab.

„Ich für meinen Teil habe nichts mehr hinzuzufügen,“ erklärt sie und wirft ihm eine Rose an den Kopf, „ich weiß nur, daß ich eine feierliche steife Taufe, wie die von Lothar, nicht noch einmal erleben will. Ich sage dir, Ma, es war einfach zum Verzweifeln, dieses endlose Diner, diese Reden, diese schwerfällige Unterhaltung – nein,“ ruft sie und wirft eine zweite Rose nach ihm, „es bleibt dabei, mein Freund!“

Ma erhebt sich jetzt und geht langsam die Stufen hinunter, die zum Garten führen; sie hat Sehnsucht nach ihrem Töchterchen und sie ahnt, daß eine Auseinandersetzung kommen müsse zwischen dem Ehepaar; er sieht so finster aus, wie sie ihn noch nie gesehen hat. Edith erhebt sich ebenfalls, lächelnd, unbekümmert.

„Bleib’ noch einen Augenblick,“ sagt er.

Sie sieht ihn forschend an, ungeduldig. „Was wünschst du?“ fragt sie. „Halte mir nur um Gotteswillen keine Vorlesung – ich kenne dein Gesicht, so siehst du aus, wenn du mich belehren willst.“

„Du weißt sehr wohl: das habe ich längst aufgegeben, Edith. Nur ein paar Fragen – hast du die Auswahlsendung mit Brillanten besetzter Schildkrotkämme bestellt?“

„Ich war so frei, mein Schatz – sind sie angekommen?“

„Zu meinem Erstaunen – ja! Ich bitte dich, Edith, wir – – nun kurz, ich bin wirklich nicht in der Lage, deine kostspieligen Passionen alle Augenblicke – du hast einen so reich sortierten Schmuckkasten – ich verstehe dich nicht!“ Er ist ganz verlegen geworden, als er das sagt; er schlägt ihr so ungern einen Wunsch ab.

„Das glaube ich dir, Anton; wie solltest du auch verstehen, was unsereiner beanspruchen kann,“ sagt sie gereizt. „Wie der Junge geboren war, hat Tante Tonette dich auch erst mit der Nase darauf stoßen müssen, daß es Sitte ist, seiner Frau eine Freude zu machen, nachdem sie –, diesmal und nach all dem Schweren hast du es natürlich wieder vergessen.“

Er antwortet nicht. Sie hat sich zurückgelehnt in den zierlichen Bambussessel und sieht so traurig aus, als habe sie die tiefste Kränkung erfahren.

„Ich habe es nicht vergessen,“ spricht er endlich, „aber der Juwelier trödelte so lange – ich hatte mir so etwas besonders Hübsches ausgedacht. Willst du es heute schon haben?“ fragt er zärtlich. „Komm’ mit, Edith, ich will es dir geben.“

Sie schämt sich ein wenig und wird rot. „Ach Anton,“ sagt sie lachend, „was wirst du da angestellt haben? Na meinetwegen, gehen wir, und dann will ich auch gleich die Kämme besehen, sie sind wirklich die große Mode der Saison, wirklich, Schatz, und du hast’s doch so gern, wenn deine Frau nett aussieht, gelt?“

Sie tänzelt vor ihm her durch das Tafelzimmer in seine Stube. Wie ist sie entzückend in dieser Sommertoilette! Sein aufleuchtender Blick folgt ihr; er liebt sie, liebt sie fast noch leidenschaftlicher als vor Jahren. Als er den Geldschrank aufschließt, hebt sie sich wie ein Kind auf den Zehen. „O, wie ich neugierig bin!“ ruft sie. Er nimmt ein kleines hellblaues Sammetetui heraus, und seinen Arm um ihre Taille legend und sie an sich ziehmd, sagt er bewegt: „Lache mich nicht aus, Kind; es ist ein Kleeblatt, unser Dreiblättchen, Edith, du mußt es immer tragen.“

Sie hat das Kästchen geöffnet, eine kleine Brosche funkelt ihr entgegen in Form eines Dreiblattes, ein großer Brillant und zwei kleine Saphire. „Der Weiße soll der Junge sein,“ erklärt er weich, „und die zwei blauen, siehst du, das sind die Mädel.“ Und er küßt sie auf die Stirn, lang’ und innig.

„Wie drollig,“ bemerkt sie ohne ihn anzusehen. „Die Steine sind recht schön, besonders der Brillant, nur ein klein wenig zu blaß die Saphire. Ich danke dir auch, Anton.“

„Bitte!“ antwortet er und zieht den Arm zurück, verletzt von ihrer Kritik und dem nachlässigen Dank.

„Wo sind denn die Kämmchen, Schatz? Ich bin schrecklich neugierig.“

„Ich habe sie sofort zurückgesandt, Edith.“

„Wie? Ohne daß ich – –“

„Ja, Edith, denn ich kaufe keinen jetzt, ich kann es nicht.“ Er hat es sehr bestimmt gesagt und schließt den Geldschrank wieder.

Das schöne Gesicht vor ihm ist aschfahl geworden; das hat er noch nie gewagt. Sie wirft den Kopf in den Nacken und geht der Thüre zu; betteln thut sie nicht, sicher nicht! Es liegt ein so grenzenloser Hochmut, eine solche Verachtung in ihrer Miene, daß der Mann dort, der auf ein paar freundliche Worte, auf ein Zeichen der Freude von ihr gehofft hat, wie unter einem eisigen Wasserstrahl erschauert. Noch nie ist sie so von ihm gegangen.

„Edith,“ ruft er, „so sei doch verständig, Kind!“

Sie bleibt stehen. „Ich dachte, ich wär’ es – wünschst du noch etwas?“

„Ich will dir nur erklären – bitte, laß uns doch ruhig sprechen – du hast mich sehr aufgeregt, Edith –“

„Ich dich? Na, gleichviel, ich bitte sehr um Entschuldigung für mein Verbrechen.“ Sie will wieder gehen.

„Ja! du mich!“ betont er laut. „Mein Gott, Edith, wenn du das nicht fühlst – aber lassen wir es, ich sehe es dir an, du wirst mich nicht verstehen wollen, wenn du es auch könntest; berücksichtige wenigstens das, was ich dir jetzt sage!“ Er hat sie zurückgehalten und auf seine Kniee gezogen; sie sitzt da mit einem kalten hochmütigen Gesicht. „Sieh, Schatz, wir haben drei schlechte Ernten hintereinander gehabt, du weißt es, und in diesem Jahre scheint es leider die vierte werden zu wollen. Unser Haushalt ist trotzdem von Jahr zu Jahr luxuriöser geworden, und bedenke, Edith, wir haben die Pflicht, für unsere drei zu sorgen.“

Seine Stimme ist zuletzt wieder sehr weich geworden, alle Schärfe daraus verschwunden. Er versucht jetzt, ihr Gesicht zu sich zu wenden, aber sie schüttelt sich mit der Gebärde eines unartigen Kindes.

„Wir wollen doch keine leichtsinnigen Eltern sein, mein Lieb,“ fährt er fort, „du weißt ja leider aus Erfahrung, in welch’ traurige Lage Verschwendung und Extravaganz führen können.“

„Ja allerdings, das hab’ ich erfahren,“ sagt sie ironisch und springt empor. „Aber soviel ich weiß, hat mein Herr Großvater sich weder durch schlechte Ernten noch durch Aufmerksamkeiten für seine Gattin ruiniert – er war eben ein Spieler, das sagt alles. Das eine aber muß man ihm lassen, er war auch Kavalier durch und durch und wäre lieber gestorben, ehe er einer Dame – noch dazu seiner Frau, wenn deren Leben eben erst in Gefahr gewesen – einen harmlosen Wunsch versagt hätte.“

„Es wäre besser gewesen, er hätte in seinem Leben weniger den Kavalier als den guten Hausvater markiert,“ antwortet Anton, und die Zornesfalte runzelt sich auf seiner Stirn.

Sie fährt herum wie von einer Schlange gebissen. „Ich dulde nicht, daß du meinen Großvater beschimpfst!“

„Ich würde mir das nie erlauben.“

„Du hast es gethan soeben!“

„Nein, ich parierte nur deinen Vorwurf. Uebrigens“ – er geht zur Klingel – „wird Franz noch nicht fort sein mit den [278] Postsachen. – Das Wertpaket,“ sagt er zu dem eintretenden Diener, „bringe das Wertpaket zurück!“

In wenigen Sekunden liegt das Paket wieder auf dem Tische. Anton öffnet es und sagt: „Hier – wähle, bitte! Der billigste der Kämme, der mit den sechzehn Brillanten, kostet zweitausendfünfhundert Mark, aber vielleicht gefällt dir ein anderer noch besser.“ Er dreht sich gleichgültig um und schaut zum Fenster hinaus.

Sie weiß nicht, was thun, er ist so schrecklich gereizt; dies Scharmützel war härter als alle vorhergehenden. Ah, bah! Sie kennt ihn ja! Wenn er sie nachher sieht, seinen Jungen auf dem Arm, so ist alles vergessen; um des Kindes willen holt er ihr die Sterne vom Himmel, verzeiht er ihr alles! Was sie in Lothars Namen verlangt, das bekommt sie ohne weiteres, auch jetzt den Kamm und seine Verzeihung obenein; wozu also ihren Wunsch aufgeben? Sie beschließt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, tritt an den Tisch und beginnt zu prüfen. Zufällig gefällt ihr der billigste Kamm, der Form wegen, am besten.

„Anton,“ schmeichelt sie, „ich will nicht trotzig sein, ich werde den billigsten nehmen.“

„Wie rücksichtsvoll,“ sagt er, ohne sich zu wenden, „aber geniere dich doch nicht; ob ich nun schließlich zweitausend und fünfhundert oder dreitausend Mark schuldig bleibe, das ist ja egal.“

Sie lacht belustigt, ungläubig – „Schuldig bleiben?“

Aber er spricht die Wahrheit, er befindet sich thatsächlich in Verlegenheit. Die Ausgaben für den Haushalt sind rapid gestiegen, die Einnahmen sind schlechter geworden. Fast alle seine Bekannten haben ihren Lebensgewohnheiten Einschränkungen auferlegt, er allein hat sie erweitert. Er muß sich gestehen, daß in seinem Hause fürstlich gelebt wird, nicht um seinetwillen, sondern weil Edith es liebt, weil er um Gotteswillen nicht zugiebt, daß sie etwas entbehrt. Wären nicht die Kuxe des Flußspatwerkes, die ihm nach wie vor eine große Summe zuführen, er hätte sich nicht bis heute halten können. Von Sparen freilich, von Zurücklegen ist in den letzten Jahren keine Rede mehr gewesen.

„Ich werde jedenfalls den billigeren nehmen,“ wiederholt Edith. „Komm’ doch her, Anton!“ – sie zieht ihn am Arme – „ich will dir danken, du Brummbär, du Böser. Wenn ich erst alt bin und mich nicht mehr putzen mag, bekommt Lothar eine Hemdenknopfgarnitur von den Steinen – du siehst, es ist kein weggeworfenes Geld.“

Aber heute zaubert sie kein Lächeln um seinen Mund, weder mit spaßhaften Bemerkungen, noch mit Kose- und Schmeichelworten. Er nickt nur ein paarmal und setzt sich an den Schreibtisch. Sie fragt, ob er die Kämme wieder einpacken wolle. „Ja! ja!“ ist die kurze Antwort. Da bricht sie plötzlich in bittere Thränen aus, in ein ganz unheimlich wildes Schluchzen, das er kennt, das ihn erschreckt bis aufs äußerste. Er springt auf und nimmt sie in seine Arme und hält ihren Kopf an seine Brust gepreßt.

„Du liebst mich nicht mehr!“ stößt sie zwischen dem Schluchzen hervor, „du liebst mich nicht mehr!“

„Ich? Ach großer Gott, Kind, ich liebe dich nur zu sehr,“ antwortet er und küßt sie. Und wie das Schluchzen immer wilder wird, hebt er sie empor und trägt sie wie ein Kind im Zimmer umher, bis sie sich beruhigt hat und der schlanke Körper nur noch hier und da zusammenbebt.

„Du darfst nicht so weinen,“ sagt er besorgt, „nun wirst du wieder dein Kopfweh haben.“

Sie nickt.

„Soll ich dich nach oben tragen? Dir ein Brausepulver mischen?“

„Ja!“ flüstert sie.

Und er steigt die Wendeltreppe empor, die aus seinem Zimmer nach dem ihren führt, und legt sie dort, sorgsam wie eine Mutter, nieder, mischt ihr das kühlende Getränk, verdunkelt das Zimmer und kniet neben ihr, sie mit ängstlichen besorgten Augen anschauend. Da schlingt sie die Arme um seinen Hals und küßt ihn. „Du bist nicht böse? Nicht wahr, du bist nicht böse?“ flüstert sie.

„Nein, o nein!“ sagt er, glücklich über ihre Zärtlichkeit. Als er sie verläßt, kommt wieder das alte bedrückende Gefühl über ihn, die Erinnerung an das eben Erlebte. Er sitzt unten an seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt, und grübelt, grübelt. Wohin ist’s mit ihm gekommen! Was hat er für ein Leben geführt während der letzten Jahre, ein Leben ohne Freude und Ruhe an der Seite dieser Frau, die seine ganze Seele gepackt hält! Unberechenbar, voll teuflischen Liebreizes; jetzt abstoßend und im nächsten Augenblick hinreißend sanft und lieb, verschwenderisch, bequem, ohne einen Funken Pflichtgefühl, und doch so unwiderstehlich für ihn, wenn sie ihr Kind im Arme hat. Daß sie diese Pose mit Vorliebe wählt, wenn sie etwas von ihm erreichen will, ist ihm in seiner Ehrlichkeit noch nie aufgefallen; daß sie Weinkrämpfe mühelos bekommt, sobald sie will, ist etwas, das er gar nicht für möglich halten würde. Sie ist die Mutter seiner Kinder, sie hat sie ihm geschenkt unter tausend Qualen, das hebt sie über alle ihre Eigentümlichkeiten und Launen hinaus. Und sie liebt ihn! Sie hat so viel schwere Stunden für ihn durchlebt, damals, als er noch Christels Mann war; er hat es in ihren Augen gelesen, den schönen feurigen Augen, er hat es aus ihrer Blässe, ihren Thränen entnommen, ihr Mund hat es ihm gesagt an jenem Abend, bevor sie nach Italien reiste. Sie liebt ihn in ihrer Weise, anders, wie er sich die Liebe einer Frau gedacht hat, wie er die Liebe des Frauenherzens kennt, aber – sie ist so jung, so schön, es ist ihm ja überhaupt ihre Neigung noch immer wie ein Wunder erschienen – –.

Aber heute, heute hat sie ihm doch wehgethan. Er hat dagesessen eine halbe Nacht lang, um die Form der Brosche selbst aufzuzeichnen, er war selber gerührt gewesen von der Idee „unser Dreiblatt“. Er hatte gemeint, sie müsse ihm jubelnd um den Hals fallen, und es machte in Wirklichkeit gar keinen Eindruck. Nun, der Geschmack ist verschieden, aber die Absicht, sie zu erfreuen, hatte er doch gehabt, die hätte sie erkennen müssen!

Schön! Also das Kämmchen, und zwar auf Pump! Pfui Teufel – er ist seit seiner Studentenzeit nichts mehr schuldig geblieben, aber er kann jetzt nicht bar zahlen, denn – die Taufe und so weiter. Wären nur die Ernteaussichten nicht so schauderhaft! Das Korn ist beinahe auf der Wurzel vertrocknet; seit Wochen kein Regen, kein Tau, Kartoffeln wird’s gar nicht geben, und Heu? Ja, ein wenig, aber lange nicht so viel als er gebraucht. Welche Summe wird er allein aufstellen müssen für das Futterheu? Ach, Donnerwetter, es ist ihm doch zu fatal, solche Luxusdinge wie den Kamm schuldig bleiben zu müssen! Er wird am besten thun, gleich eine große Summe bei der Landwirtschaftlichen Kreditbank zu erheben, er braucht sie ja doch über kurz oder lang, sobald der Erweiterungsbau der Brauerei beginnt. Und da liegt schon ein ganzer Stoß Rechnungen vom Juli her, Ediths Schneider, der seinige – – und nun das Fest – –!

Wohl eine Stunde lang sitzt er da, niemand stört ihn. Heine, der früher zuweilen kam, betritt jetzt nur noch das Schloß, wenn ihn Mohrmann darum bitten läßt. Der einfache Mann fühlt, daß er nicht mehr da hinein paßt; Anton hat es ihm nicht markiert, aber die beiden Damen thaten es. Früher wurde Heine mit seiner jungen, fleißigen Frau Sonntags zuweilen zu Mittag herüber gebeten, und Frau Christel besuchte auch die kleine Inspektorin; jetzt ist das längst vorbei. Edith stellt sich empört über die Zumutung, mit Frau Heine an einem Tische zu sitzen, die hätte ja Hände zum Appetitverderben, man sehe ihr doch gar zu deutlich an, daß sie höchstselbst die Butter ausknete im kalten Wasser. – Ja, und wer sonst sollte wohl kommen, mit dem er ein vertrauliches Wort reden könnte? Der Pastor, der ehemalige Schwager? Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Anton wundert sich nur, daß er überhaupt nicht um seine Versetzung damals gebeten hatte, aber der Mann scheint kein Gefühl zu besitzen für peinliche Begegnungen. Er tritt nach wie vor so ruhig auf die Kanzel, und weder Fräulein Tonette noch Frau Edith Mohrmann in ihrem Kirchenstuhl genieren ihn, stören ihn in seiner sicheren Redegewandtheit. Und warum sollte das auch geschehen? Hatte der Pastor gefehlt? Nein, er brauchte nicht zu verschwinden, er hatte keine Schuld an dem, was geschehen; er bleibt, denn er liebt seine Gemeinde.

Als Anton nach der Geburt seines Sohnes der alten Kirche, die ein so dürftiges Glöcklein besaß, das immer an ein Armsündergeläute gemahnte, eine schöne große Glocke schenkte, die nun [279] in tiefen, wohllautenden Tönen über das Dorf hinschallt, da war der Pastor sonder Verlegenheit erschienen und hatte im Verein mit dem Schulzen den Dank der Gemeinde dargebracht. Aber er hatte dabei vor Anton gestanden wie ein ganz Fremder und hatte ihn angeredet mit „Sie“ und „hochgeehrter Herr!“ – Es war ein sonderbarer, schmerzlicher Augenblick für Mohrmann gewesen, aber natürlich – wie hätte der Mann auch sonst sprechen sollen?

Wie gesagt, Anton hat es längst eingesehen, daß er trotz der vielen Menschen, die ihn umgeben, ein einsamer, sehr einsamer Mann geworden ist. Er sprach doch so gern mal abends über dies und jenes aus seinem Beruf, über seine Wirtschaft, und anfangs hatte er das auch zuweilen gethan, aber Edith gähnte dabei oder bespöttelte diese prosaischen Mitteilungen, allerliebst zwar, ja, er hatte lachen müssen darüber, ein Verständnis aber fand er nicht, auch nicht mehr bei Tante Tonette, die sich doch sonst so entgegenkommend in dieser Beziehung gezeigt hatte.

Jetzt ist überhaupt keine Gelegenheit mehr zu dergleichen vertraulichem Geschwätz. Ediths Wohn- und Schlafräume sind oben geblieben seit der Geburt des Jungen, gerade über den seinen, da, wo früher Tante Tonette wohnte; drei reizende Zimmer, die mit den seinen durch ein zierliches, vergoldetes Wendeltreppchen verbunden sind. Wie sollte er auch zwischen diesen seidnen Polstermöbeln und spitzengeschmückten Wänden reden von Kornpreisen und Saatkorn, von den neuesten Maschinen und den Plänen für die zu erbauende Brauerei? Hierher paßten eben nur zärtliche Tändeleien, süße Schmeichelworte und Ediths anmutiges Schmollen und – seine thörichten Bitten, wieder gut zu sein.

Seine Sorgen behielt er da unten allein für sich, und ihren Schlaf störten auf diese Weise weder sein halblautes Rechnen noch die tiefen Seufzer, mit denen er das ärgerliche Resultat dieser Berechnungen beklagte. – – Na ja, es ist so, sie hat kein Talent zum „guten Kameraden“, sie ist lediglich die schöne, Bewunderung heischende Frau, die ihn immer und immer wieder entzückt!

Ein helles Stimmchen ruft jetzt draußen, und kleine weiche Fäustchen hämmern gegen die Thür: „Aufmachen, Papa! Lothar ist da!“

Er springt empor wie elektrisiert und ist mit zwei Schritten an der Thür, die er aufreißt. Da steht ein Knirps von zwei und einem halben Jahr im weißen gestickten Kleidchen; der große Strohhut ist ihm zurückgerutscht und hängt auf dem Rücken, die blaue Schärpe schleift, halb gelöst, auf dem Boden, das bräunliche Gesichtchen blickt zu ihm auf mit den Augen der Mutter, diesen wunderschönen Augen, und krause dunkle seidenweiche Härchen kleben, feucht von der Anstrengung des Spieles, auf der Stirn.

„Papa, Lothar müde is,“ sagt er und hebt die Aermchen, „Lothar bei Papa bleiben will.“

Mit einer geradezu stürmischen Zärtlichkeit nimmt er den zierlichen Jungen auf den Arm und küßt ihn wieder und wieder. „Mein Herzblatt! Mein Goldjunge, du kommst, ja du kommst zu Papa? Müde bist du? Wo ist denn Frau Klauß, wo ist Sophie und wo Mama?“ fragt er. „Ist keiner da, der dich in die Baba legt?“

„Mama böse mit Lothar und mit Tante Ma,“ sagt der Kleine gähnend und sein Köpfchen sinkt an die Schulter des Vaters, der ihn nun hinaufträgt in die Kinderstube, wo soeben die Zwillinge gebadet werden, umgeben von sämtlichen Ammen und Wärterinnen.

„Ei Gottchen! Ei Gottchen!“ schreit die alte Kindermuhme, „das Lotharchen war doch noch äm hier? Nee, der is ja weeßderhole alleen die Treppen nunter gemacht, Herr Mohrmann! Das derfste nich wieder duhn, hörste? Da kannste dir ja den Hals abstürzen.“

Der Kleine aber ist schon auf dem Wege nach oben in den Armen seines Vaters eingeschlafen, und die ehrenwerte Frau Klauß sagt mit einem Blick auf Antons besorgte Miene: „Das kommt Sie von der Luft, da wärn se müde, die Wärmer, nee, krank is er nich, Herr Mohrmann.“ Und Anton, der eben den Schall des Gong hört, der zum Abendessen ruft, geht nach einem letzten Kuß auf die Stirn des Kleinen hinunter, lächelnd über das Glück, das er dort oben zurückläßt.




Im Speisezimmer auf Schloß Wartau brennen die Lampen über dem Eßtisch noch nicht, doch ist die Tafel bereits gedeckt. Auf der Veranda draußen wird gesprochen, und zwar ist es die weiche Stimme der kleinen Frau Ma, die eben sagt: „Und kurz und gut, Di, ich kündige dir meine Freundschaft, wenn du diese Angelegenheit nicht rückgängig machst. Ich finde es empörend, einem ahnungslosen Menschen dies zuzumuten – verstehst du?“

„Ah, vollkommen! Aber was geht’s dich an?“

„Ich bin deine Freundin, und als solche habe ich Pflichten.“

„Ich entbinde dich feierlich dieser Pflichten, Ma!“

„Gut, dann reise ich morgen.“

In diesem Augenblick tritt Anton rasch in die Thüre und sieht in der Dämmerung des Sommerabends Emma von Lattwitz emporspringen, irgend etwas zusammenraffen und sich dann wie zur Flucht der Treppe zuwenden. Edith wiegt sich im Schaukelstuhl und lacht. Als die Erzürnte den Hausherrn erblickt, setzt sie sich mit einer wunderlichen Beflissenheit wieder und stimmt in Ediths Lachen ein, aber trocken und gezwungen. „Sie sehen uns sehr lustig hier, Herr Mohrmann,“ sagt sie und lacht wieder, „sehr lustig.“

„Desto besser, gnädige Frau – ich hätte eben noch darauf geschworen, daß Sie und Edith sich zankten.“

„O bewahre!“ rufen beide wie aus einem Munde.

Er ist so harmlos, daß er das Geplänkel und die Drohung, abzureisen, für Scherz nimmt, und sofort beginnt er zu erzählen, was ihm das Herz füllt. „Der Lothar ist die Treppe allein hinuntergekrabbelt – denken Sie sich, gnädige Frau! Irgendwie muß er der Wärterin entwischt sein; er hätte wirklich Unglück haben können.“

Edith lacht: „Ach was, er ist ein Junge!“

Frau Ma findet es schrecklich.

„An deiner Stelle würde ich der Wärterin aber doch einen gelinden Vorwurf machen, Edith,“ sagt er.

„O, bitte, das ist doch deine Sache, mein Bester!“

„Die Kindermuhmen gehören in dein Ressort, Edith.“

„Ach, laß mich doch damit zufrieden, Schatz, die Alte ist ganz vernünftig.“

„Schön, dann werde ich es besorgen.“

Im Saale flammen die Lampen auf; der Diener meldet, daß serviert sei, und man begiebt sich zu Tische. Nach dem Abendessen bringt der Silberdiener die mit Adressen versehenen Einladungskarten. Man sieht sie noch einmal durch, auch Ma betrachtet jede einzelne. Plötzlich legt sie auf eine ihre Hand und blickt bittend zu Edith hinüber. Diese wird rot, schüttelt zornig den Kopf und Ma schiebt die Karte wieder an ihren Platz.

Anton verfolgt diesen Vorgang, und als endlich sämtliche Einladungsbriefe wieder übereinander liegen, greift er hinein und zieht die bewußte Karte hervor, die an einer ein wenig umgeknickten Ecke kenntlich ist; Frau Mas hastiger Griff hatte das verursacht.

 „Sr. Hochwohlgeboren
Herrn Premierlieutenant E. von Waldenberg
 z. Z. Berlin W.
 Köthener Straße.“

liest er. War das nicht die Adresse, über die Frau von Lattwitz heute schon einmal in Verlegenheit geriet? Vielleicht ein alter Courmacher von ihr, den zu treffen ihr peinlich ist? Was geht’s ihn an!

Im Begriff, den Brief wieder zwischen die anderen zu schieben, sieht er Ediths Augen auf sich gerichtet, forschend, angstvoll, aus völlig erblaßtem Gesicht. Einen einzigen Augenblick ertappt er sie so, dann ist das Rot wieder auf ihren Wangen und sie spricht etwas Gleichgültiges mit Tante Tonette.

Anton ist nachdenklich geworden; er erhebt sich und geht, eine Cigarre rauchend, draußen auf und ab. Die Thüren sind weit geöffnet und nach ein paar Sekunden hört er Ediths Klavierspiel.

Ja, was ist denn das eigentlich mit diesem Waldenberg? Er nimmt sich vor, sie heute abend noch zu fragen, aber sie verabschiedet sich sehr eilig und kurz von ihm, sie habe noch immer heftiges Kopfweh, und er bleibt allein mit seinem Zweifel. Schließlich beruhigt er sich, als er über alles nachdenkt. Edith hat ihn ja gefragt, ob sie, da die junge Herrenwelt den vielen Damen gegenüber gar so schwach vertreten sei, ein paar alte Bekannte von Ma und sich einladen dürfe. Er wisse nicht genau, ob das geht, hatte er geantwortet. „Ich würde dir den Vorschlag nicht machen, wenn’s nicht ginge,“ war ihre Antwort gewesen – [282] also schön, ihm war’s recht. Und dann ward unter andern auch Edi Waldenberg mit aufgeschrieben. – –

Ach, wer ihm gesagt hätte früher, daß ein Weib solche Qualen verursachen kann! Christel, gute brave Christel! Nein, sie hat ihm keine Unruhe gemacht. Die stets gleiche, wohlthuende Ruhe ihres schlichten einfachen Herzens ließ ihn nichts dergleichen auch nur ahnen. Und er konnte alles mit ihr bereden, er konnte auch mal rechtschaffen fluchen in ihrer Gegenwart, wenn ihm der Zorn und Aerger über eine verdrehte Sache aus der Seele schlug in hellen Flammen. Sie ging mit ganzem Herzen auf alles ein, was ihn drückte, ihn ärgerte oder interessierte: es war ganz gleich, ob es Rasenkultur oder künstliche Düngemittel betraf, seine Leute oder Gemeindeangelegenheiten.

O Friede, Friede, wo bist du geblieben?

Jetzt sagt niemand mehr mild und zuredend: „Anto, ärgere dich doch nicht, so schlimm ist das wirklich nicht, sieh mal – so und so –“

Der sanfte Zuspruch hatte ihn damals freilich nicht immer besänftigt. Ja, manchmal war er nach solchen Worten erst recht wütend geworden, verblendet wie er war. Und jetzt, jetzt könnte er weinen wie ein Schulbube, vor Sehnsucht nach solch einem guten Wort – –

Vorüber, vorbei auf Nimmerwiederkehr – er hat gar nicht das Recht, daran zu denken!




Nun ist’s einen Tag vor der Taufe.

Anton und Edith sind mit einem Rosenstrauß und im offenen Landauer gegen Abend nach der Station gefahren; der kleine Lothar kniet auf dem Rücksitz. Tante Josepha soll abgeholt werden. Sie kommt nach langem Grollen zum erstenmal wieder; seit Ediths Verlobung zürnt sie. Nun aber hat die junge Frau ihr so viel bezaubernde Briefe geschrieben und Tonette von Wartau ihr so viel von dem seltenen Glück des Paares vorgeschwärmt, vor allem von den süßen Kindern, daß ihr altes Herz wankend geworden ist. Und die Taufe, die Patenstelle – sie kann doch nicht zum zweitenmal ablehnen. Aber vergessen wird sie nie und nimmer! Ihre vornehme tadellose Gesinnung kann es nicht fassen, daß Schwester und Nichte die brave Frau eines Mannes fortintriguierten, um deren Stelle zu erobern. Das ist noch ihr gelindester Ausdruck dafür. Und was Anton anlangt, so ist er in ihren Augen ein Streber, der, um in höhere Lebenssphären zu gelangen, alles niedertritt, und wäre es das Heiligste und Zweifelloseste auf der Welt, die Ehe.

Sie hatte gerast und getobt über die Entartung ihres vornehmen Blutes, hatte schließlich geweint; leichtsinnig waren sie ja alle die Wartaus, das ist ein altes Lied, aber schlecht, so schlecht, um einen Mann zu bethören, daß er die ihm angetraute Frau verstößt, nein, so etwas war noch niemals geschehen! Was war dagegen das bißchen Raubrittertum im frühen Mittelalter? Ein unschuldiges Kinderspiel.

Trotz alledem, sie kommt, ihr altes Herz will endlich Frieden.

Auf dem Perron steht eine schlanke junge Frau im weißen Kleide, ein Capothütchen aus schwarzer Gaze auf dem schönen Köpfchen, in der einen Hand den Rosenstrauß, an ihrer Rechten ein Kind ebenfalls im weißen Kleide, das zappelnd und rot vor Freude ein kleines Taschentuch schwenkt, und vor Josephas Coupé wartet ein stattlicher blonder Mann, der ihr respektvoll die Hand küßt.

Ja, das sieht alles sehr tadellos aus. Edith sprudelt über vor Liebenswürdigkeit, und der Junge starrt die Großtante mit dem weißen Scheitel an und preßt krampfhaft ein lederüberzogenes Pferdchen an sich, das ihm diese geschenkt. Und die Luft ist so weich und die Rosen duften, und dort weit unten hinter Altwitz geht die Sonne unter.

„Wie du dich freuen wirst über Wartau, Tante,“ sagt Edith.

„Und über die Kinder,“ setzt Anton hinzu.

In Josephas Gesicht zuckt die Rührung, die alte Heimat greift doch mächtig an ihr Herz. Sie möchte am liebsten weinen, und dann wundert sie sich, daß das Paar immer aneinander vorüber spricht, daß es vermeidet, sich anzusehen, und als sie Anton näher ins Auge faßt, erblickt sie müde Züge und eine sorgenvolle Miene. Wollen sehen, wollen sehen, ob alles Gold ist, was glänzt, nimmt sich Fräulein Josepha vor, die eben bemerkt, daß Edith mit einer ungeduldigen Gebärde ihr Kleid wegzieht, auf dem wahrscheinlich sein Fuß gestanden.

„Pardon!“ murmelt er.

Edith redet weiter, unnatürlich lebhaft, von den Gästen, die morgen erwartet werden, und daß niemand abgesagt habe, nur von einem oder dem andern sei es noch ungewiß, ob –

„Eine Absage ist vorhin noch gekommen,“ schaltet Anton ganz ruhig ein, „weißt du schon, Edith?“

„Von wem?“

„Von Lieutenant von Waldenberg.“

Sie kann es nicht hindern, daß sie erbleicht, alles Blut ist ihr zum Herzen geströmt. Und sie hat so gewartet auf Antwort, die Stunden hat sie gezählt, jedem Postboten hat sie aufgelauert – keine Nachricht! Sie hat sich vorgeredet, daß Edi verreist sei, daß er sie vielleicht überraschen wolle, daß sein Brief verloren gegangen sei – sie hat sich in Zweifeln und Hoffnungen aufgerieben, und dieser phlegmatische Mensch ihr gegenüber hat längst die Nachricht, daß Edi nicht kommt, und hält es erst jetzt der Mühe wert, ihr das mitzuteilen.

„Warum erfahre ich denn das nicht früher?“ fragt sie mit vor Erregung bebender Stimme.

„Ich bitte, verzeih,“ sagt er, „ich hatte es ganz vergessen.“

Sie zittert ordentlich vor Enttäuschung und Zorn. „Und wann kam diese Absage, wenn ich fragen darf?“

„Ich fand sie heute mittag auf meinem Schreibtisch unter andern Postsachen.“

„Was schreibt er?“

„Ein paar höfliche Worte; es sei ihm unmöglich, der liebenswürdigen Einladung zu folgen.“

„Und weiter nichts? Keine Gründe?“ ruft sie und eine jähe Röte steigt ihr verräterisch in das Gesicht.

„Nichts von allem.“

Edith setzt sich stumm in die Wagenecke zurück. Die alte Stiftsdame aber blickt mit einem wunderlichen Gesichtsausdruck in die Landschaft hinein, halb erschreckt, halb befriedigt, daß das vielgepriesene Glück in der Nähe besehen doch am Ende ein wenig fadenscheinig sein könne, genau so, wie sie es ja vorher gedacht hatte. Und dann sagt sie laut: „Sein Grund heißt soviel als – ‚Ich will nicht!‘, liebes Kind. Wie kommst du übrigens zu dem Waldenberg? Verkehrt er neuerdings bei euch? Kennen Sie ihn denn, Herr Mohrmann?“

„Ich habe nicht den Vorzug,“ erklärt Anton mit harter Stimme, und ein ungemütlicher Zug liegt auf seinem Gesicht.

„Aber ich desto besser,“ ruft Edith, „er ist ein Jugendfreund von Ma und mir, und wir hätten uns gefreut, ihn bei dem Feste zu sehen.“

Josepha von Wartaus Gesicht nimmt einen hochmütigen Ausdruck an, und dann sagt sie: „Bei uns und zu meiner Zeit wurden Herren nicht invitiert, die der Hausherr nicht kannte. Du hast dir eine kleine Taktlosigkeit zu schulden kommen lassen, liebe Edith, und Herr von Waldenberg quittiert darüber mit seiner Absage.“ Und innerlich setzt sie hinzu: Das kommt davon; wenn der Hausherr nicht an das Parkett gewöhnt ist, dann passieren solche Dinge. Er hätte die Einladung eben nicht absenden dürfen, aber ‚so was‘ hat ja keine Ahnung von geselligen Formen!

„Wir leben nicht mehr in deiner Zeit, liebe Tante,“ antwortet Edith, sich mühsam zu einem höflichen Ton zwingend. „Man denkt heute auch ein wenig freier über Umgangsformen, und wenn mein Mann einverstanden ist, so – aber du darfst nicht böse sein – so kann von Taktlosigkeit meinerseits wohl kaum die Rede sein, auch denke ich, hat ein dritter überhaupt nicht das Recht – –. Ah, da sind wir ja, liebe Tante; bitte, gestatte, daß ich erst Lothar hinausreiche.“

Der Wagen hält, das Kind wird hinausgehoben, dann folgt Fräulein Josepha, und unter lautem Aufschluchzen liegen sich die beiden alten Schwestern in den Armen und küssen sich wieder und wieder. Edith streift Josepha von Wartau mit einem bösen Blick, nimmt dann Lothar an die Hand und steigt mit ihm die Treppe hinauf, ohne ihren Mann noch einmal anzusehen. In der Kinderstube giebt sie den Kleinen ab, pocht dann an Mas Thür und findet die Freundin im verdunkelten Zimmer, über heftige Kopfschmerzen klagend.

„Ach, Di, ich sterbe bald, laß mich allein!“ ist ihre Bitte. [283] Edith geht wieder mit ihrem gekränkten Stolz, ohne sich ausgesprochen zu haben.

Aus dem Napoleonszimmer klingen die Stimmen der beiden alten Damen ungemein laut und lebhaft, als seien sie in einer ernstlichen Debatte begriffen. Tante Tonette hat den Theetisch hier oben decken lassen. Sie haben sich so viel zu erzählen, allein zu erzählen nach der jahrelangen Trennung. Edith fühlt, daß sie sich in Josephs eine strenge Richterin und Beobachterin eingeladen hat, die sich durch den äußeren Glanz ihrer Häuslichkeit nicht blenden lassen wird, deren eingewurzelter Widerwille gegen ihre Heirat sich nicht beruhigen kann um den Preis, daß Wartau daran hängt.

Und dann dieser Edi! Er ist doch ganz einfach ein Pedant der allerschlimmsten Sorte, ein ganz verächtlicher Pedant, fast ein Feigling! Was mag er sich denken bei dem ganzen? fragt sich Edith, während sie ihr Ankleidezimmer betritt. Sie lacht leise und höhnisch. Es ist eigentlich ziemlich klar – wenn sie sich die Geschichte von Anfang an vergegenwärtigt, so hat er ihr mit der unhöflichen kurzen Absage eine Lehre geben wollen, eine bittere Lehre: du gehörst einem andern, was willst du denn noch von mir? Für mich bist du nicht mehr vorhanden!

Sie glaubt, bestimmt annehmen zu können, daß Edi sie noch liebt. Sein Bruder ist gestorben und Edi heiratete allen Mutmaßungen zum Trotz die junge Witwe nicht. Diese hat vielmehr nach der üblichen Trauerzeit ihrem nach dem Tode des Gatten geborenen Söhnchen einen zweiten Vater in der Person eines älteren Vetters von sich gegeben, und Edi ist bis zur Stunde ledig. Edith traf ihn zweimal im Laufe der letzten Jahre; einmal bei einer Strandpromenade auf Norderney – wo er sie gar nicht bemerkt haben würde, hätte sie ihn nicht angesprochen, und wo er so übertrieben höflich und sehr kühl sie ein Stückchen begleitete und ihr mitteilte, daß er andern Tages leider Norderney verlassen müsse, da er sich mit einem Freunde auf Borkum treffen wolle. Und zum zweitenmal sah sie ihn vor einem halben Jahre in Berlin. Sie verbrachte dort einige Tage mit ihrem Mann. Edith war, wie sie es liebte, auf Besorgungen aus, Mohrmann schrieb einige Briefe im Hotel. Nicht weit vom „Kaiserhof“ sieht sie Edi auf der Straße. Er grüßte und will vorüber, dann zögerte er, fand es wohl selbst unartig, so fremd und eilig vorüberzugehen, und erkundigte sich schließlich nach dem Befinden der gnädigen Frau. Dabei war er rot geworden. Während sie die Wilhelmstraße nach den „Linden“ zu gingen, fragte sie ihn, warum er so schrecklich fremd thue. Er meinte, das komme ihr nur so vor. Dann plapperte sie alles mögliche, redete sich in eine warme Herzlichkeit hinein, und heute erinnert sie sich, daß er doch wenig auf das alles geantwortet hat. Vor dem Magazin, wo er ihr ritterlich die Thür öffnete, verabschiedete er sich. Sie schüttelte ihm die Hand: „Es war nett, Lieutenant Waldenberg, wollen Sie uns einmal besuchen auf Wartau?“

Er stammelte irgend einen Dank für diese Freundlichkeit, war wieder wie mit Blut übergossen, gerade so wie damals, als sie ihm zum erstenmal einen Cotillonorden brachte. „Es wäre nett,“ versicherte sie nochmals, „mein Mann würde sich gewiß freuen – versprechen Sie es mir?“

„Gnädige Frau sind zu liebenswürdig!“ Dann hatte er die Hand an die Mütze gelegt, sich verbeugt und war zurückgetreten, und Edith konnte nicht gut weiter in ihn dringen.

Sie hatte sich tagelang mit dieser Begegnung beschäftigt. Wie lieb er war in seiner Verlegenheit, wie vornehm er aussah! Und nun hat sie vor vier Wochen an ihn geschrieben, anknüpfend an sein Versprechen, das er ihr in Berlin gegeben, sie in Wartau zu besuchen. Sie seien doch alte Freunde, und sie wolle den Anfang machen, das Gras, das auf dem Wege dieser Freundschaft gewachsen sei, auszujäten; sie erwarte ihn also zu der kleinen Festlichkeit, er dürfe nicht ablehnen. – Dann flog die Einladungskarte hinterher, auf welcher „Herr und Frau Mohrmann sich die Ehre geben …“ Sie hat’s sich wirklich reizend ausgemalt, ihm in allem Glanz der Schloßfrau von Wartau entgegenzutreten, sich in seiner noch immer nicht erloschenen Leidenschaft zu sonnen, kurz und gut, ihn ein wenig wieder an ihren Triumphwagen zu fesseln. Und jetzt benimmt er sich wie ein Thor, empörend unhöflich, antwortet ihr gar nicht einmal, sondern schreibt dem Ehemann, daß er bedauere –! Ma wird sich natürlich ins Fäustchen lachen; die spießbürgerlich gewordene kleine Frau hatte ja auf sie eingeredet, als ob sie im Begriff sei, ein Verbrechen zu begehen mit dieser Einladung. Natürlich wird Ma sagen: „Siehst du – ich habe recht! Der Edi Waldenberg ist eine viel zu vornehme Natur; er respektiert dein Haus und deinen Mann, und du hast eine schöne Lehre von ihm bekommen!“

O, Edith kocht innerlich, sie kann solche Tugendbolde nicht leiden. Mein Gott, warum soll eine junge hübsche Frau nicht ein wenig kokettieren dürfen? Zu pedantisch, zu engherzig! Sie ballt die kleine Hand zur Faust; wenn sie wenigstens ihrem Herzen Luft machen könnte!

Mitten in diesen desperaten Zustand hinein klopft es. Tante Josepha erscheint mit Tante Tonette, um Edith erst mal ordentlich zu begrüßen. Diese liegt noch immer auf der Chaiselongue ihres Ankleidezimmers in übelster Laune. Mit Tante Tonette macht sie ja nicht viel Federlesens, sie hätte ihrethalben sich nicht erhoben aus der bequemen Lage – Tante Josephas blasses strenges Gesicht aber läßt sie aufstehen, wenn auch nicht allzu verbindlich.

Tante Tonette sieht erhitzt und ärgerlich aus; es ist ihr trotz aller glühenden Schilderungen, trotz allen handgreiflichen Augenscheines nicht gelungen, ihre Schwester von dem Wartauer neuen Glück zu überzeugen. Von Josephas Gesicht ist das skeptische Lächeln nicht gewichen, das da sagt: Trotz alledem glaube ich nicht daran!

Die Damen sitzen in dem hohen kühlen Zimmer und Tante Tonette ärgert sich, daß Josepha kein Wort des Beifalls hat für die reizende kostbare Einrichtung desselben. „Ist unser altes Heim nicht wunderhübsch wiedererstanden?“ fragt sie endlich direkt. „Der Stil der neuen Einrichtung ist tadellos und schmiegt sich so hinein in den alten kostbaren Rahmen – alle Kenner sind entzückt davon, es ist ein wahrer Rokokotraum.“

„Sehr schön!“ giebt Tante Josepha zu, „nur zu neu! Ich muß mich erst an diesen Glanz gewöhnen, in mir lebt noch zu mächtig das Bild des alten lieben Schlosses mit den Erinnerungen an meine Kindheit – ich kann sie nicht wiederfinden.“

„Und den Moderduft auch nicht, der den Verfall begleitete,“ giebt Tonette ärgerlich zurück. „Es ist undankbar von dir, Josephine, daß du dich nicht auch freust.“

„Du weißt ja, weshalb ich es nicht kann,“ klingt es gelassen.

„Er sollte nur Baron sein, dann –“

Ediths Lachen unterbricht den Streit. „Tante Josephas außerordentlich aristokratische Grundsätze stoßen sich hier auf Schritt und Tritt die Köpfe blutig,“ sagt sie. „Arme Tante Josepha! Du wirst Mühe haben, die verletzten in der Stille deines adligen Stiftes zu heilen.“

„Meine Grundsätze sind nicht ausschließlich aristokratisch, sie sind die jedes anständig denkenden Menschen!“ klingt’s gereizt zurück.

„Und Mohrmann ist ein solcher,“ ereifert sich Tonette, „innerlich und äußerlich! Was ihm noch gefehlt hat, das hat er sich angeeignet während seiner Ehe mit Edith! Sie soll’s selber sagen – bitte, Kind – ob er sie nicht mit einer geradezu erstaunlichen Rücksicht behandelt, ihr nicht jeden Wunsch von den Augen abliest! Ob ihre Ehe nicht in jeder Hinsicht eine glückliche ist!“

Edith lacht wieder, halb spöttisch, halb belustigt.

„Ich weiß nicht,“ erwidert Josepha trocken, „ob das ein so großer Vorzug ist, wenn er ihr jeden Wunsch erfüllt.“

Edith sieht sie erstaunt an.

„Das könnte nur dann ein Lob bedeuten,“ fährt die alte Dame unentwegt fort, „wenn die Frau, der solche Rücksicht entgegengebracht wird, ein vernünftiges, einsichtsvolles bescheidenes Wesen ist, denn sonst würde ich es für Schwäche halten, oder für Gleichgültigkeit, je nachdem –“

„Aber Josepha!“ ruft Tonette, „du verstehst es, Artigkeiten zu sagen!“

Edith hat sich erhoben; sie ist furchtbar erregt, dunkelrot färbt das zornige Blut sie; sie weiß, worauf das zielt, aber noch ehe sie fragen kann: „Du meinst wohl Waldenberg?“ fährt Josepha gelassen fort, indem sie mit den Fingern an dem Volant eines Fauteuils zupft: „Zum Beispiel würde ein Mann mit angeborenen aristokratischen Grundsätzen nie einen ihm persönlich unbekannten Herrn einladen, nur weil es die Frau Gemahlin wünscht; man müßte dann doch eine geradezu verblüffende Naivetät bei ihm voraussetzen.“

[284] Tonette starrt ihre Schwester an mit offenem Munde, sie weiß ja nichts von dieser Einladung. Edith aber ist jetzt auf dem Gipfel ihrer Fassungslosigkeit angelangt, sie weiß, in dieser Beziehung versteht auch Tante Tonette keinen Spaß, und die junge Frau hat schon lange vergeblich gesonnen, unter welchem Vorwand sie der Tante gegenüber die Einführung Edi Waldenbergs bewerkstelligen soll, für den Fall nämlich, daß er der Einladung folgen würde.

„Ich verstehe nicht,“ stottert endlich Tonette.

„Nun, die glückliche, verhätschelte Herrin des Hauses hat ihren Mann zu bestimmen gewußt, den Edi Waldenberg einzuladen – wenn ich nicht irre – ihren alten Courmacher von Anno dazumal.“

„Edith!“ schreit Tante Tonette, „nimm’s nicht übel, das ist allerdings stark! Den Edi? Bist du verrückt geworden?“

Edith steht jetzt mit gekreuzten Armen an einem Rokokoschränkchen, dicht neben der mit einem Brokatvorhang verschlossenen zeltartigen Draperie, welche die Mündung der Wendeltreppe maskiert, die in Antons Zimmer hinunterführt. „Es ist zum Erstaunen, Tante Josepha, wie geschickt du harmlose Thatsachen zu Verbrechen zu stempeln verstehst,“ sagt sie noch ruhig, „mein alter Courmacher? Es wäre viel richtiger gewesen, wenn du ihn den gemeinschaftlichen Jugendfreund von Ma und mir genannt hättest, den wir gern wiedersehen wollten.“

Aber Tante Josepha läßt sich nicht irremachen. „Wenn deine Freundin Sehnsucht nach ihm verspürte,“ giebt sie zurück, „so mag sie ihn in ihrem Hause empfangen, das ist ja dann ihre Sache. Du aber hast nicht das Recht, auf diese Weise dich für die Langweiligkeit deiner Ehe schadlos zu halten! Du bist gar kein harmloses Kind, Liebste, warst es nie und weißt sehr wohl, was für Konsequenzen aus solchem Wiedersehen entstehen können, ich sage – können; das müßte dir genug sein, um es zu vermeiden! Und deinen blindlings ergebenen Mann zu bestimmen, dir ahnungslos behilflich zu sein, einem nur zu berechtigten Verdacht Thor und Thür zu öffnen in seinem eigenen Hause, das ist denn doch – nimm’s nicht übel – eine Harmlosigkeit – wir wollen’s so nennen – die auch einen minder Unbefangenen wie mich zweifeln lassen kann an dir! Ich denke, du –“

Sie verstummt, denn Edith ist wie eine Tolle auf sie zugekommen und steht mit zitternden Gliedern vor ihr. „Was erlaubst du dir, Tante?“ ruft sie mit einer grellen Stimme, „wie kannst du es wagen, mir solche Motive anzudichten für das harmlose Verlangen, einmal wieder fröhlich zu sein mit einem Menschen aus jener Zeit, da man noch glücklich war? Ich dulde solche Beschimpfungen nicht! Ich bitte dich, verlasse mein Haus, auf der Stelle verlasse mein Haus, wenn du nur gekommen bist, mich zu beleidigen! Du hast keinerlei Grund dazu.“

„Um Gottes nillen,“ ruft Tante Tonette und zieht Edith am Arm, „schrei doch nicht so, sprich doch leise! Josepha, du reizest sie ja immerfort – ich begreife dich nicht! Edith hat sich das zu wenig überlegt mit der Einladung, es war gewiß kein böser Gedanke dabei, nicht wahr, Edith? Gutes Kind, beruhige dich nur.“

Aber Edith stößt sie zurück und wiederholt noch einmal: „Gar keinen Grund hast du! Verbissen und neidisch bist du und warst es stets.“

„Keinen Grund?“ fragt Josepha aufstehend, um das Zimmer zu verlassen, und die jahrelang aufgesammelte Bitterkeit über Ediths Heirat bricht mit ungestümer Gewalt hervor. Die Hand schon auf der Thürklinke, sagt sie: „Ich dächte, die Präliminarien deiner Heirat wären ausreichend genug, um dir ein gerechtfertigtes Mißtrauen entgegenzubringen. Wer einmal einen Mann auf freventliche Weise an sich zieht, zieht auch wohl noch den zweiten an sich; diejenigen, die dabei geopfert werden, kümmern dich wenig, scheint’s.“

„Das soll heißen, daß ich Anton von seiner Pflicht abwendig machte?“ keucht Edith, „Ich?“

Josephas Kopf in dem schneeweißen Blondenhäubchen neigt sich. „Ja!“ sagt sie kurz. „Wer sonst?“ Und nun will sie gehen, fühlt sich aber am Arm zurückgerissen.

„Du bleibst!“ fordert Edith, „denn ich will auch einmal etwas erzählen!“ Ihre Stimme ist schrill vor Erregung; die herzueilende Tonette schier verächtlich beiseite schiebend, schreit sie mehr als sie spricht: „Ich war ein thörichtes Kind, ja, möglich auch, daß ich gefehlt habe, indem ich mich bemühte, ihm zu gefallen! Ich fürchtete mich vor der Armut, vor dem Entbehren, und außerdem liebte ich den Edi, jawohl, den Edi – ganz aussichtslos liebte ich ihn! Von der Heiligkeit der Ehe hatte ich oft gehört, aber wenig genug gesehen bisher, und das Romanlesen mag ja auch mitgespukt haben in meinem Kopfe. Schön – ich that also unrecht, mit Mohrmann ein kokettes Spiel zu beginnen, aber ich kam zur Besinnung, als das Wasser mir über dem Kopfe zusammenschlug, als ich Edi wiedersah. Ich wollte mich retten, wollte zurücktreten, mir kam es ganz entsetzlich vor mit einem Male, diesen großen Menschen mit den ernsten, bekümmerten Augen heiraten zu müssen, ohne einen Funken von Liebe meinerseits. Aber da stand Tante Tonette am Ufer und stieß mich wieder hinein ins Wasser mit spitzen Worten und weisen Ratschlägen! Sie ist die Schlechte, meine liebe Tante Josepha, ihr halte deinen Spiegel vor! Ich kann offen und ehrlich sagen, ich habe Mohrmann nie geliebt, liebe ihn auch heute noch nicht, ich habe mich einfach für euch und für Wartau geopfert, und alles, was ich Unbegreifliches thue, thue ich, um zu vergessen, daß ich meine Liebe, meine Jugend vertrauere und versauere um ein bißchen äußeren Glanz. Und ich werde weiter thun, was ich will, was ich für recht halte, auch wenn ihr die Hände darüber ringt, denn ihr – was wißt ihr von dem, was ich leide, wie es mir zu Mute ist bei dieser Komödie, die ich täglich und stündlich spielen muß?!“

Sie hat die letzten Worte fast schreiend hervorgestoßen; sie ist völlig außer sich, ohne einen Funken von Ueberlegung. Nun wendet sie sich ab und sucht die angrenzende Schlafstube auf, die Thür hinter sich zuschmetternd.

Und Josepha sieht nach diesem stolzen Abgang mit den eingesunkenen grauen Augen ihre fassungslose Schwester an und nickt mit dem Haupte. „Ja du,“ sagt sie leise, „du! der größte Teil der Schuld ist dein!“ Und nun geht auch sie und läßt die zitternde große Person zurück, die noch immer nicht begriffen hat, was eigentlich geschehen ist, wie sie eigentlich kam, diese schreckliche Scene. Sie hätte es verhindern müssen, das Kommen Josephas; sie hatte eben so ganz den starren unbeugsamen Stolz der Wartaus vergessen, den diese erbte, der schon so oft zu Konflikten führte; sie hatte gemeint, die wohlige behagliche Lust, der Ueberfluß in den Räumen des vielgeliebten Stammsitzes werde auch der Schwester Vorurteil verwandeln in dankbare Zufriedenheit, wie das ihre.

Sie geht mechanisch an ein Nebentischchen, trinkt ein Glas Wasser und überlegt. Nach einem Weilchen ist sie beinahe beruhigt: ein gründlicher Meinungsaustausch im intimsten Kreise, na – darum ändert sich noch nichts an allem; Edith wird sich beruhigen, Josepha wird abreisen, und sonst – es hat ja sonst niemand gehört! Anton ist eben noch mit Heine fortgegangen, das heißt – rechnet sie nach – vor dreiviertel Stunden etwa. Die große korpulente Gestalt schiebt sich aber doch, wie von einer Ahnung getrieben, unhörbar über den Teppich nach dem Zeltchen hinüber. Die fatale Wendeltreppe, an die hat sie nicht gedacht! Behutsam lüftet sie den Vorhang und fährt dann entsetzt zurück – „Mohrmann!“ stammelt sie.

Er sitzt auf der obersten Stufe der vergoldeten schmiedeeisernen Treppe und hat den Kopf in die Hände geborgen, sein Rücken ist wie im Krampf zusammengezogen, ein Bild vollständigster Verzweiflung.

„Mohrmann!“ schreit die alte Dame jetzt laut, „liebster, bester Mohrmann!“

Da richtet er sich auf, und ohne sich nach ihr umzusehen, geht er, sich fest an das Geländer klammernd, hinunter, schwankend, als sei er trunken.

„Barmherziger, was soll nun werden?“ schluchzt Tante Tonette, und sie steigt hinauf in ihr Zimmer, wo Josepha mit dem stillen hochmütigen Gesicht am Fenster sitzt, das geballte Taschentuch in den nervös zuckenden Fingern.

„So!“ ruft Tonette und wirft sich, außerstande, ihre Angstthränen zu unterdrücken, ins Sofa, „so, nun ist das Unglück vollkommen! Mit deiner Moralpredigt hast du es heraufbeschworen – Mohrmann hörte alles, was Edith da schrie in ihrem sinnlosen Zorn.“

Josephas Augen erweitern sich einen Augenblick schreckhaft, dann wendet sie den Kopf wieder zum Fenster. „Er wäre so wie so gekommen über kurz oder lang, der Krach,“ murmelt sie.

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 10, S. 304–312

[304] Eine Stunde nach dem furchtbaren Auftritt zwischen Edith und den Tanten sind sie alle, mit Ausnahme von Josepha, in Mas Zimmer versammelt. Die junge Frau hat sich aufgerafft trotz ihres Kopfwehs und ihre ganz entsetzten Augen folgen Edith nach, die mit noch immer vor Aufregung gerötetem Gesicht und spöttisch lächelnd auf und ab geht. Es ist schon dämmerig in der oberen großen Stube, und es riecht nach englischem Lavendelsalz und Menthol. Durch die geöffneten Fenster dringt die schwüle Luft des Sommerabends herein. Aus dem Sessel, in dem Tante Tonette liegt, kommt von Zeit zu Zeit ein Schluchzen.

Im Hause und im Garten ist es sehr lebendig; die Vorbereitungen für die Taufe halten die ganze Dienerschaft in Atem. Alle Augenblicke kommt jemand, um irgend etwas zu fragen, Diener und Stubenmädchen, der Zimmermann, der das Tanzpodium im Garten legt, die Mamsell aus der Küche, die Wärterin aus der Kinderstube. „Fragt den Herrn!“ herrscht Edith endlich den Gärtner an, der ihr Urteil wünscht beim Arrangement des Taufaltars.

„Verzeihen gnädige Frau, der Herr ist vor einer Stunde ausgeritten.“

„Herrgott“, ruft Tonette, „so machen Sie’s doch allein, es wird ja schon recht werden!“

„Es wäre viel gescheiter, Tante Tonette, du ließest dein unnützes Weinen und bekümmertest dich lieber selbst darum.“

„Ich kann nicht; ich bin wie gelähmt! Ehe ich nicht weiß, wie die Sache abläuft, werde ich kein Mensch wieder sein,“ jammert die sonst so resolute Dame. „Du mußt abbitten, auf den Knien abbitten,“ fügt sie hinzu, „du mußt, Edith!“

Edith lacht spöttisch.

„Sage, du wärst gereizt worden, du habest ohne jede Besinnung gesprochen, sage was du willst, nur lege deine hoheitsvolle gekränkte Miene ab!“

„Ich fürchte nur,“ klingt Mas Stimme müde und hoffnungslos dazwischen, „er kann ihr nicht verzeihen.“

Edith lacht noch lauter. „Bitte, macht euch doch nur keine allzu tragischen Vorstellungen. Erst werde ich hier herauf gerufen wie zur heiligen Feme, dann wird ein rabenschwarzes Unglück prophezeit und schließlich kommen Verhaltungsmaßregeln, als sei ich ein Kind, das beim Lügen ertappt worden ist! Ich weiß ganz genau, was ich zu thun habe, ich kenne ihn besser als ihr alle.“

Tante Tonette erstickt einen Angstlaut in der Kehle; sie sieht wieder den Mann vor sich sitzen, seine zitternden Hände, den gekrümmten Rücken, als wollte er einen heftigen physischen Schmerz niederzwingen. „Edith, ich bitte dich,“ stöhnt das alte Fräulein.

„Di, mein Mann würde –“ fängt Ma an.

„Was dein Mann würde, ist ja hier gar nicht von Belang,“ unterbricht Edith sie, „meiner wird gar nichts thun, gar nichts, ich versichere euch. Ihr denkt wohl, er stellt mich in die Ecke, oder er straft mich mit Verachtung, oder weist mich hinaus? Dazu ist kein Grund, und dazu gehören zwei, besonders die eine, die da gehen würde – das ist so einfach nicht! Und nun reden wir nicht mehr davon! Eine Scene wird’s ja geben zwischen ihm und mir, natürlich; aber das ist meine Sache, und morgen werdet ihr nichts mehr davon spüren.“

„Nachdem du geschrieen hast: ich habe Mohrmann nie geliebt, liebe ihn auch heute noch nicht? Du habest mit ihm nur Komödie gespielt? Habest ihn nur aus Berechnung an dich gezogen?“

„O Gott! O Gott!“ seufzt Tante Tonette, „es ist zu entsetzlich! Und daß sie noch behauptet, sie sei damals zur besseren Einsicht gekommen, so daß sie ihn nicht mehr wollte, daß sie durch mich hineingestoßen worden sei in ihr moralisches Elend – das vergebe ihr Gott, ich kann’s nicht!“

[306] „Herrgott, ja, ich kenne mein Verbrechen nun schon auswendig, verschont mich doch, ich hab’s nun einmal gesagt und werde es vertreten,“ erklärt Edith, „ich habe keine Angst vor ihm!“

Aber sie bleibt doch, trotz ihrer Courage, in dem dunklen Zimmer ihrer Freundin und horcht auf den Pendelschlag der Turmuhr, horcht auf das Hasten im Hause und wartet auf den Hufschlag des Pferdes, das ihn zurückbringen soll, mit heimlichem starken Herzklopfen. Tante Tonette ist seufzend hinausgeschlichen und huscht gegen ihre sonstige Gewohnheit scheu, wie ein Gespenst, die Treppen hinunter, um notgedrungen etwas nach dem Rechten zu sehen. Alle Räume sind erfüllt von der drückenden Schwüle dieses sengenden Sommertages, dem keine Abkühlung gefolgt ist. Die Gärtner in dem hohen Saale sind ebenso erhitzt wie die Leute in der Küche und ebenso mißmutig, denn sie stehen ohne Anleitung umher. Und Tante Tonette ist völlig verwirrt, sie starrt bei den Fragen, die an sie gerichtet werden, geistesabwesend die Menschen an und giebt verkehrte Antworten.

Und eine Stunde nach der anderen verrinnt, das allzulaute Treiben ist verstummt, die Leute, bis auf Antons Diener, sind schlafen gegangen. Auch Tonette, unfähig, sich noch aufrecht zu halten, hat ihr Lager gesucht, es Gott und Ediths Klugheit überlassend, die Sache auszugleichen. Vom Turme schlägt es Elf.

„Gute Nacht,“ sagt Edith zu Ma, die getreulich mit ihr gewartet hat bis jetzt, „ich lege mich auch; je länger er sich draußen austobt, um so besser.“

Ma erhebt sich von der Chaiselongue; in der Dunkelheit sieht es aus, als erstehe die gespenstige weiße Frau plötzlich. „Di,“ sagt sie traurig, „du thust mir furchtbar leid, denn, siehst du, ich glaube –“

„Was glaubst du denn, Frau Weisheit?“

Das läßt sich kein Mann sagen, zumal von der Frau, die er so geliebt, so auf Händen getragen hat, oder – er ist ein jämmerlicher Mensch! Wie kannst du ihn je wieder achten, wenn er diesen Schlag erträgt, ohne zu zucken?“

„Du vergißt die Kinder, Ma, denke doch an Lothar und die Kleinen! Mach’ dir keine Sorgen; Lothars Mutter wird schon Absolution finden. Gute Nacht, Ma!“

„Schlaf wohl, Di, sei nachgiebig, Di, ich bitte dich! Und Di, spiele die Sache mit Edi auf mich hinüber, ich habe ihn sehen wollen – hörst du? Ich will es ja gern tragen, und Lattwitz kann ich ja die Wahrheit sagen.“

„Sehr freundlich, werd’s überlegen.“

Die Thüre fällt hinter Edith zu. Ein Weilchen bleibt sie vor der Kinderstube stehen und denkt nach. Soll sie Lothar mit hinunter nehmen, das Kind in den Armen, ihn erwarten? Das sähe doch zu gesucht aus, zu sehr, als habe sie dieses Hilfsmittel nötig; vorläufig will sie doch möglichst die Gekränkte spielen.

Sie schlüpft die Treppe hinunter, zieht sich in ihrer Stube ein weißes Batistnegligé an und huscht auf kleinen Pantoffeln in sein Zimmer hinüber, dort kauert sie sich in das Sofa auf das Bärenfell und wartet. Was sie ihm sagen will, weiß sie noch nicht, sie überläßt es dem Zufall; nur geängstigt hat sie sich natürlich über sein Ausbleiben, das soll als Einleitung dienen.

In Wahrheit ist ihr Mut gleich Null, in Wahrheit vergeht sie vor jämmerlicher Angst, denn sie fühlt: heute steht sie vor einem entscheidenden Punkt in ihrem Leben; sie fühlt: er kann ihr gar nicht verzeihen. Dann denkt sie sich einige Möglichkeiten aus, wie sich die Sache vielleicht entwickeln wird. Zweifellos wird er rasen, wenn er sie sieht. Sie schüttelt sich bei dem Gedanken an seinen Zorn, sie hat ihn einmal so gesehen, als er sich an dem Reitknechte vergriff, thätlich vergriff, als dieser, zum Arzte für den erkrankten Lothar geschickt, in aller Gemütlichkeit und in der Meinung, es sei nicht so schlimm, bei seiner alten Mutter in Dobberau eingekehrt war. Deutlich sieht sie wieder, wie Anton auf den Menschen losstürzt, ihn schüttelt und dann zur Thür hinausschleudert, sieht die blaue Ader auf seiner Stirn und – ihre Zähne schlagen hörbar zusammen.

Aber, um Gottes willen, an ihr wird er sich doch nicht vergreifen, an der Mutter seiner Kinder! Ach nein, weit eher glaubt sie: er wird den Tiefgekränkten herauskehren, er wird wochenlang kaum mit ihr reden, viel ausgehen, wie schon einmal, und dann wird es ihre Sache sein, ihn mit Nachgiebigkeit und Demut, mit sehr viel Liebenswürdigkeit zu überzeugen, daß es doch gar nicht so übel ist, Edith von Ebradts Gatte zu sein, wenn sie auch – na, und außerdem muß sie eben sagen, wie sehr sie gereizt war, wie angegriffen von der enormen Hitze.

Viertelstunde auf Viertelstunde verrinnt, die Uhr auf dem Schreibtisch schlägt Zwölf. Edith fröstelt, sie hat nichts gegessen, seit Mittag, und die innere Angst schüttelt sie förmlich. Sie steht langsam auf, wie Blei liegt es in ihren Gliedern, als sie ein paar Schritte thut, dann richtet sie ihre Augen mit einem Ausdruck des Entsetzens zum Fenster – jetzt kommt er, das Trappeln des Pferdes schallt herein, er hält vor der Freitreppe an. Sie hört, wie er nach dem Diener ruft, wie er befiehlt, das Tier sorgfältig abzureiben, und dann die Tritte auf den steinernen Stufen, im Hause – nun steht er im Zimmer.

Die Lampe ist am Erlöschen, aber ihr schwaches Licht zeigt dennoch deutlich Ediths Gesicht, das ein ihre Unruhe schlecht verbergendes Lächeln förmlich verzerrt. Ihre Gesichtsfarbe ist fahl wie die eines Toten.

„Du hier?“ fragt er müde und gleichgültig, die Reitpeitsche und den Hut auf den Tisch werfend.

Sie geht mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, will irgend etwas sagen von ihrer Angst um ihn, aber sie läßt den Arm sinken. Er steht am Schreibtisch, die Hände in den Hosentaschen, und streift sie mit eisigen Blicken. „Wozu denn das?“ fragt er.

Sie wendet kurz um und geht zur Thür. „Dann nicht,“ sagt sie, „Gute Nacht!“

„Gute Nacht!“ klingt es ruhig zurück.

Sie dreht sich wieder hastig zu ihm. „Willst du morgen auch den Schmollpeter spielen? Das dürfte ja sehr interessant werden für unsere Gäste.“

„Doch nicht, das wird nicht nötig sein.“ Er greift nach dem Etui und zündet sich eine Cigarre an.

„Was soll das heißen?“ fragt sie, die diese absichtlich betonte Ruhe völlig aus der Fassung bringt.

„Daß ich sämtlichen Gästen, mit Ausnahme des Geistlichen, abtelegraphiert habe vorhin.“

„Bist du toll? Das hättest du gew – – ?“ stößt sie atemlos hervor.

„Ja, das habe ich gewagt, um dir die Mühe zu sparen, vor einem größeren Publikum noch einmal Komödie spielen zu müssen.“

Edith zittert so, daß sie sich auf den Tisch stützen muß. Aus dem fügsamen schmachtenden Gatten, der bisher nur gute liebende Worte für sie fand, der bereit gewesen wäre, ihr die Sterne vom Himmel herunterzuholen, hätte sie dieselben verlangt, hat sich nun dieser ironische, eiskalte Mensch entpuppt, in dessen Augen weiter nichts zu lesen ist als die intensivste Verachtung. Sie weiß jetzt, daß sie ihn beleidigt hat bis zur Unversöhnlichkeit.

„Du bauschst die Sache ja riesig auf,“ sagt sie bitter in der unbestimmten Empfindung, daß selber gekränkt zu scheinen das wirksamste Mittel ist, ihn aus seiner Ruhe zu bringen. Ach, wenn er nur erst zornig würde, wenn er lieber wetterte und tobte!

„Findest du?“ fragt er gelassen, „ich meine, daß ich das durchaus nicht thue. Wenn man geglaubt hat, einen Brillant zu kaufen, und entdeckt dann eines Tages, daß er ein Simili ist, so ist das kein angenehmes Gefühl, aber man trennt sich ruhig von dem Wertlosen, man hat das Interesse daran verloren und macht möglichst wenig Gerede davon.“

„Soll ich den Simili vorstellen?“

„Das überlasse ich deinem Scharfsinn.“

„Weißt du was, mein Schatz? Du bist toll eifersüchtig!“ ruft sie außer sich.

„Auf den Waldenberg? Nicht im mindesten mehr, weder auf ihn noch auf andere. Vielleicht gestern früh noch, ich gebe es zu, aber seit heute abend – ach nein, das kannst du nicht verlangen.“

„Josepha hatte mich gereizt, weißt du,“ spricht sie hastig, „und im Zorn sagt man zuweilen etwas, was man später nicht verantworten kann. Es ist schändlich von dir, dich daran zu klammern, lediglich, um das dir verhaßte Fest unmöglich zu machen, mir eine Freude zu verderben.“

Er antwortet nicht darauf, sondern fährt gelassen fort: „Ich sehe ein, daß es dir sehr peinlich sein muß, aber gesprochene Worte sind nicht zurückzunehmen, gleichviel ob sie im Zorn gesagt wurden oder nicht. Du hast mich nie geliebt, liebst mich auch heute noch nicht – so war’s doch, Edith – wie?“

[307] „Gut, wenn du die Sache auf die Spitze treiben willst, wenn du nicht bedenkst, daß ich in den sechs Jahren unserer Ehe nie etwas mir zu schulden kommen ließ, dann –“

„Nichts weiter als eine einzige ungeheuere, täglich wiederholte Lüge,“ schaltet er ein.

„Dann will ich dich befreien von meiner Gegenwart, dann reise ich ab! Ich vertrage es nicht, lächerlich gemacht zu werden vor den Leuten. Was soll man denken von dieser Absage? Die ganze Gegend wird Kopfstehen! Wenn du glaubst, mit dieser exemplarisch gewählten Strafe meine Zuneigung zu erzwingen, so irrst du dich. Nun erst recht nicht, nie, nie!“

„Ich will gar nichts erzwingen, ich finde den Gedanken an Abreise sogar sehr sachgemäß.“

„Du willst also, daß ich gehe, du weisest mich hinaus?“

„Durchaus nicht! Die Mutter meiner Kinder weise ich nicht hinaus. Willst du als solche bleiben –“

„Aber – als deine Frau – meinst du – da – – “

Er wirft die halb aufgerauchte Cigarre in den Aschenbecher mit einer Gebärde des Ekels, und sich mit gerunzelter Stirn zum Fenster wendend, sagt er sehr langsam und fast heiser: „Ich habe keine Frau mehr!“ Dann hört er hinter sich einen Aufschrei, und ein tolles, wildes Schluchzen beginnt – Edith hat ihre Weinkrämpfe.

Er tritt zu ihr, hebt sie vom Boden auf, legt sie auf seine Chaiselongue und klingelt dann; wie ein Alarmruf schallt die Glocke durchs Haus. Tante Tonettens Jungfer stürzt nach ein paar Minuten ins Zimmer.

„Die gnädige Frau ist krank, bekümmern Sie sich um sie! – Sie wissen ja Bescheid,“ sagt er. Und an der verdutzten Person vorüber geht er aus dem Zimmer in die Bibliothek hinauf und schließt hinter sich ab. Dort wirft er sich aufs Sofa, und nun schämt er sich auch nicht mehr, daß schwere heiße Tropfen ihm aus den Augen dringen und langsam in den Bart rinnen. – Am andern Tage liegt ein bleigrauer Himmel über der Welt und der Inspektor Heine ruft Anton zu, der in den Stall geht, um den Fuchs zu besuchen, den er gestern abend geritten hat, als er über seine Verzweiflung, über seinen rasenden Schmerz Herr werden wollte: „Heute giebt’s was, hoffentlich kein Unwetter. Das Barometer steht beinahe auf Erdbeben! Da wird’s wohl auch schlecht aussehen mit dem Tanzfest im Garten.“

„Das fällt leider so wie so aus, lieber Heine, meine Frau ist krank, alles abgesagt,“ antwortet Anton und tritt in den Stall, wo das schöne Pferd noch liegt, nun aber, da es seinen Herrn erkennt, aufsteht und wiehert. Er tritt heran, befühlt die Beine und klopft ihm den schlanken Hals. „Ruh’ dich aus, Alte,“ sagt er leise, „gottlob, es hat dir nicht geschadet.“

Heine ist ihm gefolgt und fragt, ob’s auch nicht schlimm sei mit der gnädigen Frau. Natürlich hat er bereits munkeln gehört, daß im Schlosse alles außer Rand und Band ist, daß die Einladungen sämtlich telegraphisch abgesagt wurden, daß Fräulein Tonette Gallerbrechen hat und Fräulein Josepha sowohl wie Frau von Lattwitz gleich nach Beendigung des einfachen Taufaktes abreisen werden.

„Ich sprach den Arzt noch nicht, Heine,“ berichtet Anton.

Frau Heine kommt jetzt auch. „Nein, wie jammerschade, Herr Mohrmann! Und wer soll denn nun bloß alle die Gelees und Cremes aufessen, und die Pasteten? Die Mamsell ist rein außer sich –“

„Sagen Sie der Mamsell, sie möchte einen gehörigen Korb voll einpacken für Frau Heine,“ versucht er mit trübem Lächeln zu scherzen.

„Zu gütig!“ ruft die kleine Frau. „Nein, so ’n Unglückstag, das macht das heiße Wetter! Bei Pastors liegt seit gestern abend die arme Frau danieder, soll ein Schlaganfall sein! Das Mädchen, das nach Eis für die Kranke geschickt war, erzählte, der Herr Pastor hätte gleich an die Schwester telegraphiert; lieber Gott, und es sind doch noch immer kleine Kinder da.“

Anton beißt die Lippen aufeinander. Er hat in dieser schlaflosen Nacht an Christel, immer wieder an Christel gedacht. So mochte ihr ähnlich zu Mute gewesen sein, als sie den Brief fand droben in der Bibliothek, wie gestern ihm, als er Ediths unbarmherzige Worte durch den Vorhang vernahm. Unbeschreiblich ernüchtert fühlt er sich, so in den Schmutz hinabgedrückt seine Seele! Selbst der Gedanke an die Kinder thut ihm weh, Kinder, die in Heuchelei und Verstellung zur Welt geboren sind, beschmutzt und belastet mit der Gemeinheit der Lüge! Was soll werden aus ihnen? Haben sie nicht das Gift der Heuchelei schon mitgebracht in ihrer kleinen Seele? Und er, der nichts mehr haßt als Unwahrheit und falschen Schein, er wird keine reine Freude an ihnen haben, er wird immer suchen und forschen, ob sich nicht die ererbte Sünde in ihren Trieben offenbart.

So hat er gegrübelt und gezweifelt in den paar kurzen Nachtstunden, und auch am Tage will das Gespenst nicht weichen. Er fühlt, daß ihn das Ehepaar Heine scheu und mitleidig beobachtet, zieht den Hut mit einem „Guten Morgen!“ und schlägt den Weg nach dem Garten ein. Als er im Begriff steht, die Gitterthür wieder zu schließen, überholt ihn der Diener und bestellt eine Empfehlung von Fräulein Josepha von Wartau und ob sie Herrn Mohrmann auf einen Augenblick sprechen könne. Sie warte in dem blauen Zimmer neben dem Saale. Er dreht auf dem Fleck um und geht ins Haus zurück. Die Stiftsdame erhebt sich bei seinem Eintritt aus einem Rokokosesselchen am Kamin; die trotz des trüben Himmels geschlossenen Jalousien geben dem zarten Blau des mit Rosenranken durchwirkten Stoffes einen mißfarbenen Ton. Die Bilder an den Wänden verschwimmen in dem unbestimmten Licht und es riecht betäubend nach halbverwelkten Sommerblumen, die gestern bereits in den Vasen arrangiert wurden, der Hitze aber nicht standgehalten haben.

„Sie wünschen, Baronesse?“ fragt Anton und schiebt ihr den Sessel wieder zurecht, indem er ihr gegenüber Platz nimmt.

„Sie können denken,“ beginnt sie in ihrer herben hochmütigen Art, „daß es allerlei zu besprechen giebt wegen Edith und daß, da Edith sich weigert, mit Ihnen persönlich zu verhandeln, und Tonette elend ist, ich die einzige bin, die –“

„Ich wüßte niemand, mit dem ich diese traurige Angelegenheit lieber ordnen möchte,“ unterbricht er.

Der warme Ton seiner Antwort läßt sie erstaunt aufblicken. „Wieso?“ fragt sie.

„Weil es stets eine Wohlthat ist, mit einer vornehmen ehrlichen Seele zu verhandeln, in solchem Falle ganz besonders.“

„Es thut mir leid, daß Sie durch ein Glied meiner Familie mit der gegenteiligen Gesinnung eine so traurige Erfahrung machen mußten,“ bemerkt sie.

„Ich bin nicht schuldlos an dieser Erfahrung, Baronesse.“

„Da haben Sie recht,“ sagt sie mit einer Bitterkeit, die ihn wie ein Schlag trifft.

„Ich büße schwer für mein Vergehen, Baronesse; nur eins bitte ich mir zu glauben, ich habe keine Lüge gebraucht, keine Unwahrheit gesagt, nie Komödie gespielt. Ich habe, an der Seite eines guten treuen Kameraden lebend, das Mädchen gesehen, das meine ganze Leidenschaft entzündete, aber kampflos bin ich nicht unterlegen, und nie würde ich mich von Christel getrennt haben, wenn nicht der Zufall einen Brief in ihre Hände gespielt hätte, der bestimmt war, meinen Seelenzustand einem Freunde anzuvertrauen. – Christel ging, weil sie mich glücklich machen wollte.“

Die Baronesie hört mit gerunzelter Stirn zu und schweigt noch eine ganze Weile, nachdem er geendet. „Ich ließ Sie bitten,“ sagt sie dann, das bisherige Thema verlassend, „um von Ihnen zu erfahren, wie Sie sich die nächste Zukunft gedacht haben, und Ihnen mitzuteilen, wie wir es am besten finden.“

„Ich bitte zunächst um Ihren Plan, Baronesse.“

„Ich habe Edith gegenüber ihrem Verlangen beigestimmt, daß sie Wartau verlassen soll; ein Zusammenbleiben für jetzt ist ja geradezu undenkbar.“

„Ich stimme mit Ihnen vollkommen überein, Baronesse.“

„Da Edith noch zu jung ist, um sie allein reisen zu lassen,“ fährt sie fort, „möchte ich, daß Tonette sie begleitet. Wenn sie auch in ihrem Dränge, Edith und sich eine sichere Lebensstellung zu schaffen, großes Unrecht that, so wird sie doch jedenfalls die geeignete Hüterin sein für Ihre junge Gattin, deren Ehre noch immer die Ihrige ist. Die Kinder, denke ich, sollen hier bleiben, kleine Kinder gehören nicht ins Coupé, in ein wechselndes Leben; die Kinderfrau ist ja wohl zuverlässig?“

Er hat wieder feuchte Augen. „Ich bin mit allem einverstanden und werde mit doppelter Liebe über meine Kinder wachen.“

„Verzeihen Sie noch die Frage nach dem Geldpunkt,“ [308] beginnt die Stiftsdame abermals, und man merkt ihr an, wie peinlich ihr diese Frage ist.

Er erhebt sich. „Baronesse, meine Frau ist an ein sehr luxuriöses Leben gewöhnt, sie hat dasselbe weiter geführt, trotzdem ich ihr des öfteren Vorstellungen machte wegen ihres Aufwandes. In diesem Augenblick aber möchte ich ihr keinerlei Zwang auferlegen; mein Bankier wird ihr also die Summe, die sie gebraucht, zur Verfügung stellen.“

Die alte Dame mit dem stillen hochmütigen Gesicht errötet noch stärker. Es ist, als ob sie sprechen will, aber sie bringt kein Wort über die Lippen.

„Wann gedenken Sie zu reisen?“ fragt er.

„Edith möchte heute abend reisen, wenn Tonette einigermaßen hergestellt ist bis dahin,“ erwidert sie, „Emma v. Lattwitz mit dem Fünf Uhr-Zuge gleich nach der heiligen Handlung, und ich – –“ wieder stockt sie, ihre Hände spielen nervös mit dem Taschentuch, „ich – das heißt, wenn es Ihnen recht ist, Herr Mohrmann, und vor allem, wenn ich imstande bin, Ihnen zu nützen durch meine Gegenwart – der Kinder wegen natürlich – ich möchte noch einige Zeit Ihre Gastfreundschaft – – “

Er bückt sich, faßt ihre Hand und zieht sie an die Lippen.

„Sie nehmen mir eine Last von der Seele, Baronesse,“ sagt er, „ich danke Ihnen!“

„Nur bis Edith wiederkommt. Sie erwarten jedenfalls, daß sie zurückkehrt, wenn auch nicht mit erheuchelter Liebe, so doch mit aufrichtiger Hochachtung vor Ihrem Charakter?“

„Baronesse,“ sagt er schneidend, „reden wir nicht davon – im übrigen – der Mutter meiner Kinder steht jederzeit dies Haus offen. – Haben Sie weitere Befehle für mich, Baronesse?“ fragt er, sich erhebend.

Sie schüttelt langsam und traurig den Kopf, wie sie ihm nachsieht. Mit einem tiefen Seufzer verläßt sie das Zimmer.

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Nach dem Taufakt, bei dem Edith und Tonette fehlen und der in seiner Einfachheit gar nicht paßt zu dem Prunksaal und dem mit Orangerie verschwenderisch verzierten Altar, steigt Anton aufs Pferd und reitet trotz des trüben schwülen Wetters nach dem Vorwerk. Unterdes kommt der Landauer zurück, der den Geistlichen wieder nach der Stadt gebracht hat, und fährt gleich wieder an der Rampe vor, um die Damen zur Bahn zu bringen.

Edith hat sich entschlossen, mit demselben Zuge abzureisen wie Frau v. Lattwitz. Sie will die erste Nacht in Leipzig bleiben, um eine anständige Reisetoilette und sonst noch verschiedenes zu kaufen, und sie bringt mit diesem Entschluß das ganze Haus in quirlende Bewegung. Was Hände hat, hilft packen seit ein paar Stunden; in den Zimmern der jungen Frau sieht es wie auf einem Jahrmarkt aus. Tante Tonette, mit anderthalb Gramm Migränin im Leibe, taumelt umher wie eine Schwerkranke und hat eine grünlichgelbe Farbe; sie hätte so gern erst eine Nacht ruhig geschlafen vor der Abreise. Ediths Jungfer heult zum Herzbrechen, weil sie das Abschieds-Rendezvous im Park versäumen muß, das sie mit einem Volontär von Heine verabredet hatte, sie wollte ihn so gern noch Treue schwören lassen. Nun, ohne diesen Schwur, darf sie nach ihrer Meinung wohl kaum auf seine Treue hoffen. Das Kindermädchen von Ma leistet ihr getreulich Gesellschaft im Weinen und läuft zum Aerger der jungen Frau beständig in die Küche hinunter, um noch einen Händedruck von Wilhelm zu erhaschen.

Edith hat keine Ruhe mehr, sie will fort, je eher je lieber. Sie sieht etwas angegriffen aus, trägt aber eine forciert heitere Miene zur Schau und macht Späße mit Tante Tonette, die dieselben nicht beantwortet, und sie erklärt in Gegenwart der Leute besonders laut, daß sie sich wie unsinnig freue auf Sankt Moritz und daß sie von dort aus im Herbst direkt nach Venedig gehen, der Seebäder wegen, und wenn möglich den Winter in Rom verbringen wolle. An ein langes Fernbleiben glaubt sie im innersten Herzen nicht, in vier Wochen spätestens, meint sie, hat sie einen sehnenden, verzeihenden Brief von ihm, in dem nichts weiter steht als endlose Variationen über das Thema: „Komm’ wieder, es ist alles vergeben und vergessen!“ Aber sie wird ihn ordentlich warten lassen zuerst, ja, das wird sie!

Der Abschied von den Kindern wird ihr nicht schwer. Lothar hat zwar furchtbar geschrieen, weil er nicht mit Hottofahren soll; da hat sie ihm rasch einen Kuß gegeben und ihn hinaufbringen lassen. Die Zwillinge schlafen; die alte Kinderfrau präsentiert die Taufkindchen mit ernster Miene und Edith lacht über die blonden kleinen Dinger, die sich so völlig gleichen. Die dicke Person geht mit den Kindern nach ein paar Minuten tief gekränkt ab, weil die Mutter ihnen einen Abschiedskuß zu geben nicht für nötig hielt, ihr kein Wort gegönnt hat, um die süßen Geschöpfe ihr besonders ans Herz zu legen.

Einzig und allein Josepha ist ruhig und sitzt unbeweglich droben am Fenster und starrt in das aufziehende Wetter. Edith unterläßt, ihr Lebewohl zu sagen; sie ist namenlos empört über die Friedensstörerin, die in ihr Hans brach, um eine Pulvermine zu entzünden, welche ja freilich schon lange gelegt war, die Edith schon lange kannte, aber nicht gefährlich wähnte bei seiner blinden Verliebtheit. Und nun muß er es hören, wie sie ihrem Herzen gerad’ mal Luft macht – zu dumm! Na – es muß auch durchgemacht werden und schließlich, es ist keine üble Sache, so auf Reisen zu gehen! Es kommt ihr vor wie in ihren Kinderjahren, wo sie wegen einer Unart aus den Augen ihrer Mutter verbannt wurde, aber sich dafür ihr Lieblingsgericht bestellen durfte. Ach, und Reisen ist ein Lieblingsgericht; einmal ohne die Menschen sein zu dürfen, mit denen man tagaus tagein leben muß, das ist erst recht keine allzu harte Strafe für sie!

Das alte Stiftsfräulein erwacht erst aus ihrem Sinnen, als es stiller und stiller geworden ist im Hause und als die fernen Blitze so blendend die Dunkelheit erhellen. Sie erhebt sich und tastet sich durch das Zimmer auf den Flur hinaus; dort brennen die Lampen, aber die breiten Treppen liegen verlassen vor ihr. Sie geht noch einmal zurück, holt eine Kerze, steigt hinunter und durchwandert die Zimmer des ersten Stockes. Dort ist schon alles wieder verhangen, die Orangerie aus dem Saale entfern, die Staubrouleaux hängen vor den Fenstern. In einer Ecke des Saales, neben dem riesigen Kamin, erblickt sie eine Menge Stäbe mit bunten Bändern, die bei dem Schäferfest heute eine Rolle zu spielen bestimmt waren; ein großer Karton voll Knallbonbons, Konfitüren und Schleifchen in allen Farben steht auf einem Tischchen, dutzendweise liegen Stöße von Servietten und Tischtüchern in einem großen flachen Korb, und wieder auf einem andern Tische das ganze reiche Silberzeug des Hauses, Schalen, Aufsätze und Bestecks. Josepha verschließt vorläufig sämtliche Thüren; morgen will sie Mohrmann um die Schlüssel bitten und die Sachen verwahren. Von dort tritt sie in Ediths Zimmer; auch hier ist schon alles fortgeräumt und zugedeckt, nur die Uhren ticken noch und der Duft von white rose, den Edith so liebt, schwebt in der Luft. Auch hier schließt die alte Dame die Thüren, und dann klopft sie an Mohrmanns Zimmer unten.

Niemand antwortet. Der Diener, der aus dem Tafelzimmer kommt, wo er den Tisch für das Nachtessen hergerichtet hat, sagt, daß der Herr noch nicht zurück sei. Josepha ordnet an, man solle ihr ein wenig kaltes Fleisch und Selterswasser nach oben bringen, ihr Couvert hier fortnehmen. Dann steigt sie wieder hinauf und guckt noch einmal in die Kinderstube, wo alle drei schlummern; die beiden Ammen liegen im Nebenzimmer und schlafen schon den Schlaf des Gerechten. Auf dem Tischchen an ihrem Bett stehen ein paar leere Bierflaschen. Die alte Kinderfrau sitzt bei einer mit grünem Schirm verdeckten Lampe und schreibt.

„Sie sind heute abend so ruhig, die Kleinen,“ bemerkt sie zu Josepha, „gnädige Baronesse können glauben, das macht, weil sie getauft sind; alle kleinen Kinder schreien bis zur Taufe, weil der Böse noch in ihnen ist. Gottlob, daß sie ruhen und noch keinen Verstand haben, sonst müßten sie sich ja heute die kleinen Seelen aus dem Leibe schreien.“

„Gute Nacht, liebe Klauß,“ sagt Josepha freundlich, die dieser Friede angemutet hat, „Gott behüte die Kinder!“

„Wird für uns keine zu ruhige Nacht sein, Baronesse, wir kriegen was, und das kann ein schweres Wetter werden, es war ja so heiß die letzte Zeit. Wenn sich gnädige Baronesse fürchten, kommen Sie nur herüber; wenn mehrere zusammen sind, da hat man ein bißchen Mut.“

Im Schein der Blitze und beim leisen Murren des heraufziehenden Wetters kommt Anton durch die Allee geritten, die auf das Gut zuführt; unter den dichten Bäumen herrscht tiefe [309] Dunkelheit und eine geradezu erstickende Luft, er kann kaum atmen. Am Ende der Allee liegt das Schloß ohne ein einziges erleuchtetes Fenster; sein Anblick stimmt ihn noch mehr herab; die ganze Schwere einer solchen Heimkehr, wo niemand ihm mehr ein Willkommen bietet, befällt ihn mit doppelter Wucht.

Daß es so hat kommen müssen! Ach, er braucht wenigstens keine lächelnde Lüge mehr zu sehen und zu hören, das ist doch eine Wohlthat! Oede, öde wird es sein, aber klare Luft.


Wie das tobt in den Lüften auf einmal! Anton ist zuerst nach dem Wirtschaftshofe geritten, da braust plötzlich ein Wirbelsturm daher, der sofort eine Menge Ziegel von den Scheunen fegt und sie krachend auf das Pflaster schleudert. Der Knecht, der herzueilt, um das unruhige Tier zu halten, kann kaum Widerstand leisten gegen den Sturm.

Mit beiden Händen den Hut festhaltend, steuert Anton auf das Inspektorhaus zu und prallt mit Heine an der Thür zusammen.

„Nun geht’s los, Herr Mohrmann,“ sagt der, „es hat gerad’ noch geklappt mit dem Grummet, und nötig ist uns, weeß Gottchen, jeder Tropfen.“

„Wecken Sie die Knechte, lassen Sie die Pferde anschirren, die Spritze herausfahren,“ befiehlt Anton, „es ist ein schweres Wetter.“

Und es wurde wirklich ein schweres Wetter. In der Gesindestube des Inspektorhauses versammeln sich die aus dem Schlafe gescheuchten Knechte mit langen blassen Gesichtern, dafern sie nicht beim Vieh in den Ställen stecken, um dies zu beruhigen. Die kleine Frau Heine kauert in der Sofaecke, den Kopf in die Kissen verborgen, die Mamsell und die Mägde sitzen um den Tisch herum bei brennendem Licht und lesen im Gesangbuch und einige bemühen sich, die durch die geschlossenen Fenster dringenden Himmelswasser aufzutrocknen.

Die alte Stiftsdame im Schloß hat sich in das Kinderzimmer geflüchtet; die ganze Dienerschaft ist auf den Beinen. Der Herr des Hauses wandert in seinem Zimmer umher und horcht auf das Rauschen der Fluten, die unaufhörlich mit elementarer unglaublicher Gewalt vom Himmel stürzen.

„Ein Wolkenbruch,“ sagt Anton zu Heine, der eben mit blassem Gesicht, eine große wollene Decke umgeschlagen, eintritt, „sehen Sie, wie das Wasser aus dem Garten stürzt!“

„Herr Mohrmann, die Dotte ist aus den Ufern und fließt mitten durch die Dorfstraße,“ berichtet er, „die Bauern wollen Sturm läuten, die Brücke an der Mühle ist schon fort.“

„Lassen Sie den Fuchs für mich satteln und machen Sie sich auch fertig! Einige der Knechte auf die Ackerpferde, man muß versuchen, den Leuten zur Hilfe zu kommen! Sind die Ställe noch trocken?“

„Bis jetzt – ja, wir haben ein starkes Gefälle, aber drunten im Dorf wird sich die Geschichte wohl stauen.“

„Ich meine auch, hier ist vorläufig nichts zu besorgen, also vorwärts, Heine!“ Er geht nur noch einmal nach oben, um die geängstigten Frauen in der Kinderstube zu beruhigen, dann steigt er aufs Pferd und galoppiert, schon immer im Wasser, durch die Allee dem Dorfe zu. In der mit dem Fluß parallel laufenden Gasse steht die Flut schon einen Meter hoch; wie ein reißender Gebirgsbach kommt sie daher, die Fachwerkhäuser gefährdend, mit Trümmern bedeckt. Und der Regen strömt bei völliger Windstille mit unverminderter Schnelle und Dichtigkeit. Das Rufen und Schreien der Bewohner, das Brüllen des geängstigten Viehes mischt sich mit den raschen Schlägen der stürmenden Glocke, dabei herrscht die schreckhafteste Dunkelheit.

Wer kann da helfen?

In der Pfarre, die nebst Gottesacker und Kirche an der oberen Hauptgasse liegt, also vorläufig geschützt, ist alles hell; die Ziegen und die zwei Kühe sind trotzdem auf die etwas höher als die Ställe gelegene Hausdiele gerettet, deren untersten Tritt doch schon das Wasser bespült. Im Hause trägt eben eine große blonde Frau eine wimmernde Last mit Aufbietung aller Kräfte das steile Treppchen hinauf in den oberen Stock.

„Aber, Lotte, es ist ja gar nicht so schlimm,“ tröstet sie, „es hat sich bald ausgeregnet und das bißchen Wasser verläuft sich dann rasch. Jetzt lieg’ nur ganz still, und du, mein Junge,“ [310] wendet sie sich an den langen Gymnasiasten Anto, der seine Ferien bei den Eltern verlebt, „du setzest dich hier an Mutters Bette und verläßt sie keinen Augenblick – ich komm’ gleich wieder.“

„Ja, Tante Christel!“

Und Christel läuft die Treppe wieder hinunter, zieht das erste beste Paar Stiefel ihres Schwagers an und geht durch das Wasser auf den Hof; an der Schwelle des Hofthores steht sie schon einen halben Meter tief darin. Die Dunkelheit ist gradezu unheimlich, sie kann nicht sehen, wohin sie tritt; sie beschließt eben, durch den Garten zu gehen, der noch trocken sein muß, um irgendwie an eine Stelle zu gelangen, wo sie helfen kann; da hört sie durch all das Tosen und Rufen das Schnaufen von Pferden, ein schwacher Lichtschimmer fällt über das gurgelnde Wasser, und eine Stimme, die ihr durch Mark und Bein geht, schreit so laut sie kann: „Halloh! Ein Kind, ein halb ertrunkenes – nehme mir jemand das Kind ab!“

Im nächsten Augenblick hat sich Christel auf die Hundehütte und von dort auf die Mauer geschwungen. „Hier!“ schreit sie, „neben der Pfortenthür links!“ Und nun ist ein schnaubendes aufgeregtes Pferd an ihrer Seite, und von diesem herunter wird ihr etwas Nasses, Schweres in die Arme gelegt und der Schein der kleinen Laterne, die auf des Reiters Brust befestigt ist, trifft ihr Auge. Sie blickt auf und schaut in Antons Gesicht. Einen Augenblick ist es ihr, als entgleite die Last ihren Armen, dann hat sie sich gefaßt, ist mit dem Kinde von der Mauer geglitten und watet durch das immer höher steigende Wasser dem Hause zu mit dem geretteten fremden Wesen, das er ihr gab. Das Herz pocht ihr wie rasend – in dieser halben Minute hat sie eine ganze Geschichte erfahren, hat sie ein vorzeitig gealtertes, von Kummer gezeichnetes Antlitz erblickt! Sie kann den Ausdruck seines Gesichtes nicht mehr vergessen. Bei der Pflege des Kindes verfährt sie ganz mechanisch, sie vergißt die Not da draußen, die mörderische Flut, sie vergißt die kranke Schwester, sie denkt nur an ihn. Mit dem in trockene Tücher gehüllten Würmchen sitzt sie in der Sofaecke, wie gelähmt. Als der Morgen dämmert, steht der Schwager vor ihr, naß, bleich, sich schüttelnd vor Frost.

„Die Gefahr ist vorüber,“ sagt er tonlos, „das Wasser fällt. Der Müller Thalweg ist ertrunken, er wollte seinen alten Vater retten, und Tagelöhner Finkes kleiner Albert ist auch ein Opfer der Katastrophe geworden. Bitte, Christel, laß Kaffee kochen, ein paar Eimer voll, stark braucht er ja nicht zu sein, aber heiß. Die meisten Bewohner der Untergasse haben sich in die Kirche geflüchtet, bring’s ihnen hinüber! Ich will mich umziehen, dann komm’ ich nach; ich meine, die Leute möchten beten.“

Als er schon an der Thüre ist, wendet er sich noch mal: „Wenn du durch den Garten und über den Kirchhof gehst, kommst du ziemlich trocken hin. Ueberhaupt, hier herum ist’s gnädig abgegangen, aber dort unten – –“

Christel und die ganz verstörte Magd machen Feuer und schleppen Wasser herzu; nach einer halben Stunde ist der Trank fertig und in ein paar große Blecheimer gefüllt, mit diesen und einem Korb voll Tassen gehen beide nach der Kirche.

Das fremde Würmchen liegt und schläft in der Sofaecke, warm zugedeckt, auch die Kranke ist entschlummert nach einem Opiat, und der junge Anto liegt mit seinem Lockenkopf auf dem Bette der Mutter, ebenfalls schlafend.

In dem sonst so schmucken Gotteshause sieht’s bunt aus. Die Leute, wie sie gerade aus den Betten gesprungen sind, hocken da, kaum notdürftig bedeckt mit ein paar geretteten Kleidungsstücken, zwischen Hausrat, Kühen, Ziegen, heulenden Hunden und schreienden Kindern; klagende jammernde Frauen und finster dreinblickcnde Männer, alles Bewohner des unteren Dorfes, deren kleine einstöckige Häuserchen mit Wasser buchstäblich angefüllt sind, die die Angst um das Leben in die Flucht trieb, die ihr bißchen Hab’ und Gut im Stich lassen mußten, froh, das nackte Leben retten zu können. Am Altar steht der Dorfschulze mit Mohrmann, und der Küster, der eben vom Turm gestiegen ist, meldet, daß alles Land herum einem großen See gleiche mit einigen kleinen Inseln darin. Heine ist nach dem Gutshof geritten, um dort nach dem Rechten zu sehen, obgleich bei der massiven festen Bauart wohl keine Gefahr für die Bewohner droht.

Gerade wie Christel eintritt, hat Anton sich zu den versammelten Leuten gewendet; er redet sie laut an, und plötzlich ist alles totenstill. Mit nicht zu bemeisterndem Herzklopfen lehnt sie sich an eine Bank; sie will umkehren, sie kann ihn nicht sprechen hören, aber willenlos horcht sie dennoch seinen Worten, und unaufhaltsam rinnt ein klarer Tropfen nach dem andern aus ihren Augen.

„Liebe Nachbarn! Ein schweres Geschick hat uns betroffen. Vor wenigen Stunden noch konnten wir hoffen, wenn auch keine brillante, so doch eine gute Mittelernte einzuheimsen in unsere Scheuern, jetzt ist alles vernichtet. Unsere Felder gleichen einem großen See, und wenn die Wasser sich verlieren, werden wir, wo heute noch die Aehren im Winde wogten, nichts weiter sehen als Schlamm und Vernichtung. Und nicht genug damit. Viele von euch haben flüchten müssen aus ihren Wohnungen, einigen ist das Vieh ertrunken, und zwei Familien haben die Fluten ein teures Menschenleben entrissen. Unser braver Mühlenbesitzer Gottlieb Thalweg hat beim Rettungswerke sein Leben gelassen – Ehre seinem Andenken! Und dem Tagelöhner Finke ist der einzige kleine Sohn ertrunken; das ist ein noch viel schwereres Schicksal.

Liebe Nachbarn, wir wollen getreulich zusammenhalten in unserer Not, und diejenigen, die weniger hart betroffen sind, wollen in Dankbarkeit den am meisten Geschädigten helfen, des Elends Herr zu werden. Ich fordere alle auf, die vorderhand kein Obdach haben, sich auf dem Gutshof zu melden, ich werde für Unterkommen sorgen. Ebenso mögen diejenigen, deren Futtervorrat weggeschwemmt ist, sich beim Herrn Inspektor Heine melden, wo ihnen mit so viel, wie wir entbehren können, Unterstützung werden soll; auch will ich für Nahrungsmittel Sorge tragen. Und nun bitte ich euch, unnützes Klagen und Jammern zu lassen, euch vielmehr mit Geduld zu fügen in das Schwere, das wir ja nicht selbst verschuldet haben. Die Sonne muß uns auch wieder scheinen, liebe Nachbarn. Guten Morgen und frischen Mut!“

Die Leute sind mäuschenstill, als er die Stufen herunterkommt, um dem Prediger Platz zu machen, der schlicht und einfach sagt: „Laßt uns beten!“ Und als das Amen erklungen, drängt sich alles zu Anton. „Wir danken Ihnen auch scheene, und wenn Sie erlauben, dann komme ich nachher!“ – „Ach, lieber Gott, es wäre uns auch lieber, wir brauchten Sie nicht zu inkommodieren.“ – „Herr Mohrmann, ich darf doch meine alte Mutter mitbringen?“ – Und so weiter, ins Unendliche. Von einem dichten Knäuel Menschen umgeben, strebt Anton der Thüre zu, wo der Fuchs unter dem kleinen Portal angebunden steht. Er sieht Christel nicht, denn sie hat sich auf die Bank gekauert, aber sie sieht ihn, und aus ihrem erblaßten Gesicht blicken ihm die treuen blauen Augen nach, von Thränen verschleiert.

Auf einmal hört sie neben sich sagen: „Der kann auch ’n Lied singen von den letzten Tagen, ei Gottchen! Mit dem möcht’ ich ooch nich tauschen. Gestern abend is ’m die Frau ausgerissen. So ein albernes Geschege, hat keen Nu und keen Nischt gehabt, wie er sie nahm, und das is nu der Dank! Ei Gottchen, man soll bloß nich denken, wenn die Leute reich sind, daß sonst alles stimmt.“

„Nu, hären Sie, Bulingen, wenn er auch gleich prügelt! Es hat ja was Fürchterliches gegäm zwischen die Eheleite, aber prügeln darf er doch auch nicht glei?“

„Nee, das is nich wahr, das sind nischt wie Lügen, der haut nich!“

„Sie soll aber dagelegen ham wie tot vorgestern abend –“

„Na, vor Wut! Ach nee, das is schon lange kee Glück mehr gewesen.“

Und eine furchtbar dicke Frau, die in ein altes Umschlagetuch gewickelt ist, sagt: „Na, fort is se, mit oder ohne Prügel, und das is seine Strafe vor die erste, die sie gemeinschaftlich hinausgegrault hatten – ich gönn’s allen beeden, wenn nur die Kinder nich wär’n.“

Christel erhebt sich plötzlich, wendet den Leuten den Rücken, damit sie in der lichter gewordenen Dämmerung nicht erkannt werde, und geht in einen Seitengang, und dort hockt sie sich auf die Schwelle der Thür, die zum Glockenturm führt, und hält den Kopf mit beiden Händen. „Mein Gott, mein Gott!“ stöhnt sie leise. „Bin ich deshalb hergekommen, um ihn so elend wiederzusehen? Gieb, daß das alles nicht wahr ist, lieber, barmherziger Gott!“


[311] „Nur Mut, die Sonne muß wieder scheinen,“ hat Anton zu den Leuten gesagt, allein er selbst besitzt keinen Funken mehr von Mut. Er weiß, was es für ihn bedeutet – eine zerstörte Ernte! Den Ausfall kann er in seiner jetzigen Lage nicht verschmerzen; gegen Wolkenbruch ist man nicht versichert, ein Körnchen Hagel ist nicht gefallen. Hart, daß Assekuranzen für Ueberschwemmungen und Hochwasserschäden nicht existieren! Der ungeheure materielle Schaden schwebt ihm vor wie ein Gespenst, und die Unmöglichkeit, jetzt schon zu beurteilen, wie groß dieser Schaden ist, steigert noch seine Niedergeschlagenheit. Er kommt völlig niedergedrückt in das Schloß zurück, kleidet sich um und verlangt zu frühstücken. Sobald es ganz hell wird, will er hinaus und sehen, was ihm noch geblieben ist.

Im Schlösse steht das Souterrain unter Wasser, die Wein- und Küchenvorräte sind nach oben geschafft, ebenso die Kuchenmöbel; alles liegt und steht, ein Chaos, in der großen Halle umher; sonst ist keinerlei Schaden zu verzeichnen; nur die Bewohner haben sich geängstigt. Auf dem Wirtschaftshof hat das Wasser nur einen Stand von ungefähr einem Fuß gehabt; nein, hier ging es gnädig ab, aber die Felder!

Anton steigt hinauf in die Bibliothek und starrt durch den Nebel und Dunst des noch immer leise rieselnden Regens in den grauen Morgen hinaus. Weit kann er nicht sehen, aber was er sieht, ist nichts als eine Fläche bleifarbenen Wassers, aus dem die Chausseebäume hervorragen; sein Garten ist ein See, die verschnittenen Buchenhecken bilden Kanäle in demselben; die Sandsteinfiguren spiegeln sich in der Flut und scheinen darauf zu schwimmen; bis zur Sockelhöhe steht das Wasser, erst gegen den höher gelegenen Hof zu ebbt die Flut ab. Die große Weizenbreite jenseit des Gartens, die sein Stolz und seine Hoffnung war, ist gänzlich vernichtet.

Das war der zweite harte Schlag seit vorgestern. Wenn er sich nur aussprechen könnte, wenn nur einer zu ihm sagen wollte: „Anton, ängstige dich nicht, wir tragen es gemeinschaftlich, was auch komme.“ Er wendet sich hastig um, er meinte in Wahrheit diese Stimme gehört zu haben, Christels Stimme, aber das Zimmer ist leer, er ist allein. Merkwürdig, in dieser Nacht, in all dem Schrecken und Graus hat ihm seine Phantasie einen Streich gespielt: er meinte einen Augenblick Christels Gesicht gesehen zu haben über der Mauer des Pfarrhofs. Sie ist nicht hier, selbstverständlich nicht. Als ob sie nach Wartau kommen würde! Freilich, die Frau Heine hatte etwas gesagt von einer Krankheit der Pastorin, und daß man nach der Schwester telegraphiert habe; das wird die Louise sein sollen, natürlich. Ach, es ist ja auch ganz gleichgültig, die Vergangenheit ist abgethan, was geht ihn das alles noch an? Es darf ihn nichts mehr angehen! Sein Leben gehört seinen Kindern – arme Kinder!

Ha, ha, eigentlich ist’s zum Lachen! Wie hat er sich Kinder gewünscht mit Christel, damals, als er in eine bessere Lage kam, zu einer Zeit, wo er sie gut erziehen und ernähren konnte! Nun hat er die Kinder, aber keine Mutter zu ihnen, und obendrein ein verwundetes Herz und viele Sorgen – welche Ironie!

Er geht wieder hinunter und trifft mit Heine zusammen, der ihn mit mitleidigem Blick ansieht. „Herr Mohrmann, der Meier vom Vorwerk ist hergeritten.“

„Nun?“ sagt Anton.

„Alles hin, Herr Mohrmann, alles ersoffen! In Altwitz ist’s fast noch schlimmer, das ganze Dorf kampiert im Schlosse mit allem, was man retten konnte, Leute und Vieh. Der Meier erzählt, der Damm vom Ochsenteich sei gebrochen. Nein, wie ist das nur möglich, Herr Mohrmann? Der Altwitzer Graf hat gesagt, seit Menschengedenken wäre das nicht vorgekommen in unserer flachen Gegend. Von Thissow fehlt noch die Nachricht, aber der Herr Graf meint, er würde sich nicht wundern, wenn das Herrenhaus bis zum ersten Stock im Wasser stecke, weil’s an der Mulde liegt. Die Bahn ist bis zur Station hin zerstört, auf allen Dörfern haben sie Sturm geläutet die ganze Nacht lang.“

„Kann man wohl hinaus, um den Schaden zu taxieren?“

„Gott bewahre! Wenn’s jetzt aufhört zu regnen, vielleicht morgen, Herr Mohrmann, und das – seien Sie nicht böse – das sehen Sie noch früh genug, ’s ist alles hin! Aber, Herr Mohrmann, vielleicht, daß die Kartoffeln nach dem Rütwitzer Sandberg zu verschont geblieben sind, das wäre noch ein Trost.“

Anton, der mit Heine während dieses Gespräches in sein Zimmer getreten ist, wirft sich in einen Sessel. „Sie wissen, was das heißt für uns, Heine?“

„Ja, Herr Mohrmann; ich sagte schon zu meiner Frau, ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken nach alledem. Aber, wenn wir nun ein bißchen sparsamer – verzeihen Sie mir, Herr Mohrmann, in den letzten Jahren ist – ist –“

„Ja, ja, Heine, wenn’s nur nicht zu spät ist, aber setzen Sie sich doch.“

„Die Luxuspferde könnten doch, ich meine die Rappen – die Viecher stehen sich ja die Beine in den Leib, wann hat sie denn die gnädige Frau mal gefahren? Und der Shetlandpony – der Lothar ist ja noch viel zu klein. Und das frißt und frißt, und der Wilhelm frißt auch mit sein unnützes Brot.“

„Ja, Heine, daran habe ich auch schon gedacht, und nun vollends, wo das Futter knapp wird.“

„Ja, wenn Sie aber auch gleich die gesamten Kühe im Dorfe mit füttern wollen, Herr Mohrmann –“

„Das lassen Sie nur, Heine, das muß sein, bis die Leute sich erholt haben. Das Grummet schwamm ja in hellen Haufen mit fort.“

„Wir könnten’s später gut verkaufen; na, aber ’s ist wahr, das Herz geht einem über bei solchem Elend.“

„Lassen Sie nur Stroh schichten für heute abend, in der Weizenscheuer, Heine, und stellen Sie Wache, daß da nicht etwa einer raucht; Ihre Frau muß in der Leuteküche ordentlich was kochen, was Kräftiges.“

„Etwa Speck mit Erbsen, Herr Mohrmann, denn grünes Gemüse – da können wir uns ja vorläufig den Mund wischen.“

„Schön, Heine, – wenn ich nur wüßte, wie’s werden soll!“

„Es wird schon gut werden, Herr Mohrmann. Wenn jetzt einfacher gelebt wird, kann meine Frau wieder mehr Milch und Butter fortschaffen; zuletzt war’s ein bißchen schwach damit. Wir sparen, Herr Mohrmann, wir sparen, wir haben’s ja doch früher auch gethan, warum nicht jetzt? Wir kommen auch durch dieses Jahr.“

Und der ehrliche treuherzige Mensch verläßt seinen Herrn und Anton lacht bitter hinter ihm her. Was wußte der von den Verbindlichkeiten, die ihn drücken! Ach, alter Freund, mit deiner Milch und Butter, mit dem Abschaffen der Pferde machst du das verfahrene Schiff nicht wieder flott, nach diesem Unglück nicht, da hilft nicht einmal mehr der Ertrag aus der Flußspatgrube!

In diesem Augenblick steckt Heine wiederum den Kopf durch die Thür. „Ich vergaß ganz, zu sagen, Herr Mohrmann, unsere Frau Pastorin ist die Nacht gestorben. Es hat kein Mensch bemerkt, sie hat noch ebenso dagelegen, wie sie eingeschlafen ist, die Hand auf dem kleinen Anto seinem Kopf, der auch noch schlief. Frau – – ihre Schwester hat sie so gefunden.“

„Meine – Christel?“ fragt Anton.

„Ja, Herr Mohrmann; die andere konnte, glaube ich, nicht kommen, die hat da oben im Dorfe, wo Frau Christel wohnt, einen Oekonom, einen Witmann, kennengelernt und ihn geheiratet. Die Leute reden ja, er habe eigentlich Frau Christel gewollt, aber die – Herrgott, ich wollt’ nur sagen, die arme Pastorin hat ausgelitten.“ Und er geht. und schließt die Thüre hinter sich und Anton Mohrmann bleibt allein in seinem Kummer, seinem Schmerz, seinen wachgerüttelten Erinnerungen, die ihn wie blasse Gespenster umtanzen mit großen, vorwurfsvollen Augen.


Anton hat am Begräbnistage einen Kranz geschickt und ist dann in den Landwirtschaftlichen Verein in die Stadt geritten, Er hätte gern der ehemaligen Schwägerin die letzte Ehre gegeben, aber um Christels willen bleibt er fern.

Die große Stube im „Deutschen Hause“ ist dicht gefüllt mit Herren, die Wasserkatastrophe hat sie zusammengeführt. Mehr oder weniger haben sie alle gelitten, Wartau und Altwitz jedoch am meisten, dann kommt Thissow. Man berät her und hin, erzählt haarsträubende Geschichten aus den Stunden der Gefahr, hier und da auch einige komische, und trinkt viel echtes [312] Bier. Im ganzen kommt nichts Rechtes heraus. Der eine will, sobald er pflügen kann, auf den überschwemmten Acker Raps säen, die meisten lassen ihn als Brache liegen bis zur Wintersaat. Dem Altwitzer Grafen sind sämtliche Grummetfeimen verschwemmt.

Anton sitzt dabei und raucht seine Cigarre. Irgend einer neckt ihn, meint, er könne es mit ansehen, er habe ja seine sichere Einnahme da unten her vom Harz, er sei auch wohl nur so traurig, weil er Strohwitwer geworden sei.

Das ist das Signal zu einem allgemeinen Erkundigen nach Frau Mohrmann. Möglich, daß die Wahrheit nicht bekannt wurde, möglich, daß man glaubt, die schöne Frau sei zur Stärkung ihrer Nerven in die Schweiz gereist, am wahrscheinlichsten aber ist es eine ganz lasterhafte Neugier, dem Grund dieser plötzlichen Abreise auf die Spur zu kommen.

Anton sitzt wie in einem Kreuzfeuer, das er scheinbar ruhig aushält; innerlich schüttelt er sich vor Zorn, und sobald es thunlich ist, steht er auf, um sein Pferd zu bestellen.

„Seien Sie doch kein Frosch, sie wartet ja doch nicht daheim!“ ruft ihm einer nach; der Landrat von Logow ist’s mit dem berühmten Mundwerk. Anton thut, als hört er es nicht, und da das Pferd noch nicht vorgeführt ist, bestellt er dem Kellner, er gehe langsam voraus, der Hausknecht möge ihm den Gaul nachbringen. Wie er vor dem Wartauer Schloß eine halbe Stunde später absteigt, kommt ihm der Diener entgegen mit den Worten: „Herr Buchenberg ist angekommen.“

Von einer bösen Ahnung erfaßt, begrüßt Anton den Leiter der Flußspatwerke; das ernste Gesicht des Mannes weissagt nichts Gutes, und bei einer Cigarre und einem Glas Rheinwein, der eilig gebracht wird, sagt Buchenberg: „Keine guten Nachrichten, lieber Anton. Da ist mir meuchlings eine Gesellschaft Engländer in die Flanke gefahren, ihr Mutungsgesuch befindet sich bereits in den Händen des Bergamtes; es betrifft ein großes ausgedehntes Gebiet am Südharz. Dasselbe Unternehmen, das ich dir vor zwei Jahren so dringend anempfahl, weil die Bedingungen für die Versendung des gewonnenen Materials ungleich günstiger sind als die unsrigen, denn der Wasserweg ist stets der billigste und die Saale liegt dem fraglichen Terrain nicht gar fern.“

Buchenberg hat recht, und Anton beißt sich auf die Lippen; er war in der Versammlung der eifrigste Gegner des Projekts gewesen, weil er die zu große Ausdehnung des Unternehmens, die neuen Betriebskosten scheute und – wer konnte auch damals vermuten, daß so bald noch andere den Schatz entdecken würden, der dort im Boden ruht? Außerdem, damals steckte er schon in Verlegenheiten durch seine luxuriöse Einrichtung des Schlosses, den kostspieligen Haushalt. Er hatte also Buchenberg auf günstigere Zeiten vertröstet, die freilich ausblieben. „Und was soll nun werden?“ fragt er gepreßt.

„Das will ich eben mit dir besprechen, mit dir und Sybel. Zunächst schlage ich vor, wir berufen eine Versammlung der Besitzer der Kuxe. Du und Sybel als die beiden Hauptbeteiligten, ihr müßt darauf bestehen, daß ein billigerer Transportweg geschaffen werde; die Abfuhr des Materials mit Geschirren bis zu dem meilenweit entfernten Bahnhof ist zu kostspielig und wir können, wie gesagt, nur konkurrieren mit dem neuen Unternehmen, wenn wir billiger liefern, als es bis jetzt geschehen.“

„Das sehe ich ein!“ sagt Anton, „aber – – “

„Und dazu bietet sich jetzt eine treffliche Gelegenheit,“ unterbricht der andere.

„Wieso?“ fragt Anton und sieht mit gerunzelter Stirn an Buchenberg vorbei. „Ich habe drei Mißernten gehabt, jetzt die Wasserkatastrophe, und wenn’s nun auch mit dem Gewerke rückwärts geht, dann –“

„Mensch, laß mich doch ausreden!“ ruft Buchenberg. „Also höre: In etwa vier Wochen wird die Klingelbahn durch den Unterharz dem Verkehr übergeben, ein kleiner Bahnhof derselben an der Burgwiese liegt uns nicht allzu fern, liegt überhaupt günstig, und darum bauen wir eine Schmalspurbahn von der Grube bis zu dem genannten Bahnhof. Es werden so gegen acht Kilometer sein, und zwar etwa sechs und ein halb Kilometer durch fiskalischen Wald und Heide und anderthalb Kilometer durch Wiesen und Triften des Rittergutes Broderode. Mit dem Fiskus werden wir einig; ich habe bereits den Regierungsrat von Zedwitz darüber gesprochen, der sehr für die Anlage ist im Interesse der ärmlichen Bewohner, denen wir Arbeit geben; und der Besitzer des Rittergutes ist selbst Kuxinhaber und wird uns nur zu gern gefällig sein. Allerdings kostet die Sache Geld, denn wir würden auch zwei Brücken bauen müssen, und zwar eine ziemlich lange durch den Bruch; aber die Geschichte bringt’s wieder ein, reichlich wieder ein, auch ist unser Reservefonds nicht ganz unerheblich, und endlich – wir könnten eine Anzahl neuer Aktien ausgeben, die wir jetzt über Pari an den Markt zu bringen alle Aussicht haben.“

„Ich Zöge mich doch am liebsten ganz zurück und verkaufte meinen Anteil,“ bemerkt Anton verstimmt.

„Natürlich! Zünde dir dein eigenes Haus an – ob wir mit kaput gehen, das braucht dich nicht zu kümmern. Sobald du die Prioritäten auf den Markt schmeißt, sind wir schon angezweifelt, und eines Tages ist der Kladderadatsch da! Das Gegenteil soll geschehen; du und Sybel, ihr müßt einen großen Teil der neuen kaufen zum Parikurs, das könnt ihr verlangen; je weniger im Handel, desto besser – verstanden? Ihr seid die am meisten Gefährdeten, geht die Sache schief; ihr müßt sie halten, sonst ist eines schönen Tages der Krach da und ihr habt gar nichts.“

In diesem Augenblick meldet der Diener, daß das Abendessen serviert sei, und die Herren gehen hinüber. Sie sitzen allein am gedeckten Tisch, Anton grübelnd und rechnend, Buchenberg redend, einen Grund nach dem andern anführend, um zu beweisen, daß sein Vorschlag das einzig Richtige sei, das Werk auf der Höhe und konkurrenzfähig zu halten.

„Gut,“ sagt Anton endlich, „ich werde mit dir fahren morgen früh.“

„Nein, nein!“ ruft Buchenberg, den Mund noch voll Taubenpastete, „morgen ist zu spät, heute noch! Morgen in aller Frühe müssen wir Sybel bearbeiten, ehe der alte Freund hinausfährt nach seiner Fabrik; dann werden die Aktionäre telegraphisch zusammengetrommelt. Jede Stunde ist von Wichtigkeit, laß nur anspannen; der Zug geht um zehn Uhr, wir haben noch eine Stunde Zeit.“

Anton klingelt und bestellt den Wagen.

„Apropos,“ fragt Buchenberg, „wo ist denn deine Gattin – doch nicht krank?“

„Verreist,“ antwortet Anton kurz.

„Ach so? Na, es ist die Saison dafür – warum bist du denn nicht mit? So ’n schönes junges Weib läßt der Philister allein in der Welt umher kutschieren! Bist du gar nicht eifersüchtig?“

„Nicht im mindesten,“ sagt Anton kühl, indem er sich erhebt.

„Na prosit, sie soll leben!“ Buchenberg hält das Glas hoch und wundert sich über die laue Art, mit der Anton anstößt. „Höre, wenn ich bedenke, wie du früher warst,“ fährt er fort, „als Student, und dann noch später, als ich dich im Inspektorhause da drüben besuchte – Mensch, was ist eigentlich aus dir geworden? Johann der muntere Seifensieder ist ja in seinem schwermütigen Stadium ein Waisenknabe gegen dich! Ich sehe dich noch drüben neben deiner ersten Frau –. Na, Herrgott, nimm’s mir nicht übel, Anton, ich rühre vielleicht an delikate Geschichten – komm’, gieb mir die Hand, es war nicht böse gemeint!“

„Ich weiß ja, Bester! Du entschuldigst mich nun aber einen Augenblick; ich will nur sagen droben, daß ich verreise; Heine muß es auch wissen. Bitte, bediene dich, iß den Nachtisch, und hier liegen die Cigarren; ich bin so rasch als möglich wieder bei dir.“

Eine halbe Stunde später fahren die Herren nach Leipzig. Als Anton nach zwei Tagen zurückkommt, sieht er noch finsterer aus als vorher. Der Bau der schmalspurigen Bahn ist beschlossen und Anton hat eine bedeutende Anzahl neuer Aktien gezeichnet. Der Kostenanschlag, den ein Sachverständiger in aller Eile gemacht hat, um überhaupt eine Ahnung zu gewinnen, was der Bau kosten wird, übersteigt die Befürchtungen bei weitem, ist aber trotzdem genehmigt worden. Die Aussichten auf Gewinn sind für die Aktionäre vorläufig verzweifelt schlechte, trotzdem hoffen sie, bis auf Anton, der überhaupt an nichts Gutes mehr glaubt, das Gewerk auf der Höhe zu erhalten. Das Kapital zum Ankauf neuer Aktien hat Anton als dritte Hypothek auf Wartau eintragen lassen; er weiß nur eins – daß er alles thun muß zur Rettung des Gewerkes.

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 11, S. 342–351

[342] Eines Tages verbreitet sich im Dorfe das Gerücht, auf dem Schlosse fange man an zu sparen, so arg, daß es schon nicht mehr schön sei, und die alte Baronesse sei die ärgste dabei.

Christel, die noch bei ihrem verwitweten Schwager ist – sie wagt ihn in seinem Schmerze noch nicht zu verlassen, obgleich es sie mit allen Kräften heimwärts zieht zu ihrer Wirtschaft – hört es von der Frau des Gemeindevorstandes, die das Aufgebot ihrer Tochter bestellt hat. Mit den kleinlichen Ansichten solcher Leute glaubt die Frau, es müsse Christel eine Genugthuung sein, wenn sie erfährt, daß es auf dem Schlosse bergab gehe.

„Die Pferde der Gnädigen haben sie verkauft, sogar den Pony vom kleinen Jungen, und den Leuten den Stuhl vor die Thür gesetzt; man bloß noch ein Mädchen, das kochen kann, und ein Stubenmädchen behalten sie, und die alte Kinderfrau soll ja wohl die Jüngsten mit der Flasche päppeln. Der Herr hat so ein neumodisches Ding kommen lassen, worin die Milch erst stundenlang gekocht werden muß. Und was die Baronesse ist, die thut nichts weiter als die Aepfel auf den Bäumen zählen, die noch daran geblieben sind, sie will sie verkaufen, wie die Leute sagen. Der Wilhelm, der Kutscher von der Gnädigen, sagt, ihm sei auch zu Michaelis gekündigt worden, er ginge aber gern, denn seitdem die gnädige Frau fort wäre, sei nichts mehr los in Wartau. Und das sagt er auch, daß sie nicht wiederkäme, und das sagen sie alle vom Schloß, und daß er nun seine Strafe kriegt.“

Christel, die wie teilnahmlos dagestanden hat, während die Frau redet, unterbricht sie kurz: „Also dies sind die Papiere – ist auch der Trauschein von Ihnen dabei? Schön, ich werde meinem Schwager, sobald er nach Hause kommt, alles berichten, und wenn Bescheid nötig ist –“

„Na, dann adje!“ sagt die erschreckte Frau, „und nehmen Sie’s nur nicht übel.“

„Adieu, Frau Sobbe.“

O, wie ihr dieser Aufenthalt hier zur Qual wird! Und sie muß noch volle acht Tage aushalten, bis die zweite Tochter zurückkehrt, die nun, so jung sie ist, den Haushalt des Vaters führen soll. Aber natürlich, sie kann aus ihrer Stellung nicht so mir nichts dir nichts fort und muß schon froh sein, daß die Herrschaft ihr erlaubt, zu gehen, sobald sie neuen Ersatz hat an ihrer Stelle. Aber länger, länger als eine Woche noch hält’s Christel nicht aus. Sie kann es gar nicht mit anhören, wenn die Leute so reden, sie sträubt sich, glauben zu sollen, daß diese aus heißer Neigung geschlossene zweite Ehe keine glückliche sei, daß es Thatsache sein könnte, was die Menschen flüstern, daß Edith nie wiederkehren werde.

Und die Kinder, die armen Kinder! Aber es ist ja Thorheit, die Leute schwatzen Unsinn – um der Kinder willen werden sie ausharren miteinander, das weiß Christel genau. Hätte sie Kinder gehabt, sie hätte sie in ihren Armen zu ihm getragen und hätte gefordert: „Um dieser willen – ich weiß, daß du mich nicht mehr liebst, dulde mich um dieser willen!“

Eine große Sehnsucht kommt über sie, sie möchte die Kinder sehen, einmal sehen! Und dann schämt sie sich dieses Wunsches. Sie fühlt, sie wird erst wieder ruhig werden in ihrem einsamen Hause da droben auf dem Hochplateau, mit der Aussicht in den Grasgarten, auf die Lindenbäume und den einsamen Weg, den so selten jemand betritt. Wie schön ist dort die Ruhe, die sie umgiebt nach gethaner Arbeit; sie atmet selbst auf, wenn Louischen und der Schwager wieder gegangen sind, die zuweilen auf einen nachbarlichen Besuch kommen. Sie braucht niemand, sie will niemand, sie ruht sich aus in ihrem stillen Zimmer, wo der Kanarienvogel wie im Traume zwitschert und die bewegten Blätter der Linden draußen kleine runde Sonnenflecke auf den Dielen [343] tanzen lassen. Sie vermag da zu sitzen und zu sinnen bis in den Abend hinein, bis neue Arbeit sie ruft.

Wäre sie nur erst wieder dort!

Und endlich kommt der Tag, da sie abreisen kann; ihre junge Nichte ist eingetroffen, blaß, mit verweinten Augen, um die Stelle der Hausfrau einzunehmen.

Christel geht zuerst mit Vater und Tochter an das Grab, und als man wieder heimgekommen ist, giebt sie in ihrer milden Art dem verängstigten Kinde einige Anweisungen für den Haushalt, und nachher – am andern Morgen will sie reisen – geht sie allein im Pfarrgarten auf und ab, in alte Erinnerungen verloren. Als endlich der Mond aufsteigt, steht sie still und schaut über die Mauer auf die Felder hinaus, die vernichteten Felder, über die heuer zur Erntezeit schon die Pflugschar gegangen ist, als wäre es bereits Spätherbst, und die jetzt ein schwächlicher grüner Schimmer der Futterkräuter schmückt, die man gesät hat, um doch etwas zu ernten.

Und Christel denkt, wie sehr diesem Bilde ihr Herz gleicht, wie darinnen auch einmal prächtige goldene Saat wogte, die vom Sturm des Geschickes niedergebrochen wurde, und daß jetzt, wie dort drüben auch, nur ein bißchen bescheidenes Grün wachse, die Pflänzlein der Entsagung und der stillen Treue, des thatenlosen Mitleids. Ja, könnte sie ihm helfen, könnte sie ihn bewahren vor dem Schweren, das ihm droht!

Ach ja, die Wirtschaft geht bedenklich zurück auf Wartau, sie hat ja alles erfahren in diesen paar Tagen. Christel weiß ja noch so genau, wie viel sie herausgewirtschaftet hat aus dem Kuhstall an Milch, Butter, Käse, an Kälbern und Kühen, sie weiß noch, wie stattliche Summen sie Anton brachte aus dem Garten an Gemüsen, Erdbeeren, Winterobst, wieviel aus dem Hühnerhof. Sie erinnert sich so deutlich, wie er sich darüber gefreut und sie gelobt hat. In der Landwirtschaft, da will das kleinste berücksichtigt sein, wenn etwas dabei gewonnen werden soll. Sie ist immer aufgestanden vor Tau und Tag und spät zu Bett gegangen; und wie war Anton selbst so sparsam, so sparsam auch in der Zeit, wo sie es nicht mehr nötig hatten. – – Und nun, nun hat er schwere Sorgen, und die Frau verthut sein mühsam erworbenes Geld in den Bädern!

Wäre sie nur gar nicht hergekommen, hätte sie es lieber nicht erfahren, ihn nicht gesehen mit der gefurchten Stirn und den grauen Haaren in dem blonden Vollbart. Sie fühlt, sie wird von Wartau scheiden, niedergedrückter noch als damals … damals!

Du hättest ihn nicht verlassen dürfen! sagt eine Stimme in ihr, du hättest wissen müssen, daß er mit jener Frau ins Unglück ging. Und sie bleibt stehen und schaut starr in den silberdurchleuchteten Nebel, der aus den nassen Aeckern emporsteigt, es fliegt wie ein Schauer über ihren Körper.

„Ich mußte!“ sagt sie leise.


Ueber Wartau liegt der Novemberhimmel; einförmig und trübe schleppen sich die Tage hin. Im Schlosse ist es kühl und ungemütlich, die zwei großen Amerikaneröfen im Flur werden aus Sparsamkeit nicht mehr geheizt. Mittags wird in einem kleinen Zimmer gespeist, das Tafelzimmer ist so schrecklich groß, zu groß für die zwei Menschen, die alte Stiftsdame und den Hausherrn. Zuweilen nimmt Anton seine Mahlzeit ganz allein. Nach dem kurzen einfachen Essen – wie in der ersten Zeit, wird nur ein Gericht aufgetragen – steigt Anton in die Kinderstube hinauf, nimmt seinen Jungen von dem Teppich empor, auf dem er spielt, hält ihn auf den Knieen und starrt die kleinen Mädchen an, die gewöhnlich schlafen. Er muß Lothar reiten lassen, muß versprechen, ihm seinen Pony mal ganz lebendig mit heraufzubringen, der gar nicht mehr vorhanden ist, und verbringt dann wieder Stunde um Stunde vor den Büchern und Berechnungen, um abends wieder stumm der Baronesse gegenüber zu sitzen.

Die alte Dame hilft ihm schweigend bei seinen Bestrebungen, sich einzuschränken. In der Küche ist sie deshalb beinahe verhaßt. Die neue Köchin hat eines Tages wieder gekündigt, sie hätte sich doch zu sehr getäuscht, sie habe gemeint, in ein wirklich vornehmes Haus zu kommen, aber wenn sie nicht mal das Sauerkraut mit Champagner kochen solle und nie mal eine Pastete oder dergleichen zu machen habe, dann wolle sie lieber gehen, denn auf so einer Stelle verlerne sie alles.

Die Stiftsdame giebt ihr ohne weiteres den Lohn und die Papiere, und nun kocht das frühere Küchenmädchen, allerdings ein bißchen primitiv, aber Anton merkt es kaum. Hier und da besucht einer der Herren, die bei ihm in den letzten Jahren verkehrt haben, den Einsamen, doch der ernste gedrückte Mann ist nicht imstande, den angenehmen Wirt zu spielen, und die guten Freunde bleiben weg.

Heine flucht und räsonniert, wenn er von dem Herrn zurückkommt. „Himmel – Herrgott – das sollte mir passieren!“ Und als die kleine Frau ganz erschreckt fragt: „Was ist denn nur um Gottes willen?“ da schreit er los: „So schindet man sich und spart und kratzt die Groschens zusammen, daß die Hunde Blut lecken, und wenn man denkt, man hat ein Loch zugestopft, dann reißt da ein anderes auf! Hol’ der Teufel all so ’n gottslästerliches Weibervolk wie die!“ Und er stellt sich vor seine kleine Frau, schlägt in die flache Hand und ruft: „Rund jeden Monat zweitausend Mark an diese Frau, und er muckt nicht mal dagegen! Ja, da arbeite du dir den Bast von den Händen und quetsche es heraus, wo du kannst, in den Sumpf geworfen ist’s doch! – – Kann er denn nicht zum Donnerwetter ein ‚Stopp!‘ hinwettern nach Neapel, oder wo sie sonst herumflaniert, die allergnädigste Frau Mohrmann, geborne von Ebradt? Ich kann ihr doch nicht sagen: wenn du so flott leben willst, dann hungern demnächst die Kinder, Goldgruben giebt’s hier nun zufällig mal nicht! Aber nee, nee – er fährt womöglich ‚dritter Güte‘ nach Leipzig, und ein Glas Wein gönnt er sich nicht mehr. Und weißt, was ich thue, Lieschen? Ich steche der Alten mal den Star, die weiß wahrscheinlich gar nicht, wie tief er drin sitzt? Mag die doch mal ihrer hochgebornen Frau Nichte klarmachen, daß es so nicht weiter geht. Er thut’s nicht in seiner übertriebenen Noblesse gegen diese Frau.“

Nein, Anton thut es nicht, obgleich ihm diese Summen schwerere Sorgen machen, als er sich selber eingesteht. Nur nicht mit ihr feilschen, die ihn ja eben dieses Mammons wegen nahm! Hätte sie noch mehr verlangt, er würde es herbeigeschafft haben.

Als aber Heine eines Tages wirklich der alten Baronesse eine Andeutung zu machen wagt, geht sie zu Anton und bittet ihn, nur noch die Hälfte des bisherigen Betrages Edith zu senden; sie finde, daß es geradezu ein Verbrechen sei, ihr solch luxuriöses Leben zu gestatten.

„Edith kennt meine Lage, ich machte ihr hier bereits Vorstellungen,“ antwortet er, „sie haben gar nichts genützt. Glauben Sie, daß es jetzt etwas nützen wird?“

„Aber, mein Gott, wenn sie einfach nicht mehr bekommt, was bleibt ihr dann übrig als sich einzuschränken?“

„Dann bleibt ihr noch übrig, Schulden zu machen!“

„Ach, aber ich bitte Sie, Herr Mohrmann!“ Josepha ist dunkelrot geworden und sieht fast gekränkt aus.

Er geht an seinen Schreibtisch und holt einen ganzen Packen Briefe. „Hier, Baronesse, diese Rechnungen habe ich nach Ediths Abreise, das heißt in den ersten Oktobertagen, bekommen; es sind sehr große Posten dabei, unter andern einige Sachen, für die ich ihr das Geld bereits eingehändigt hatte.“

„Aber – aber,“ stammelt Josepha fassungslos, „das durften Sie doch nicht leiden, das ist ja entsetzlich!“

„Soll ich vielleicht in die Zeitnng setzen lassen: Ich warne hiermit jedermann, meiner Frau Edith, Geborenen von Ebradt, etwas zu borgen, indem ich erkläre, keine Zahlung leisten zu wollen – wie so die übliche Fassung ist?“ fragt er.

Josepha preßt das Tuch an ihre Augen und geht nach oben, außer sich vor Schmerz und Zorn. Sie schämt sich, o sie schämt sich für die leichtsinnige Person, diese Edith, und sie muß ihr dennoch mildernde Umstände zusprechen, denn sie hat’s ja nicht besser kennengelernt. Ihr Vater, ihr Großvater, ihre Mutter, alle verstanden sie das Schuldenmachen aus dem Fundament, in den Augen der Wartaus war Schuldenmachen keine Schande, im Gegenteil ganz comme il faut, ein Privilegium ihres Standes. Und wenn die Gläubiger die Ehre, bis in das Blaue hinein zu borgen, nicht genügend würdigten, so war das deren Fehler, nicht der ihrige.

[344] Wie hatte Josepha unter diesen Verhältnissen gelitten! Hundertmal hatte sie es bedauert, daß sie nicht vermochte mit den Wölfen zu heulen, und daher stand sie wie ein Fremdling inmitten ihrer Familie mit ihren streng rechtlichen Ansichten, die sie ebenso unerläßlich für den Edelmann wie für den Bürger hielt, und die in ihrer ganzen Sippe nicht zu finden waren.

Sie geht in das Schlafzimmer und holt sich ein Brausepulver, zündet die Lampe an und setzt sich zum Schreiben. Ihre Hand zittert, als sie die Feder eintaucht, aber nach und nach wird sie fester und die großen steifen Buchstaben bedecken einen Bogen nach dem andern. Mögen sie diese Zeilen auf immer trennen von Schwester und Nichte, es ist ihr gleichgültig, wissen müssen sie wenigstens, wie sie denkt über solch unerhörten Leichtsinn. – 0000000000

Und dieser Brief trifft Edith in Neapel; während des Diners im Hotel Haßler wird er ihr gebracht mit verschiedenen andern Postsachen. Man hat eben für den andern Morgen eine Fahrt nach Pozzuoli verabredet, sie und ein Rittergutsbesitzer v. Mardeveld aus dem Hannöverschen, der mit seiner kränklichen Frau reist, sowie ein preußischer Gardeoffizier, der erst vorgestern von Monte Carlo heraufgekommen ist, um die Bella Napoli kennenzulernen, bevor er nach Kairo geht, weil die Lunge ein bißchen angeknackst sein soll, wie der Regimentsarzt daheim behauptet hat.

Edith will auch hinüber nach Kairo, wie sie gestern erzählt hat, das heißt, sie weiß es noch nicht bestimmt, hofft es aber. Sie ist sehr elegant gekleidet in ein graues Tuchkostüm mit schmalem Zobelbesatz, trägt die Haare, wie die Neapolitanerinnen aus dem Volke, mit einem Schildkrotkamm hoch auf den Scheitel gesteckt und hängende Brillanttröpfchen in den Ohren. Unglaublich reizend sieht sie aus, weiß es aber auch. Tante Tonette ist desto niedergedrückter; von Tag zu Tag hat sie gewartet auf einen Brief von Mohrmann, der die Bitte enthält: Komm’ wieder, Edith, es ist alles vergessen! Bis jetzt ist ein solcher Brief nicht gekommen, und Abend für Abend fleht sie ihre Nichte an: „Schreib’ du ihm zuerst, sage, du willst alles thun, um deine Uebereilung wieder gut zu machen.“

Ein Achselzucken und die Antwort: „Wenn er’s nicht will, ich habe keine Eile!“ ist ihr regelmäßiger Bescheid darauf. Wie es aber im Herzen der schönen Frau aussieht, bekommt Tante Tonette nicht zu erfahren.

Ach, und die alte Dame ist so innerlich zermürbt, sie sehnt sich so nach Ruhe. Diese ihr sicher schon verhaßten Hotelbetten, dieses ewige Gasthausessen, das grelle elektrische Licht, die befrackten Kellner und die langen Diners, diese ermüdenden Opernvorstellungen, nach denen sie noch ein Souper aushalten muß zwischen ihr total gleichgültigen Menschen, die ihre Nichte anschwärmen – sie ist förmlich krank vor Heimweh nach Wartau, nach ihrem gemütlichen Zimmer mit der Aussicht auf die Felder, nach den Kindern – ach, ihr kleiner Lothar, der so süß schmeicheln kann: ‚Hast du Otho lieb, Droßtante?‘ Sie kämpft jedesmal mit Thränen, wenn sie an den Jungen denkt.

„Hast du einen Brief aus Wartau?“ fragt sie flüsternd die Nichte, die in einer sehr animierten Unterhaltung begriffen ist über Pompeji, das sie heute früh besuchte, um einer Ausgrabung beizuwohnen. Tante Tonette muß dreimal fragen, das letzte Mal mit einem energischen Zupfen am Aermel.

„Ja?“ fragt Edith, sich etwas heftig umwendend, „ob ein Brief aus Wartau dabei ist? Sieh doch selbst nach,“ und sie giebt ihr drei oder vier Briefe hin, schon wieder mit ganzer Seele bei dem Gespräch der andern.

Ein zweites Zupfen am Aermel. „Es ist einer von Josepha dabei, darf ich ihn lesen, Edith?“

„Ja, bitte, ist mir sogar sehr lieb, ich weiß ohnehin schon, was darin steht,“ antwortet Edith, und der Hauptmann aus Berlin wiederholt noch einmal das Schlußwort seiner langen Rede:

„Jradezu fabelhaft malerisch!“

Der Kellner präsentiert eben Butter und Käse, die Sängerbande im Vorraum singt „O dolce Napoli“ und der Hauptmann beginnt einen neuen Satz: „Jradezu fabelhaft dieser Verkehr auf dem Toledo, Berlin wie ausjestorben dajegen. Ich muß gestehen, ich kann’s nicht vertragen, wenn ich anjerempelt werde, und hier wird man ja auf Schritt und Tritt jerempelt, werde künftig nur noch fahren.“

„Das macht mir gerad’ Spaß,“ sagt Frau v. Mardeveld und spricht das S und das P einzeln aus bei „Spaß“.

„Jradezu unjlaublich!“ erklärt der Offizier.

„Aber, ich bitte Sie, Wenn man jahraus jahrein auf einem einsamen Gute lebt, so kann man während der paar Reisewochen gar nicht genug Menschen sehen,“ verteidigt sich die nette Frau. „Nicht wahr, Frau Mohrmann? Was sieht man denn auf dem Hofe? Hühner und Gänse und, wenn’s hoch kommt, den Herrn Verwalter.“

„Und deinen Mann!“ bemerkt ihr Gatte.

Sie nickt ihm zu mit liebevollen Blicken, „aber dich sehe ich ja auch hier, Heinrich!“

„Natürlich! Ich möchte auch wohl wissen, was aus dir werden sollte auf Reisen – ohne mich?“

„O, man kommt allein auch durch die Welt als Dame,“ scherzt Edith, „wie ich bestens beweisen kann. Selbständigkeit lernt sich sehr leicht und ist doch auch sehr angenehm.“

Tante Tonette sitzt mit völlig zerknirschter Miene da, den zusammengefalteten Brief in ihrer zitternden Hand. Sie fühlt sich unfähig, noch länger hier zu bleiben, und flüstert ihrer Nichte zu: „Ich gehe immer voran.“ Sie keucht zu den zwei Treppen hoch gelegenen Zimmern hinauf, die Edith gemietet hat, und oben angelangt, setzt sie sich ans Fenster und schaut auf das dunkle Meer hinaus, das jenseit der Quaimauer unter einem heftigen Südwind wogt. Der Himmel ist völlig sonnenlos, es scheint zu regnen, und die alte Dame faltet die Hände und sagt laut: „Mein Gott, wie soll das enden?“

Was Josepha ihr da schreibt, hat sie ganz wirr und irr gemacht. – Wenn nur Edith bald käme, sie muß doch mit ihr reden, ernstlich reden! Edith darf nicht länger bummeln, sie soll zurück, sie ist’s ihm schuldig, das erste Wort zu sprechen. Tonette hält sich überzeugt, daß dieser gutmütige große Mensch mit offnen Armen wartet, sobald er den kleinsten Beweis erhält, daß seine Frau den Wunsch hegt, zurückzukehren; daß er schon zufrieden sein wird, wenn sie sagt: laß uns versuchen, weiter miteinander zu leben – um der Kinder willen!

Wie sie so lange bleibt!

Der Sturm draußen ist heftiger geworden und die See wirft hier und da klatschend eine Welle über die Quaimauer, so daß die Leute auf die Häuserseite flüchten. Die neue Jungfer, die Edith in Venedig gemietet hat für die Reisezeit – es ist eine Oesterreicherin – singt ein Lied im Nebenzimmer mit greller Stimme und öffnet dabei Schrankthüren und Kommodenschübe; sie legt Ediths Theatertoilette zurecht; in San Carlo wird die „Cavalleria“ gegeben mit einem berühmten Mailänder Sänger. Edith hat eine Loge mit Mardevelds und dem Hauptmann gemeinschaftlich bestellt.

Tante Tonette bliebe so gern daheim, aber Josepha hat ihr das Versprechen abgenommen, Edith nicht von der Seite zu gehen; eine qualvolle Pflicht, wenn man sechzig Jahre alt ist und kein sorgenfreies Herz hat.

Endlich öffnet sich die Thür und auf dem hellen Grund des elektrisch beleuchteten Vorsaales erscheint einen Augenblick die Silhouette Ediths, dann herrscht wieder Dunkelheit. Nur das leise Rauschen des seidengefütterten Kleides verrät ihre Anwesenheit der vom Licht geblendeten alten Dame.

„Edith,“ sagt sie vor Aufregung ganz heiser, „Edith, nun bitte, höre mich ruhig an, es ist wirklich die höchste Zeit, einzulenken – wir müssen heim.“

Edith, die eben den Knopf der elektrischen Leitung drücken will, um Licht zu schaffen, läßt die Hand wieder sinken. „Einlenken – ich? Ja, was soll denn das heißen, Tante? Ich habe ihn doch nicht verlassen, er hat mich ja gehen heißen.“

„Um dir Zeit zu gewähren, den Weg zu seiner Verzeihung zu finden, Kind.“

„Aber Tante, fange doch nicht wieder damit an, ich war gerade so vergnügt.“

Du mußt das erste Wort sprechen, Edith –“

„Das muß ich nicht! Wenn ich das thue, hätte ich nett verspielt für mein künftiges Leben. Was schreibt denn eigentlich Ehren-Josepha, daß du heute so ganz besonders dringend deine Versöhnungsarie singst?“

„Du kannst den Brief ja lesen, Hier, bitte, lies ihn!“

[346] „Ach was! Erzähle mir lieber, ich rege mich mir auf bei ihren Weisheitspredigten.“

„Sie fordert dich auf, dich mehr einzuschränken, weil Mohrmann unmöglich fernerhin so viel geben kann wie bisher.“

„Was?“ ruft Edith atemlos, „in seinem Auftrage?“

„Das schreibt sie nicht, sie erzählt nur, daß er sich thatsächlich durch den gänzlichen Ausfall der Ernte in Verlegenheit befindet.“

„Und das glaubst du natürlich pflichtschuldigst,“ sagt Edith geradezu mitleidig. „Du bist doch recht nervös geworden, Tante. Bei den Einnahmen aus dem Flußspatwerk – lächerlich! Nun hat dir Josepha dasselbe vorgeklöhnt, was er mir seiner Zeit weiszumachen versuchte; die scheint ja neuerdings auf ihn zu schwören, die gute Tante Josepha. Eine verunglückte Ernte wirft ihn nicht um – beruhige dich!“

„Aber Kind, du vergißt, daß drei schlechte Ernten vorangegangen sind, daß die Einrichtung und der Umbau des Schlosses eine recht anständige Summe gekostet haben, daß der Haushalt auf einen sehr großen Fuß eingerichtet war – –.“

„Wirklich?“

„Ja – wirklich! denn nach dem, was mir Josepha schreibt, haben sie in Wartau all und jeden Luxus beiseite gelegt, die Pferde verkauft, Dienerschaft entlassen – Gott weiß was noch!“

„Meine Pferde?“ ruft Edith, „natürlich meine Pferde, das ist toll, das ist einfach perfid!“

„Es wird doch wohl nötig gewesen sein – bitte, lies doch selbst, Edith!“

„Danke! Solche lächerliche Faxen mag ich nicht wissen, und wenn Mohrmann denkt, mich dadurch zurückzuzwingen, so irrt er sich. Ich komme höchstens auf seine Bitte, und dann vielleicht auch noch nicht gleich, und damit basta!“

Mit diesen Worten geht sie an den elektrischen Knopf, und im Nu flammen in den sechs herabhängenden Blütenkelchen des Kronleuchters die Staubfäden auf, ein warmes goldiges Licht verbreitend.

„So! In der Helligkeit werden dir die Grillen wohl vergehen, liebe Tante, und nun will ich noch ein wenig schlafen vor dem Theater; schlafe du auch. In acht Tagen reisen wir über Palermo nach Alexandrien, Hauptmann von Röben wird den Reisemarschall machen. Für dich ist das alles ja nichts Neues, aber ich freue mich darauf, o ich freue mich!“

„Dann reise du in Gottesnamen,“ sagt Fräulein Tonette und erhebt sich aus ihrem Stuhl, „ich gehe nach Wartau zurück.“

Edith dreht sich an der Thür ihres Schlafzimmers um und starrt ihre Tante an, als sei sie ein Meerwunder. „Du läßt mich im Stich?“ stottert sie.

„Wenn du es so zu nennen beliebst, ja!“

In Tonettens Herz bäumt sich jetzt ein ebenso heftiger Trotz auf wie im Herzen der Nichte.

„Du hast die Pflicht, bei mir zu bleiben,“ betont Edith.

„Wo steht das geschrieben?“ fragt Tonette.

„Schön, liebe Tante, ich fühle mich vollständig reif genug, um allein zu reisen. Also, auf deine Verantwortung –“

„Ich lehne von dieser Minute an jede Verantwortung für dich ab,“ erklärt die alte Dame.

„Also – wann reist du, Tante?“

Und Fräulein Tonette sagt mit einem energischen Auftreten des Fußes: „Morgen!“ und geht aus der entgegengesetzten Thür in ihre Schlafstube; dort wirft sie sich zitternd in das Sofa und schluchzt vor Aufregung und Aerger. Was wird sie nun beginnen, was wird sie nun beginnen? Die junge Frau kann ja gar nicht allein reisen, das ist unmöglich nach Tonettens Begriffen von Sitte und Anstand. Aber sie ist schon überwunden; wenn dieser kleine Teufel morgen bittet und schmeichelt, dann geht sie auch gutmütig, aber freilich tief verstimmt mit nach Afrika; sie darf sie nicht allein lassen, wenn jemals wieder Friede werden soll!

Sie hört, wie Edith in die Oper fährt, sie hört sie spät in der Nacht zurückkommen. Auf dem Korridor verabschiedet sich der Hauptmann von ihr, seine schnarrende Stimme dringt deutlich in das Ohr der aufgeregten alten Dame. „Um acht Uhr früh, gnädige Frau,“ sagt er. Und ebenso hört sie Ediths silbernes klangvolles Organ: „Sie müssen mich schon entschuldigen, meine Tante reist morgen nach Deutschland zurück, ich möchte sie doch auf den Bahnhof begleiten. Gute Nacht, Herr von Röben!“

„Allmächtiger Gott!“ spricht Tante Tonette vor sich hin und ringt die Hände, „sie ist imstande und forciert meine Abreise!“

Natürlich schläft sie keinen Augenblick, und am andern Morgen plagt ihre Migräne sie schlimmer als je; es ist keine Möglichkeit, abzureisen.

Edith steht in einem hochroten Flanellnegligé an ihrem Bette und sagt teilnehmend: „Tante, da wirst du die Abreise vermutlich um vierundzwanzig Stunden verschieben müssen; wie gut, daß der Anfall nicht unterwegs kam!“

Die Kranke stöhnt qualvoll unter dieser Marter und nickt der Nichte, sie möge sich entfernen.

„Ich gehe schon – armes Tantchen, recht gute Besserung!“ Und Edith macht eilends Toilette und kommt noch gerade zurecht, um mit Mardevelds und Hauptmann von Röben nach Pozzuoli zu fahren. „Poldi pflegt so gut Kranke,“ sagt sie, „und wenn einer Migräne hat, so ist ihm am wohlsten allein.“

Als am andern Morgen Tante Tonette einigermaßen schmerzfrei erwacht und Miene macht, aufzustehen, bemerkt Poldi, die ihr den Thee bringt, „Euer Gnaden brauchen sich gar nit zu ängstigen, i hab’ schon alles richtig verpackt, nur noch das bisserl, was Euer Gnaden zur Toilette brauchen, dann können’s reisen.“

Tonette ist nahe daran, wieder einen Anfall zu bekommen. Sie erklärt ganz matt, es sei ihr unmöglich, aufzustehen, sie habe noch zu starkes Kopfweh. „Lassen Sie mich nur allein, ich bitte Sie, und sagen Sie meiner Nichte, daß ich niemand sprechen kann, auch sie nicht.“

Als die Zofe gegangen ist, schleppt sie sich mühsam zu den Thüren, verschließt diese und schreibt ein Telegramm an Josepha:

„Veranlasse Mohrmann sofort, Wunsch zu äußern, daß Edith zurückkehre, sonst große Unannehmlichkeit. Brief folgt.
Tonette.“ 

Mit diesem Zettel und einem Zehnlirestück, dessen Betrag nach Abzug der Kosten dem freundlichen Boten gehören wird, steht sie an der Thür, die zum Korridor führt, und blinzelt durch einen ganz schmalen Spalt nach einer barmherzigen Seele aus, die das Telegramm besorgen soll. Allerlei Menschen passieren vorüber, niemand darunter, der sich eignet; endlich erscheint der Groom, der die Postsachen nach den verschiedenen Zimmern trägt, und wird in mangelhaftem Italienisch verständigt, ist auch sofort bereit, den Gang zu thun.

Ganz erschöpft, doch etwas ruhiger begiebt sich die arme Tante wieder in ihr Bett hinter die weißen Tüllvorhänge und läßt ihre trüben Gedanken spazieren gehen. Durch die Läden dringt hell die strahlende Sonne des Südens. Tonette hört im Salon nebenan Ediths Lachen und eine Herrenstimme.

„Wie wundervoll diese Veilchen!“ ruft die junge Frau. Eine sehr lange Unterhaltung entspinnt sich, endlich empfiehlt sich der Besucher. Tante Tonette hat den Hauptmann „von Jradezu“, wie sie ihn nennt, erkannt.

Was wird Mohrmann thun? Wird er Edith nie vergeben? Ja, was soll dann nur werden? Eine Reihe schreckhafter Zukunftsbilder entrollt sich vor ihr und die Reue klopft bitter an ihr Herz. Ja, sie ist nicht schuldlos daran, wenn er sich jetzt in Geldverlegenheiten befindet. Herrgott – der Umbau des Schlosses und die Einrichtung hat ja ein Vermögen verschlungen, Tapeten zu fünfzig bis sechzig Mark das Stück, und der Smyrnateppich im großen Saal, heller gelblicher Grund mit Rokokoarabesken und Rosen – sie schaudert jetzt, indem sie bedenkt, daß er dreitausend Thaler gekostet hat.

Warum ist er nur nicht dazwischen gefahren mit einem Donnerwetter, hat die Stirne gerunzelt, gefragt: „Muß das durchaus sein?“ Na ja, die Stirn hat er wohl gerunzelt, das hat man gesehen, aber nicht darauf achten wollen. – Er konnte ja einfach verbieten, warum litt er es denn? Es wird schon so sein, wie Josepha schreibt. – Die verschwemmte Ernte, das ist schlimm, aber wer kann denn dafür? Ein bissel übertrieben wird Josepha auch haben, doch in einem hat sie recht: Edith muß sich mehr einschränken! Ueberall werden Toiletten gekauft, und Kunstgegenstände, und immer die besten Zimmer in den Hotels [347] gemietet, und immer nur Landauer. Aber man hat ja keine Macht über sie!

Als Tante Tonette gegen Abend noch immer nicht genesen ist, erscheint, von Frau Edith gesendet, der Hotelarzt und erklärt, nachdem er den Puls gefühlt und die Zunge besehen hat, Patientin werde gut thun, etwas aufzustehen und an die Luft zu gehen, der Anfall sei ganz vorüber und ein längeres Verweilen im Bette nur schädlich. Er finde es sogar durchaus nicht allzugewagt, wenn die Baronesse abreise, Luftveränderung würde ganz besonders wohlthätig sein. In Rom die Nacht bleiben, andern Tages nach Genua, es gehe prächtig!

„Aber ich muß doch selbst am besten wissen, ob ich mich so fühle, Herr Doktor,“ wehrt Tante Tonette; „ich bin so entsetzlich matt, Sie glauben nicht, wie sehr. Vielleicht übermorgen, oder in drei Tagen – morgen keinenfalls.“ Sie steht Höllenqualen aus; sie fühlt, Edith will, daß sie abreist, und sie darf nicht, nein, sie darf nicht. Wenn doch die Depesche den beabsichtigten Erfolg haben möchte! Sie betet, sie betet, wie sie lange nicht gebetet hat, aber der folgende Tag vergeht ohne Rückantwort, und wieder einer; am dritten Morgen hält sie es nicht mehr aus im Bette und steht auf.

Im Salon trifft sie Edith, die am Schreibtische sitzt und freundlich lächelnd fragt: „Nun, Tantchen, wieder auferstanden? Wohl schon reisefertig?“

„Ich warte auf Nachricht von daheim,“ entgegnet die alte Dame kurz. „Wenn dein Mann mit meiner Rückkehr einverstanden ist, befreie ich dich von meiner lästigen Gesellschaft, wenn nicht, mußt du sie weiter ertragen. Mir macht’s, weiß Gott, auch kein Vergnügen, dich zu chaperonnieren, ich sehne mich nach Hause.“

„Lieber Gott,“ seufzt Edith, „du thust mir leid, und seekrank wirst du auch immer gleich, ich kann es kaum verantworten, dich mitzunehmen.“

„Die Afrikareise ist ja noch nicht verbrieft und besiegelt,“ murrt Tante Tonette.

„Aber sicher ist sie das!“

„Gottlob herrscht in deiner Kasse gerad’ mal wieder Ebbe.“

„Du vergißt den Kreditbrief, den ich mir neuerdings von der Bank in Leipzig schicken ließ.“

„Edith, du bist ein unverantwortlich leichtsinniges Geschöpf; denke doch an deine Kinder!“ Und die alte Dame bricht in bitterliches Weinen aus und sucht wieder ihr Zimmer auf.

Und wieder keine Nachricht, und auch am andern Morgen keine. Edith ist schon in aller Herrgottsfrühe an ihrem Bette gewesen und hat gesagt: „Leb’ wohl, Tantchen, wir machen eine Partie auf die See; laß dir die Zeit nicht lang werden.“ Und dann ist sie gegangen.

Und Tante Tonette liegt wie ein trotz!ges Kind im Bette, und als sie endlich aufsteht und in den Salon kommt, sieht es ihr drinnen so anders aus wie sonst, und sie weiß nicht, woran das liegt, bis sie merkt, daß die Nippes und Kunstgegenstände fehlen, die Edith überall zusammengekauft hat, um das Zimmer damit zu schmücken; daß selbst der Schreibtisch abgeräumt ist. Und wie ein Blitz fährt eine schreckliche Ahnung durch ihre Seele. Sie läuft zur Klingel, und anstatt Poldi erscheint das Stubenmädchen des Hotels und bringt einen Brief.

„Die gnädige Frau sind abgereist, nach Palermo,“ sagt sie.

Tante Tonette fühlt sich einer Ohnmacht nahe; mit zitternden Händen öffnet sie das Schreiben:

 „Liebe Tante!

Reise heim, es ist mir ein zu peinliches Gefühl, Dich bei meinem unsteten Wandern so umherschleppen zu sollen. Du brauchst Ruhe und außerdem ist’s billiger, wenn ich allein reise, was Mohrmann doch sicher nur erwünscht sein wird in der jetzigen Zeit der Ebbe.

Mardevelds kommen bis Sicilien mit; ich gedenke dort etwa vier Wochen zu bleiben. Dann gehe ich nach Aegypten; Frau v. Mardevelds Mutter und Schwester treffe ich in Kairo, also alles comme il faut – kannst Dich beruhigen.

Geld für Dich hat der Wirt in Verwahrung. Ich hätt’s Dir zwar lieber selbst gegeben, aber ich fürchtete eine Scene. – Nach Wartau kehre ich erst dann zurück, wenn Mohrmann es wünscht, vorher nicht; ich habe keine besondere Eile.
Immer Deine Edith.“ 

„So! Nun sind wir ja so weit,“ sagt Fräulein Tonette von Wartau ganz laut, nachdem sie den Brief, den Edith für sie zurückgelassen, in größter Erregung gelesen, „nun sind wir ja auf der schiefen Ebene angelangt, nun giebt’s kein Aufhalten mehr, nun wird’s kommen, wie es kommen mußte! Sie verrammelt sich mit ihrer Fahrt ins Blaue hinein ganz einfach die Thür zur Wiederkehr. – Herrgott, konnte denn dieser Dickkopf in Wartau nicht das erste Wort sprechen? Sie ist doch eben nur ein verzogenes eigensinniges Kind – konnte er denn nicht der Großmütige, der Verständige sein? Aber das muß biegen oder brechen!“

Ihre thränenreiche Stimmung ist völlig geschwunden; sie ist zornig, furchtbar zornig, und wie sie noch in ihrer Erregung auf und ab rennt, tritt der Groom des Hotels ein und bringt einen zweiten Brief, diesmal mit deutscher Marke – aus Wartau, von Josephinens Hand.

Sie wirft sich in den nächsten Sessel und reißt das Couvert auf, eine Photographie, in Seidenpapier gewickelt, fällt heraus. Tonette beachtet sie zunächst nicht, sie lechzt nur nach dem Inhalt des Schreibens:

 „Liebe Tonette!

Wider mein besseres Gefühl habe ich doch, Deinem Wunsche zufolge, mit Mohrmann gesprochen, um ihn zu bitten, an Edith zu schreiben und sie zur Rückkehr zu veranlassen.

Er hat mir’s rundweg abgeschlagen aus folgenden Gründen: Edith liebt mich nicht, folglich wird ein Wunsch von mir sie nicht zur Rückkehr bestimmen können. Daß sie jederzeit als Mutter meiner Kinder in mein Haus zurückkehren darf, das weiß sie; da sie aber das Pflichtgefühl bisher nicht dazu veranlaßte, muß ich annehmen, daß sie sich fern von hier wohler fühlt. Ich verlange keinen Widerruf ihrer damaligen Offenbarungen, denn dem würde ich nicht glauben; sie braucht ja nur einfach zu kommen, wann sie will; aber die Entschließung muß von ihr ausgehen. Von einem Wiederfinden oder – besser gesagt – einem schließlichen Finden unserer Herzen kann nie die Rede sein, doch bin ich bereit, in einem höflichen Nebeneinander mit ihr für unsere Kinder zu leben, weiter kann ich nichts thun! – So, meine liebe Tonette, sagte Mohrmann, und siehst Du, er hat recht. Wie soll er dazukommen, die Frau, die ihn jahrelang mit jedem Atemzüge belogen hat, zu bitten und anzuflehen, daß sie zurückkehre? Die einzige Art, wie sie seinerseits etwas Achtung wiedergewinnen kann, ist, daß sie wenigstens ihre Mutterpflichten anerkennt, daß sie Sehnsucht äußert nach den Kindern, und das hat sie bis jetzt nicht gethan.

Ich habe den Eindruck, daß sein Empfinden für sie völlig erloschen ist. Er spricht ganz ruhig über die Angelegenheit, und als ich versuchte, ein wenig seine Eifersucht zu stacheln, reagierte er gar nicht darauf. Wenn überhaupt noch etwas in ihm sich regt, so ist’s der Zorn, daß er jahrelang düpiert wurde von einem Talmigeschöpf, wie diese Edith leider eines ist.

Du hast eine schwere Verantwortung zu tragen, Tonette. Thue, was in Deinen Kräften steht, um sie zur Einsicht zu bringen, um in etwas Deinen Fehler wieder gut zu machen. Beifolgend die Photographie der Kinder und ein paar Löckchen, vielleicht rührt sie das!“

Und die arme Tonette sitzt und starrt auf die süßen Kindergesichtchen des Bildes und von ihnen auf das Meer hinaus, in dessen blauer Ferne das Schiff verschwunden ist, das diejenige entführt, die sie zur Pflicht zurückführen soll, und sie kommt sich wie eine Gerichtete vor. Am liebsten stürzte sie sich hinein in das Wasser, wo es am tiefsten ist. Was soll nur werden, wenn sie allein nach Wartau kommt? Und sie muß ja doch hin, denn Edith nachreisen, um mit den liebenswürdigsten Bosheiten wieder fortgegrault zu werden, das kann sie nicht. Sie hat genug gelitten in diesen Tagen.

Und seufzend ordnet sie ihre Habseligkeiten und reist mit dem Nachtschnellzuge von Neapel ab. – 00

*               *
*

Sie hat nicht den Mut gehabt, sich anzumelden und um den Wagen zu bitten. Sie wandert von der Station aus in sinkender Dämmerung die schmutzige nasse Chaussee entlang, zitternd vor Angst über den Empfang, den Mohrmann, den [348] Josepha ihr bereiten werden, wenn sie ohne Edith kommt. Mitten in der Lindenallee holt eine große Gestalt sie ein, Mohrmann, der von einem Birschgange über die Felder zurückkehrt, in hohen Stiefeln, Flauschrock und Spessartmütze, die Flinte über der Schulter.

„Tante Tonette?“ fragt er, sie groß anstarrend.

Sie kann kaum sprechen, nur mühsam unter aufquellenden Thränen sagt sie: „Schelten Sie mich – ich komme allein.“

Er lächelt ein wenig, aber ein Lächeln, das sie um alle Fassung bringt, so hohnvoll überzuckt es das ernste Gesicht. Sie bleibt stehen und faßt den Mann am Aermel seines Jagdrockes, sie will sprechen, aber die Thränen stürzen ihr stromweis aus den Augen, und sie schreit es fast hinaus:

„Sie wollte nicht mit mir kommen, sie wollte nicht!“

Er antwortet nicht, er bückt sich nur und hebt ihren Pompadour vom Boden auf und geht ruhig weiter.

Sie folgt ihm, das Schluchzen gewaltsam unterdrückend. Er schreitet neben ihr, die große Gestalt ein wenig gebeugt, so stumpf, so gleichgültig, als habe ihr Erscheinen durchaus nichts Unerwartetes für ihn, als sei es völlig selbstverständlich, daß Edith nicht mitkommt.

Im Flur des Schlosses verläßt sie ihn und steigt hastig die Treppen empor, und droben in der Kinderstube erschreckt sie die alte Klauß und wirft sich fassungslos neben Lothar, der am Boden spielt, auf die Kniee und weint an seinem Lockenköpfchen so heftig, daß das Kind in ein jämmerliches Geschrei ausbricht und Josepha herübereilt, die ihren Augen nicht traut, als sie die Schwester in der großen zitternden Frauengestalt erkennt.

„Tonette!“ ruft die Stiftsdame und rüttelt sie an der Schulter, „um Gottes willen – wo kommst du her?“

Da steht sie auf, und die Arme sinken lassend, sagt sie mit zitternden Lippen: „Sie wollte mich nicht mehr – sie ist allein – weiter gereist.“


Der Winter schleicht vorüber, furchtbar öde und still. Der Weihnachtsbaum, den die beiden alten Schwestern für die Kinder schmücken, erhellt nur gerade die Kinderstube und die Herzen der Kleinen, weiter reichen seine Strahlen nicht; es ist und bleibt finster in den andern Räumen und in den andern Herzen auch.

Der Januar und der Februar bringen Schnee, ungeheure Massen von Schnee, Wartau liegt wie verschanzt hinter weißen Mauern. Kein Laut, kein Ton in Hof und Garten; das Fauchen und Klappern der Dampfdreschmaschine fällt aus in diesem Winter, wie die Ernte im Sommer ausgefallen ist. Die Fenster des Schlosses sind gleichmäßig zugefroren; der schmale, durch den Schnee geschaufelte Pfad ist wenig betreten. Weder die alten Fräulein noch Mohrmann verlassen das Schloß oft, und zum Besuch kehrt niemand mehr ein, nur der Briefbote erscheint fast zu häufig, denn er bringt selten etwas Frohes. Anton sieht ihm immer von seinem Fenster aus entgegen, mit Sorgenfalten auf der Stirn.

In solchen stillen Zeiten kommen die Erinnerungen gern zu den Menschen. In den Abendstunden, wenn das bläulichweiße Schneelicht das Zimmer dämmernd erhellt, dann treten sie ein, die Gestalten, die von uns gegangen sind, gleichviel ob aus dem Leben oder durch das Leben von uns geschieden, und reden so eindringlich, obgleich ohne Laut und Sprache; und in einem Winkel sitzt eine Gestalt mit vorwurfsvollen in Leid verschwommenen Augen und starrt uns unverwandt an. Das ist die Reue, deren Blicke so martern können, daß man sie kaum zu ertragen vermeint. Und jeden Abend fast kam sie zu Anton und quälte ihn, und jeden Abend trat die Erinnerung zu ihm und fragte: „Weißt du noch? Weißt du noch?“ Und er fühlt sich elender und kränker von Tag zu Tage.

Zuerst ist’s immer die alte Mutter, und immer liegt sie da wie in ihrer Sterbestunde, und immer sagt sie: „Halte dein Weib hoch, Anto, halte sie gut! Ja, die ist von anderm Schrot und Korn, wie die da in Halle, du weißt schon – halte sie gut, Anto, deine Christel!“

Und dann kommt die Christel. Die sagt gar nichts, die will nur zu ihm und will ihm über die Stirn streichen, wie sie so scheu zärtlich that, wenn er verstimmt schien. Sie war so schüchtern, sie fand selten den Mut zu einer Liebkosung, obgleich sie ihn liebte so tief und so treu, wie er jetzt erst weiß. Und in diesen Erinnerungen weicht auch sie zurück vor der schönen jungen Frau, die sich ihm an die Brust wirft und heiße Küsse für ihn hat. Und während er so träumt, klingen ihm die Worte Ediths in die Ohren: „Ich habe ihn nie geliebt, und liebe ihn auch heute noch nicht, ich habe mich einfach für euch und für Wartau geopfert –“, das Geständnis: „Ich fürchtete mich vor der Armut.“ Und er macht eine Bewegung mit den Armen, als wolle er sie fortstoßen. Sie ist so schmachvoll, diese Erinnerung; die Seele ist ihm wund davon, der Kopf schmerzt, so oft muß er an diese Worte denken. Er kann nicht anders – immer wieder – immer wieder sind sie da!

Der Arzt hat ihm Brom verordnet gegen seine Schlaflosigkeit, aber was hilft Brom dawider? Irgend eine Zufälligkeit, ein Gegenstand, der an sie erinnert, und das wohlthätig beruhigte Gehirn ist in neuer fieberhafter Thätigkeit, und ein Gedanke jagt den andern, bis das ganze Trugbild vor ihm steht. Von ihr kommt er auf die Kinder, die nun keine Mutter haben, und von ihnen auf ihre Erziehung, ihre Zukunft, auf seine pekuniären Sorgen, die ihn fast zu Boden drücken. Geld soll er schaffen, immer wieder Geld! Geld für das Bergwerk, Geld für den Bau der Brauerei, Geld für Futtermittel seines Viehes, für Kartoffeln; es sind ja keine geerntet, und das, was noch eingebracht wurde von dieser unentbehrlichen Frucht, riecht schon aus der Schüssel, wenn sie aufgetragen wird, und sieht mißfarbig und krank aus. Geld für Saatkorn, Geld für den Hausstand und Geld für die ferne Frau, die bis jetzt in keiner Weise ihre Forderungen beschränkt hat.

Heine kommt und geht finsteren Gesichtes mit den Wirtschaftsbüchern; noch ist ja immer Rat geschafft, aber wie lange noch wird es so weiter gehen? Wie lange noch? „Wenn die nächste Ernte eine zehnfache wäre, dann vielleicht,“ sagt er zu seiner Frau, „und wenn das verrückte Frauensbild, Gott vergeb’ mir die Sünde, da draußen ein bißchen in der Wüste promeniert und es käme gerade ein hungriger Löwe –“

„Heine! Heine!“ warnt seine kleine Frau, „man soll keinem Böses wünschen!“

„Na, meinetwegen – dann wünsche ich, daß ein indischer Nabob sie zur Frau nimmt und sie vergolden läßt, wenn wir nur Ruhe vor ihr kriegen. Einmal, mein Gott, muß ihm doch die Geduld reißen!“ – 0000000

Die beiden alten Fräulein sitzen da oben in ihren Stuben, scheu und kleinlaut, und machen Pläne über Pläne, wie das zerstörte Glück des Hauses wieder aufgebaut werden könnte, aber es bleibt bei den Plänen. Was sollten sie denn auch thun? Die Stiftsdame hat zuerst an Tonettens Stelle zu Edith reisen wollen, aber sie fühlte, daß ihre geistige und körperliche Kraft nicht mehr ausreichen würde, um das Rettungswerk, das ohnehin sehr fragliche Resultate versprach, auszuführen, zweitens fehlte das Geld, und drittens wußte man nicht, wo Edith sich aufhält. Briefe kamen nach Wochen zurück mit dem amtlichen Vermerk, daß Adressatin nicht aufzufinden sei, und der Bankier in Leipzig, an den die Damen sich hinter Antons Rücken wandten, konnte nur mitteilen, daß Frau Mohrmann anstatt der monatlichen Geldsendungen um einen Kreditbrief gebeten habe, ausgestellt auf Bankiers der verschiedensten Städte Italiens und Südfrankreichs.

Was nun?

Und die beiden alten Damen pflegen, im Verein mit der Frau Klauß, die Kinder und suchen nach Möglichkeit gut zu machen an dem einsamen Manne da unten, was ihm durch ihre Nichte Uebles geschehen ist, jede nach ihrer Weise. Aber sie haben wenig Glück damit, er bemerkt es kaum. –

Der Februar geht vorüber, noch immer im Schnee, der schützend auf der Wintersaat liegt. Der März tritt seine Herrschaft an und bringt ihn zum Schmelzen, auf dem Hofe wird’s lebendig, Heines Stimme wettert wieder zwischen den Knechten, und in langer Reihe ziehen die Gespanne zum Pflügen ins Feld. Auch über Anton kommt es wie ein Erwachen: er nimmt Mütze und Stock und geht vom Hofe. Es ist heute einer der bekannten Sommertage, die der März bringt, fast heiß in der Sonne, die über den kahlen Bäumen und Sträuchern lacht. Die Chausseegräben stehen bis zum Rand voll Wasser, hier und da im Schatten ein bißchen mißfarbener Schnee, und die Stare sitzen auf den Zweigen vor den altgewohnten Kästchen und singen.

[349] Im Garten, wo die Sonne so recht heiß auf den Kies scheint, werden die Kinder spazieren geführt, respektive gefahren. Die kleinen Mädel schlafen im Wagen; Lothar hat die alte Klauß am Schürzenzipfel und zieht mit der anderen Hand sein auf Rädern befestigtes Pferdchen nach. Plötzlich fängt er an zu schreien mit seinem kräftigen Knabenstimmchen: „Papa! Papa!“ Jenseit der Buchenhecke, im freien Felde, hat er Anton gesehen; er läßt Pferd und Schürze los und läuft den Weg zur Hecke hinunter, und den Mann da drüben berührt der Ruf so weich und wohlig, als gehöre er hinein in den sonnigen Frühlingstag, der ihn aus seinem Stumpfsinn wecken will. Er bleibt stehen und sieht dem Bübchen entgegen, das da jubelnd angetrottet kommt, immer „Papa! Papa!“ rufend. Die alte Frau hat ihre Equipage im Stich gelassen und eilt dem Knaben nach.

„Aber, Lotharchen!“

Da ruft Anton: „Heben Sie mir das Kind herüber.“

[350] Ganz verdutzt hebt die kleine dicke Person den Jungen auf und reicht ihn dem Herrn über die Hecke.

„Willst du mitkommen, Lothar?“

„Ja, und mein Pferdchen –

„Nein, das bleibt hier; Papa trägt dich.“

„Gottchen, Herr Mohrmann,“ stottert die Alte.

„Ich bringe ihn schon zur rechten Zeit wieder,“ beruhigt er sie, „komm’, Lothar.“ Er setzt das Kind zur Erde, und es an der Hand führend, wandert er den Feldweg hinauf. Es geht ein wenig langsam, und deshalb nimmt Anton das Kind auf den Arm. Das dunkle Lockenköpfchen schmiegt sich so dicht an seine Wange, die klugen Kinderaugen sehen ihn ernsthaft und erstaunt an, und das Aermchen schlingt sich so vertrauend um seinen Hals. Dem verbitterten Mann funkeln plötzlich ein paar Thränen in den Augen. „Hast du Papa lieb?“ fragt er.

Das Kind nickt, ohne seinen Blick von ihm zu lassen. „Papa lieb,“ wiederholt es.

„Mein Junge!“ murmelt Anton, „mein lieber kleiner Bengel!“ Wie ein Vorwurf dünkt es ihm, daß er sich seinen Kindern so entzogen, so wenig um sie gekümmert hat.

„Papa ist dir auch gut, mein Kerlchen; wir sind uns beide gut, nicht wahr?“

Wieder das stumme Nicken, und dann die langsam gesprochenen Worte: „Meine Mama fort – warum ist meine Mama fort?“

Anton erschrickt; hat jemand ihm das eingelernt? „Wer hat das erzählt, Lothar?“ erkundigt er sich.

Aber statt der Antwort spricht der Kleine weiter: „Kommt meine Mama wieder?“ Und dabei sieht er noch immer unverwandt in seines Vaters Augen mit dem ernsthaften fragenden Kinderblick.

„Möchtest du, daß sie wiederkommt?“ sagt Anton leise.

Aber Lothar steckt das Fingerchen in den Mund und antwortet nicht. Nachdenklich trägt Anton seine leichte Last weiter: ob sich solch Kind wirklich schon sehnen kann? Ob es nicht etwas entbehrt, das ihm nie ersetzt werden wird, und bestände die ganze Liebe dieser Mutter auch nur aus einer gelegentlichen Liebkosung? Kann es nicht später einmal fragen: warum vertrugt ihr euch nicht miteinander – um meinetwillen? Er fühlt, wie ihm die Schweißtropfen auf der Stirn perlen, er keucht fast. Warum kam sie nicht? Er hat’s ihr ja freigestellt? – –

Ach ja, gebeten will sie sein! Nein, nimmermehr! Nimmermehr! Der Großmütige, der Klügere sollte nachgeben, hat die Stiftsdame am Weihnachtsabend traurig zu ihm gesprochen, aber es ist ihm nur so an den Ohren vorüber geweht, er hat kaum darüber nachgedacht. Nein, nein, nie! Und was sollte überhaupt aus dem Zusammenleben werden? Eine nicht auszudenkende Qual! Er fühlt, er würde schlecht, würde charakterlos werden. Nein, da müßte das Schicksal eine sonderbare Auskunft ersinnen, wenn er es ertragen sollte, sie neben sich zu haben. O nie, nie! Jeder Nerv sträubt sich dagegen.

Und als ob ihm das Kerlchen mit einem Male zu schwer werde, wendet er um, den alten mutlosen Ausdruck im Gesicht, und trägt es zurück. Merkwürdig, wie matt er sich fühlt und wie ihm das Blut pocht in den Schläfen!

„Du mußt ein wenig gehen, Liebling,“ sagt er und bückt sich, um das Kind auf die Erde zu setzen, und dabei fühlt er einen stechenden Schmerz im Kopfe. Langsam nähert er sich der Stelle, wo er vorhin den Kleinen in Empfang genommen hat; er späht hinüber, aber die alte Kinderfrau und ihre zierliche Equipage ist nicht mehr zu sehen. Er muß den Weg um den ganzen Park und den Gemüsegarten machen, damit er das Kind wieder abliefern kann. Seufzend geht er weiter, der Kopf schmerzt ihm geradezu unerträglich. Er nimmt es, wie ungeduldig, wieder auf den Arm und fühlt auch gleich wieder den sonderbar forschenden Blick des Kleinen, den erstaunten, nachdenklichen Blick, wie ihn nur dreijährige Augen haben können.

„Lieber, lieber Papa,“ sagt der kleine Bursche zärtlich, legt das Köpfchen auf seine Schulter und schließt die Augen. Als Anton ein paar Minuten später den Hof betritt, kommt ihm die Altwitzer Equipage leer entgegen.

„Wer ist gekommen?“ fragt er den Diener.

„Die Frau Gräfin und die gnädige Frau,“ antwortet dieser, den Hut über den Scheitel haltend.

Anton wundert sich – wer mag die „gnädige Frau“ sein? Vermutlich ein Besuch, den die Gräfin den alten Schwestern vorstellen will. Auch die passendste Zeit dazu! Na, es ist ja nun doch so allmählich schon ins Publikum gedrungen, wie es um ihn steht. – – Gottlob, daß er daheim ist, er hat nicht geglaubt, daß solch Kind so schwer sei, und die Legende des heiligen Christophorus fällt ihm ein, der das Jesuskindlein durch ein Wildwasser trug und fast erlegen wäre unter seiner Last, denn er trug das ganze ungeheure Leid der Welt.

Im Flur stehen die beiden Küchenmägde und der Kutscher, die eifrig halblaut sprechen; sie fahren nach allen Seiten auseinander, als sie ihn erblicken; er achtet kaum darauf.

„Tragen Sie Lothar nach oben,“ befiehlt er der Köchin, „und bringen Sie mir ein Glas frisches Wasser in mein Zimmer, Friedrich!“ Er liegt dann im Sessel und hält sich das Tuch vor die schmerzende Stirn, als der Kutscher, der die Stelle des Dieners jetzt vertritt, zurückkehrt mit dem Begehrten.

„Verzeihen Sie, Herr Mohrmann. Herr Mohrmann wissen wahrscheinlich noch nicht – die gnädige Frau ist vorhin angekommen.“

Anton erhebt sich halb, alles Blut ist ihm zum Herzen geströmt, er sieht jetzt leichenblaß aus.

„Meine Frau?“ fragt er.

„Jawohl! Die Frau Gräfin v. Altwitz sind mitgekommen.“

„Es ist gut,“ murmelt Anton. Der Kutscher geht, nachdem er noch bemerkt hat, die gnädige Frau sei bei den Fräulein Tanten oben.

In Antons Zimmer sind die Läden geschlossen der grellen Märzsonne wegen. Er sitzt mit zusammengepreßten Lippen und geschlossenen Augen da. Was soll das? Was will sie? Er kann sie nicht sehen, es überläuft ihn kalt wie im Fieber. Er steht endlich auf und greift nach dem Hute; nur fort aus dem Hause, den nächsten Stunden entfliehen! Es dünkt ihm unmöglich, sein Wort zu halten, das ihr, falls sie zurückkehrt, das Recht gewährt, in seinem Hause zu leben. „Gut, mag sie bleiben, aber dann gehe ich – auf das Vorwerk oder irgendwo hin – nur nicht lügen und Komödie spielen einen Tag wie alle Tage!“

Die Klinke, nach der er die Hand schon ausgestreckt hat, bewegt sich, die Thür öffnet sich langsam und über die Schwelle kommt die liebenswürdige Gräfin Altwitz. Sie ist noch im Reisemantel und das einfache englische Kapothütchen sitzt ein klein wenig schief auf dem weißen schlichten Scheitel; das feine alte Gesicht ist ängstlich bewegt.

„Mein lieber Herr Mohrmann,“ sagt sie und streckt ihm beide Hände entgegen, die er an seine Lippen zieht, indem sie seine Hände noch immer hält mit festem Druck, „Sie wissen, wen ich mitgebracht habe?“

„Meine Frau,“ erwidert er und sieht an ihr vorüber.

„Eine andere Edith,“ fährt sie fort, und als er eine Bewegung macht, ihr seine Hände zu entziehen, „eine andere, lieber Mohrmann, eine recht kanke, schwerkranke Edith, die ich im Hospitale zu Genua fand und unter unsäglichen Mühen hierher transportierte.“

„Frau Gräfin!“

Sie läßt seine Hände los und wischt sich eine Thräne ab, die ihr langsam auf der Wange herabgerollt ist. „Erlauben Sie, Herr Mohrmann, daß ich mich setze,“ bittet sie, „den alten Füßen wird das Stehen schwer, und bitte, setzen auch Sie sich, ich möchte in aller Kürze doch noch sagen, wie ich sie fand. Altwitz und ich kamen von Sicilien zurück, ich war meines Bronchialkatarrhs wegen in Catania gewesen,“ beginnt sie, sich in den Lehnstuhl setzend. „In Genua bereitete mein Mann mir die Ueberraschung, einen ganz sonderbaren Zustand zu bekommen, eine plötzliche Herzgeschichte, die ihn wie leblos umsinken ließ und mir einen furchtbaren Schrecken einjagte, wie Sie denken können. Ich klingele natürlich Sturm, rufe nach Hilfe, nach einem Doktor, und da wird mir gesagt, daß gerade ein berühmter Arzt von dem Ospedale di Pammatone hier sei, um eine schwer erkrankte deutsche Dame, die übrigens schon seit Wochen hier liege, in das Krankenhaus überführen zu helfen. Natürlich wurde er – wir wohnten auf dem nämlichen Korridor – herübergerufen. Er leistete Altwitz, der sich auch bald völlig erholte, die nötige kleine Hilfe, schob den Anfall auf die große Hitze und den Chianti und empfahl Ruhe und Diät, versprach auch, andern Tages wiederzukommen.

Er kam dann auch, und da dieser vielleicht an sich unbedeutende Anfall meinen Mann sehr beunruhigte, kam der Arzt noch [351] öfter, wir plauderten mit ihm, und eines Tages fragte ich nach dem Namen der erkrankten Dame und wie es ihr ergehe. Sie können sich denken, wie wir beide erschüttert waren, als wir den Namen ‚Mohrmam‘ hörten. Ich erkundigte mich dann, was ihr fehle, ob ich sie sehen könne, und fuhr mit einer Karte des Arztes sofort hinaus nach dem Krankenhause.“

Sie schweigt plötzlich; wieder ein paar Thränen, die getrocknet werden müssen.

„Wie das so schnell gekommen ist, wie es überhaupt kam, das lassen Sie sich in einer guten Stunde wohl von ihr selbst berichten, wenngleich sie so wenig als möglich sprechen soll. Hier“ – sie reicht Anton einen Brief – „dies gab mir der Arzt für Sie; was sonst zu thun ist, wird Ihnen Ihr Hausarzt sagen und Ihr Herz.“

Und als Anton noch immer wie abwesend den Brief hält, fügt die alte Dame hinzu: „Die Josepha und Tonette haben sich nicht zu Ihnen getraut, ich nahm ihnen diesen Weg ab, lieber Mohrmann, sie sind vor Schmerz um das junge Weib und vor lauter Ueberraschung fassungslos. – Es gehört ein ruhiger, gefaßter Mann dazwischen; ich weiß, Sie sind es. Und nun haben Sie die Güte und inkommodieren Sie sich gar nicht, ich finde schon jemand, der den Wagen heranwinkt, er fährt ein wenig in der Allee auf und ab; vorher will ich aber noch einmal hinaufgehen.“

Im nächsten Augenblick ist Anton allein, mit dem Brief in der Hand. Ueber sich hört er ein heftiges Laufen, ein Möbelrücken; Ediths Zimmer werden so rasch es geht in stand gesetzt.

Sie ist wieder da, krank, schwerkrank, sie hat hilflos, allein in einem fremden Lande gelegen. Kam sie freiwillig, oder war sie schon so willenlos und elend, daß man sie herschleppen mußte? Diese Fragen und das Gefühl, das ihm die wehe Enttäuschung gebracht, die Abneigung, die sich bis zum Ekel gesteigert hat, sind furchtbar stark über ihn gekommen; mit Mühe zwingt er sich, den Brief zu lesen:

 „Geehrter Herr!
Ihre Gattin leidet seit längerer Zeit an chronischer katarrhalischer Lungenentzündung, die jetzt plötzlich akut geworden ist, d. h. an galoppierender Schwindsucht. Der Zustand läßt leider das Schlimmste in nicht zu langer Frist befürchten. Da sich eine gute Gelegenheit bietet, die Heimat wieder zu erreichen, haben Gräfin Altwitz und ich die Kranke überredet, heimzukehren, aus Gründen, die Ihnen mitzuteilen Ihre Frau Gemahlin allein berufen ist. Jedenfalls galt es, sie hier aufregenden Einflüssen zu entziehen.

Hochachtungsvoll ergebenst 
Dr. Z.“ 

Es dauert noch eine ganze Weile, bevor er sich entschließt, hinaufzugehen; zuerst sucht er Josepha auf. Die Stiftsdame scheint um zehn Jahre gealtert, als sie ihm in Ediths Wohnzimmer entgegentritt. Die Kranke war bereits zur Ruhe gebracht.

„Haben Sie Mitleid mit ihr,“ bittet das alte Fräulein mit bebender Stimme, „um der Kinder willen seien Sie freundlich zu ihr!“

„Sagen Sie mir doch um Gottes willen, was geschehen ist!“ fragt er gefoltert.

Aber das zitternde alte Geschöpf bricht in Thränen aus. „Wir hätten sie nicht allein lassen dürfen,“ stößt sie hervor, „Tonette oder ich hätten sie suchen müssen, auch gegen ihren Willen uns an sie hängen müssen – – “

Er steht blaß, mit gerunzelter Stirn. Was soll er zu hören bekommen? Es giebt Dinge, die er nicht verzeihen darf. „Sprechen Sie, ich bitte Sie!“

„Sie hat gespielt in Monte Carlo – mit – Unglück. Eine russische Dame und ihr Sohn, denen sie sich angeschlossen hatte, scheinen ihr Geld geliehen zu haben, soviel ich bisher ermitteln konnte, zu Wucherzinsen. An Sie hat sie sich natürlich nicht wenden mögen. – Man hat wohl gedroht – ich weiß nicht – sie ist heimlich abgereist – ich glaube, die Russin hat sie als Betrügerin – es ist so entsetzlich – an ihrem Krankenbette war eine gerichtliche Vernehmung – Altwitz hat, so scheint es mir, die Sache geordnet.“

„Und nun?“ fragt er ganz ruhig.

„Sie ist schwerkrank. Schonen Sie sie, wenn Sie können, beruhigen Sie sie wegen der Affaire; sie hat hohes Fieber und glaubt sich verfolgt.“

Anton zögert noch ein Weilchen, dann tritt er in das Zimmer seiner Frau. In aller Eile hat man das Bett hergerichtet so gut es ging, über den rosaseidenen Vorhängen fehlen noch die Spitzen, es trägt alles noch den Hauch der langen Abwesenheit der Bewohnerin. Im Ofen flackert ein Feuer und kämpft siegreich mit der dumpfen Luft, ein Fenster steht offen und läßt die letzten Strahlen der Sonne ein. Tonette ordnet mit vom Weinen geschwollenem Gesicht die eben abgelegten Kleidungsstücke der jungen Frau; als sie Anton erblickt, geht sie hinaus.

Im nächsten Augenblick zittert ein heiserer schwacher Laut durch das Zimmer, und nebenan weinen die beiden alten Schwestern bitterlich. Es wird nicht viel gesprochen zwischen Mann und Frau, ihre arme Brust verbietet es, das Fieber schüttelt sie, und er kann vor Bewegung nichts sagen, als er sie sieht, kein Wort. Nur ihre Augen sprechen, flehend angstvoll: „Hilf mir – rette mich!“

„Werde nur ruhig,“ bittet er endlich, „ich spreche mit Altwitz und bringe die Sache in Ordnung; werde nur ruhig!“

Etwas wie Erlösung fliegt über das abgemagerte schöne Gesichtchen, sie greift mit beiden Händen nach seiner Rechten und streichelt sie. Unwillkürlich zuckt er zusammen, und sie lächelt bitter und zieht ihre Hände zurück. Da faßt er nach ihrer Rechten und sagt noch einmal mitleidig und gut: „Werde ruhig, Edith, ich thue, was ich thun kann, schon der Kinder wegen. Um ihretwillen mußt du gesund werden.“

Sie nickt: „Ja, ja, ja!“

„Ich lasse den Arzt kommen, heute noch.“

Wieder nickt sie, und mit aller Anstrengung flüstert sie, schon wieder beherrscht von fieberhafter Angst, „aber niemand weiter, niemand; sie wollen mich ja holen, sie geben mir Gift –“

„Du bist sicher bei uns, Edith, ruhe dich aus, schlafe, ich lasse niemand ein,“ tröstet er.

„Ja, ja – aber die Alte – der Graf soll sie nicht – bitte, bitte!“

„Ich rufe die Tante, sie setzt sich an dein Bett. Schlafe, schlafe nur.“

Da er gehen will, richtet sie sich empor, und mit den übernatürlich glänzenden Augen ihn anschauend, fragt sie flüsternd: „Bist du die Wendeltreppe herauf gekommen? Gehe nicht auf dieser Treppe – sie ist schuld. Wär’ die Treppe nicht gewesen – – die Treppe muß fort – versprich mir – wenn sie fort ist, dann ist alles wieder gut!“

„Ja,“ sagt er erschüttert und betroffen, „ja, ich gehe nicht dort, siehst du, hier gehe ich.“ Er tritt auf die Thür zu, die nach dem Flur mündet.

„Ja, ja!“ nickt sie, „die Treppe –“ Und dann sieht er nur noch, wie sie sich schwer zurückfallen läßt.

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 12, S. 368–375

[368] Anton kommt von Altwitz zurück, sehr bleich und still. Der Graf hat ihm mit aller möglichen Schonung eine Geschichte erzählt, wie sie in Monte Carlo wohl häufig vorkommen mag, die aber diejenigen, die daran beteiligt sind, bis zur Verzweiflung treiben kann. Soviel der Graf weiß, ist Frau Mohrmann, von Aegypten kommend, anfänglich in Gesellschaft eines mecklenburgischen Ehepaares gewesen und hat sich mit diesem an den Karnevalsfreuden in Nizza beteiligt in durchaus tadelloser Weise. Sie hatte im „Hotel d’Angleterre“ gewohnt mit ihrer Jungfer, und alle Welt hat – das weiß der Graf mit Bestimmtheit – es ganz natürlich gefunden, daß sie in Mentone Winteraufenthalt nahm, weil sie zeitweise von einer leichten Heiserkeit befallen wurde, die sie scherzhaft eine ägyptische Errungenschaft zu nennen pflegte, die aber jedenfalls älteren Datums ist. In diesem Hotel sei sie nach der Abreise von Herrn und Frau Mardeveld mit einer Madame Alexajewna Alabotschew und deren Sohn bekannt geworden; Madame habe über die tadellosesten Manieren und die prachtvollsten Brillanten verfügt, und Sergei Alabotschew sei ein stets liebenswürdiger und ehrerbietiger Kavalier gewesen. Die russischen Herrschaften schienen an ein splendides Leben gewöhnt zu sein und Frau Mohrmann habe mit ihnen auch in dieser Hinsicht gut harmoniert. Sie sei zwar reichlich mit Kasse versehen gewesen, sei einmal aber doch in Verlegenheit gekommen, als sie lebhaft wünschte, eine kleine Brillantnadel zu kaufen, die sie bei Gelegenheit einer Promenade in einem Schaufenster erblickte. Sergei Alabotschew, der bemerkte, wie Frau Mohrmann nach ihrer Börse suchte, habe ihr ebenso dringend wie liebenswürdig die seinige zur Verfügung gestellt, was nach einigen üblichen Phrasen auch angenommen wurde, und schließlich habe Sergei den scherzhaften Vorschlag gemacht, Frau Mohrmann solle versuchen, dieses geborgte Geld an der Bank wieder zu gewinnen, und sie habe zu diesem Zweck ein paar weitere Goldstücke von ihm entliehen. Frau Mohrmann, die schon des öfteren unter Mardevelds Leitung sehr vorsichtig spielte, habe eingewilligt, und man sei augenblicklich nach Monte Carlo gefahren.

„Sehen Sie, Mohrmann, wie’s so geht,“ hat der Graf weiter gesprochen, „wen der Teufel am Kragen kriegt, den hält er fest. Sie gewann, gewann sogar in den nächsten Tagen viel, um dann noch mehr zu verlieren. Na, man kennt das ja! Sie holte sich alles Geld, welches auf ihren Kreditbrief zu erheben war, verlor auch dies und saß dort mit der Aussicht, vor April kein Geld wieder zu bekommen, oder vielmehr, sie genierte sich, Ihnen mitzuteilen, wie es stand. Madame Alabotschew lachte sie aus, drängte ihr Geld auf, Frau Edith giebt natürlich einen Schuldschein, das heißt, sie unterschreibt Lebens- und Sterbenswegen irgend etwas, das näher zu prüfen ihr die Rücksicht auf die elegante Darleiherin verbietet. Sie bekommt nochmals ein Darlehen und unterschreibt wieder. Madame scherzt ihre Bedenken hinweg, unter Leuten aus der Gesellschaft sei das eben nichts als eine Form, und Frau Edith lacht auch. Eines Morgens aber kommt Madame sehr verlegen zu ihr und bittet sie mit tausend Entschuldigungen um das Geld, sie müsse plötzlich abreisen. Natürlich ist Frau Edith außer sich. Madame verlangt, sie solle telegraphieren an monsieur son mari. Frau Mohrmann erklärt, sie könne es nicht aus verschiedenen Gründen. Madame wird eisig und sagt, sie werde ihren Sohn schicken. Herr Sergei Alabotschew erscheint, ist anfangs sehr höflich, wird dann dringend und macht ihr schließlich – arme kleine Person – einen Vorschlag, den sie mit einer Ohrfeige beantwortet; er droht mit der Polizei und nun – Verderben gehe deinen Gang!

Frau Edith flüchtet mit Zurücklassung ihrer Kammerjungfer, ihrer Sachen, natürlich ungenügend gegen die eisige Tramontana geschützt, die sie bei dem atemlosen Lauf nach dem Bahnhofe [369] überfällt; kommt todkrank in Genua an, kann andern Tages nicht mehr das Bett verlassen und wird schließlich von Madame Alabotschew und Sohn vermittelst der Polizei aufgefunden. Zum Glück ist sie bewußtlos, zum Glück sind wir zufällig dort und gebrauchen zufällig denselben Arzt, den das Hotel requiriert hatte für die Kranke. Sie wissen das ja von meiner Frau. Ich konnte sie einer Besprechung mit der Behörde nicht entziehen, als sie zur Besinnung gekommen war. Das andere glaube ich in Ihrem Sinne – zu Ende geführt zu haben. Zu machen war nichts, das gemeine Volk war in seinem Rechte.“

„Wieviel, Herr Graf?“ hat Anton gefragt, nachdem er einen Dank gestammelt.

„Lieber Mohrmann –“ – der Graf ist ganz verlegen – „ich weiß, die Zeiten sind schlecht, für keinen schlechter als für Sie, der Sie ja den größten Wasserschaden von uns allen hatten. Sie wissen – ich – wenn’s Sie irgendwie geniert – ich brauch’s nicht so notwendig. – – Es ist immerhin – die kleine thörichte Frau – – aber so geht’s, die Sünden der Väter – – der alte Lothar Wartau war ja die tollste Spielratte, die Gottes Erdboden je getragen, und wenn so ein Geschöpfchen allein auf der Reise – – Ich bitte Sie, verzeihen Sie, ich kenne die Gründe nicht – ein Erziehungsinstitut wäre jedenfalls geeigneter gewesen – wie gesagt, lieber Mohrmann – ich –“

„Wieviel, Herr Graf?“ hat er noch einmal gefragt.

„Eh! bitte, erschrecken Sie nicht – fünfzigtausend Franken – ich bin überzeugt, sie hat kaum die Hälfte – –“

„Fünfzigtausend Franken!“

Anton hat kurz aufgelacht. „Ich danke Ihnen, Herr Graf, die Summe wird Ihnen übermorgen zur Verfügung stehen. Was Sie sonst noch gethan haben, das zu vergelten bin ich vorläufig nicht imstande, werde es Ihnen aber nie, nie vergessen, Ihnen und der hochverehrten Frau Gräfin nicht.“ Dann ist er wieder aufs Pferd gestiegen und heimgeritten. Fünfzigtausend Franken! Es geht rasch bergab – fünfzigtausend Franken! Weiter kann er nichts mehr denken. Und wieder packt ihn der Ekel, der Ekel vor seinem ganzen Leben, vor der leichtsinnigen, sterbenden Frau, vor sich selbst und vor seiner ganzen Umgebung.

Und daheim tritt ihm der Arzt entgegen, der alte wackere Freund von damals, nicht Ediths feiner Sanitätsrat, den sie sich sonst dreimal die Woche aus Leipzig kommen ließ, wenn ihr ein Fingerchen wehthat. Es hätte zu lange gedauert, bevor er eintreffen konnte, und Fräulein Tonette hat zufällig den Landarzt drüben bei Heines vorfahren sehen, wo ein Mädchen krank liegt. Und dieser sonst so polternde, derbe Mann bringt heute kein Wort heraus, als er dem Hausherrn die Rechte schüttelt.

„Na,“ sagt er zwischen vielem Räuspern, „wird ja wieder werden, aber Ruhe, Ruhe, viel Ruhe vorerst, später wollen wir sehen – vielleicht viel Nervöses dabei. Uebrigens, die Mutter hatte es auch, darum die Heulerei der alten Damen. Komme morgen früh wieder; gute Nacht, Mohrmann.“

Er kann nicht weiter sprechen und klopft nur dem großen Manne wie beruhigend auf die Schulter. „Sehen auch schlecht aus – nehmen Sie ein Phenacetinpulver, wenn Sie Kopfweh haben, und – wachen Sie nicht etwa bei ihr, es thut ihr und Ihnen nicht gut. Guten Abend noch einmal!“

Und drüben bei Frau Heine setzt sich der Arzt schwer in den Lehnftuhl des Hausherrn, die Hände auf den Stock gestützt, den er zwischen den Knieen hält. Die kleine Frau ist furchtbar aufgeregt und bestürmt den alten Herrn mit Fragen.

„Ist’s wahr, daß sie zurückgekommen ist? Herrgott, sie wollte sich, denke ich, nun endlich scheiden lassen? Wenigstens hofften wir es immer, damit nur Ruhe würde drüben. Nein, ist’s denn nur wirklich wahr, Herr Doktor – und krank dazu?“

Er nickt. „Unser Herrgott findet allemal einen Ausweg,“ sagt er vor sich hin.

„Was meinen Sie?“ erkundigt sich Frau Heine.

Und der alte Mann trinkt den Korn aus, den ihm die junge Frau gebracht hat, schüttelt sich gebührendermaßen dabei und steht auf. „Da braucht’s kein irdisches Gericht mehr, Frau Heine. Ist mein Wägelchen vorgefahren? Na, dann gute Nacht, und grüßen Sie Ihren Mann.“


Anton sitzt die halbe Nacht auf mit seinem Inspektor, und in aller Morgenfrühe rüstet sich dieser schon zu einer Reise und schimpft dabei immer halblaut vor sich hin.

„Natürlich ist’s wahr, daß alles Elend durch die Weiber in die Welt kommt! Herrgott, und so was, so was – wie dies wohl endet? Und drei Kinder dazu!“

Als sein neugieriges Frauchen ihn bittet, ihr doch um Gottes willen zu verraten, was denn außer der Krankheit noch geschehen sei, faßt er sie am Ohrläppchen und sagt: „Uebers Jahr sitzen wir wo anders – verstehst du? Uebers Jahr, da sind wir so weit.“

„Versteh dich nicht!“ antwortet sie mit ängstlichen Augen.

„Lieschen,“ spricht er, ihr Ohrläppchen frei gebend und den Arm um sie schlingend, „es ist auch nicht nötig, daß du es verstehst, wirst schon früh genug dahinter kommen. Aber das sage ich dir, der Mohrmann kann einen jammern bis in die Seele ’rein; was zu viel ist, ist zu viel! Und nun leb’ wohl, bist ein gutes Tierchen. Der barmherzige Gott bewahre meinen ärgsten Feind vor einem leichtsinnigen Weibe!“

Mit dieser orakelhaften Auslassung nimmt er seufzend Abschied und seine Frau blickt ihm kopfschüttelnd nach. Natürlich ist irgendwo irgendwas passiert mit der Gnädigen drüben – unterwegs; er hätt’s ihr doch sagen können? Nun sitzt sie da und vergeht vor Neugier.

Im Schlosse ist, sozusagen, das unterste zu oberst gekehrt. Tante Tonette und so viel andere Hände, wie aufzutreiben waren, wirtschaften einher, um der Kranken Erleichterung zu schaffen. Man hat den riesigen Saal geheizt und die halbe Orangerie aus dem Gewächshaus hinausgeschafft; die Aermste hat solch schrecklichen Lufthunger. Sie ruht halb sitzend im Bette, und ihre Hände zerren das spitzenbesetzte Nachtjäckchen von der armen kranken Brust, als drücke es dieselbe. Sie hat eine Angst vor dem Sterben, nicht zu sagen.

Die Poldi ist heute früh eingetroffen mit sämtlichen Sachen, die Edith unterwegs eingekauft hat, mit drei oder vier häuserhohen [370] Koffern, die Ediths Garderobe enthalten, und mit der quittierten Hotelrechnung, die Graf Altwitz noch bezahlt hat. Poldi ist auch auf seine Kosten hergereist. Tonette nimmt die Rechnung in Empfang und legt sie auf Mohrmanns Schreibtisch; auch dieses Geld muß bald zurückerstattet werden. Noch einen Blick auf die Schlußsumme wirft Tante Tonette, ehe sie Antons Zimmer verläßt – die Höhe des Betrags treibt ihr das Blut in die Wangen und sie sagt droben zu Poldi: „Das muß ja ein grauenhaft teures Hotel gewesen sein, das sind ja Unsummen!“

„Euer Gnaden, dös ist halt, weil gnä Frau alleweil die Leuteln zun Ess’n eing’lad’n hat.“

„Wär’ ich nur bei ihr geblieben!“ seufzt Tonette.

„Ach, an Gesellschaft hat’s nit gefehlt,“ meint die lustige Österreicherin, „die gnä Frau hat gar viel Bewunderer gehabt. Das arme Tschapperl, der Offizier von Berlin, hat absolut wollen, sie sollt’ sich wegen seiner scheiden lassen.“

Tante Tonette hört ganz erstarrt zu.

„Und nun so krank“ – fährt Poldi fort. „Du mei – so auf amal, wie ’ra Blitz is’s gekomme! Und ich mein’, zuerst hab’ i’s gemerkt, wie der Herr Hauptmann von Röben so plötzlich abg’reist ist. I glaub’ –“

Tante Tonette richtet sich hoch auf. „Sie haben gar nichts zu glauben, meine Liebe,“ sagt sie, „und ich bitte mir aus, daß Sie hier im Hause möglichst wenig von dem erzählen, was Sie ‚glauben‘, sonst ist’s besser – Sie gehen.“

„O mei! Euer Gnaden! I bitt’ schön, i red’ kan anzig’s Wörtel!“ stammelt das hübsche Mädchen, und als die alte Dame den Rücken gewendet hat, da murmelt sie: „Und wahr i’s doch, daß meine Dame bis über die Ohren verliebt war in den blonden Herrn. Du mei! I thu ihm’s nit verdenken, wann er endlich an Zorn kriegt, wann er merkt, daß sie ihn an der Nasen spazieren g’führt hat und gar nit g’dacht hat ans Ernst machen. – Was die thät mit so an armen Schlucker, sie, die selber so a Schloß hat. O du mein! Wär’ sie nur gesund, hier könnt’ mir’s schon gefallen.“

„Daß nur Anton nichts erfährt von dieser Geschichte,“ denkt Tonette und ahnt nicht, daß ihn dies kaum noch berühren würde.

Er geht ruhelos auf den Feldern umher, er kommt am liebsten gar nicht mehr ins Schloß während der nun folgenden Zeit. Tonette zerrt ihn täglich einmal nach dem Krankenzimmer; aus eigenem Antrieb es zu betreten, fällt ihm nicht ein. Wie hat er sonst so gern an ihrem Bette gesessen, ein liebevoller geduldiger Pfleger – damals, als die Kinder geboren waren! Jetzt kommt ihm alles unheilig, entweiht vor. Er hat wohl Mitleid mit ihr, aber er ist so weit entfernt von dem, was sein Herz bewegen sollte in dem Kranken– – wahrscheinlich in dem Sterbezimmer seiner Frau. Er erfüllt jeden ihrer Wünsche, selbst die weitestgehenden, wunderlichsten. Als sie aber mit ihrer verlöschenden Stimme fragt: „Du hast mir noch nicht verziehen?“ vermag er kaum zu antworten. Es ist ihm, als müsse er ersticken in dem riesigen Saal, in dem die verschiedensten Ruhelager für sie hergerichtet sind. Hier eines unter Palmen, dort nahe dem Kamin ein anderes, von einer spanischen Wand umgeben; am Fenster eine Chaiselongue und an der Wand das spitzenduftige Bett. Was zu beschaffen ist an erlaubten Leckereien wird ihr gebracht, Austern, Früchte, seltene kräftigende Weine. Und Poldi hat ihre schöne Herrin in duftiges spitzenbesetztes Weiß gehüllt, und die Augen haben noch nie so geglänzt, nie ist der Teint so weiß, so durchsichtig gewesen.

Sie schläft viel am Tage, nur die Nächte sind schlimm, wo der Husten sie peinigt, und dann redet sie irre und verlangt nach Anton, aber Tonette ruft ihn nicht.

Warum soll er hören, was sie spricht? Er darf es nicht hören.

Draußen ist der April gekommen und die Apfelbäume blühen wie seit Jahren nicht. Die Stimme Lothars schallt herauf aus dem Garten bis in Ediths Krankensaal, wo die ersten Veilchen duften. Sie hat sich während der letzten Tage sehr verändert, das Gesicht ist spitz geworden, die Augen sind unnatürlich groß. Sie hat nur noch einen Wunsch, sie will reisen. Tante Tonette verspricht es ihr: „Sowie du ein wenig kräftiger bist, Edith.“

„Hier erhole ich mich nicht, Tante.“ – Sie hat keine Ahnung, daß sie bald sterben muß: sie ist voller Hoffnung, voll brennender Sehnsucht nach dem Leben draußen. In Soden wird sie den dummen Husten sicher bald los, meint sie, nur von Wartau fort, von hier fort!

„Ja,“ sagt Tonette, „sobald es irgend geht.“

„Die Poldi kann immerhin schreiben an Worth.“ Seit sie Pariser Toiletten getragen, mag Edith keine andern mehr. „Dieses oder jenes Kleid ist für Soden noch modern genug, man ist in Paris gut um zwei Jahre Deutschland voraus.“

„Poldi wird schreiben, heute noch.“

„Anton soll kommen,“ fordert die Kranke dann.

Tante Tonette klopft unten an seine Thür; als sie eintritt, findet sie ihn im Gespräch mit einem Herrn, der ihr als Direktor Buchenberg vorgestellt wird. Anton bittet diesen um Entschuldigung und geht mit Tonette hinauf nach dem Krankenzimmer.

„Du mußt verzeihen, Edith,“ sagt er ein wenig aufgeregt, „lange Zeit habe ich nicht – Buchenberg ist unten; in zwei Stunden reist er wieder ab; es betrifft wichtige geschäftliche Sachen. Was wünschest du? Kann ich irgend etwas – –“

Sie hat nach seiner Hand gegriffen, es liegt ein Ausdruck trostloser Angst in ihren Augen. „Fort! Ich will fort – ich ersticke hier!“ flüstert sie.

Er sieht nieder auf das, was von der einst so reizenden, so heiß begehrten Frau noch geblieben ist, auf das abgezehrte mit dem gewaltigen Leiden ringende Geschöpf und setzt sich, von einer plötzlichen Ahnung erfaßt, auf den Rand ihres Bettes. „Sobald es geht, Edith.“

„Bringe mich hin – nach Soden –,“ stößt sie hervor, „morgen, bitte, morgen!“

„Ja, wenn du es wünschest.“

Es ist, als ob sie ruhiger wird. „Du bist sehr gut,“ sagt sie leise, kaum vernehmbar, indem der Kopf zurückfällt. Ein paarmal ringt sie heftig nach Atem; er stützt sie, hält sie in den Armen, und während dieser bangen Minuten sinkt ihr Kopf gegen seine Brust wie der eines müden Kindes. Ein unverständlicher Laut kommt noch einmal und nun ist es still, ganz still. Durchs Fenster fliegt ein kleiner Vogel, kreist ein paarmal unter dem Deckengemälde und sucht dann wieder das Freie, wie erschreckt vor der unheimlichen Nähe des Todes.

Aus dem Garten drunten jubelt noch immer Lothars Stimme und Blütenduft umschmeichelt das wachsbleiche schöne Gesicht, das der große Mann mit dem leicht ergrauten Haar eben vorsichtig wieder in die Kissen zurückgelegt hat. Nun steht er vor der Toten mit schlaff herunterhängenden Armen und starrt sie an. Ein tiefer Seufzer hebt seine Brust, sein Auge bleibt trocken.

Wie Tante Tonette ahnungslos ins Zimmer tritt, kann er nur eine Handbewegung nach der Entschlafenen machen, zu sprechen vermag er nicht, und als sie lautweinend vor dem Bett niederstürzt, geht er hinaus, die Treppe hinunter, in den Garten, nimmt seinen Jungen auf den Arm und trägt ihn in die Laube, in die sprossende Buchenlaube am Ende des Parkes. Er hat nur stumme heiße Liebkosungen für das Kind, als wolle er ihm irgend etwas abbitten. Der Kleine sieht ihn erschreckt an und fängt an zu weinen; Anton nimmt ihn wieder empor und geht ins Schloß, in sein Zimmer, wo Direktor Buchenberg in größter Unruhe sitzt und auf ihn wartet.

„Seine Mutter ist eben gestorben,“ sagt Anton, den dunklen Lockenkopf des Jungen an sich pressend, „verzeih’ nur, Buchenberg, wenn ich nicht –“

„Aber, ich bitte dich, alter lieber Kerl, Herrgott, ich hatte ja keine Ahnung,“ stammelt fassungslos der Freund.

Anton hat ihm die Hand überlassen, nun entzieht er sie ihm und wehrt stumm und hastig ab, daß der andere betroffen schweigt. Erst als Anton ein paarmal, noch immer das Kind auf dem Arm, im Zimmer auf und ab gegangen ist, bleibt er wieder vor dem Direktor stehen.

„Siehst du, Buchenberg,“ beginnt er.

Doch der unterbricht ihn, noch immer ganz außer sich: „Und daß ich dir gerade heute solch unangenehme Nachricht ins Haus tragen muß, Anton – Herrgott, ich hatte ja keine Ahnung! Ich drücke mich natürlich sofort, ich denke, es wird sich schon noch ein paar Tage hinhalten lassen mit Sybel – wenn du wieder ruhiger bist, schreibe es mir nur, ich komme wieder, Anton.“ Und dabei schüttelt er immer und immer wieder die freie Hand des Freundes.

[371] „Ich bin ganz ruhig, Buchenberg, setze dich doch,“ erwidert Anton, „es ist ja auch nicht viel mehr zu reden, gar nicht viel – wenn’s wahr ist, was du sagst, dann ist’s ja soweit, dann geht’s bergab mit der Sache. Sybel hat recht, wenn er sich rückwärts konzentriert; ich möcht’s auch thun, wenn ich nur könnte, wenn ich nicht so tief drin säße. Ich muß es nun abwarten oder in Sybels Stelle einrücken, das heißt, ihm seine Rechte und die Prioritäten abkaufen. Und das kann ich nicht, kann ich nicht, selbst wenn ich wollte. Ich wüßte auch keine Seele mehr, die mir das Geld dazu borgt, noch dazu angesichts des Konkurrenzunternehmens, das ja riesenhaft wird. In Gottesnamen mag Sybel die Prioritäten verkaufen an wen er will, ich kann’s nicht aufhalten, ich nicht mehr!“

Direktor Buchenberg greift nach seinem Hut. „Na, dann leb’ wohl, Anton, ich meinte es nur gut.“

„Leb’ wohl! Ich weiß, daß du es gut meinst, aber wie du mich hier siehst, bin ich nichts mehr wie ein Bettler, und ob ich mich je wieder herausreißen werde – ich weiß es nicht. Leb’ wohl, Buchenberg!“

Buchenberg steht noch ein Weilchen und sieht sich den Mann an, der im Sofa sitzt neben seinem Kinde, dessen Lockenköpfchen er mechanisch streichelt. Er will ihm noch ein paar gute Worte sagen, aber es würgt ihm etwas in der Kehle. Unbeschreiblich leid thut ihm der große Mensch dort. Er weiß, daß jedes Wort wahr ist, das Mohrmann gesprochen hat, er sieht es ja auch, die nagenden Sorgen liegen zu deutlich ausgeprägt auf seinem Gesicht, sprechen aus dem rasch ergrauten Haar.

„Adieu, Anton!“ murmelt er noch einmal, dann geht er und trifft vor der Thür auf zwei weinende, in Schwarz gekleidete alte Damen, die beiden Fräulein v. Wartau, die mit Anton sprechen wollen wegen des Begräbnisses und der dazu gehörigen Feierlichkeiten. Anton hat ihren Eintritt beinahe überhört, er hält das Kind wieder auf seinen Knieen und rührt sich nicht, als die Tanten seiner verstorbenen Frau sich ihm nahen.

Wie Tonette von dem Trauergottesdienst anfängt und fragt, ob der Saal schwarz ausgeschlagen werden soll, erhebt er sich und geht zum Geldschrank.

„Hier ist alles, was ich noch habe,“ sagt er bitter und legt fünfhundert Mark hin, „ich wollte die Leute damit lohnen morgen, aber sie müssen warten. Nehmen Sie es und besorgen Sie alles im Sinne der Verstorbenen, Sie wissen wohl, wie sie es gern gehabt hätte.“

Verstört entfernt sich Tonette. Josepha aber kommt zu ihm und legt ihre zitternde Hand auf seine Schulter.

„Steht es so schlimm?“ fragt sie leise.

Er nickt, und mit einem kurzen nervösen Auflachen fügt er hinzu: „Sie starb zur rechten Zeit, Baronesse.“


Wieder einmal Herbst, Spätherbst! Zu Bärenwalde auf dem Rödershof sitzt die Frau in ihrer Stube vor dem Nähtisch und hält Ruhestunde während der Dämmerung. Sie ist heimgekommen von dem Felde vor ein paar Minuten, der Wind hat ihr die Backen rot gefärbt und um sie herum ist ein Hauch von Kälte und Frische, der ihren Kleidern entströmt. Neben ihr im Vogelbauer wiegt sich schläfrig der Kanarienvogel, im Ofen knistert das Feuer; Christel genießt die schönste Stunde ihres Tages.

Sie legt den Kopf an die Polster zurück und sinnt; es ist immer dasselbe. Als ob ein Frauenherz an etwas anderes denken kann als an das, was es einst so ganz ausgefüllt hat, und wäre ihm dies auch entrissen! Sie hat sich allmählich so an dieses „Erinnern“ gewöhnt, daß sie ungeduldig wird, wenn eine Störung kommt, und träten auch diejenigen ein, die ihr die liebsten Menschen sind. Sie denkt eben an Wartau, sie malt sich das Leben Antons aus und tröstet ihn, sie redet ihm zu, der Frau nicht mehr im Groll zu gedenken, sie streichelt die mutterlosen Kinder. Keine Spur von Bitterkeit blieb in Christels Seele, seitdem sie ihn wiedersah, so vergrämt und versorgt. Als sie den Tod Ediths erfuhr, weinte sie bitterlich; er hat sie ja doch sehr geliebt. Sie war ja zuletzt wieder in Wartau, und jedes Mißverständnis wird angesichts des drohenden Todes hinweggelöscht sein zwischen ihnen – er wird sie innig betrauern.

Mit keinem Menschen hat sie über den Todesfall gesprochen.

Schwester Louischen, die den Wendlandt heiratete, ist freilich an dem Tage, da Christel die Traueranzeige in der Zeitung las, mit dem Kinderwagen und dem Würmchen zu ihr gekommen, so um nichts und wieder nichts, und hat allerlei zu reden gehabt, erwartend, daß Christel etwas sage darüber, aber vergebens. Christel that ihre Arbeit wie immer und ihre geröteten Augen – die waren vom Rauch in der Küche; die Aprilsonne hätte gerade so mächtig auf die alte Esse gedrückt, daß der Rauch sich nicht hinauswagte in die blaugoldene Frühlingsluft und lieber in die Küche geflüchtet wäre.

Frau Louischen konnte in der Miene der Schwester kein einziges Zeichen gewahren, das irgend eine Hoffnung verriet. In ihrem Gehirn aber hatte die Todesnachricht gleich eine ganze Reihe von Möglichkeiten erstehen lassen, die ihr keinesweges sehr erfreulich waren. Herrgott – nein – das fehlte gerade noch jetzt, wo die Christel eben wieder zu etwas gekommen ist! Louischen, oder vielmehr ihr Kind, haben freilich nicht nötig, auf eine Erbtante zu rechnen, aber sie sieht auch anderseits gar nicht ein, warum man nicht an allerhand Möglichkeiten denken soll, denn gebrauchen kann der Mensch immer Geld. Jedenfalls hat sie seit dem Tode der Frau Mohrmann Nr. 2 ihre Schwester mit doppelter Aufmerksamkeit beobachtet.

Heute kommt Louischen wieder einmal in Begleitung des Kinderwagens und bricht in den Frieden von Christels schönster Stunde ein mit hochrotem Kopfe und fliegendem Atem. Der leichte Wagen wird rasch über die Stubenschwelle gestoßen und durch die tiefe Dämmerung schallt es geradezu triumphierend:

„N’ Abend! Na, was sagst du denn dazu, Christel? Ich hab’s ja immer behauptet, so muß es kommen!“

Christel ist emporgefahren. „Ums Himmels willen, Louise, was giebt’s denn? Ist was geschehen?“

„Brauchst kein Licht zu machen, ich kann den ganzen Salm auswendig und wenn du noch nichts weißt, werd’ ich’s erzählen. Siehst du, wenn du nur Lust hast, kannst du dir Wartau wieder kaufen. Die Herrlichkeit dort ist zu Ende!“

„Wartau? Mohrmann verkauft Wartau?“ stößt sie hervor. „Das ist nicht wahr!“

„Nun, Robert lügt doch sonst nicht, und der schreibt’s. – Er hat mit Wendlandt wegen des ‚kleinen Anto‘ zu korrespondieren gehabt, der Junge will ja, glaube ich, partout Oekonom werden anstatt zu studieren – wird sich wohl auf die Thronfolge im Rödershof einüben wollen.“

„Robert schreibt’s?“ fragt Christel tonlos, die gehässige Anspielung auf den Neffen überhörend.

„Jawohl, Robert schreibt’s!“ wiederholt Louischen und setzt sich neben den Kinderwagen, den sie unaufhörlich hin- und herschiebt, obgleich das Kind sich völlig ruhig verhält.

„Wie ist das möglich?“ fragt Christel, „was schreibt denn Robert darüber?“

„Na, das soll wohl gar ein Wunder sein? Im Hochmut ein Rittergut kaufen, dann Erben haben wollen dafür, die Frau, die alles mit erarbeitet und erschuftet hat, zum Teufel jagen, um eine Vornehme zu heiraten, die das mühsam Erworbene durchbringt mit Putzen, Reisen und Festegeben, und“ – jetzt lacht sie laut und höhnisch – „nun hat er die Erben, aber nichts mehr ihnen zu hinterlassen! So mußte es kommen, das habe ich ihm immer gegönnt, dem Wichtigthuer, dem Klugschnacker.“

Christel ist zurückgesunken in ihren Stuhl, sie rührt sich nicht; die Hände hat sie krampfhaft ineinander gefaltet, die Augen starren durch das Fenster in die beginnende Dunkelheit hinaus.

„Na ja, ich sagte schon zu Wendlandt vorhin,“ schallt Louischens Stimme wieder, „es rächt sich eben alles. Nun kann er wieder eine Inspektorstelle annehmen, und das wird auch nicht so eins zwei drei gehen; einem verkrachten Gutsbesitzer, dem traut doch keiner, denn wer sein Eigenes nicht verwalten konnte, wie wird der da mit fremdem Gute umgehen? Und dazu die Kinder auf dem Halse, drei Stück! Robert schreibt, es sei ein Jammer, der Mann thue ihm zu leid. – Unsinn! Mir thut er gar nicht leid, nicht im mindesten, er hat’s ja nicht anders gewollt. – Nun ist übermorgen der Termin, und die Heine hat Robert erzählt, sobald verkauft ist, ziehen die beiden alten Fräulein in ihr Stift – wo sollen sie denn auch hin? – und er sucht eine Stelle. Sie habe sich angeboten, vorläufig die Kinder [372] zu verpflegen, bis er ein Unterkommen gefunden hat, aber da kann die lange sitzen mit den Würmern.“

„So schlimm wird’s wohl nicht werden,“ bemerkt Christel jetzt ruhig, „Wartau hat seinen Wert und dann das Flußspatwerk –“

„Hat gefälligst auch Pleite gemacht, so gut wie Pleite!“

„Ist ja unmöglich!“ stößt Christel hervor.

„Lies doch die Zeitung! Die Aktien kriegst du für umsonst, die Engländer, die die neuen Werke bauen, haben sie so gedrückt; werden wohl kaufen jetzt, weiter wollen sie nichts. Die Gesellschaft hat ja doch die Dummheit begangen mit dem Bahnbau, und dabei sind sie alle geworden, da ist nichts mehr zu holen. Und wenn ein Gut sub hasta, oder wie sie das nennen, versteigert wird, na da –“

„Was? Subhastiert?“ schreit Christel entsetzt, „Wartau subhastiert?“

„Lies doch den Brief, da hast du ihn!“ antwortet Frau Wendlandt und wirft ein Papier auf den Tisch, „ich muß ohnehin hinüber, mein Mann kommt von der Stadt zurück. Siehst du, Christel, ich bin gewiß nicht schadenfroh, aber ich sage – –“

Das Rollen des Kinderwagens übertönt ein Aufschluchzen der gequälten Frau dort am Fenster.

„Na, Gute Nacht, Christel! Komme doch auch mal mit vor! Du thust so schrecklich vornehm, Wendlandt sagt es auch – na, schlaf wohl!“

„Gute Nacht,“ sagt Christel, kaum fähig, zu sprechen; ihr ist so wirr und wüst im Kopfe. Wartau subhastiert! Wie ist’s denn möglich, wie ist’s möglich! Sie durchlebt alles noch einmal – den Tag, an dem er kaufte. Wie war er stolz, der Mann, als er ihr verkündete „Wartau ist jetzt mein!“ Sie entsinnt sich aller Einzelheiten, ihrer bedrückten Stimmung, als habe sie geahnt, daß dieses Wartau ihr Glück vernichten werde. Sie erinnert sich, wie sie zu Pastors und zur Mutter gelaufen war, um dies Ereignis zu verkünden, erinnert sich, wie sie dann neben Anton in das Schloß übersiedelte, in dem sie ihn verlor, wo ihr Glück vernichtet wurde! Das schöne Geschöpf steht vor ihren Äugen, das ihn hinweg lockte von ihr, das sein Verderben wurde, das nun tot ist und nicht mehr zu erleben braucht, wie er als Bettler hinunter geht von Wartau. – Wie muß ihm zu Mute sein? Wie mag er es tragen? denkt sie, und was wird er anfangen?

Und sie springt empor und geht mit großen hastigen Schritten durch die Stube, als müsse sie die Thüre öffnen und geradeswegs aus dem Hause schreiten, unaufhaltsam bis nach Wartau. Dann steht sie und fühlt, daß ihr das Blut siedend in die Wangen steigt – sie ist ja geschieden von ihm! Was würde er denken, wenn sie jetzt käme und sagte: Gieb mir die Kinder – ich bin einsam und traurig, ich will sie erziehen und bewahren, bis du neuen Grund gefaßt hast? Würde er nicht glauben müssen, daß sie – –

Mutlos kehrt sie ins Zimmer zurück. Sie hat ja keinen, keinen Nebengedanken, nur die Sorgen will sie ihm erleichtern, aber – es geht nicht, es geht nicht! Tot würde sie sich schämen, könnte er glauben, sie wollte seine Liebe wieder.

Mit zitternden Fingern macht sie Licht. Sie muß sich zusammenraffen, muß stark sein; der Mann, die Kinder, sie sind ihr nichts mehr, dürfen ihr nichts mehr sein als fremd, ganz fremd.


Christel schleppt sich ein paar Tage weiter an ihrer erzwungenen Resignation, sie bringt es sogar fertig, zu Louischen zu sagen, mit ganz eigentümlich harter Stimme zu sagen: „Ja, lieber Gott, ich kann ihm doch nicht helfen?“ Worauf Louischen zu ihrem Gatten bemerkt: „Na, gottlob, sie ist vernünftig geworden! Ich hatte schon Angst, ihre Großmütigkeit würde uns einen neuen Streich spielen und sie sich die Kinder holen und eines Tages den Vater dazu. Zuzutrauen wär’s ihr; sie ist ja reinweg auf den Knieen vor ihm herumgerutscht, als sie noch seine Frau war.“

Nein, Christel ist ganz vernünftig, Christel arbeitet und spart und schafft; nur die Dämmerstunde fürchtet sie mit ihren Erinnerungen, aber sie macht sich dann draußen Arbeit.

Weihnacht zieht vorüber, der Sylvester und das Neujahr. Am Dache des Rödershofes hängen prachtvolle glitzernde Eiszapfen. Der „kleine Anto“ – der Gymnasiast führt noch immer diesen Namen – ist auf Ferienbesuch bei Christel gewesen; er will von der Schule abgehen und wirklich Landwirt werden. Der hat nun, veranlaßt durch Tante Louise, in Christels Gegenwart allerlei erzählt.

Wartau hat ein neugeadelter Herr von Salamonsky gekauft mit allem, was drin und dran, der ganzen Einrichtung, und doch hat das Geld kaum gereicht, Mohrmanns Verbindlichkeiten zu lösen. Uebrig geblieben sei natürlich nichts. Ohne die Kunstgegenstände, namentlich die alten fast unbezahlbaren Uhren, Gemälde etc., die gerichtlich immer hoch taxiert waren – Dresdner Sachverständige hatte man zugezogen – würde er noch mit Schulden vom Hofe gegangen sein. Der Herr von Salamonsky beabsichtigt, nur im Sommer acht Wochen lang in Wartau zu wohnen, sonst in Berlin, und die wertvollsten Gegenstände aus dem Schlosse werden nach seinem palastartigen Hause in Berlin geschafft. Heine ist noch Inspektor, aber lange will er nicht mehr dort bleiben, und der Baron hat die Bemerkung fallen lassen, die bisherige Lotterwirtschaft dürfe so nicht weiter gehen.

Lotterwirtschaft! Klein Anto ist förmlich empört: „Jeder Mensch weiß, daß Mohrmann Unglück hatte und dann – die verstorbene Frau!“

„Wo ist er denn jetzt?“ hat Frau Louischen gefragt.

„Ich weiß nicht, Tante,“ ist die Antwort gewesen. „Welche sagen, er sei in Ungarn, und andere, in Amerika.“

„Das muß doch Frau Heine wissen?“

„Ich habe sie nicht gefragt,“ entschuldigt sich Anto, „ich war ja aber auch nicht daheim seit dem Herbst.“

„Na, sind denn die Kinder bei ihm oder bei Heines?“

„Ich glaube, bei Heines, ich weiß es aber nicht genau. Der Vater könnt’s doch gewiß sagen, wenn Tante Louischen ihm darum schreiben will.“

„Na, mir ist’s egal,“ meint Frau Wendlandt, „und andern Leuten ja wohl auch,“ und dabei schielt sie zu Christel hinüber.

Die sitzt schweigend und näht. Sie sieht sehr blaß aus seit der letzten Zeit und hat oft rote Ränder um die Augen. Die Gegenwart der Schwester, die so ganz und gar nicht harmoniert mit ihr, ist eine wahre Qual für sie. Sie hat sich nicht gefreut, als Wendlandt um Louischen freite. Die Schwester ist ihr unsympathisch, das herbe, berechnende Wesen derselben beengt und beklemmt sie unsagbar.

Es giebt eben Menschen, die immerfort in die Verhältnisse ihrer Nächststehenden einzureden haben. Schlimm, wenn dieser Nächste eine alleinstehende Frau oder ein Mädchen, noch schlimmer, wenn sie arm ist, denn dann wird sie hier- und dorthin gestoßen, wird beständig vorwurfsvoll angesprochen und ihre Kräfte werden ausgenutzt wie die eines Lasttieres. Am allerschlimmsten aber ist’s, wenn die Unglückliche sich eines gewissen Wohlstandes erfreut; dann ist sie die Zielscheibe aller möglichen und unmöglichen Spekulationen, sie ist schlechterdings nur für die lieben erwartungsvollen Verwandten auf der Welt, die sie beobachten, ihr Thun und Lassen bekritteln, jeden Pfennig, den sie ausgiebt, bereden; kurz, eben weil sie allein steht, muß sie in den Augen dieser egoistischen, zum Teil sehr kleinlich denkenden Leute noch froh sein, daß ihre Kräfte, ihre Zeit, ihr Geldbeutel doch zu etwas gut sind, nämlich dazu, jenen das Leben zu versüßen. Und wehe ihr, wenn sie sich daran erinnert, daß auch sie eine Persönlichkeit ist, daß sie eigene Wünsche, eigenen Geschmack, eigenen Willen besitzt, dann fallen sie rücksichtslos über die Unglückliche her, die lieben Nächststehenden. Da ist sie dann verrückt, verschroben, unvernünftig! „Wir sind ja da, sie hat uns ja, was will sie denn eigentlich? Sie soll nur ihr Geld zusammensparen, denn wir haben Kinder! Diese Kinder zu lieben, dazu ist sie verpflichtet!“ Und diese Kinder sind darauf dressiert, eine Tante anzusehen als ein von Gott dazu erschaffenes Wesen, für sie zu sorgen und zu arbeiten, denn sie hat ja von Rechts wegen sonst niemand, für den sie schaffen darf, nicht einmal für sich selbst.

Louischen erbaut förmliche Romane auf Christels erarbeitetes kleines Vermögen und Louischen sagt ärgerlich zu dem jungen Anto: „Na, du kommst dir wohl gar schon vor wie der Majoratsherr hier? Da sind andere auch noch; mein kleiner Erich hat gerad’ dasselbe Recht wie du – daß du es weißt.“

Und der anständige Junge antwortet ganz empört, daß er [374] mit keinem Gedanken bis jetzt an den Rödershof gedacht habe, und dreht ihr den Rücken zu.

Christel merkt das kaum, sie kann sich in solche Gesinnungen nicht hineindenken. Sie giebt so gern, es ist ihr so selbstverständlich, daß die Pastorskinder eine Hilfe an ihr haben; sie giebt, weil sie geben muß, es liegt so in ihr. Daß man schon an ein „Dereinst“ denkt, an die Zeit, wo sie ihre Augen zuthun wird, das ahnt sie nicht; sie fühlt sich so jung noch und so kräftig.

An einem recht windigen Abend zu Anfang des Februar kommt Louischen mal wieder an mit einem Briefe aus Wartau. Sie korrespondiert fleißig mit der Nichte, die des Pastors Haushalt jetzt führt; sie kann sich vor Neugier nicht lassen, sie muß doch wissen, wie es in Wartau steht, wo Mohrmann geblieben ist, und ob seine Kinder noch immer bei Heines sitzen. Nun bringt sie acht Seiten voll Neuigkeiten. Sie ist gleich nach dem Essen fortgelaufen und hat eine Magd mit der Wartung ihres Kleinen und den Vater mit der Oberaufsicht über die andern betraut.

Ihr Gesicht glüht ordentlich, als sie sagt: „Nu hör’ nur mal, Christel – nein, wie ich gelaufen bin – vorhin habe ich den Brief gekriegt, konnte ihn aber erst jetzt lesen. Die Heines sind ja schon vor vier Wochen Knall und Fall fort von Wartau und wohnen in Dresden. Er, der Grobian, hat sich mit dem jungen Herrn von Salamonsky erzürnt; na, das Maul konnte er nie halten, ich habe mich schon über ihn geärgert, als er noch Inspektor bei Mohrmann war – der reine Flegel!“

Christel sitzt bei der Lampe und bessert Wäsche aus. Sie hat zuerst erschreckt aufgehorcht, jetzt fliegt ein Lächeln um ihren Mund. Woher Louischens ungünstiges Urteil über Heine stammt, weiß sie. Die hatte ihre Netze mal sehr angelegentlich nach dem tüchtigen fleißigen Mann ausgeworfen, aber der „Grobian“ verstand nicht oder wollte nicht verstehen und holte sich seine kleine freundliche Frau aus einer anderen Gegend, das Gute, das so nahe lag, verschmähend.

Louischen hat vielleicht dieses flüchtige Lächeln gesehen und verstanden, denn sie zerrt mehrere Briefblätter so hastig und ärgerlich aus dem Umschlag, daß sie zerreißen, und sucht nach den Zeilen, die Heine an den Pastor richtet. „Na, von vorn brauche ich ja den ganzen Salm nicht zu lesen,“ beginnt sie, „das Interessante für dich kommt erst auf der zweiten Seite, hör’ bloß mal:

,– – Wir haben uns ja, wie oben gesagt, vorläufig hier eine kleine Wohnung gemietet, in der Vorstadt Striesen, und ich hoffe bestimmt, in nicht allzulanger Zeit wieder eine Thätigkeit zu finden. Meiner Frau macht die Pflege der Kinder ja auch viel Freude, aber – – Und nun kommt eine bange Frage, verehrter Herr Pastor –: hierorts herrscht augenblicklich eine heftige Scharlachepidemie, die schon manches Opfer gefordert hat unter den Kleinen. Seit drei Tagen ist der böse Gast auch in unser Haus eingekehrt; über uns im vierten Stock und drunten im Souterrain sind Kinder erkrankt an der unheimlichen Seuche, und manche haben sogar noch Diphtherie dabei. Meine Frau und ich, wir wissen vor Angst um unsere anvertrauten drei nicht was thun, und ich habe schon Mitteilung gemacht an die beiden alten Fräulein von Wartau, erhielt auch von Fräulein Josepha ein paar mit zitternder Hand geschriebene Zeilen des Inhalts, daß sie weiter nichts thun könne, als Gott zu bitten, die Kinder zu beschützen. Ihre arme Schwester habe – wohl vor Kummer und Herzeleid – vor kurzem ein schweres Nervenleiden bekommen, so, daß sie fast ganz gelähmt sei, und sie, Fräulein Josepha, wäre ebenfalls so schwach, daß sie nur mit Not und Mühe die Pflege der Kranken versehen könne. Eine andere Zuflucht für die Kleinen wisse sie nicht, denn Frau von Lattwitz sei ihrem nach Metz versetzten Gatten gefolgt, und wer solle die Kinder so weit hinbringen? Endlich, die Gräfin Altwitz sei in diesem Winter zu kränklich, so daß man nicht daran denken könne, sie mit den Kindern zu belästigen –

Nun dachten wir in unserer Angst, ob Sie, Herr Pastor, nicht aus christlicher Barmherzigkeit die Würmer eine Zeit lang hinnehmen möchten, bis wir über diese Epidemie hinaus sind? –“

Louischen hat das letzte mit erhobener Stimme gelesen. „Wie findest du das bloß?“ fragt sie, sich unterbrechend, „da soll Robert, oder vielmehr Klärchen, sich mit den Kindern des Mannes befassen, der solchen Jammer über dich und uns alle gebracht, der dich fortgejagt hat!“

„Das that er nicht!“ sagt Christel eigentümlich gepreßt, „ich bin von ihm gegangen.“

„Na, klaube nur nicht an dem Wort herum,“ antwortet Frau Louise scharf, „am Arm hat er dich freilich nicht genommen und dich über die Schwelle gestoßen, er hat dich aber moralisch ’nausgeworfen, und das ist nun mal ganz dasselbe.“

Christel schweigt, aber auf ihrem Gesichte wechseln Röte und Blässe, sie ist kaum fähig, weiter zu hören.

„So, nun kann ich aber das weitere sparen, das sind nur noch ein paar höfliche Redensarten, Komplimente und Bitten, um Robert einzufangen,“ setzt Louischen hinzu. „Ich will jetzt gleich mal die betreffende Stelle in Klärchens Briefe suchen, die von Roberts Antwort an Heine berichtet. Also höre:

‚Vater hätt’s mir gewiß gern erlaubt,‘ schreibt das junge Mädchen, ‚die Kinder für einige Zeit in Pflege zu nehmen, aber unsere Jüngsten sind gar nicht munter, und außerdem wurden in Wartau auch mehrere Diphtheritisfälle gemeldet. Sonst wäre der gute Vater gern bereit gewesen, das Liebeswerk zu thun – –‘“

Hier bricht die Vorlesende ab und sagt: „Na, das mußte er ja nun versichern, so’n paar Redensarten vom guten Werke, von christlicher Liebe, das gehört sich für einen Pastor; ich freue mich nur, daß Robert nicht darauf hereingefallen ist. Eine zu harmlose Idee von Heine! Mich wundert es aber doch, daß er sich nicht auch an dich gewendet hat.“

Christel schweigt und starrt an der Schwester vorüber, auf ihrem Gesicht liegt jetzt ein eigenes Leuchten. „Entschuldige einen Augenblick,“ bittet sie nach einem Weilchen, indem sie aufsteht. Sie geht zur Stubenthür, öffnet diese und ruft nach dem Knecht. Louischen hört den schweren Tritt des Mannes über die Steinfliesen der Flur kommen, und dann die Stimme Christels: „Karl, die Braunen vor den Kutschwagen; in einer halben Stunde fahren Sie mich nach der Station! Der Zug geht doch um neun Uhr nach Dresden?“

„Jawoll, um neun Uhr, Frau.“

„Na, dann sputen Sie sich, Karl!“

„Jawoll, Frau!“

Christel kommt zurück und geht an ihrer Schwester vorüber, ohne sie zu beachten, ins Schlafzimmer, dann kehrt sie zurück, öffnet den Schreibtisch, nimmt Geld heraus und verschließt den Schlüsselkorb. „Sei nicht böse, Louischen,“ sagt sie, „ich mach’ mich nur zurecht, ich reise.“

Frau Wendlandt ist aufgestanden und in ihrem scharf geschnittenen Gesicht spiegeln sich Erstaunen und heller Zorn über die Anstalten ihrer Schwester. „Du wärst, weiß Gott, so albern und holst dir die Wärgels,“ sagt sie auf gut Sächsisch.

„Hast du etwas dagegen einzuwenden?“ fragt Christel ruhig.

„Nun, ich dächte doch! Wenn du das nicht selber fühlst – –“

„Wir fühlen beide sehr verschieden,“ meint Christel und stellt ihren Fußsack auf die Ofenbank, damit er etwas anwärmt.

„Ja, das kann sein – ein bissel mehr Stolz habe ich denn doch als du.“

„In diesem Falle habe ich keinen Stolz, fände es auch unrecht, wenn ich ihn hätte.“

„Du willst gewiß die Epidemie in Bärenwalde einschleppen? Na adje – fürs erste sind wir geschiedene Leute, ich setze meine Kinder nicht der Gefahr aus, sich hier den Tod zu holen.“

„Das kann ich dir gar nicht verdenken, Louise; leb’ wohl!“

Christel hängt sich den mit Hamster gefütterten einfachen Pelzmantel um, und als das Mädchen hereinkommt, beginnt sie diesem einige Aufträge zu erteilen. „Die Gaststube oben soll tüchtig geheizt werden, und morgen gegen mittag werde ich wieder hier sein, wahrscheinlich nicht allein.“ Und ob Marie auch klagen werde über ein wenig mehr Arbeit?

„Aber warum denn, Frau? Ich thu’s gern.“

Christels Gesicht ist so verändert, so getaucht in freudige Erwartung, daß das Mädchen sie ganz erstaunt ansieht, während Louischen, mit spöttischem Lächeln, die Hände unter die Schürze gesteckt, noch dasteht. „Man erlebt Wunder und Zeichen,“ sagt sie, „wenn Mutter das wüßte, im Grabe drehte sie sich um.“

Christel antwortet nicht, sie hat’s gar nicht gehört: Louischens Gehässigkeiten rauschen so an ihr vorüber, sie kennt sie und achtet nicht mehr darauf. Karl knallt draußen mit der Peitsche, zum Zeichen, daß er vorgefahren ist. Christel will ihrer Schwester [375] die Hand geben, aber die dreht sich achselzuckend um und verläßt vor ihr das Haus. Gut, daß Christel nicht hört, was die Schwester auf der einsamen Dorfstraße für halblaute Reden hält, sie würde außer sich sein; „eine alberne, verliebte Person!“ das ist noch das wenigste, was sie sagt. Und daß man die Kinder holt in der Hoffnung, der Vater werde nachkommen, das ist bei Louischen unumstößliche Thatsache. „Sie ist imstande, das zweite Mal – er kann ja gar nicht besser thun – sie arbeitet für ihn und die fremde Brut, so ein dummes Schaf!“

Und Christel fährt in den windigen Februarabend hinein, als gehe sie zu einem Feste; mit derselben Empfindung, die sie als Kind hatte vor der Christbescherung. Seine Kinder holen können! Ein paar Wochen hindurch die kleinen weichen Körperchen hegen und pflegen dürfen! Die runden lieben Gesichter sehen, sich anlächeln lassen – wie wundervoll!

Arme kleine Frau Heine – wie sie sich wohl ängstigen mag – so anvertrautes kostbares Gut! – Warum hat man nicht gleich an sie gedacht? Ja so – ja – man will ihr doch nicht wehthun, man hält sie für schrecklich kleindenkend. Ja, ja, er hat ihr wehgethan, den größten Schmerz ihres Lebens hat sie durch ihn erlitten, aber sie kann nicht hassen, sie kann nicht, und jetzt, wo er so unglücklich ist – –. Mögen die Leute sagen, was sie wollen, seiner Kinder darf sie sich annehmen mit gutem Gewissen!

„Morgen mittag um elf Uhr sind Sie wieder hier, Karl, und so viel Tücher und Decken, als ich habe, soll Marie in den Wagen thun,“ befiehlt sie, auf der Station angelangt.
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Christel kommt nach zweistündiger Eisenbahnfahrt in Dresden an und sucht trotz der späten Stunde Doktor Konring auf, dessen liebenswürdige Frau sie ganz verwundert, aber voll Jubel empfängt. „Ich wußte ja,“ sagt Christel, „daß Sie heute noch nicht schliefen, es ist Herrn Doktors Skatabend; hätte ich die Fenster dunkel gesehen, wäre ich in ein Gasthaus gegangen.“

„Die Partie muß gleich zu Ende sein,“ erzählt Frau Doktor, während sie Christel in ihrem netten Wohnzimmer aus dem schweren Mantel hilft, „aber nun sagen Sie mir – was um alles in der Welt treibt Sie zu nachtschlafender Zeit nach Dresden?“

„Darf ich mit der Erklärung nicht warten, bis der Herr Doktor da ist?“ bittet Christel und trinkt ein wenig von dem dargebotenen Punsch.

„Aber versteht sich, und er wird gleich kommen.“

In der That verabschieden sich die Herren sehr bald und der überraschte Hausherr steht Christel gegenüber. „Der Tausend!“ sagt er, die stattliche Erscheinung musternd: „Frau Christel, da oben im Rödershof giebt’s wohl einen Jungbrunnen? So habe ich Sie ja kaum in der ersten Zeit Ihrer Ehe gesehen?“

„Nun berichten Sie aber,“ mahnt die Hausfrau.

Und Christel erzählt. Der Doktor geht mit unhörbaren Schritten auf dem Teppich einher. „Ja, ja!“ wirft er ein, „eine regelrechte Epidemie – und da wollen Sie – – ?“

„Sie werden’s nicht falsch beurteilen?“ bittet die große blonde Frau mit dem guten Gesicht und den angstvollen Augen.

Der Doktor nimmt ihre beiden Hände: „Ich – Sie falsch beurteilen? Das glauben Sie ja selber nicht! Nein, nein, folgen Sie nur Ihrem Herzen – es ist ungewöhnlich, aber es ist gut, was es Ihnen da eingiebt. Nehmen Sie die armen Dinger mit, Frau Christel, und lassen Sie die Leute reden, was sie wollen!“

Die Frau Doktor ist stumm geblieben. Als sie ein halb Stündchen später Christel in das Logierstübchen begleitet, sagt sie leise: „Sie lieben ihn noch immer!“

Christel dreht sich hastig um und streckt ihr die gefalteten Hände entgegen; die Thränen in ihren Augen flehen um Schonung.

„Verzeihen Sie,“ bittet die junge Frau, „aber wäre es denn so unnatürlich? Wäre es denn eine Schande? Kann man dafür?“

Christel antwortet nicht, sie ist ganz fassungslos.

„Was Sie thun wollen, thut nur eine Frau, die nie aufgehört hat zu lieben. Gute Nacht, Frau Christel!“

Und Christel löscht ihr Licht, als wolle sie ihre Thränen vor sich selber verstecken. „Nie aufgehört zu lieben!“ sagt sie vor sich hin und nickt dazu.

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 13, S. 399–407

[399] Christel ist bei Heines gerade zur rechten Zeit eingetroffen. Nicht die Kinder, die kleine Frau Heine selbst ist erkrankt und er geradezu in Verzweiflung.

Man hat, so gut es geht, in der engen Wohnung ein Absperrungssystem eingerichtet und ein blutjunges Mädchen, die Tochter des Portiers, gebeten, vorläufig auf die drei Kleinen, die in einer nach dem Hofe gelegenen Stube untergebracht sind, zu achten. Sie hilft im Theater bei Ballett- und Volksscenen, eine ihrer Glanzrollen ist z. B. die Braut in der „Puppenfee“, und scheint der ihr ungewohnten Aufgabe nicht gewachsen. Der Junge schreit gottserbärmlich nach Tante Heine, die kleinen Schwestern zur Gesellschaft mit, und das bleichsüchtige sommersprossige Mädchen ist nahe daran, zu verzweifeln. Ein paar Klapse auf Lothars zornig geballte Hände machen die Situation nicht besser. Das Hausmädchen fährt wie eine Tolle ins Zimmer.

„Lassen Sie doch die Kinder nicht so brüllen, die Frau kann’s vor Kopfweh nicht aushalten!“

„Ich auch nicht!“ antwortet das verdrießliche Geschöpf, „warten Sie die Schreihälser selber! Ich gehe!“

„Na, dann laufen Sie! ’s is kein Schade!“ schreit das Dienstmädchen, das Frau Heine von Wartau gefolgt ist. „Wenn ich nur um Gottes willen wüßte, wo ich in der fremden Stadt hier eine Menschenseele finden könnte, die da hilft!“ jammert es dann. Es hat ganz den Kopf verloren. „Lotharchen, bis doch stille! Ich kauf’ dir auch ein Pferdchen – ja, bist stille?“

Und nun läuft sie wieder in die Krankenstube der Frau. „Nee, so’ne Last, so’ne Last!“ murmelt sie.

Heine ist derweilen in die Apotheke gegangen. Als er zurückkommt, trägt eben ein Arbeiter einen Kindersarg ins Haus. Er weiß, droben im vierten Stock ist das dreijährige Mädchen gestorben. Auf einmal hört er hinter sich einen Laut, einen unterdrückten Schreckensruf, und als er sich umsieht, steht da eine große Frau am Fuße der Treppe und blickt mit starrem Auge dem Manne nach, der eben um eine Biegung der Stiege verschwindet.

„Mein Gott!“ Mit zwei Sprüngen ist Heine wieder unten.

„Frau Mohrmann! Nein, zu uns trägt er’s nicht, unsere sind – noch sind sie gesund, Frau Christel! Aber – meine Frau, die ist krank! Ach, Frau Mohrmann – na, gehen Sie vorauf; gelt, ich weiß, warum sie kommen?“

„Die Kinder! Wenn Sie sie mir anvertrauen wollen?“

„Gottlob!“ antwortet er.

Kaum dreiviertel Stunden später rollt die Droschke mit Christel und den drei Kindern zur Bahn. Sie hat keinerlei Hilfe, das Mädchen ist bei der kranken Frau Heine nicht zu entbehren. Sie nimmt zwei Dienstmänner, die die Zwillinge tragen, faßt Lothar an der Hand und drängt sich durch das Menschengewühl in ein Coupé dritter Klasse. Hier giebt’s mitleidige Seelen, alle helfen Christel. Die kleinen Mädchen, so gleich groß und sich so ähnlich in ihren grauen Mäntelchen und Kapotten, erregen allgemeine Bewunderung. Während der Fahrt steht der Junge am Fenster und sieht aufmerksam in die vorüberfliegende Gegend; das eine der kleinen Fräulein schläft auf dem Sitz in Decken gebettet, das gutherzige Frauen bereiten halfen, das andere in Christels Armen. Sie wagt kaum, sich zu rühren, um das Kind nicht zu stören, ihr ist so wehmütig glücklich zu Mute.

Sie hat mit Heine ausgemacht, daß Mohrmann nichts wissen darf, er würde sich nur ängstigen über die Folgen der Gefahr, in der die Kinder geschwebt haben, und es ist überhaupt besser. „Nicht wahr, Sie versprechen mir’s, Heine? Es bleibt immer unter uns?“ hat sie gebeten. „Ja, ja, Frau Mohrmann, ich verstehe schon, warum.“

Christel weiß nun auch, wo Anton weilt. Mit einem Berliner Kaufmann, einem Güterspekulanten, ist er in der Provinz Posen, um dort die Administration eines Gutes zu übernehmen, das der reiche Mann erstanden hat und auf dem er allein nicht fertig wird. Eine verantwortliche Stellung, die wenig einbringt, in der es täglich viel Aerger giebt, aber doch Thätigkeit, Arbeit – um zu vergessen.

Christel seufzt. Sie kann sich den frischen, stolzen Menschen schwer vorstellen unter der Oberhoheit eines solchen Herrn, ihn, der die Güterspekulanten so gehaßt hat, der so frei zu handeln gewohnt ist. Ihre Augen irren von der Kleinen im Schoße zu der Schlummernden neben sich, von dort zu dem Jungen.

„Sind wir bald da?“ fragt er.

„Bald. Aber einmal müssen wir noch in eine andere Bahn steigen.“

„Ich möchte aber nicht mehr Eisenbahn.“

„Ja, ja. Wenn wir angekommen sind, dann steigen wir aus und setzen uns in einen Wagen mit zwei schönen braunen Pferden davor.“

Die Kinderaugen leuchten. „Ist mein Papa da?“ fragt er.

„Nein, Lothar.“

„Onkel Heine hat’s aber doch gesagt?“ Die Miene des Kindes verzieht sich zum Weinen.

„Vielleicht kommt er bald, mein Junge; wir wollen ihn darum bitten, aber du mußt artig sein und darfst nicht weinen. Sieh mal, nun pfeift’s und wir setzen uns in eine Eisenbahn, die klingelt, wenn sie fährt.“

Auch hier wieder geschäftige hilfreiche Hände; Christel ist so gar nicht gewöhnt, mit Kindern umzugehen, aber sie kommt doch glücklich ins Coupé. Ein Frauencoupé erlangt sie freilich nicht in der Eile, es sitzt ein Mann darin, Schwager Wendlandt. Er scheint ein bißchen verlegen, als er die Frau mit der Kinderlast sieht, Louischen hat ihm die halbe Nacht von der Verrücktheit Christels vorgepredigt, aber er hilft ihr bereitwillig, und Christel dankt mit so herzlichen Worten, daß er seufzt, wie er an seine fehlgeschlagene Werbung denkt.

Wie sie so lieb ist mit den Kindern, wie ihre Augen leuchten! Daß Schwestern so verschieden sein können!

„Lassen Sie nur, Schwägerin,“ wehrt er, als Christel Lothar auffordert, von den Knieen des Mannes zu gehen, „der Junge wird mir nicht zu schwer.“ Und dann zieht er eine Tüte Bonbons aus der Tasche, die er für seine Kinder eingekauft drunten im Flecken, wo er geschäftlich zu thun hatte, und hält sie dem kleinen Wicht hin: „Iß, mein Junge!“

Aber der schüttelt den Kopf. „Ich esse keine Bonbons, die sind zu süß, Papa mag auch keine,“ antwortet er verächtlich.

Christel lächelt unmerklich. Das Aeußere hat das schöne Kerlchen von seiner Mutter, aber Antons Sinnesart ist’s über und über. Und der einfache Mann, der ihn auf den Knieen hält, lächelt auch. „Bleib’ nur so bei,“ sagt er leise und streichelt die seidigen braunen Härchen, die unter dem etwas verbrauchten Matrosenmützchen hervorsehen, „wirst’s nötig haben.“ – Er hilft Christel dann noch in ihren Wagen nach der Ankunft auf der Station, und als sie wohlverpackt darinnen sitzt, reicht er ihr treuherzig die Hand.

„Adieu, Schwägerin, und lassen Sie’s mich nicht entgelten, was Louise redet – sie meint’s wohl nicht so böse.“

„Nein, Schwager, sie meint’s sicherlich nicht böse, und wie Sie denken, das weiß ich ja,“ erwidert Christel und drückt ihm besonders herzlich die breite Rechte. Dann besteigt auch er sein Gefährt und Christel fährt ihre kleinen Gäste heim in den Rödershof.

Als Frau Wendlandt durch ihr Stubenmädchen hört, daß die „Rödershofsche“ mit drei Kindern heute mittag heimgekommen sei, ruft sie ihrem Manne zu, der eben aus der Thüre gehen will: „Na, nun füttert sie Antons Erben!“ Sie lacht dabei, daß ihr die Thränen in den Augen stehen, und der älteste sechsjährige Stiefsohn erhält einen Klaps, weil er mitgelacht hat.

„Komm’, mein Fritzchen,“ sagt Wendlandt und nimmt das weinende Kind mit sich.


Das ist eine Lust in der Kinderstube des Rödershofes! Das alte Haus hat schier ein vergnügtes Aussehen gewonnen, seitdem hinter den Scheiben droben die Kindergesichter sich zeigen und die kleinen Nasen an dem Glase sich breit drücken. Die Mägde und Knechte gucken mit Lachen hinauf und Christel steht hinter den Kindern und läßt sie hinuntergrüßen und nicken; für sie ist’s ein [400] einziger schöner Traum. Von dem dunklen Hintergrunde der einsamen gramvollen letzten Jahre heben sich die lebensfrischen Kinderköpfchen zauberhaft ab. Und Christel giebt sich ganz dem neuen Glücke hin, das doch nur ein erborgtes ist, sie opfert sich wahrhaft auf in der Sorge für die kleinen Geschöpfe.

Nach einigen Tagen hängen die Kinder schon an ihr, als habe sie dieselben seit Anbeginn gepflegt und gewartet. Die „Erben“, wie Frau Wendlandt im Gespräch mit andern die Pflegekinder ihrer Schwester nennt, wachsen fest in dem Herzen der Rödershofschen, so fest, daß ein Losreißen, das ja unvermeidlich ist über kurz oder lang, blutige Wunden bedeuten würde. Mit Spannung durchsucht Christel die Zeitung nach den Gesundheitsberichten aus Dresden, mit Spannung erwartet sie den Briefträger, der Nachricht bringen soll von dem Ergehen der kleinen Frau Heine. Und eines Tages liest sie:

„Meine Frau ist heute zum erstenmal wieder aufgestanden; ich denke, in etwa vierzehn Tagen werden wir Sie von der Last befreien, Frau Christel, werde ich die Kinder holen können.“

Sie ist so erschüttert darüber, so verzweifelt, daß sie nach ihrer Schlafstube flüchtet und in heiße Thränen ausbricht. Noch nie war sie so glücklich wie in den letzten vier Wochen. Sie hat das Gefühl, als müsse sie denjenigen, der ihr die Kinder nehmen will, wie eine gereizte Löwin anspringen. Warum darf sie sie nicht behalten? Was haben die Heines für ein Recht auf sie? Keins! – Nur daß der Vater sie ihnen übergab, ja, ja, das ist’s!

Sie geht umher, als sei ein ihr teures Leben dem Tode verfallen; die Kinder sehen ihr scheu in die Augen. Sie will sich zusammennehmen, sie schilt sich selber aus, sie hat’s ja doch gewußt, daß ihr nur auf kurze Zeit die Freude gegönnt sei, und bricht dann wieder zusammen unter dem Schmerz, sie hergeben zu sollen.

„Vielleicht verkauft er sie dir,“ sagt Frau Wendlandt, die doch sehr bald wiedergekommen ist zu Christel, „frag’ ihn doch? Da er jetzt doch nichts mehr besitzt, sind Erben überflüssige Gegenstände, und du hast ja nun wohl wieder ein bißchen, was du vertrödeln kannst für andere?“

Christel antwortet ihr nicht. Die Schwester ist kaum zu ertragen mit ihrem hämischen Spott und stellt ihre Geduld auf eine harte Probe. Christel sitzt unter ihren Lieblingen in der [401] Kinderstube und näht. Eine ganze kleine Aussteuer hat sie für die Würmchen schon fertig; es wird ja bald Frühling und die kleine Frau Heine wird während ihrer Krankheit kaum imstande gewesen sein, für Söckchen und Röckchen, Leibchen und Hemdchen zu sorgen.

Frau Wendlandt hat sich in die Nähe des Ofens gesetzt, ohne abzulegen, und betrachtet die drei Kinder. Der Junge baut auf der Diele ein Haus aus den roten und weißen Sandsteinen seines Baukastens, und die kleinen Mädchen spielen mit hölzernen Tierchen auf dem alten Teppich. Marie bringt einen Brief und fragt, ob der Postbote eine Tasse heißen Kaffee haben solle, es sei ein gar scharfer Märzenwind draußen.

Christel nickt. Sie wendet das Schreiben hin und her und fürchtet sich, es zu öffnen, es steht ja doch nichts weiter darin, als die Meldung von Heines Kommen, der die Kinder holen will. Endlich, immer unter der Schwester beobachtenden Augen, erbricht sie das Couvert, und ein paar Sekunden später sitzt sie auf dem Teppich neben den kleinen Mädchen und küßt sie unter Lachen und Weinen. So außer sich vor Freude ist diese große Frau, daß die Schwester ein halblautes: „Sie ist verrückt!“ murmelt und sich erhebt.

„Lothar!“ ruft Christel, „du bleibst bei mir, noch lange, lange!“

„Na, drum auch!“ murmelt Frau Louischen, „da gratuliere ich herzlich; hab’s ja gestern abend noch gesagt zu meinem Mann, die Heines wären blau, wenn sie die Last wieder nähmen. – Und wann kommt denn der Vater dazu?“

Was schert Christel das Gerede! Vorläufig bleiben ihr die Kinder, das überwiegt auch das Widerwärtigste; sie ist in ihrem Glücksrausch nicht fähig, sich zu ärgern. Sie nimmt eine Mark aus dem Geldbeutel. „Da, Lothar, trag’s dem Mann hinunter, der den schönen Brief gebracht hat.“

Der Kleine zieht ab mit seinem Geldstück in der Faust, ganz wichtig und glücklich.

„Na, dann will ich nur gehen,“ erklärt Louischen, „du hast ja doch wohl keine Zeit jetzt für mich?“ Auf der Treppe begegnet sie dem zurückkehrenden Jungen.

„Tante Ise böse ist?“ fragt er, als die Frau ihn ärgerlich ansieht. Aber er bekommt keine Antwort und trippelt ganz empört darüber wieder nach der Kinderstube, wo Christel, [402] noch am Boden bei den Schwesterchen sitzend, den Brief liest. Heine teilt ihr mit, daß er eine Stellung gefunden habe, daß er unverzüglich nach Ostpreußen abreise, wohin ihm seine Frau sobald als möglich nachfolgen soll. Unter diesen Umständen bitte er herzlich, die Kinder einstweilen noch behalten zu wollen, bis er dort eingerichtet sei und mit Herrn Mohrmann gesprochen habe, den er aufsuchen werde.

In diesem Augenblick glaubt Christel an alles Gute in dieser Welt, in diesem Augenblick ist sie fähig, jede böse Auslegung ihrer Handlungsweise zu tragen, an Mohrmann zu schreiben: Lasse mir die Kinder, ich will sie erziehen! Wenn du mich auch nie geliebt hast, so wirst du doch in unserer Ehe die Ueberzeugung gewonnen haben, daß du dann die Kinder dem Schutze einer pflichttreuen Persönlichkeit anvertraust. Ich will keinen Dank, ich verlange nicht, daß du mich auch sehen sollst, wenn du das Bedürfnis fühlst, deine Kinder zu besuchen. Du hast mich einst so arm gemacht, mache mich wieder reich, indem du mich zu ihrer Hüterin wählst.

Dann schreckt sie zusammen. Was wird er sagen, wenn Heine ihm erzählt, bei wem seine Kinder sind? Und wieder wird sie still unter den anstürmenden Zweifeln, dem Bangen, das ihre Seele erfüllt. Wie, wenn Heine schreibt: Herrn Mohrmann ist die Sache sehr fatal, er wünscht seine Kinder jetzt selbst zu haben, oder dergleichen?

Sie denkt nach; vor ihrer Seele entsteht das Bild des Mannes, mit dem sie jahrelang gelebt in treuer Gemeinschaft. Sie kennt ihn so genau, er war nicht kleinlich, nie; nein, das wird er nicht sagen, aber er wird sich vielleicht schämen, von ihr, der Verstoßenen, Wohlthaten zu empfangen. Ja, das wird’s sein, das!

Wenn sie ihm doch zeigen könnte, wie es in ihrem Herzen aussieht, das nie einen Groll, das nichts weiter als den Schmerz um seinen Verlust, als das Verlangen, ihn glücklich zu sehen, gekannt hat. Ihren gekränkten Stolz, wie bald hat sie den überwunden gehabt, und die Sehnsucht, ihm zu beweisen, daß sie ihm verzieh, ist heute noch ungestillt.


Scorodowo heißt das Gut, wo Anton eine Stelle angenommen hat. Ein einstöckiges, recht vernachlässigtes Wohnhaus, ebenso vernachlässigte Stallungen und Scheuern; ein Hof, auf dem man im Morast fast versinkt; ein Haufen verdrossener Leute, schlecht gepflegte Pferde, jämmerliche Kühe; an Inventar wertloses veraltetes Gerümpel – da steht er mitten inne und soll den Phönix aus der Asche neu erstehen lassen. Sein Prinzipal erwartet das von ihm, aber – es darf nichts kosten. Es soll ein Schaugericht werden, dieses Scorodowo, denn er will es baldmöglichst weiter verkaufen.

Anton hat das Nötigste, was durchaus geschehen muß, zusammengestellt, hat einen Kostenanschlag hinzugefügt und vor mehreren Tagen nach Berlin geschickt. Vorhin ist die Antwort gekommen: alles viel zu hoch gegriffen! Wozu die halbverrotteten Gebäude so gut wie neu bauen? Frische Tünche ist die Hauptsache! Die Löcher auf dem Hofe zuwerfen, andere alte Ziegel statt der zerbrochenen, schadhaften auf die Dächer, das genügt! Wenn man von Grund aus bessern wolle, sei nichts zu verdienen, das wisse der geehrte Herr Inspektor wohl aus eigener Erfahrung.

Anton sitzt in der ebenerdigen Stube des Herrenhauses, in welcher das ehemalige Parkett große Löcher zeigt und die Tapeten vor Feuchtigkeit locker geworden sind; prächtige Tapeten einst, aber verschmutzt wie alles hier. Die defekten Dielen hatte der polnische Besitzer einfach mit echten Smyrnateppichen zudecken lassen und auf den Tapeten hingen die großen Bilder seiner Ahnen; es sah äußerlich immerhin sehr stattlich aus – was darunter war, kümmerte ihn nicht, und seine Gäste erst recht nicht.

Anton friert in dem großen Raum, dessen Kamin kaum noch gebrauchsfähig ist. Ein paar dürftige Möbel stehen umher, die bei dem Juden im nächsten Orte gekauft sind. Auf dem wackligen Tisch vor dem Sofa, einem sogenannten Rückenbrecher, ist das Vesperbrot serviert. Das Birkenfournier dieses ungedeckten Tisches hat Brandstellen und Blasen von der langjährigen schlechten Behandlung, das Geschirr ist ganz defekt. Er war vom Felde gekommen vor einem Weilchen und hat den Brief des Besitzers vorgefunden mit der Ablehnung seiner Vorschläge. Anton hat den besten Willen gehabt, die Karre, die Scorodowo heißt, aus dem Schmutz zu ziehen; jetzt ist er entmutigt, gänzlich entmutigt. Was soll er hier? Um etwaigen Käufern die wertlose Klitsche aufzuschwatzen, nachdem sie frisch getüncht und mit Mühe und Not oberflächlich in stand gesetzt wurde?

Er würde jedem einzelnen sagen: „Geben Sie den Gedanken auf, wenn ich raten soll, dafern Sie nicht sehr viel überflüssiges Geld haben. Es ist alles faul hier, jämmerlich faul!“ Und er hätte doch froh sein müssen, diesen Platz so rasch gefunden zu haben, durch seinen Nachfolger auf Wartau, der ihm, gönnerhaft tröstend, seine Unterstützung verhieß, falls er eine Stelle suche, und der auch hielt, was er versprach, der Herr von Salamonsky. Der Unterschlupf fand sich – Scorodowo heißt er.

Anton Mohrmann sieht sich kaum noch ähnlich, Schlag auf Schlag hat’s ihn getroffen in den letzten Jahren; bis genau acht Wochen nach Ediths Tode das Ende kam. Wie er die Zeit nur überstanden hat, das Jammern der alten Damen, als die Siegel vor die Schränke und Zimmer gelegt wurden, den Tag, an dem die Kommission da war und die Käufer auf den Hof fuhren! Er stand bei Heine am Fenster, die Stirn gegen die Scheiben gepreßt, und sah mit an, wie die Herren aus dem Schloß kamen, um die Ställe zu besichtigen und die Scheuern, allen voran der korpulente Baron mit der Adlernase und der schweren goldnen Uhrkette auf dem Magen. Die kleine Frau Heine war mit verweinten Augen um ihn herum geschlichen, immer vergebens ihm ein Glas Rotwein präsentierend, er hatte alles abgelehnt.

Die Kinder spielten nebenan in der Wohnstube, in welcher er so arbeitsreiche, gesegnete Jahre mit Christel durchlebt hatte; die alte Clauß ist zum letztenmal bei ihnen. Sie muß gehen, obgleich sie sich erboten hat, für den halben Lohn zu bleiben. Anton weiß, die Frau hat Kinder und Enkel, und was im ersten überschäumenden Mitleid geboten wird, soll man nicht annehmen, man soll den Leuten Zeit lassen, daß sie sich darauf besinnen, wieviel sie thun wollen und können für uns, ohne daß es ihnen eine Last wird, daß die Reue folgt. Gewöhnlich ist es dann wenig, was bleibt, mitunter auch gar nichts; aber besser, als voreilig Gebotenes, mit Seufzen Vollbrachtes annehmen.

Am liebsten wäre er mit den Kindern hinausgezogen in das Leben, das Armut und Arbeit für ihn bedeutet, aber sie sind noch gar so klein, sind noch so der Pflege bedürftig, die Würmer, sie können weibliche Hilfe noch nicht entbehren. Fräulein Josepha hat im Dorfe eine Stube mieten wollen für sich und die Kleinen, aber sie ist doch zu alt und zu kränklich, ihr guter Wille würde größer sein als die physische Kraft. Es bleibt nichts weiter, als Heines Anerbieten dankbar, wenn auch bedrückt, zu erfassen, die letzten Hundertmarkscheine ihm zu übergeben als Pension, obgleich die gutherzigen Leute sich sträuben, es anzunehmen, und vom Himmel zur Erde bitten: wenn Herr Mohrmann wieder in einer besseren Lage sei, würden sie sich’s einfordern. Aber davon hat er nichts wissen wollen, er muß ja eine Existenz finden, die ihm bald Brot verschafft, er muß – –

Es ist sehr schwer, er hat sich’s so nicht vorgestellt. Die Leute sind unzuverlässig: eine deutsche Wirtschafterin, die er auf eine Zeitungsannonce hin engagiert hatte, um doch eine verständige Person bei der Milchwirtschaft und der Geflügelzucht zu haben, ist auf dem Fleck umgekehrt, als sie das verlotterte Anwesen sah, und die schlampige polnische Person, die er als Ersatz bekam, läßt’s drüber und drunter gehen, fährt abends zu Tanz in den nächsten Ort und ist in der Woche regelmäßig ein paarmal betrunken. Die Mägde sind frech, faul und verstehen angeblich kaum ein deutsches Wort, und mit den Knechten ist’s erst recht keine Freude. Den deutschen Hofmeier, der auch neu ist, haben sie am letzten Sonnabend halbtot geschlagen, als er versuchte, ihnen Beine zu machen bei der Arbeit. Betrunken wie die Stiere lauerten sie ihm auf, als er vom Dorfe zurückkam; wäre Anton nicht dazwischen getreten, sie hätten ihn thatsächlich umgebracht.

Wie soll er fertig werden, wenn ihm die Mittel verweigert werden, durchgreifende Neuerungen zu schaffen? Wenn ihm keine tüchtigen Kräfte zur Seite stehen? Er hört eben wieder die gellende Stimme der polnischen Wirtschafterin, ein wahrer Höllenlärm dringt herein, Schimpfen, Gekreisch, dumpfes Gepolter. Er rührt sich nicht, es ist alle Tage so; ihm sind die Mägdeangelegenheiten des Haushalts stets widerwärtig gewesen, [403] er hat sich nie darum gekümmert. Und plötzlich erinnert er sich, daß er damals, als er Wartau pachtete, an seinen Freund Karl in Dresden schrieb: „Eine Frau gehört in solche Wirtschaft; ich will heiraten, alter Freund, eine brave arbeitsame Frau will ich nehmen – ich glaube, ich weiß eine.“

Ja, Christel, wenn du hier wärst! Eine Freude, neben dir zu schaffen, eine wahre Gottesfreude! Hab’s dir schlecht gelohnt und bin hart dafür gestraft worden, härter als du! Seine Gedanken kommen nicht fort von Christel, sie bleiben hängen, als hätten sie Häkchen. – Er sieht sie hier im Hause Ordnung schaffen, er sieht sie über seine drei mutterlosen Kinder gebeugt, er hört ihre Stimme: „Nur Mut, Anto, es wird alles gehen!“ Auf den Knieen würde er hinrutschen nach dem fernen Sachsen, nach dem Orte, wo sie lebt, um sie wiederzuholen – wenn er dürfte. Dann lacht er auf. Sie würde sich schön bedanken, und sie hätte recht!

Eine der polnischen Mägde meldet jetzt: „Da is sich fremder Mann draußen, will sich sprechen Pan Mohrmann.“

Anton erhebt sich. „Lassen Sie den Herrn eintreten.“ Im nächsten Augenblick steht Heine im Zimmer, ganz rot vor Freude.

„Ja, nun sagen Sie mal, Herr Mohrmann, wie geht es Ihnen denn? – Wie ich daher komme? Auf der Fahrt in meine neue Heimat natürlich! Ja, wie sonst wohl?“

Anton schüttelt ihm noch immer die Rechte. „Willkommen, Heine, lieber Heine! Wissen Sie, im ersten Augenblick, und wenn man so gar keine Ahnung hat – ich dachte, es wäre was mit den Kindern –“

„I bewahre, Herr Mohrmann, putzmunter, kreuzfidel, gar nicht besser zu wünschen! Aber wie geht’s Ihnen denn? Ich konnt’ schon nicht anders, hab’ den Umweg gemacht, bin in Kreuz ausgestiegen und herspaziert.“

„Wie es mir geht? Ach Gott, Heine – na – ich will lieber nicht davon anfangen –. Lange werd’ ich’s wohl nicht hier machen: wenn Sie mal etwas hören – –. Gottlob, mein Kontrakt läuft nur auf ein Jahr, im Juli ist’s überstanden; wenn die Klitsche früher verkauft wird, wär’s mir noch lieber. Aber vor allem setzen Sie sich, machen Sie sich’s bequem, lieber Heine; ein Bett bringe ich zur Not auch noch zusammen, und der polnische Satan wohl auch ein Abendessen. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, ich will nur draußen bestellen –“

Als er wiederkommt, hat er eine Flasche Ungarwein in der Hand und zwei Gläser; ihm auf dem Fuße folgt eine der Mägde mit Holz, das bald mit heller Flamme im Kamin prasselt, der unwirtlichen Stube einen Schimmer von Gemütlichkeit gebend. Heine sitzt schon in der Sofaecke, er sieht seinem ehemaligen Herrn mit bekümmertem Gesicht entgegen.

„Ihr Wohl, Herr Mohrmann,“ sagt er nun, mit ihm anstoßend. Es würgt ihm etwas in der Kehle, als er den Mann so gedrückt und resigniert wiederfindet, so geradezu müde. Sie sitzen sich dann stumm gegenüber. Heine überlegt, wie er das, was er sagen muß, am besten einkleidet; Mohrmann brütet still vor sich hin, er hat sich das Sprechen beinahe abgewöhnt.

„Gehört der Wald, in dem Holz geschlagen wird, zu Scorodowo?“

„Ja,“ erwidert Anton, „Holzschlagen ist hier so ziemlich die Hauptarbeit; der Besitzer zieht heraus, was herauszuziehen ist, aber hineingesteckt wird nichts – es ist zum Gotterbarmen! Pflügen Sie mal mit den vorsündflutlichen Dingern! Alle Augenblicke hält die Karre still und es muß daran gehämmert werden und geflickt, neue Pflüge giebt’s nicht. Säen in den ausgemergelten Boden? Das Stroh wird eine Spanne lang und die Halme stehen dünn wie die Haare auf einem angehenden Kahlkopf. Ich habe im Herbst, als ich herkam, händeringend gebeten, künstlichen Dünger anwenden zu dürfen – ja, prosit Mahlzeit! Sie hätten nur die vorjährige Ernte sehen sollen, Heine, jammervoll, wahrhaftig!“

„I, Gott bewahre!“ sagt Heine, dann schweigt er wieder.

Wenn er nur wüßte, wie er’s anfangen soll, von den Kindern zu reden, die bei Christel sind; er hat ordentlich ein bißchen Herzklopfen, der Mann kommt sich vor, als hätte er ein Verbrechen zu beichten.

„Das thut mir ja sehr leid, Herr Mohrmann,“ beginnt er endlich, sein geleertes Glas hinstellend, „wenn ich was höre da droben herum, wohin ich nun gehe – das ist drei Stunden von Königsberg, Adlig-Bergen heißt’s – als Inspektor mit einem ganz netten Gehalt, dann schreibe ich, ja – und nun, warum ich eigentlich gekommen bin, Herr Mohrmann – meine Frau, die muß natürlich bald nachfolgen und – da wollt’ ich sprechen wegen der Kinder –. Sie sind uns nicht etwa eine Last, Gott bewahre, im Gegenteil, aber – sehen Sie, wie das so ist, ob sich Lieschen so recht wird um sie kümmern können, und –“

„Erbarmen Sie sich,“ fällt Mohrmann aufspringend ein, „wo sollen sie denn bleiben? Hier ist’s unmöglich, ganz und gar. Was soll denn aus ihnen werden? Haben Sie die Schlampe gesehen? Und keine Frau im Haus, Heine!“

Er geht ein paarmal heftig im Zimmer auf und ab. Die Sorge, die im Drange der Arbeit, im Kampf mit den niedrigen Verhältnissen momentan zurückgetreten war, hockt sich ihm aufs neue wie ein Ungetüm auf die Schultern; bisher konnte er doch wenigstens einigermaßen ruhig an die Würmer denken.

„Ich nehme Ihnen das nicht übel, Heine,“ sagt er dann, „ganz gewiß nicht! Jeder ist sich selbst der Nächste, und was für die eigenen Kinder selbstverständlich sein würde, das geht nicht auch für fremde. Verzeihen Sie, es klingt vielleicht bitter, soll’s aber nicht sein, gewiß nicht! Ich verstehe ganz gut, – in solch’ neuen Verhältnissen, wo zurecht zu finden Ihre Frau selber Mühe haben wird, da ist’s ja unmöglich, ganz unmöglich, ich sehe es ein, mein Gott, ich sehe es ein, wenn ich nur – –“

„Aber, Herr Mohrmann, beruhigen Sie sich doch!“ Heine ist ganz erschüttert von der Verzweiflung des Mannes.

„Ja, ja, ich bin ruhig, ganz ruhig. Dann bringen Sie sie nur, oder soll ich sie holen? Und wenn sie verkommen, so verkommen sie eben! Ich habe ja übrigens fast nichts zu thun, kann ja Kindermädchen spielen – –. Lieber, bester Heine,“ wehrt er ab, „ich bitte Sie, ich hab’s wirklich nicht übelgenommen – setzen Sie sich doch, trinken Sie doch –“

Er gießt mit vor Aufregung zitternden Händen ein zweites Glas Wein ein. Heine steht da mit seiner guten Botschaft, mit der Kunde von dem Geborgensein der Kinder und kann vor Mitleid mit dem trostlosen unglücklichen Mann und vor Angst, wie er die Nachricht aufnehmen wird, nicht reden. Wenn ihm um Gottes willen nur das Richtige einfiele. Er beginnt zu stottern, sich zu verheddern und endlich platzt er heraus: „Ja, wenn Sie die Kinder nur lassen wollten, wo sie nun schon sind, Herr Mohrmann, dann –“

Anton, der wieder im Zimmer umherläuft, bleibt stehen, er ist so erregt, daß das, was er da hört, ihm einen Blutstrom ins’ Gehirn treibt. „Sie haben die Kinder nicht mehr?“ keucht er, vor den Erschrockenen tretend. Das abgemagerte Gesicht ist grünlich bleich, die Augen funkeln und wie eine Schlange ringelt sich die Ader auf seiner Stirn.

„Aber Mohrmann!“ ruft Heine zurückweichend, „so hören Sie doch erst!“

„Ohne mein Wissen? Ohne mich zu fragen?“ schreit Anton, „das ist – –“ Er kennt sich nicht mehr und tritt wieder einen Schritt näher zu Heine.

Der bleibt jetzt stehen und sieht ihm ruhig ins Auge. „Nein,“ sagt er laut, „wir haben sie nicht mehr. In dem Hause, wo ich wohnte, brach Diphtheritis aus und meine Frau bekam sie zuerst, und gründlich. Und da – sehen Sie, Herr Mohrmann, da kam Frau Christel und holte die Würmer, und pflegt sie, als wären sie ihre eigenen. – So, nun ist’s heraus!“

Auf den rasenden Mann haben die Worte gewirkt wie ein elektrischer Schlag. Er steht bewegungslos ein paar Augenblicke, dann wendet er sich stumm, setzt sich in die Sofaecke, zieht sein Taschentuch hervor und birgt das Gesicht darin. Eine Totenstille herrscht im Zimmer.

Heine schleicht hinüber zu dem Fenster und starrt hinaus, als sei der verkommene Hof das Interessanteste, das es für ihn auf der Welt nur geben kann. Er will die Thränen da hinten nicht sehen, die Thränen, die ein jahrelanges Leid hinwegwaschen, die einer verbitterten, verzweifelten Seele den Glauben an die Menschheit wiedergeben.

Und in dieser Seele klingt’s wie mit Engelsstimmen, das einfache schlichte Wort: „Und pflegt sie wie ihre eigenen – Christel hat sie sich geholt!“


[404] „Die Frau is kein Mannsen mehr, die Frau is ein Weibsen geworden wie jede andere, auch mit Kinderpäppeln und Kinderputzen, man merkt’s, gottlob, man merkt’s,“ sagt der alte Oberknecht Hoch auf dem Rödershofe und schüttet einen Sack voll Kartoffeln, von den besten, die zum Verkauf bestimmt sind. „Da lieg du,“ spricht er zum vollen Sack, „morgen früh nehm’ ich dich mit in die Stadt, die Wernern ißt auch gern was Gutes.“

In der Gesindestube haben sie sich Branntwein geholt und machen Punsch. Die Frau kommt ja nicht, die sitzt in der Kinderstube.

Die Kleinen sind noch bei ihr; ein Jahr wird’s in einigen Wochen, seitdem sie dieselben pflegt. Sie weiß nicht, wie lange man sie ihr noch lassen wird, sie weiß nicht, wie Anton die Nachricht, daß die kleinen Geschöpfe bei ihr sind, aufgenommen, sie weiß nicht einmal, ob er es überhaupt erfahren hat. Heine schrieb ihr nur: „Behalten Sie die Kinder bis auf weiteres, Frau Christel.“

Das ist ein Jubel und eine Qual zugleich gewesen. Wie lange? Was heißt – bis auf weiteres? In der Furcht, sie eines Tages doch hergeben zu müssen, hat sie sich ihnen so ausschließlich gewidmet, daß ihr für nichts anderes mehr Zeit bleibt. Die tüchtige Wirtin, die umsichtige Herrin des Rödershofes, die praktische Geschäftsfrau – alles ist untergegangen in dem einen – Christel ist nur noch Mutter. Sie sieht, daß das Gesinde sie mit anderen Blicken betrachtet als sonst, sie ertappt es auf Unredlichkeiten und muß sein Herauslügen geduldig mit anhören, weil sie ihm das Gegenteil von dem, was es behauptet, nicht beweisen kann.

Schwager Wendlandt kommt eines Tages und sagt, über und über rot vor Verlegenheit, „Schwägerin, möchten Sie nicht ein wenig den Meier im Auge behalten?“

„Warum?“ fragt sie wie schuldbewußt.

„Der Kerl fährt den Dünger auf einen falschen Acker.“

„Lieber Himmel,“ ruft Christel, „und ich hab’ gemeint, er ist ein zuverlässiger Mann, Schwager. Ich kann jetzt nicht mehr stundenlang draußen sein und so überall dabei, es ist schon ein Elend, wenn einem die Zeit so knapp wird.“

„Sie wissen ja wohl, Schwägerin, daß sich der alte Racker da oben herum, wo Ihre Roggenbreite im letzten Sommer war, zwei Morgen Acker gepachtet hat vom Schullehrer aus Bischwerder; Bischwerder Flur grenzt ja dort, wie Sie wissen?“

Christel schüttelt erstaunt den Kopf. „Und dafür der Dung?“ fragt sie, und die Entrüstung färbt ihr die Wangen.

„Wahrscheinlich auch Zeit und Saatkorn,“ ergänzt Wendlandt.

Christel schweigt und faltet die Hände ineinander.

„Ich dachte mir, es sei besser, Sie wüßten’s,“ fährt Wendlandt fort. „Sie haben jetzt so ’n bißchen viel auf sich genommen, Schwägerin; wenn’s Ihnen über den Kopf wächst, kann ich ja, wenn’s Ihnen recht ist, ab und zu mal herüber schauen von meinem Stück aus?“ Es klingt so treuherzig mitleidig, aber in Christel regt sich der Stolz.

„Bin Ihnen sehr dankbar,“ sagt sie – „so ganz gelegentlich, wenn Sie wollen; werd’ aber jetzt selbst wieder hinter dem alten Freund her sein, und wenn’s nicht stimmt, geht er.“

„Nichts für ungut, Schwägerin.“

„Warum denn? Ich bin Ihnen dankbar, Wendlandt.“

Christel hat eine schlaflose Nacht. Wie soll sie’s nur machen?

Ein Kindermädchen muß sie anschaffen, sich wieder der Wirtschaft widmen, sie muß persönlich auf dem Platze sein. Die Maschine geht ja wohl ein Weilchen allein, aber dann dreht sich das eine oder andere Rad langsamer, oder es hängt sich etwas dazwischen und hindert den Lauf, und das Getriebe stockt eines Tages. Nein, Christel muß wieder auf ihren Posten, es geht nicht anders.

Wie sie die Kleinen angezogen hat am andern Morgen, läßt sie die alte Muhme Reeder holen und macht sie zur Herrscherin der Kinderstube. Ein sauberes altes Frauchen ist diese Muhme, die ihre wendische Tracht noch trägt und sich als Wärterin beinahe großartig ausnimmt, aber sie hört schwer und ist ein bißchen wortkarg und still. Christel schreit ihr in die Ohren, wie sie sich zu benehmen habe und daß die Kinder ganz nett miteinander allein spielen. Nur acht solle sie geben, damit keines falle und schreie, denn der Junge sei ein bißchen wild. Und die Alte hält ihr linkes Ohr etwas vor mit der Hand, um besser zu verstehen, und gelobt alles, was Christel verlangt.

Zu thöricht, mit so schwerem Herzen vom Hofe zu gehen! Vorher hat’s sie doch noch einmal getrieben, in die Kinderstube zu treten. Es ist sehr still darinnen gewesen, alle die drei, und das alte Weibchen dazu, haben gefrühstückt; die Zwillinge jedes ein Semmelchen in dem dicken Fäustchen, Lothar ein Butterbrot und die Alte eine mächtige Schnitte. Dabei haben die Kinder die neue Wärterin mit großen Augen angesehen. Vorläufig ist’s ja musterhaft, und Christel eilt davon.

Scheinbar findet Christel alles in Ordnung auf dem Felde. Die große Breite ist zur Hälfte umgeackert. Der alte Oberknecht schreitet würdevoll hinter dem Pflug her und der Knecht kommt ihr diesseits an der andern Seite entgegen. Drüben, über der Chaussee liegt ein bereits bestelltes Stück Acker, das Christel als dasjenige kennt, welches zur Lehrerstelle Bischwerder gehört. Sie wartet, bis der Alte herauf kommt und am Chausseegraben wendet. Er sieht eitel freundlich aus und erwidert auf die Frage, wem dort drüben der Acker gehöre, sehr stolz: „Hab’ ich mir gepachtet, und gepflügt hat’s der Wernern ihr Bruderssohn, der Wirt ist zum ‚Rautenberg‘ in Bischwerder; der hat zwei Spann Pferde und thut’s mich zu Gefallen.“ Er wartet gar nicht ab, bis sie ihn fragt, wer’s beackert hat, er umgeht diese Frage mit dreister Lüge.

„Wir könnten schon fertig sein hier, Hoch,“ sagt sie streng.

„Hiermit?“

„Ich dächte – der Zeit nach?“

„Wenn ich der Frau zu langsam schaffe, kann sie sich ja nach einem andern Meier umsehen, dann gehe ich Neujahr,“ lautet die in aller Seelenruhe gegebene Antwort.

„Schon recht,“ sagt Christel, äußerlich gar nicht aus der Fassung gebracht.

„Man hat so schon seine Ordnung nicht mehr richtig,“ fährt der Oberknecht fort und hebt kräftig die Pflugschar, um sie zu wenden, „das Essen ohne Saft und Kraft, und was die Butter ist, da spritzt einem die Milch ins Gesicht, wenn man sie aufstreicht. Für den Lohn kann ich’s ohnehin nicht mehr machen, wollt’s der Frau schon längst sagen.“

„Steht Ihnen nichts im Wege,“ antwortet Christel, „aber bis dahin bitte ich mir aus, daß Sie Ihre Schuldigkeit ordentlich thun, sonst fällt’s Zeugnis danach aus, verstanden?“

„Brauch’ kein Zeugnis mehr, ich dien’ nich’ wieder, ich heirat’ die Wernern nach Weihnacht, dann wirtschaften wir für uns,“ antwortet der Alte kurz.

„So, so!“ macht Christel und wendet ihm den Rücken. – Es ist eine Kalamität mit dem Landgesinde heutzutage, eine doppelte, wenn eine Frau der Gutsherr ist. Christel kommt mit gerunzelter Stirn nach Hause; sie ist furchtbar rasch gegangen, denn neben dem Bewußtsein, daß sie einen Ersatz für den Meier, ein Mittelding zwischen Herrn und Knecht, wird mühsam suchen müssen, hat sie plötzlich die Angst um die Kinder überfallen, und die treibt sie förmlich durch die Herbstnebel heim. Sie will nur einen Augenblick oben nachschauen, bevor sie sich, wie immer, in der Wirtschaft zu thun macht. Marie ist ja tüchtig, aber auch hier will sie wieder selbst schaffen, soviel sie kann wenigstens.

Droben ist kein munteres Plappern und Spielen wie sonst, unwillkürlich horcht sie ein wenig an der Thür. Lothar kniet auf dem Stuhl und wendet den Kopf nicht, als sie hereintritt, Toni sitzt auf dem Teppich mit verweintem Gesichtchen und die Muhme Reeder hat Josephachen auf dem Arme, und das kleine Ding sieht kaum Christel, als es in ein gellendes Geschrei ausbricht und mit den Armen nach ihr langt.

„Was ist denn geschehen?“ fragt Christel, entsetzt das in Wasser getauchte Taschentuch auf der Stirn des Kindes gewahrend.

Die Alte läßt die Kleine aus ihren Armen in die Christels übergehen und berichtet mit einer ihr sonst fremden Beredsamkeit, daß das arme Kind mit dem hohen Stühlchen, in dem es am Tische gesessen, umgefallen sei, ganz von allein. „Kein Mensch konnte da was vor! Ordentlich Kobolz ist sie geschossen. Zuerst hat sie gar nicht geschrieen und ist kreideweiß gewesen, und nun hat’s so eine dicke Brausche auf der Stirn.“ Aber sie, die Muhme Reeder, habe gleich mit dem Messerrücken darauf gedrückt und „Heile, heile Segen!“ gemacht. „S’ ist schon wieder ganz gut, die Frau braucht keine Angst zu haben.“

[406] Christel trägt das weinende Kind im Zimmer umher. „Tate hier bleiben, hier bleiben!“ jammert es und kann noch kaum sprechen. „Freilich, freilich!“ tröstet sie, „Tate bleibt bei euch, s’ist ja ganz egal, wie’s draußen geht, Tate bleibt bei euch!“

Lothar ist jetzt auch zu ihr gekommen. „Tante, schick’ die Frau fort,“ fordert er und die Kinderaugen sehen sie vorwurfsvoll an, „sie hat mich geschlagen.“

„Der Junge hat Ihnen nachgewollt,“ verteidigt sich die Alte, die Lothars Worte errät und sieht, wie er seine geschwollene Hand zeigt. „Wie ich die Thüre zugemacht habe, hat er mit den Fäusten dagegen gepoltert, und da hab’ ich ’n gehauen.“

„Du warst nicht artig, Lothar,“ tadelt Christel gepreßt.

„Die alte Frau hat immerzu geschlafen,“ erklärt er, „hat gar nicht gespielt mit uns, die alte Frau taugt nichts.“

„Lothar!“ ermahnt Christel und dankt Gott im stillen, daß die Alte schwerhörig ist.

„Du sollst bei uns bleiben, Tante,“ fordert er, „oder du sollst uns mitnehmen.“

„Ja, ich bleibe bei euch,“ wiederholt Christel und legt das noch immer leise schluchzende Kind auf sein Bettchen. Dann lohnt sie die Alte ab und sitzt nun da mit heißem Kopf und trüben wirren Gedanken. Wie soll sie es machen, um allem gerecht zu werden? Sie muß andere Arbeitskräfte gewinnen, einen zuverlässigen Inspektor etwa. Sie lacht leise auf – für das kleine Gut? Aber so geht’s doch nicht weiter, sie kann nicht überall dabei sein wie sonst, zumal im Herbst. In ihrem Kopfe schwirrt die Menge der nötigen Arbeiten wirr durcheinander, Rübenernte, Düngen, Pflügen, die Obstbäume, die ihrer Last entledigt sein wollen, Verwertung des Obstes, die Wintersaat, die Sicherung der Ställe vor Frost und Zug, bei allem ist sie sonst dabei gewesen oder hat gar selbst Hand angelegt – ach, und die Milchwirtschaft!

Der alte Hoch hat so unrecht nicht: die Butter war ein paarmal schlecht, der Händler hat sich auch beklagt. Marie ist manchmal flüchtig – nein, das zu behaupten wäre ungerecht; das fleißige Geschöpf hat eine wahre Ueberlast von Geschäften; sie sieht schon ganz jämmerlich aus und ist noch so jung, ist ja keine Wirtin, der die Erfahrung zur Seite steht, und macht sich manche unnütze Mühe. Auch hier möchte Hilfe am Platze sein.

Aber was thun Fremde dabei, die kosten nur Geld! Christel selbst muß schaffen, wenn ein Verdienst herauskommen soll. Dann also eine zuverlässige Frau für die Kinder?

Und da schüttelt’s plötzlich die Sinnende – wenn ihnen etwas passierte? Wenn ihr der leiseste Vorwurf gemacht werden könnte, diese Kinder nicht gut gewartet, nicht hingebend gepflegt zu haben? Gerade diese? – Nein, nein, mag’s drunter oder drüber gehen, wie es will, nur hier nichts versäumen!

Christel will sehen, daß sie eine Art von Inspektor bekommt; etwas Besseres als ein Meier, nicht völlig ein Herr, aber doch so, daß ihn die Leute anerkennen – ob es so etwas giebt? Und dann ein tüchtiges Hausmädchen zur Stütze für Marie. So viel sie selbst mit helfen kann, wird sie’s ja natürlich thun. Aber, wie das ins Geld laufen wird? Sie rechnet. Ihre roten Lippen, die noch so jung aussehen, bewegen sich leise, die blauen Augen sehen starr ins Weite dabei. Mit einem tiefen Seufzer steht sie auf. „Es geht nicht!“ spricht sie zu sich – „es geht nicht!“

Dann irrt ihr Auge zu dem schlummernden Kind mit der Kompresse auf der heißen geschwollenen Stirn. „Es muß aber doch sein,“ sagt sie jetzt laut und beugt sich zärtlich über die kleine Josepha, die das blonde Kraushaar ihres Vaters und seine bläulichgrauen klaren Augen hat. „So lange ich für euch sorgen darf, muß es sein – wer weiß, wie lange das noch dauert!“ Und ein zweiter Seufzer, noch tiefer als der erste, folgt.

Als jetzt Marie, müde und abgehetzt, eintritt mit einer Kanne Milch für die Kinder, legt Christel die Hand auf die Schulter des Mädchens und sagt freundlich: „So geht’s nicht weiter, Marie!“

„Ja, Frau, so geht’s nicht weiter, da haben Sie recht!“ antwortet diese mit zuckenden Lippen. „Wenn’s denn schon über die Kräfte von unsereinem geht, da mag’s noch sein, am letzten Ende hat der Mensch doch seinen Mund, um zu sagen: ‚So! Jetzt kann ich nicht mehr!‘ Aber wenn das Vieh auch darunter leiden muß, das nicht klagen kann, da wird’s zu toll.“

„Was ist denn geschehen?“ fragt Christel erschreckt.

„Der Wilhelm hat das Handpferd so geschlagen, daß der Meier es herführen mußte; es kam auf drei Beinen. Karl meint, das Tier sei hin.“

Christels Augen blicken finster an dem Mädchen vorüber. „Bleib’ bei den Kindern,“ befiehlt sie kurz und nimmt ihr Tuch.

„Frau,“ ruft Marie ihr ängstlich nach, „der Alte und der Wilhelm haben sich sehr erzürnt und der Wilhelm ist total betrunken!“ Aber Christel ist schon mit raschen Schritten die Treppe hinuntergestiegen. Es schlägt zwölf Uhr, als sie durch den Hausflur geht, über den Hof und nach dem Pferdestall, aus welchem Schelten und Geschrei ihr entgegendringen. Der Meier Hoch ist um das Pferd beschäftigt, als sie eintritt; er hat einen Eimer mit Wasser neben sich, darin ein Gewirr von Binden und Bandagen, und das rechte Hinterbein des Tieres blutet stark über der Fessel. Der betrunkene Knecht bemüht sich, das eben abgenommene Geschirr des Pferdes an die Haken zu hängen, hängt aber immer daneben, was zur Folge hat, das das Kummetzeug rasselnd zu Boden fällt. Als er Christel erblickt, lehnt er sich an die Wand, um sein Schwanken zu verbergen, und hält mit Fluchen inne; der Alte schimpft desto lauter.

„Ruhig!“ herrscht ihn Christel an. „Was ist’s mit dem Pferde? Wer von euch ist so roh gewesen?“

In nicht zu beschreibenden Ausdrücken fahren die beiden aufeinander los. Der Kleinknecht hat eine Kette in der Hand und macht Miene, auf den andern einzudringen. Christel versteht aus den häßlichen Reden nur so viel, daß jeder den andern beschuldigt. Der Alte droht dem „verlogenen tückischen Hund, der da säuft und das Vieh mißhandelt“, und der andere schreit, daß Saufen und Hauen noch kein Stehlen sei, und wenn so ein Beest widerhaarig wäre, da haue er zu mit dem, was er gerade in der Hand habe, und das sei in diesem Fall die Dunggabel gewesen.

Der Meier löst die Binden und fährt auf den Ankläger los bei dem Worte „Stehlen“; im nächsten Augenblick haben sich die Kerle am Kragen und der Alte, von den jungen, kräftigen Händen gepackt, kommt unter den Knecht zu liegen. Wie ein wildes Tier hockt der auf ihm und haut mit der Faust, wohin er trifft. Christel ruft dazwischen, aber die von blinder Wut gepackten Menschen hören nicht. Nun läuft sie zur Thür und schreit über den Hof: „Karl! Karl!“

Der große, stille Mensch, ein Riese mit melancholischen braunen Augen – er ist ehrlich und ordentlich – kommt aus der Scheuer von der Häckselmaschine angelaufen, reißt mit einem: „Du windschiefes Lotter, du!“ den Wilhelm zurück und gießt noch zum Ueberfluß den Stalleimer über den Trunkenen aus.

„Packen Sie Ihre Sachen,“ sagt Christel zu dem triefenden Menschen, „Sie sind entlassen.“

Das hätte er nicht nötig, ist die patzige Antwort, während er das Wasser abwischt.

„Das wird sich finden,“ antwortet Christel. „Karl, rufen Sie mal meinen Schwager; ich lasse ihn bitten, auf einen Augenblick –“

Der wäre sein Herr nicht, ruft Wilhelm frech dazwischen.

Christel zittert an allen Gliedern. „Ihr Herr bin ich,“ sagt sie, „und mein Schwager führt nur meine Befehle aus, wenn er Sie gewaltsam entfernt, falls Sie nicht sofort gehen.“

„Ja freilich, das Regieren verstehen die Weibsen noch nich g’nug,“ hohnlacht der Mensch, „wenn sie auch so thun; sie haben doch alleweile Angst vor unsereinem.“

Chnstel wendet sich ab, dem verletzten Pferde zu; ihre Zuversicht, ihr Selbstvertrauen ist schier gebrochen diesen Roheiten gegenüber. Der Oberknecht hat sich endlich auch aufgerappelt; zerzaust, halb erwürgt, mit verschwollenem Gesicht will er sich wieder an das Verbinden des Tieres machen.

„Lassen Sie das,“ befiehlt Christel barsch, „ich werde den Schmied rufen.“ – Der Schmied gilt auf dem Dorfe als Sachverständiger bei Krankheiten des Viehes.

„Na, wenn ich nicht mehr nötig hier bin, kann ich ja auch gleich gehen,“ höhnt der Alte, in der Meinung, er sei unentbehrlich, und wirft die Bandagen hin.

„Das können Sie,“ antwortet Christel.

Der Mann giebt dem ihm im Wege stehenden Eimer einen [407] Tritt und trottet aus dem Stalle, etwas von verfluchten Weibsen, die da wirtschaften wollen und es nicht verstehen, murmelnd. Der Knecht folgt ihm und ruft im Hinausgehen Christel zu: „Die Frau sollt’s nur wissen, daß ihre heurigen Kartoffelmieten bis ins Bischwerdersche reichen, und für Futtermöhren und Rüben ist auch die Graft da drüben schon gegraben, und ebenso für ihre Kartoffeln; mir kann es ja recht sein!“

Christel ist plötzlich allein in dem halbdunklen Stalle; sie geht zu dem mißhandelten Pferde hinüber, das so stumm seinen Schmerz trägt und den Kopf nach ihr wendet, sie ansieht mit den ergebenen duldenden Blicken der armen Kreatur, die willenlos in der Menschen Gewalt gegeben ist. Sie klopft ihm den Hals und streichelt es, als wolle sie abbitten: „’s ist meine Schuld, du armes Vieh, ich hab’ mich nicht genug um alles gekümmert, hab’ alles vergessen über dem einen.“ Und dann lehnt sie wie schwindelig den Kops an den Hals des Tieres und ein trocknes hartes Schluchzen kommt aus ihrer Kehle. – Es ist unmöglich, Hausherr zu sein und zugleich Mutter; sie fühlt es, sie kann die Last nicht weiter tragen allein, wie soll es werden?

Als Wendlandt jetzt in den Stall tritt, wendet sich ihm ein banges verzweifeltes Gesicht zu, so daß er die Frau staunend betrachtet. Ihre sonst so entschlossene, ruhige Miene ist verschwunden, sie wiederholt nur halblaut die Frage: „Wie soll es werden, Wendlandt? Ich habe den Oberknecht und den Wilhelm fortschicken müssen; der eine trinkt und der andere ist unehrlich geworden.“

Wendlandt antwortet nicht gleich. Er untersucht das Bein des Pferdes und sagt dann ruhig: „Sieht schlimmer aus, Schwägerin, als es ist, aber stehen muß es seine Zeit.“

Christel schweigt. Sie hat die Hände gefaltet und sieht zu, wie der Mann dem verletzten Tiere eine Binde anlegt, so einfach, so sachgemäß. Sie versteht’s auch, aber die Scene vorhin hat sie förmlich gelähmt. Als er sich wieder aufrichtet, fragt er: „Was haben Sie mit dem Volk angefangen, Schwägerin?“

„Sie gehen alle beide,“ sagt sie leise.

Er beißt sich auf die Lippen. „Und die Arbeit, Schwägerin?“

Sie hebt die Schultern. „Muß sehen, daß ich Ersatz bekomme.“

„Hm!“

„’s ist meine Schuld,“ spricht Christel wieder, „ich konnt’ nicht so wie früher dabei sein.“

In diesem Augenblick steckt die Stallmagd den Kopf zur Thür herein: „Ich wollt’ man fragen, ob’s heute Mittagbrot giebt. Die Küche riecht sengrig und die Marie ist nirgends zu finden.“

Christel faßt sich unwillkürlich nach den Schläfen. „Ich komme gleich,“ erwidert sie. „Bitte, Schwager, lohnen Sie die beiden ab; Marie ist bei den Kindern, ich muß sie ablösen.“ Sie zieht die Börse und nimmt einen Hundertmarkschein heraus, den sie ihm giebt; sie hat das Geld heute früh durch die Post bekommen, für gelieferte Kartoffeln.

Er nickt. „Ist schon gefüttert?“ fragt er.

„Nein – Karl muß es thun, ich werd’s ihm sagen; er ist zum Schmied gelaufen, wird aber jeden Augenblick zurückkommen.“

„Gehen Sie nur, Schwägerin,“ sagt Wendlandt, „ich werd’ aufschütten.“

Er öffnet den Deckel der Futterkiste und kraut sich hinter den Ohren sie ist leer, wie ausgefegt. Christel nestelt den Schlüsselbund vom Gürtel und giebt dem Manne den Schlüssel zur Haferkammer. Sie ist ganz betroffen; gestern abend hat sie erst Futter ausgegeben, und heute ist alles verbraucht!

Wendlandt steigt die leiterartige Treppe empor, die zur Haferkammer führt. „Dahier fehlt der Mann!“ sagt er halblaut zu sich selbst. Sie starrt ihm nach mit bekümmertem Gesicht, dann wendet sie sich seufzend um.

„Dahier fehlt der Mann!“ Die Worte trafen ihre Seele. „Er hat recht, er hat tausendmal recht!“ Und sie sinkt, ohne ein Wort zu sprechen, in den Lehnsessel am Ofen der Kinderstube und kann nicht antworten auf die Vorwürfe der Kleinen: „Tante, warum bist du denn so lange geblieben – Tante Marie hat den Tisch gedeckt, essen wir bald?“ – „Tata Hunger!“ klagt die kleine Toni und wackelt unbehilflich zu ihr, und die andere ist erwacht und schreit wieder über ihr Wehweh!

Mit stummen Liebkosungen sucht sie die kleine Gesellschaft zu beruhigen und als Marie endlich die Suppe bringt, legt sie ihnen vor und füttert sie, aber das Herz ist ihr schwerer denn je.

Dahier fehlt der Mann!

Die Worte schütteln ihre Seele, sie sind so wahr, so unumstößlich wahr. Und wenn tausend Federn schreiben und tausend Zeugen behaupten, die Frau könne einen Beruf haben neben den Pflichten des Weibes – es ist nicht wahr! Eines oder das andere, beides wächst hinaus über menschliche Kraft und die heilige Ordnung des Hauses und der Familie, die gebotenen Pflichten werden gröblich vernachlässigt. Oder fremde Kraft ersetzt die unsere. Fremde Kraft, gewiß, wenn wir durch sie imstande sind, Zeit für höhere Aufgaben zu gewinnen. Aber, giebt es etwas Höheres auf der Welt, als seine Kinder heranbilden, sie zu nützlichen Menschen machen, sie Zucht und Sitte lehren? Kann da eine Fremde die Mutter ersetzen?

Christel, die mutige, starke, fühlt ihre Ohnmacht. Wo bleibt der Nutzen all der Bestrebungen, wenn man sich in zwei Berufe zersplittert, in den des Hausherrn und den der Mutter?

Halbheiten sind’s, und das eine oder das andere kommt nicht zu seinem Recht!

Als Wendlandt nach einer halben Stunde klopft, um ihr das Mietsbuch des Knechtes zu bringen – der Alte hat ein Zeugnis verschmäht – sagt er: „Schwägerin, so geht’s doch nicht, Sie wenden zu viel Zeit an die Kinder. Nehmen Sie sich eine Wärterin, sonst geht’s mit der Wirtschaft zurück, und Sie waren doch so recht im Zuge. Sie haben’s Zeug dazu, wie man so sagt.“

Sie hebt das trostlose Gesicht zu ihm empor. „Wendlandt, wenn’s meine eigenen wären, und selbst dann nicht; es ist eine zu große Verantwortung.“

„Nun ja – Sie machen sich’s aber auch zu schwer, Christel; es giebt doch zuverlässige Personen –“

Sie schüttelt den Kopf. „Nein – nie. Ich denke, es ist besser, ich nehme so eine Art Inspektor.“

Er schweigt.

„Ich lasse ein Gesuch einrücken.“

„Ja, Schwägerin, aber ich würde nicht dazu raten, das Gut ist zu klein.“ Und als sie nicht antwortet, reicht er ihr die Hand, „lassen Sie mich rufen, Schwägerin, wenn Sie mich brauchen können, ich komme herzlich gern.“

Damit geht er und sitzt dann bei Tische daheim seiner ärgerlichen Frau gegenüber, die natürlich schon von den Vorgängen auf dem Rödershofe weiß, und ist nicht imstande, Christel zu verteidigen.

„Du liebe Zeit,“ sagt sie spitzig, „sie hat’s nicht besser gewollt, und wenn einer dumm ist, muß er geprügelt werden. Geb’s Gott, daß es nicht zu spät ist. Die Kinder hat sie nun auch auf dem Halse und er läßt sich nicht wieder blicken. Paß auf, der verduftet nach Amerika und kommt nicht wieder!“

„Ist ja möglich!“ antwortet er.

„Und am letzten Ende fällt sie uns zur Last mitsamt den ‚Erben‘, denn die Wirtschaft geht zurück, das sieht jeder.“

Er antwortet nicht darauf, er redet von andern Dingen. Und nach Tische, bevor er auf die Felder wandert, geht er zum Schmied des Pferdes wegen und dann nach dem Gasthof, und wie er dort den, welchen er sucht, des Gastwirts Weiser jüngsten Sohn, vor der Thür stehen sieht, die Reservistenmütze auf dem Kraushaar, sagt er: „Karl Weiser, willst du mir einen Gefallen thun?“

„Gern, Herr Wendlandt.“

„Dann geh’ zur Aushilfe nach dem Rödershof, zum Säen und Pflügen und Düngerstreuen. Der Meier und der Kleinknecht haben sich erzürnt und sind beide fort seit heute; meine Schwägerin ist in Verlegenheit um einen Ersatz.“

„Herr Pate,“ antwortet der junge frische Mensch und schiebt verlegen die Mütze von einem Ohre zum andern, „länger Wie bis Anfang oder höchstens Mitte Dezember könnt’ ich aber nicht, dann will ich in die Stadt und meinen künftigen Schwiegereltern ein wenig im Laden helfen, und Neujahr gehe ich auf die landwirtschaftliche Schule.“

„Sollst auch nicht länger, Karl, aber geh’ jetzt hin; bis Anfang Dezember wird ein Ersatz da sein. Weißt ja Bescheid mit der Arbeit; und wenn du auf die Schule gehst, da zeige dich vorher bei mir, bist ja mein Patenkind – vergiß das auch nicht!“

Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 14, S. 439–442

[439] Aus der Pforte des Krankenhauses in dem halbpolnischen Städtchen tritt ein großer Mann, dessen blonder, leicht mit Weiß gemischter Vollbart ein gelblichblasses Gesicht umrahmt, ein Gesicht, das mit seinen tiefliegenden Augen und dem müden Ausdruck von schwerer, eben überwundener Krankheit erzählt. Er stützt sich fest auf seinen Stock, als er die Stufen herunterschreitet, wendet sich dann noch einmal um und nickt einem Manne zu, dem Krankenwärter, der ihn gepflegt hat während dreier Monate.

„Sehen Sie, es geht ganz gut, lieber Kramer; ich bin wieder gesund; Sie brauchen mich nicht zu begleiten, ich muß mich gewöhnen an das Alleingehen. Und nochmals vielen Dank!“

„Adjes, Herr Mohrmann! Alles Glück, und kommen Sie gut heim!“

Anton Mohrmann geht die Straße entlang dem Gasthof zu, wohin er seine Sachen hat schicken lassen, und wo für ihn ein Zimmer bestellt ist. Er erwartet Heine, den er gebeten hat, ihn zu besuchen.

Kommen Sie gut heim! wiederholt er bitter – heim! – Heimatloser ist er als der Sperling, der auf dem festgestampften Schnee des Fahrwegs hüpft, um Nahrung zu suchen; der hat doch ein Nest! Ja, was wird er nun beginnen? – Er will Heine bitten, ein paar Wochen gegen mäßige Pension bei ihm bleiben zu dürfen, denn er fühlt sich noch immer sehr schwach, und vom Krankenhaus aus ist’s ihm nicht gelungen, eine neue Stellung zu gewinnen, Scorodowo aber ist besetzt. Der Herr hat auf ihn nicht warten können, hat bald einen Inspektor hingeschickt, der mit Flüchen und Prügeln bei der Hand ist, der die polnischen Mägde aus dem Hause wirft und mit der Wirtschafterin um so besser steht, kurz, einen, der dahin paßt.

An jenem Tage, als Heine zu ihm kam, ist Anton krank geworden. Er erinnert sich nur noch undeutlich, daß man ihn spät abends aus seinem Bette in den Wagen trug, daß er noch hörte, wie der Arzt von „Typhus“ sprach, und dann hatte er wochenlang die Besinnung verloren. Hinterher sollte das Gesundwerden kommen, und das wollte erst nicht gelingen; er bildete sich in seiner Mattigkeit, seiner Kraftlosigkeit ein, er werde dennoch sterben, obgleich der Arzt ihm versicherte, daß die Gefahr vorüber sei. Er empfand bei diesen Todesgedanken etwas wie Glück; es war so still um ihn, so friedlich, er hatte auf Erden nichts mehr zu suchen, und – seine Kinder – – seine Kinder sind ja bei Christel! – – Welche Ruhe sich über ihn ausbreitet bei diesem Gedanken an Christels Liebeswerk, so eine süße wohlige Ruhe! Erst mit den wiederkehrenden Kräften kommt das Bewußtsein über ihn, daß er noch Pflichten hat, und damit die alte Sorge, der alte Zweifel, die alte Niedergeschlagenheit.

Er braucht nicht betteln zu gehen in der nächsten Zeit, nein, das nicht. Er hat vor kurzem aus dem beendigten Konkurs noch den Rest seines einstigen Vermögens, einen kleinen Bruchteil desselben, ausgezahlt erhalten, dreitausend Thaler. Es ist nicht viel. Aber doch etwas, um mit Ruhe suchen zu können nach einer Stellung, um nicht in der Verzweiflung zugreifen zu müssen nach jedem Strohhalm, um der Frau, die selbst um ihr täglich Brot ringt, seine Kinder, die Last, die sie sich in ihrer endlosen Herzensgüte, ihrem Mitleid selbst aufgebürdet, wieder abnehmen zu können. Er will Heine bitten, die Kinder zu holen und ihnen ein Heim, ein vorläufiges Heim zu gewähren.

Wie gern hätte er Christel selbst gedankt für ihre Güte, aber das kann er nicht, das nicht! Er will sie nicht wiedersehen, will sich nicht kaltfreundlich von ihr anschauen oder gar abweisen lassen; Heine muß seinen Dank mitnehmen.

Es geht mit den müden Füßen noch nicht so recht vorwärts, murmelt Anton und wandert über die Straße dem „Schwarzen Adler“ zu, dem einzigen Gasthof des Städtchens. Er hat deutsche Kellner, aber einen polnischen Wirt, einen Wirt, der aussieht wie ein Graf, die elegantesten Manieren besitzt und ausgezeichnet selber kocht. Den herkömmlichen Schmutz abgerechnet, ist dies Hotel eine Perle unter seinesgleichen.

Der Krankenwärter ist tags vorher dort gewesen und hat ein geheiztes Zimmer nach vorn heraus bestellt. Der kurze Dezembertag neigt sich seinem Ende zu und doch ist es kaum drei Uhr. Ein Kellner begleitet Anton in sein Zimmer, schürt im Ofen das Feuer, schreibt seinen Namen auf und geht, als der Gast auf Weiteres vorläufig verzichtet, hinaus; und nun sitzt Anton da, allein im fremden Hause, den Kopf auf die Sofalehne gestützt, und wartet. Auf was? Er weiß es eigentlich selber nicht, er hat auf nichts zu warten mehr – – Ja so, auf Heine, Heine muß ja kommen.

Draußen stiebt ein feiner scharfer Schnee in der Luft. Ueber die Mauer des benachbarten Grundstückes ragen schneebedeckte Aeste, auch eine Tanne ist dabei, auf deren dunklem Grün es flimmert und glitzert. Von diesem Bilde ist’s nur ein Sprung zum Weihnachtsbaum und zu den Kindern, und neben den Kindern steht Christel, immer Christel!

Aber das hat er sich verscherzt, das Glück, das große, große Glück! – –

Der Kellner tritt nach kurzem Anklopfen wieder ein und bringt einen Brief. Anton nimmt ihn halb zerstreut und hält ihn ein ganzes Weilchen in der Hand; endlich tritt er nahe ans Fenster und erkennt den Poststempel von Heines jetzigem Wohnsitze. Ein Schreck durchzuckt ihn, es ist nicht seine Handschrift, und als er nun den Brief entfaltet, schreibt richtig die kleine Frau Heine, daß ihr Mann nicht kommen könne, daß auch er erkrankt sei, und zwar an einer Lungenentzündung, und daß sie den ihr und ihrem Manne so werten Gast jetzt leider nicht aufzunehmen vermögen, so schwer es ihnen auch werde, auf diese Freude verzichten zu müssen.

Anton geht auf seinen Platz und fragt sich wieder einmal: Was nun? – Wohin? Und plötzlich packt ihn eine so starke, alle Bedenken überwältigende heiße Sehnsucht nach dem einzigen Menschen, der ihn verstanden hat, nach dem einzigen Herzen, das ihm Liebe und Treue bewahrte, daß er jäh aufspringt und in der Stube hin und her wandert.

Heim! Heim – wie der verlorene Sohn! Nur noch einmal ihre Stimme hören, noch einmal in dies freundliche blaue Auge sehen und dann, wenn sie ihn wegweist – schlimmer kann’s ja auch nicht werden – dann will er die Kinder nehmen und – im Notfalle nach Amerika mit ihnen!

Heim! Ein anderes Heim als das an ihrer Seite hat er ja nie besessen! Das schlichte treue Nebeneinander mit ihr ist das einzige wahre Glück gewesen, das er je gekannt, alles andere war Schein, Lüge, Erbärmlichkeit! Er will ihr das sagen, alles sagen, was er erduldet und erlitten, sie muß ihn hören!

Er langt den Ueberrock vom Nagel, nimmt Hut und Stock und beauftragt den Hausknecht, ihm den Koffer nach dem Bahnhof zu bringen. Dann bezahlt er den Wirt und macht sich auf den Weg. Der Zug gehe erst in einer Stunde, hat der Mann ihm gesagt.

Desto bester, er kann ja nur langsam gehen. Und indem er dahinwandert, fühlt er den eisigen Wind nicht, und nicht den Schnee, der ihm entgegenfliegt und Hut und Ueberzieher mit glitzernden Krystallen bedeckt. Er sagt nur immer wieder das eine Wort „Heim“!

Schlafen kann er nicht in dem sausenden, rüttelnden Wagen des Schnellzuges. In Berlin muß er nach einem andern Bahnhof fahren; er sieht die hastenden, jagenden Menschen auf der Straße im Nebel des kalten Wintermorgens, an dem um neun Uhr die Laternen noch brennen, wie im Traum. Er vergißt Essen und Trinken auf dem Anhalter Bahnhof und atmet erst auf, als er im Zuge nach Dresden sitzt. Und dann ist er auch dort angekommen. Er nimmt in aller Eile eine Tasse Kaffee und löst ein Billet nach dem Städtchen, das Christels Station ist; Heine hatte ihm alles ausführlich schreiben müssen, als er wieder in der Besserung war.

Wie hat er sich in den langen, einsamen Stunden der Rekonvalescenz den Ort ausgemalt, in dem sie und seine Kinder weilen! [440] Rödershof – wie traulich das klingt! Er kennt ihre Stube, er sieht die alten lieben Möbel und er sieht die Kinder um sie. So traut wie eine Heimat erscheint ihm das Unbekannte. Gleich einem fährt er dahin, der jahrelang verbannt war aus dem Frieden des Vaterhauses, der aus fernem öden Lande zu ihm flüchtet, um immer dort auszuruhen von Sturm und Not. –

Und wenn er die Thür verschlossen findet? Wenn ihm die Rast dort verweigert wird? Wenn er wieder davonwandern muß – im Dunklen, Kalten mit seinen drei Mutterlosen? Ist es nicht etwas Ungeheures, was er da verlangt in seiner heißen Sehnsucht, seiner schreienden Herzensnot? Sie kann ihm ja gar nicht verzeihen, sie kann’s nicht! sagt er sich. Und dennoch treibt’s ihn hinaus von der kleinen Station auf die Chaussee nach Bärenwalde, in den sinkenden Abend hinein mit unheimlicher Macht.

Wunderbar, er fühlt keine Müdigkeit mehr, es ist ihm, als habe er Flügel! In der Ferne vor ihm liegt ein letzter blaßgoldener Schein wie die Verheißung von lauter Glück, über ihm funkeln die Sterne bereits, die Sterne des Christmonats.

Am Eingang des Dorfes fragt er einen Jungen, wo der Rödershof sei. Und für den gespendeten Nickel läuft der Kleine bereitwillig vor Anton her und bleibt am Sandsteinpfeiler stehen. „Den Weg da müssen Sie hinaufgehen, und an der Hausthür ist ein Klopfer.“

Und Anton geht den Weg hinauf, sehr langsam. Sein Mut ist jählings von ihm gewichen, ebenso seine physische Kraft, die er überschätzt hat in seinem sehnsüchtigen Verlangen, und er starrt auf den Schein des Lichtes, das durch die Ausschnitte der Fensterläden dringt, als seien diese hellen runden Flecken abweisende, warnende Augen. Dann lehnt er schwer am Stamm der Linde und trocknet den Schweiß von seiner Stirn.

Schlimmer als ein Bettler erscheint er sich! – 00000000000000000000

Christel sitzt in der Wohnstube mit den Kindern. Sie nimmt die Kleinen jetzt immer mit hinunter, da kann sie von Küche und Milchkammer aus schneller bei ihnen sein. Mit unendlicher Mühe und Anspannung aller Kräfte hat sie es durchgesetzt, ihre Wirtschaft in regelrechte Ordnung zu bringen. Nach Neujahr soll ein Inspektor antreten; sie ist mit einem älteren Manne handelseinig geworden, der gern noch etwas verdienen möchte zu seiner Pension als ehemaliger gräflicher Beamter, und glaubt, mit der Arbeit auf dem Rödershof noch gut fertig werden zu können. Christel hat zwei leere Zimmer oben für ihn bestimmt, denn der alte Mann bringt seine Tochter mit, derentwegen er hauptsächlich wieder auf dem Lande leben möchte; sie sei ein wenig kränklich, sagt er.

Wendlandt ist des öftern im Rödershof gewesen und hat seinem Patenkind auf die Finger gesehen, und einmal hat er Christels Hand genommen und recht herzlich gesprochen: „Schwägerin, ich red’ aus andern Beweggründen wie Louischen, aber ich rate dasselbe – thun Sie die Last von sich mit den drei Kindern und nehmen Sie selbst wieder die Zügel der Wirtschaft in die Hand; es haut nicht aus auf solch kleinem Gut mit Inspektorgeschichten – glauben Sie’s mir, es frißt zu viel Zins.“

Aber Christel hat den Kopf des Jungen an sich gedrückt und hat, außer sich, gerufen: „Wenn ich die Kinder wieder missen soll, dann ist’s mir ganz egal, was aus allem wird, dann mögt ihr mich am liebsten gleich begraben! Könnt ihr die Zeit dazu nicht abwarten? Ueber kurz oder lang holt man sie mir ja doch weg, und dann seht zu, was aus mir werden wird!“

„Aber, Schwägerin, gerade diese Kinder –!“

Christel hat ihm nicht geantwortet, ihn nur angestaunt mit großen Augen. Gerade diese Kinder! Begreift denn der Mann nicht, daß ihr keine Geschöpfe auf Gottes Erde näher stehen könnten als eben diese Kinder?

Und Wendlandt ist gegangen und hat zu sich selbst gesagt: „Du hättest doch eigentlich wissen müssen, daß sie den Vater nicht vergessen kann bis auf den heutigen Tag, und daß all diese jahrelang zurückgedrängte Liebe auf seine Kinder ausströmt! Du hättest es wissen müssen, sie hat dich ja heimgeschickt mit einem Korb. Wenn’s ihr nur um Kinder zu thun war, hätte sie ja die deinen lieben können? Aber siech und elend wird sie sich machen in ihrer übertriebenen Gewissenhaftigkeit; jede Nacht um zwölf Uhr oder später zu Bett, und um drei Uhr morgens auf – wo will das hin?“

Ja, diese große blühende Frau war bleich und schmal geworden unter der Arbeitslast, unter der fortwährenden Angst, man könne ihr die Kinder nehmen. Sie schrickt zusammen, hört sie einen Fremden kommen, sie zittert, wenn sie den Postboten sieht, und Heine antwortet so beharrlich nicht auf ihre Fragen.

Bisweilen, wenn sie sich matt fühlt unter all der Last, dann sagt sie sich zur Aufmunterung: „Wenn ich als Witwe zurückgeblieben wäre mit den Kindern, da hätt’ ich’s ja auch nicht leichter, und wie viele müssen durch die Welt mit einem noch größeren Häufchen Waisen; und gleich darauf kommt das Bittere – aber dann wären es meine eignen und ich brauchte nicht zu zittern vor einer Trennung.“

Louischen hat ihr einmal spöttisch zugerufen, die Sorge sei überflüssig und der Herr Vater jedenfalls froh, sie los zu sein, die Kinder. Sie glaube bestimmt, daß er in Amerika ein freies Leben führe. Christel hat nichts erwidert, nur gedacht, das wäre der erste Schiffbrüchige noch nicht, der sich dorthin gerettet hat. Aber die Hoffnung ist doch gleich daneben aufgesproßt: er kann die Kinder nicht vergessen, er muß ja nach ihnen sehen!

Und heute früh ist Karl Weiser gegangen, denn man schreibt bereits den fünfzehnten Dezember, und seine Schwiegereltern erwarten ihn drunten in Dresden, in der Papierhandlung. Er hat sich so sehr gefreut auf die Arbeit neben seiner kleinen Braut in dem hübschen Laden, zwischen all den sauberen, zierlichen Sächelchen; und da wird ja der Laden auch mal leer sein auf einen Augenblick, der zu einem Kusse reicht.

Christel hat ihm sehr gedankt, ihm alles Gute gewünscht, und der treuherzige Bursche hat gemeint, ihr eine rechte Wohlthat zu erweisen, indem er ihr rät, doch wieder einen Mann auf den Rödershof zu bringen, so ein schönes Gütchen; die Frau könn’s ja nicht zwingen bei den Kindern. Aber Christel hat den Kopf geschüttelt und gesagt: „Sie denken, weil Sie das Heiraten im Kopfe haben, Karl, ist’s das einzige Heil der Welt! Es giebt gar herbe Enttäuschungen, lieber Karl.“

Aber der hat lachend und mit der ganzen Zuversicht der Jugend gemeint: „Ich denke, es ist eben das einzig Richtige, Frau; aber freilich, glücklich muß man zusammen sein, das bleibt die Hauptsache.“ Und dabei hat er ausgesehen, als ob für ihn diese Hauptsache verbrieft und besiegelt wäre, als ob das Glücklichsein von ihm allein abhinge.

Christel hat ihm nachgeschaut, wie er den Weg vom Rödershof hinunter mehr gesprungen als gegangen ist, und hat still gelächelt. Nun ist’s später Nachmittag und sie sitzt mit den Kindern am Tisch. Die kleinen Mädel knieen ihr zu beiden Seiten auf dem Sofa, Lothar auf einem Stuhl, und alle drei sehen zu, wie sie Nüsse vergoldet. Die Kinder haben so erwartungsvolle glückselige Augen und von nichts weiter ist die Rede als vom Weihnachtsmann. „Bringt er den Papa auch wirklich?“ fragt Lothar.

Ueber Christels Gesicht fliegt es trübe. „Du mußt schon recht darum beten,“ erwidert sie, und zögernd setzt sie hinzu: „Und dann nimmt er dich am Ende mit, mein Liebling.“

„Und Toni und Josepha auch?“

„Das wird er gewiß thun.“

„Und dich, Tante?“

„Nein, ich bleibe hier.“

„Dann bleiben wir auch hier, ich und die Kinder,“ damit meint er seine kleinen Schwestern, „und Papa auch.“

„Papa auch!“ spricht die kleine Toni nach und nickt wichtig mit dem Köpfchen.

„O ihr – ihr –“ sagt Christel, die beiden Mädchen umfassend, und sieht sie an mit thränengefüllten Augen.

„O du Kindermund, o du Kindermund,
Unbewußter Weisheit froh,
Vogelsprachekund, vogelsprachekund
Wie Salomo!“

klingt’s in ihrer Seele. Wohl wäre es die einfachste, die richtigste Lösung! Aber Wunder geschehen nicht mehr.

„Warum weinst du?“ fragt Lothar und gleitet von seinem Stuhl, um zu ihr hinüberzulaufen.

[441] „Nich weinen, Tata!“ ruft die kleine Josepha.

Und in diesem Augenblick fällt draußen der Metallklopfer auf die Platte, ungestüm heftig, dreimal hintereinander.

Christel wundert sich – sollte Louischen? Aber das ist ihre Art nicht, zu klopfen. Wer nur sonst? Und plötzlich überkommt sie ein starkes Herzklopfen, so, daß sie nicht fähig ist, aufzustehen, und nur hinüber horcht nach dem Flur, von wo die eiligen Tritte Mariens erschallen, die zu öffnen geht. Wenn’s Heine wäre, der um die Kinder – – – ? Sie hat die Nacht vorher so schwer geträumt; sie suchte die Kinder und fand sie nicht, nur Oede und Stille ringsum – es war so schrecklich gewesen!

Die Thüre öffnet sich und Marie kommt herein. „Frau, da ist jemand, der Sie sprechen will, ein Herr; ich glaube, ’s wird wegen der Inspektorstelle sein. Ich hab’ ihm gesagt, wir hätten schon einen, aber er besteht darauf, er will die Frau sprechen.“

In Christels Herzen steht plötzlich die Gewißheit: Heine ist’s, der die Kinder holt. Sie richtet sich langsam auf, alles Blut ist ihr aus dem Antlitz gewichen. „Nimm sie mit hinaus, Marie, bringe sie nach oben,“ sagt sie tonlos, „und führe den Herrn hier herein. Er soll einen Augenblick entschuldigen, ich komme gleich. Folgt der Marie, Kinder, spielt hübsch oben; Lothar, sei nicht so wild – ich rufe euch bald.“

Sie geht in das Schlafzimmer, weil sie fühlt: sie muß sich erst sammeln, muß Kraft finden für das Unabänderliche. Es ist dunkel hier und kalt, hinter den Läden sind die Fenster noch offen. Sie sinkt auf einen Stuhl und holt tief und schwer Atem. Nun ist’s doch so weit, nun kehrt sie zurück in die alte trostlose Einsamkeit, in die Arbeit, die nur den Zweck hat, das Leben ihr erträglich zu machen, keinem andern etwas nützend. Sie wird nicht mehr die roten Lippen der kleinen Mädchen auf den ihren fühlen, die schon so etwas zärtlich Weibliches in ihren Liebkosungen haben, sie wird nicht mehr die stürmischen Umarmungen des Jungen abzuwehren brauchen, der so eifersüchtig ist auf die Schwesterchen – allein wird sie bleiben, allein alt werden, alt und müde, müder noch als sie sich augenblicklich fühlt.

Nebenan geht ein Männerschritt hin und wider. Sie muß hinaus zu dem, der ihrer wartet. „Mut!“ spricht sie sich selber zu, „es ist vielleicht doch eine ganz andere Angelegenheit!“ Aber nach diesem Sturm, der eben in ihr getobt hat, da sagt sie sich auch, daß sie es nicht lange mehr aushalten wird so – daß ihre Nerven, ihr Herz nach Gewißheit schreien, daß ein Ende mit Schrecken besser ist als ein Schrecken ohne Ende, als dieses Zweifeln, Bangen und Fürchten.

Sie tappt sich hinüber nach der Thür und öffnet. Das Licht der Lampe blendet ihre Augen; sie erkennt im ersten Augenblick nur eine große, etwas gebeugte Männergestalt, die unweit von ihr stehend sich auf den Tisch stützt. Dann faßt auch sie, wie Hilfe suchend, nach einem Halt und starrt ihn an mit großen erschreckten Augen. Keines spricht ein Wort. Sie sehen nur staunend gegenseitig in ihre Züge, da hinein Sorge und Gram, die Sehnsucht nach dem verlornen Glück Runen gegraben haben während der Jahre ihrer Trennung, der sieben Jahre, die wie ein Strom zwischen ihnen dahinrauschten, über den keine Brücke führt.

[442] „Was willst du?“ fragt Christel endlich mit einer Stimme, die vor Angst heiser ist, „die Kinder? Nicht wahr, die Kinder? Sag’s nur, ich bitte dich!“

Er schüttelt traurig den Kopf, aber er rührt sich nicht vom Fleck. „Ich wollte dir danken, ich wollte dich bitten, mir zu vergeben, Christel, wenn du kannst.“ Er hat es leise und stockend gesprochen, und wie sie eine Handbewegung macht, die ihn schweigen heißt, da sagt er, sich noch schwerer auf den Tisch stützend: „Heim wollt’ ich, dich wollt’ ich wieder sehen, Christel, nur noch einmal, Christel!“ – Er hat einen Schritt vorwärts gethan, nun schwankt er, greift hinter sich nach einem Halt und bricht in die Kniee. Die Aufregung, die Schwäche nach überstandener schwerer Krankheit übermannen ihn, er ist ohnmächtig geworden.

Als er wieder zu sich kommt, liegt er auf das Sofa gebettet, ein weiches Kissen unter dem Haupt, und auf der Stirn fühlt er eine linde Hand, die ihm die Schläfen mit Kölnischem Wasser reibt. Ein liebes vertrautes Antlitz ist dicht über dem seinen und schaut ihn an, erschreckt und besorgt, mit treuen blauen Augen.

„Anto,“ klingt’s bebend in sein Ohr und sie kniet neben ihm, „Anto, ich bin’s, Anto, lieber Anto!“

„Christel!“ flüstert er, weiter vermag er nichts.

„Gottlob, du kennst mich! Komm’, trinke einen Schluck Wein!“

Gehorsam, wie ein Kind, trinkt er, dann verwirren sich seine Gedanken wieder, er schließt die Augen und sucht tastend nach Christels Hand. Ein glückliches Lächeln um den Mund, schläft er ein, den tiefen Schlaf der Erschöpfung. Sie bleibt an seinem Lager knieen, den Kopf auf seine Rechte gelegt, die die ihre fest umspannt hält, als wolle er sie nimmer wieder lassen. So ruhig ist’s im Zimmer, so heimelig. Gleichmäßig tickt die alte Schwarzwälder, der Kanarienvogel zwischert ganz leise im Schlaf, und über ihnen klingen dumpf die kleinen Schritte der Kinder, seiner Kinder.

„Ist das ein Traum?“ fragt sich Christel, „lieber Herrgott, ist’s ein Traum? Hat er wirklich gesagt: ‚Dich wollt’ ich! – heim wollt’ ich – dich bitten, mir zu vergeben!‘ – Soll es keine Oede, keine Einsamkeit mehr geben für mich, ist das Glück wiedergekommen, das alte, nie vergessene schlichte Glück meiner Jugend aus dem Pächterhause in Wartau? – Ach, schöner, noch viel schöner!“

Sie hebt den Kopf. „Hast du mich lieb, hast du wirklich Heimweh nach mir gehabt?“ fragt sie leise und betrachtet sein schmal gewordenes Gesicht. „Aber nicht heißer ist deine Sehnsucht gewesen als die meine nach dir, Anto, nein, gewiß nicht! Und nun lasse ich dich nicht wieder fort, nie wieder, nie! Gesund sollst du mir wieder werden in Arbeit, Einfachheit und Ordnung, und in der Sorge um deine Kinder – unsere Kinder.“

Das alles spricht sie ganz leise, als könne er sie verstehen, und ebenso leise, um ihn nicht zu wecken, entwindet sie ihm ihre Hand, schleicht sich nach einem letzten langen Blick auf ihn aus der Stube und schafft eine halbe Stunde in der Küche umher. Die Hände zittern ihr ein wenig, das Gesicht ist rosig erglüht, sie sieht so merkwürdig jung aus, die Frau Christel.

Ein Weilchen später kommt sie nach oben, wo Marie bei den Kindern sitzt. „Nimm eine reine Schürze aus der Kommode, Marie,“ befiehlt sie, „und ihr kommt her und laßt euch waschen, ganz sauber und fein müßt ihr euch machen,“ sagt sie, „und sehr artig sein.“

„Frau, ich muß wohl in die Küche, es wird Zeit zum Abendessen,“ drängt Marie.

„Ja, ja! Aber sei leise – drunten im Wohnzimmer liegt ein Herr, der ist krank und schläft jetzt ein wenig, geh’ nicht etwa hinein! Und helfen kann ich dir schon nicht, Marie, mußt den Hasenbraten, der in der Sahne liegt, und ein wenig Weinsuppe kochen, ich habe dir schon alles Nötige hingestellt.“

„Herr Jeses, Frau – das war ein Besuch? Und das sagen Sie mir jetzt erst?“ jammert das Mädchen, und im nächsten Augenblick ist sie schon auf dem Wege nach der Küche.

„Was fällt der Frau nur heute ein?“

Und Christel sitzt da oben, die Augen immer mit glückseligem Ausdruck auf die Uhr gerichtet, in der Ofenecke. Sie hat die Kinder gewaschen und frisch gekleidet. Um Sieben will sie ihn wecken, bis dahin mag er schlafen, aber dann soll er seine Kinder sehen!

Wie die heisere Stimme der Uhr anhebt zu schlagen, nimmt sie die kleinen Mädchen auf den Arm und sagt zu dem Jungen: „Komm’, Lothar.“ Dann geht sie vorsichtig die schwach erhellte Treppe hinunter.

„Tante,“ fragt der Bub’, „du hast so frohe Augen, ist der Weihnachtsmann gekommen?“

Da nickt sie. „Er hat dir gebracht, was du so sehr gewünscht hast, mein Herzblatt.“

„Wieder einen Pony, Tante?“

„Was viel Besseres, das Beste von allem.“

Und leise öffnet sie die Thür und kommt über die Schwelle mit den Kindern.

„Lauf hinüber, Lothar, und wecke den Papa,“ flüstert sie.

Das Kind steht einen Augenblick und sieht verständnislos von der Tante zu dem Manne auf dem Sofa, dann jauchzt es hellauf und läuft hinüber und klettert an dem Schläfer empor. „Papa! Mein lieber, lieber Papa!“

Als Anton die Augen aufschlägt, da sieht er über den dunklen Lockenkopf seines Jungen hinweg Christel stehen, die blonden Kinder auf beiden Armen, und ein halb glückliches, halb verlegenes Lächeln zuckt um ihren Mund, ihre Augen aber sehen ernst und still in die seinen.

„Papa, bleibst du hier?“ fragt Lothar, „lieber Papa, du darfst nicht wieder weggehen.“

„Christel?“ fragt Anton bange.

Da sagt sie ruhig und freundlich wie in alter Zeit: „Noch einmal fährt Papa fort, Lothar, nachher, um neun Uhr, zum Onkel Doktor nach Dresden, aber wenn er dann in kurzem wiederkommt, dann bleibt er immer bei Tata daheim.“

„Daheim!“ wiederholt er, „bei euch, Christel!“

Und nach einer Stunde fährt Karl vor mit dem Wagen, Christel begleitet Anton bis zur Station. Schweigend sitzen sie nebeneinander, er hat den Kopf an ihre Schulter gelehnt und ihre Hände haben sich fest umschlossen.

„Grüße deinen Freund und vor allem die Frau Doktorin,“ sagt sie endlich, „sie sollen dich bald gesund pflegen.“

„Sie werden sich wundern, Christel!“

„Worüber?“

„Daß du mir verziehen hast, du bestes Herz; daß du wieder meine Frau werden willst, mein getreues Weib!“

„Sie werden sich gar nicht wundern, Anto, sie wissen ja, daß ich nie aufgehört habe, dich zu lieben, und“ – Christel stockt ein wenig – „die Liebe höret nimmer auf,“ vollendet sie in ihrer Seele, aber der Mund schweigt. Und Anton schweigt auch. Er ist gedrückt, überwältigt von der Güte und Liebe, von der stillen Treue Christels, die nicht einen einzigen Vorwurf für ihn hatte, und Christel, die ihn immer so gut verstand, die fühlt das mit ihm. Und mit einem Anflug ihres einstigen schlichten Humors sagt sie: „Höre du – auf dem Rödershof fehlt halt der Mann, sagen die Leute; wie sehr sie recht haben, das kannst du an der Wirtschaft sehen; wir müssen tüchtig arbeiten miteinander, mehr noch als im Anfang, du, denn wir haben Erben, drei Erben, Anto, und vorläufig sieht’s windig aus mit der Hinterlassenschaft!“

„Wenn sie deinen Sinn erben könnten, Christel, deine Liebe, deine Treue, was Besseres brauchen sie nicht,“ antwortet er und drückt ihr dankbar die Hand.

„O, Anto!“ wehrt sie beschämt ab, „du wirst doch nicht jetzt noch anfangen wollen, mir Schmeicheleien zu sagen? – Gottlob, da sind wir, reise glücklich, hoffentlich kannst du bald heimkehren!“

„Heimkehren!“ wiederholt er und es ist ihm zu Mute, als verstehe er heute zum erstenmal, was das Wort „Heim“ bedeutet.