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An der Spitze der Nation

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Textdaten
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Autor: Rudolf Cronau
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Titel: Um die Erde. Vierter Brief: An der Spitze der Nation
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 686–688
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Besuch des Weißen Hauses und Erläuterung seiner Bedeutung für den Präsidenten
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[686]

Um die Erde.

Von Rudolf Cronau.
Vierter Brief: An der Spitze der Nation.[1]

Die Blicke der ganzen civilisirten Welt hängen seit Wochen mit ängstlicher Spannung an einem Hause, in dessen Mauern, von frevler Mörderhand getroffen, einer der edelsten Männer unserer Zeit mit dem Tode rang, Garfield, der Präsident der Vereinigten Staaten. Hat die „Gartenlaube“ es auch schon zu Beginn dieses Jahres unternommen, in knapp gefaßten Umrissen ein Bild des Erwählten der amerikanischen Nation zu entwerfen, so dürfte es dennoch nicht ohne Interesse sein, im „Weißen Hause“ selbst eingeführt zu werden, um zu beobachten, wie hier die Präsidenten des freiesten Volkes der Erde seit Jahren ihrer Amtsthätigkeit zu walten pflegen. – Wir müssen etwas weit ausholen.

Washington, die „Stadt der schönen Entfernungen“, ist in ihrer äußeren Erscheinung ein Städtebild der allernaivsten Art, einzig und ohne Gleichen in der ganzen Welt, aber durchaus das echteste und charakteristischeste Spiegelbild der amerikanischen Nation. Wie diese, so zeigt auch sie die größten Widersprüche und die schärfsten Extreme; Alles befindet sich hier in einem Stadium, wo Vollendetes und Halbes, Erhabenes und Unbedeutendes neben einander stehen. Nach einer Wanderung durch die ruhmreichen Avenues mit ihren zahlreichen, gleich Enak’s Söhnen über das Gewirre der unbedeutenden Backsteinbauten hinausragenden Marmorpalästen, in deren Architektur die gesunkenen Tempelbauten des classischen Griechenthums in schönster Weise ihre Auferstehung feiern, gelangt man in Stadttheile, auf deren wüstem Schutt- und Rasenwerk [687] höchstens ein paar armselig zusammengeleimte Negerbaracken sich in stagnirenden Sümpfen und Gräben wiederspiegeln. Und während das Capitol seine in der Lichtfluth der Sonne in fast überirdischer Schönheit strahlende Prachtfaçade einer bis vor Kurzem nur auf dem Plane befindlich gewesenen, neuerdings erst in Angriff genommenen Stadthälfte zuwendet, dehnen sich beim Weißen Hause die Niederungen des Potomac aus, Brutstätten malarischer Fieber, die schon manchem Bewohner des Regierungssitzes die Präsidentschaft arg verleidet haben. Die jetzige Präsidentenfamilie weiß namentlich ein böses Lied davon zu singen.

Abgesehen von diesem Uebelstande, der gewiß durch Regulirung des Flusses und Drainirung der Sümpfe gehoben werden könnte, hat das Weiße Haus eine reizende Lage und leuchtet aus dem dunklen Grün der schattigen Bäume weit in’s Land hinaus. Es ist durchaus kein anspruchsvoller Bau, und kein Mensch würde in diesem einfachen, weißgestrichenen Sandsteingebäude, dem nur ein von ionischen Säulen getragener Porticus ein charakteristisches Gepräge verleiht, den Sitz der Regierung eines großen und mächtigen Volkes vermuthen. Ein besonderes Interesse erwecken augenblicklich die drei letzten oberen Fenster des rechten Flügels auf der unserm heutigen Briefe beigegebenen Abbildung; denn sie geben dem Zimmer Licht, in welchem Garfield auf dem Schmerzenslager seine unverdienten Leiden so standhaft erträgt.

Viel gewichtiger als das Weiße Haus schauen die Ministerialgebäude drein, welche die Gartenanlagen des Präsidentensitzes umschließen und in ihrer fast überreichen Ausschmückung mit dem bescheidenen Aeußeren des Weißen Hauses lebhaft contrastiren. Wollen wir in die Anlagen und das mitten inne gelegene Gebäude eintreten, so ist Niemand da, der es uns verwehren würde; nirgends erblicken wir einen Posten oder eine Wache, deren vorgehaltenes Bajonnet uns ein: „Bis hierher und nicht weiter!“ entgegenwirft. Ungehindert durchschreiten wir die durch eine Glaswand abgetheilte Vorhalle, deren Wände die Portraits früherer Präsidenten zieren; wir wandeln durch den beständig geöffneten Empfangssaal, durch das grüne, blaue und rothe Gemach, durch den prächtigen Staatsspeisesaal, durch das seltene Blumen in Menge bergende Gewächshaus etc. und haben zu Ende unserer Wanderung den Eindruck, als hause hier ein Mann, der so ziemlich „gut ab“ sei und in behaglicher Ruhe sich des hart erkämpften Gutes freue.

Ungleich anders aber gestaltet sich das Bild, wenn wir in das im ersten Stockwerke am östlichen Ende des „Weißen Hauses“ gelegene Amtszimmer des Präsidenten treten. Es ist erst zehn Uhr Morgens, und schon finden wir in den ansprechend, für europäische Begriffe aber prunklos ausgestatteten Gemächern eine Anzahl von Secretären, Senatoren, Congreßmitgliedern und sonstigen Vertrauten, die, ohne sich viel um die Würde des Ortes zu kümmern, in ungenirtester Weise der Unterhaltung pflegen und auch in ihren ungezwungenen Stellungen durchaus kein hofmäßiges Benehmen verrathen. Ueberhaupt herrscht ein reges, lautes Leben in diesen Empfangsgemächern: Menschen kommen und gehen, plaudern mit einander laut lachend und sitzen oder liegen in den sehr behaglichen Stellungen, die, eine eigene Erfindung der Yankees, nur diesen in so ausgebildeter Weise zu eigen sind, auf Stühle und Sophas hingestreckt, geduldig der Zeit harrend, wann auch sie ihre Anliegen dem Präsidenten vorbringen können.

Von irgend einem ceremoniellen Costüm, Cylinderhut, Leibrock, oder Handschuhen ist hier nichts zu sehen; der Amerikaner ist über solchen Tand erhaben; er ist ja selbst souverain; das Volk besteht aus lauter Königen. Dort der Mann mit der silberweißen Löwenmähne um das markirte Kriegergesicht ist ein Senator und angesehener General, und Niemand wird ihn etwa wegen seines fadenscheinigen, ausgefranzten Ueberziehers oder seines von Wind und Wetter gebräunten Schlapphutes geringer achten. Ein Jeder kann halt kommen, wie ihn sein Schneider gemacht hat. Und der Präsident? Nun, er empfängt seine Besucher nicht etwa im beengenden Amtsrock, nein in seinem äußerst bequemen und wohlsitzenden Jaquet; er tritt mit dem einen Besucher in die Fensternische, den andern aber, mit welchem wichtigere und geheimere Dinge zu berathen sind, führt er in ein anstoßendes Gemach; kurz, von Ceremonie und Hofetiquette ist hier keine Spur. Jeder Senator, jeder Congreßmann hat das Recht, unangemeldet den Präsidenten in seinem Amtszimmer während der Morgenstunden zu besuchen, und der Präsident muß ihn empfangen.

Nach Erledigung der Conferenzen mit den Vertretern der verschiedenen Regierungskörper oder vielmehr Verwaltungszweige kommt die Zeit, wo der Präsident Jedermann Audienz ertheilt. Theils haben diese Besucher persönliche Wünsche vorzutragen; theils kommen sie aus purer Neugierde oder um mit dem Präsidenten „Hand zu schütteln“. Dieses Handschütteln ist eine nur den Vereinigten Staaten eigenthümliche Sitte und findet vielleicht nur in dem Küssen des päpstlichen Pantoffels einen ähnlichen Act des Ausdruckes der Ehrerbietung, mit dem Unterschiede freilich, daß der Pantoffelkuß einen ergebenen, unterwürfigen, das Handschütteln hingegen einen nur die Achtung beweisenden, mannhafteren, ich möchte sagen collegialen Charakter an sich trägt. Wenn ich das Wort „collegialen“ gebrauche, so geschieht es im Rückblick auf den Umstand, daß jeder in Amerika geborene Bürger der Vereinigten Staaten, weß Ranges er auch sein mag, die Anwartschaft auf den Präsidentenstuhl in der Tasche trägt, gerade so, wie weiland jeder Soldat der napoleonischen Armee den Marschallsstab in seinem Tornister klappern hörte.

Das Handschütteln ist nicht allein in den besagten Audienzen, sondern namentlich an den allwöchentlich stattfindenden allgemeinen Empfangsabenden, wo Jedem das Recht zusteht, den Präsidenten zu besuchen, die Hauptaufgabe des Letzteren. Da schüttelt er all den Tausenden, die an solchem Abende von ihrem Rechte Gebrauch machen den „Großen Vater“ zu besuchen, die Hände und begrüßt mit gleicher Aufmerksamkeit seine weißen Gäste wie Chinas schlitzäugige Söhne, den schwarzen, sonntäglich herausgeputzten Dockarbeiter wie den im vollen Kriegsschmucke prangenden Häuptling eines fern entlegenen Indianerstammes. So bunt die amerikanische Nation aus den verschiedensten Bruchstücken aller Völker der Erde zusammengesetzt ist, so bunt ist die Versammlung, die an den Empfangsabenden durch die weit geöffneten Thüren in die hell erleuchteten Säle strömt.

Bestände die große Zahl der Besucher des Präsidenten nur aus seinen Beamten und den von Neugierde geplagten unschuldigen Leuten, so wäre Alles schön und wohl, da existirt aber eine Classe von Menschen, die jeder Präsident nun einmal als systematisches Uebel mit in den Kauf nehmen muß: die Aemterjäger, Leute, welche Ansprüche an den Präsidenten geltend zu machen sich berechtigt glauben. Ihre Zahl ist, wie ein amerikanisches Blatt meinte, groß genug, um mit ihnen einen Krieg gegen Mexico erfolgreich durchführen zu können. Der „Cincinnati Commercial“ will mit geeigneter Unterstützung in den Stand gesetzt sein, nachzuweisen, daß 1960 Leute behaupten, mit Garfield zusammen die Schule und das College besucht zu haben, 329 sich rühmen, den großen Mann als kleines Kind auf dem Schooße gehalten zu haben, 430 ihm gute Rathgeber, 82 seine Retter vor dem Tode des Ertrinkens gewesen sein wollen, 13 das Verdienst, ihn aus einer Senkgrube herausgezogen zu haben, beanspruchen, 140 ihm Pferde geborgt zu haben, damit er nach der Kirche reite; er behauptet ferner, daß 8330 ihn als Knaben gekannt und 7329 die Prophezeiung gemacht hätten, daß er eines Tages Präsident der Vereinigten Staaten werden würde. Außerdem, berichtet das genannte Blatt ferner, haben sich 22 Capitaine von Canalbooten gefunden, unter denen Garfield beschäftigt gewesen sein soll, während 932 mit ihm zusammen gearbeitet; 850 Redacteure endlich beanspruchen den Ruhm, ihn zuerst für die Präsidentschaft vorgeschlagen zu haben. Die Zahl derer aber, die Garfield Geld geliehen haben wollen, ist Legion, aber trotzdem treten beständig neue Leute auf, deren verschiedene Ansprüche unter die genannten Rubriken fallen. Und alle diese Leute sind von ihren Verdiensten so eingenommen, daß Jeder zum Mindesten mit einer Postmeister- oder Zolleinnehmerstelle von etwa 4000 bis 5000 Dollars Gehalt belohnt sein will. Gleich nach der Inauguration eines Präsidenten pflegen sich diese politischen Aasgeier zu Tausenden in Washington einzustellen. Mit einer Unverschämtheit und Hartnäckigkeit, die sonst nur den Musquitos eigen ist, dringen diese Candidaten auf das Staatsoberhaupt ein; man empfindet geradezu Mitleiden mit dem armen, geplagten Manne.

Für diese habgierigen Leute giebt’s keine officiellen Empfangsstunden; unter den Fittichen irgend eines einflußreichen Senators, dem sie sich anzuhängen wußten, erreichen sie den Präsidenten jeder Zeit, und dann setzen sie ihm klar und deutlich aus einander, daß er seinen Wahlsieg in dem und dem Orte oder Staate nur ihrer aufopfernden Thätigkeit zu verdanken habe. Sie bitten, und wenn Bitten nichts erreichen, werden sie dringender und setzen ihm [687] schließlich, die Aufkündigung ihrer Freundschaft androhend, gleichsam den Revolver auf die Brust. Ein echt charakteristisches, durchaus aber nicht einzig dastehendes Stück solcher Unverschämtheit ist der bekannte Brief des Menschen, durch den der jetzige Präsident, das Muster eines Ehrenmannes, auf den Tod verwundet wurde, in welchem er um den Gesandtschaftsposten in Wien nachsuchte, besonders hervorhebend, daß durch ihn, der im Begriffe stehe, eine reiche Erbin zu heirathen, die amerikanische Nation jedenfalls „würdig“ vertreten sein werde. Eine zweite, von demselben Attentäter verfaßte Note, an den Secretär Blaine gerichtet, trägt noch mehr den Stempel bodenlosester Unverfrorenheit und widerlicher Vertraulichkeit. Sie lautet:

„Lieber Blaine! Garfield überläßt die Geschichte gänzlich Ihren Händen. Er setzt das vollste Vertrauen in Ihre Discretion. Wenn Kasson Wien nicht verlassen will, so will ich auf meinem Gesuch um seine Stelle nicht weiter bestehen. Ich begnüge mich mit dem Generalconsulat in Paris.

Ihr
Charles J. Guiteau.“

Ein Washingtoner Journalist berichtet sogar von einer sehr wohlhabenden Dame, die ganz einfach dem Präsidenten schrieb:

„Ich verlange von Ihnen den Platz in Brüssel für meinen Mann.“

So bereitet der Ruhm, an der Spitze der amerikanischen Nation zu stehen, wie jede Auszeichnung, dem Träger desselben manche bittere Enttäuschung; denn kaum auf irgend etwas läßt sich das Wort: „Wer bauet an der Straße, der muß sich meistern lassen“, besser anwenden, als auf die Stellung eines Präsidenten der Vereinigten Staaten. Er hat einen harten Stand gegenüber der Oeffentlichkeit, besonders aber gegenüber seinen politischen Gegnern. Für alle Fehlgriffe, die während seiner Administration von den Beamten begangen werden, wird er verantwortlich gemacht, und die Organe der feindlichen Partei befleißigen sich bei derartigen Gelegenheiten eines Verdammungsstiles, der ohne Gleichen und an dem nur das wunderbar ist, daß er nicht schon mehr Menschen den Kopf verdreht und nicht mehr ruchlose Subjecte zu politischen Verbrechen verleitet hat.

Das „Weiße Haus“ in Washington.
Nach einer Photographie auf Holz übertragen.

Kann es unter solchen Umständen verwundern, daß es einige Staatsleiter gegeben hat, die sich während ihrer Amtsdauer aller Zeitungslectüre enthielten?

Endlich kommt aber der Tag, an welchem der Präsident, nachdem er vier Jahre hindurch das Staatsschiff durch Sturm und Ungewitter geführt, seinen Ehrenposten einem Nachfolger einzuräumen hat. Der Tag des Abschiedes vom „Weißen Hause“ ist sicher der melancholischeste im Leben des Präsidenten, nüchtern und kalt; der Jubel des Volkes draußen, er gilt nicht ihm; er gilt dem neuen Präsidenten. Sein Einfluß ist erloschen; Niemand beachtet ihn mehr; spurlos, ohne irgend welche Auszeichnung taucht er in das Meer der Allgemeinheit zurück. Von dieser Regel giebt es nur seltene Ausnahmen, und diese gelten nur Männern, welche sich um die Größe des amerikanischen Volkes in hervorragender Weise verdient gemacht haben.




  1. Dieser Artikel wurde vor dem Ableben Garfield’s verfaßt, ging uns aber erst am Tage desselben zu. D. Red.