Mutter und Sohn (Die Gartenlaube 1881)
Mutter und Sohn.
Zur Linken von einem massigen Bergkegel beschirmt, der seine dunklen Schatten weit in das Thal wirft, breiten sich auf der langhingedehnten Oberfläche einer felsigen Anhöhe die großartigen Ruinen einer jener Burgen aus, an denen Tirol so reich ist. Lange Jahrzehnte hindurch stand die Moosburg in märchenstiller Verlassenheit, aber in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts hatte ein romantisch gesinnter Ausländer das interessante Felsennest käuflich erworben, und nun „sproßte neues neues Leben aus den Ruinen“, allerdings in modern romantischem Sinne. Noch standen die Grundmauern und Gewölbe, selbst die Eingangshalle des südlichen Flügels unversehrt. Der neue Besitzer ließ auf dieser Grundlage ein festgefügtes Wohnhaus emporwachsen, und schon schmückten Zinnen und Erker den in massigem Viereck aufstrebenden Bau, dessen zahlreiche Fenster gothische Bogen bildeten; ja, ihre in Rautenform bemalten Läden sahen, wenn man sie von fern erblickte, sogar wie alte Glasfenster aus. Das schwere, eisenbeschlagene Thor des Haupteinganges stammte wirklich noch aus vergangenen Jahrhunderten und führte in eine gewölbte Halle, durch deren schmale, schwere Thüren Generationen aus- und eingeschritten waren. Von dieser alterthümlichen Halle aus führte nun freilich eine ganz moderne Holztreppe zu den Wohnräumen des ersten und zweiten Stockwerkes hinauf.
Jener Fremde nun, welcher sich diese Heimstätte in der Bergeinsamkeit aufgebaut hatte, mochte derselben bald müde geworden sein; denn schon wenige Jahre, nachdem der Bau vollendet, bot er die Moosburg zum Kaufe aus, und rascher, als zu erwarten gewesen, fand sich ein Liebhaber dafür.
Herr von Riedegg – so nannte sich der neue Besitzer – zog spät im Herbst mit Frau und Dienerschaft in das eben erworbene Eigenthum ein. Die Wenigen, welche in der Gegend hiervon überhaupt Notiz nahmen, wunderten sich über den Einzug in so vorgerückter Jahreszeit; wer aber Gelegenheit fand, sich im Innern des Neubaues umzuschauen, der mußte zugestehen, daß die Moosburg auch im Winter als behagliches Heim gelten durfte. Den hohen Gemächern fehlten weder solide Kachelöfen, noch gute, zum Theil prächtige Polstermöbel und Teppiche. Für ein junges Paar mochte es sogar eigenthümlichen Reiz haben, die rauhe Jahreszeit in solcher gegen ihre Angriffe wohlgeschützten Abgeschiedenheit zu verleben. Jetzt lohnte jedenfalls das warme Wetter den Entschluß, sich hier häuslich niederzulassen.
Herr und Frau von Riedegg saßen an einem sonnigen Morgen auf der vorspringenden Terrasse, welche vom ersten Stockwerk aus weite Umschau bot. Das Geräth des zierlich servirten Frühstückstisches war bereits zurückgeschoben; der Hausherr hatte seinen Sessel dicht neben den seiner Gefährtin gerückt, und sein Arm umfing ihre Schultern. Die beiden einander so nahen Köpfe waren gleich interessant, wenn auch von ganz verschiedenem Gepräge. Das Gesicht des nicht jungen, aber noch jugendlichen Mannes fesselte, aber jenes der etwa in der Mitte der Zwanzig stehenden Frau überraschte, und zwar nicht allein durch seine große Schönheit, sondern mehr noch durch einen schwer zu bezeichnenden Ausdruck der classisch geschnittenen Züge. Es gab etwas in diesem Gesicht, das der Ruhe bedingenden Harmonie seiner reinen Bildung widersprach und doch dessen Reiz erhöhte, und dieses Etwas schlummerte in den dunkelgrauen Augen. Selbst im gegenwärtigen Moment, wo diese Augen sanft, ja beinahe schelmisch blickten, verrieth ihr Schnitt, die breite Wölbung der Lider unter hochgeschwungenen Brauen, daß ein ganz anderer Ausdruck in ihrem Grunde lag – ein Ausdruck von Gluth und Zauber. Es waren die Augen von Leonardo da Vinci’s „Monalisa“.
Des Mannes blaue Augen hingen mit leidenschaftlicher Bewunderung an ihren Zügen; leise wie ein Kind, das den günstigen Augenblick erhascht, etwas Erwünschtes, halb Verbotenes zu thun, hob er unerwartet die Hand und zog den goldenen Pfeil aus ihrem lose aufgesteckten Haar. Als die blauschwarzen schweren Flechten auf die in ein weißes Negligé gehüllte vollendet schöne Gestalt der Frau von Riedegg niederrollten, faßte er eine derselben und drückte seine Lippen darauf.
„Nicht doch, Meinhard," sagte sie; „heute ist kein Tag für Kindereien."
„Gerade heute!" scherzte er. „Giebt es wohl etwas im Himmel und auf Erden, das Du heute nicht mit Kind und Kinderei im Zusammenhang erblicktest? So laß mir auch die meine, Genoveva!"
Sie lächelte, entzog ihm aber mit leiser Bewegung das Haar und erhob sich, nachdem sie es achtlos wieder aufgenestelt.
Während sie an die Brüstung vortrat, zeigte sich die volle Höhe und königliche Haltung ihrer geschmeidigen Gestalt. Ihr Auge flammte auf, und sie breitete einen Moment die Arme aus, als wollte sie den weiten Himmel fassen. Eben stieg die Sonne glorreich über den Kegel des „Heiteren Lahn“ empor, und mitten im Inn, der sich durch die beiden Thalbuchten schlängelte, floß plötzlich ein zweiter Strom von blendendem Lichte. Glänzende Morgenpracht ergoß sich ringsum.
Genoveva ließ die Arme sinken und wandte lebhaft den Kopf:
„Sieh, welche Glorie den Tauftag unseres Sohnes vergoldet! Ein Omen, ein glückliches Omen!"
[438] Meinhard war neben ihr und nahm ihre Rechte zwischen seine beiden Hände.
„Bedarfst Du himmlischer Zeichen?“ sagte er bewegt. „Ein Kind, so aus Glück und Liebe geboren, bringt goldene Flügel mit auf die Erde, selbst wenn keine Sonne ihm leuchtet.“
Ihr Auge wurde dunkler. Wie in Sinnen verloren, sprach sie die letzten Worte nach: „wenn keine Sonne ihm leuchtet wie düster das klingt!“ Ihre Hand preßte die seine mit starkem Druck, während sie mit vollem Blick in sein Auge fragtet „Ist heute nichts, was Dich schmerzt, Meinhard? nichts, was Du entbehrst, für Dich, für uns?’’
Flüchtiges Roth lief ihm über die Wange.
„Nichts!“ sagte er nach kurzer Pause voll Nachdruck. „Weshalb fragst Du so? “
Ein leichtes Geräusch schnitt die Antwort ab. Als Genoveva aufblickte, trat ihr eine Dienerin entgegen.
„Die Jana hat Vögel gebracht,“ sagte sie, „wenn’s erlaubt wär’, möcht’ sie gern mit der Gnädigen reden. Sie hat sonst noch was, sagt sie.“
„Nun, warum ist sie nicht gleich mit Dir herausgekommen?“
„Sie wollt’ nit; glaub’ sie fürcht’ sich vor unserm Herrn.“
„Ich komme!“ nickte die junge Frau.
Der Hausherr lachte; sein Gesicht verjüngte sich dabei.
„Wer ist Jana, die sich vor mir fürchtet?“ fragte er.
„Wie? ist mein Schützling Dir noch nicht vorgestellt? Von ihr gesagt habe ich Dir schon. Du vergaßest wohl nur den Namen. Das jüngste Töchterlein des Müllers am Wildbach ist’s, Juliana getauft, Jana gerufen – Du weißt ja die Mühle, thaleinwärts, wo der Fall so schäumend niederstürzt und ich so gern raste. Dort trat ich manchmal ein, wenn ich ohne Dich des Weges ging; sie haben solch ein lauschiges Gärtchen, wo sich’s behaglich ausruht. Dann brachte mir Jana ein Glas Milch, und ich ließ mir von ihr erzählen.“
„Ist das nicht die Kränzewinderin, von der Du mir sagtest, daß sie allerlei Kunstwerk von Haargeflecht und Blumengespinnsten zu weben versteht, alle Festtags- und Brautkronen flicht?“
„Dieselbe! ein Mädchen licht und scheu wie Edelweiß und ebenso sammetweich. Sie hängt mir an, ihre Augen sagen mir das und manche Blumenspende auch. Jana’s Schwester ist eine Jägersfrau; daher bekommen wir all unser Wildpret; zuweilen bringt sie es mir, wenn die Schwester nicht vom kleinen Kinde weg kann. Heut war ich schon in Sorge, sie ließe uns im Stich, und nun ist das bestellte Geflügel doch noch rechtzeitig gekommen für den Taufschmaus. Was sie sonst hat, will ich jetzt erfahren.“
Genoveva durchschritt die Glasthür, welche die Terrasse vom luftigen Gemach des Hauses trennte. Das dunkelfarbige Holzgetäfel, womit dessen Wände bis zur Decke bekleidet waren, wurde heute durch Guirlanden von jungem Laub erfrischt, die sich in Bogen um alte ovale Bilder zogen. Dieser Schmuck schien noch vermehrt werden zu sollen; denn ein mitten im Zimmer stehender, von kunstreich geschnitzten Füßen getragener Eichentisch war mit einer Fülle von blühendem Strauchwerk beladen.
Neben diesem Tische stand ein zartgebautes Landmädchen. Der runde Hut mit Goldquasten, welcher ihr helles Gesicht beschattete, machte sie als Oberinnthalerin kenntlich. Ihre Hand umschloß einen Strauß Monatsrosen von so thauiger Frische, daß sie gewiß erst vor Kurzem vom Strauch geschnitten waren.
„Rosen!“ rief Genoveva erfreut, als das Mädchen ihr die Blüthen entgegenbot. „Wie kommst Du zu dieser Pracht?“
„Sie sind von daheim,“ sagte Jana mit wohlklingender, etwas dunkler Stimme. „Das Gärtchen ist vom Haus geschützt, und die Sonne scheint darauf nieder von früh bis Nacht; darum haben wir immer die ersten. Es wär’ mir so viel lieb, wenn die Gnädige sie annehmen möcht’.“
„Schönen Dank, Jana! Deine Rosen sollen auch zu Ehren kommen und auf dem Tauftische prangen.“
„Wird das Herrlein denn nicht drunten in der Kirche getauft?“ fragte das Mädchen verwundert.
„Nicht doch! Der Gang wäre für mich noch zu ermüdend, und ich muß dabei sein. Könntest Du über Mittag da bleiben, Kind? – Ja? – Das ist schön! Dann hilfst Du mir den Kranz winden, der um den Tauftisch soll; hier liegt schon Alles bereit dazu. Du kommst gerade recht. Ich mag das nicht den Dienstleuten überlassen, und es heißt eilig sein. Um zehn Uhr kommt Pater Alois, und schön machen muß ich mich auch noch. Erst sollst Du aber als Lohn für die Rosen das Taufkind sehen.“
Ohne von dem gewöhnlich schweigsamen Mädchen Antwort zu erwarten, ging die junge Frau, anmuthig zurückwinkend, durch das anstoßende Zimmer in das Gemach, das von der Mutterliebe selbst ausgeschmückt erschien. Es war dort so dämmerig und doch zugleich so heimlich helle, wie in einer dichtschattigen Laube, deren schwankendes Zweiggeflecht goldene Sonnenfäden durchziehen. In diesem weiß und grün ausgefütterten Nestchen saß eine frische Bäuerin neben der verhüllten Wiege und schaukelte sie leise, indem sie ein „G’sätzel“ summte.
„Schläft er?“ fragte Genoveva halblaut.
Die Wärterin nickte.
„Geh’ frühstücken! Ich bleibe inzwischen hier.“ Erst nachdem die Amme das Zimmer verlassen hatte, schlug die junge Mutter die seidene Gardine zurück. Alle Majestät ihres Wuchses, ihrer Haltung verwandelte sich in diesem Moment einzig in Grazie. In das zuweilen so unerforschliche Auge trat ein Blick himmlischer Zärtlichkeit, während es sich auf das zarte Geschöpf heftete, das leise athmend zwischen feinen Spitzenhüllen lag. Nun sah sie zu dem Mädchen auf, welches regungslos auf die Wiege starrte. Nicht die vornehme Frau blickte das Landkind an; des Weibes seliger Mutterstolz suchte Theilnahme und Bestätigung bei dem Weibe.
„Erst vierzehn Tage alt und so kräftig schon, nicht wahr?“ fragte sie heiter. „Aber die Amme sorgt auch für sich und ihn. Denke Dir, sie frühstückt jeden Morgen dreimal. Doch davon verstehst Du nichts.“
Jana stand blaß und stumm.
Als Genoveva, durch ihr fortdauerndes Schweigen aufmerksam. gemacht, sie schärfer in’s Auge faßte und nun plötzlich fragte: „Was ist Dir?“ da warf das Mädchen beide Hände vor das Gesicht und brach in so gewaltsames Schluchzen aus, daß jedes der zarten Glieder erbebte und was nun folgte, das war eine gar geheimnißvolle räthselhafte Scene.
„Jana, was ist mit Dir?“
„Ich darf’s nit sagen,“ athmete das Mädchen, glitt aber dabei auf die Kniee und barg ihr verstörtes Gesicht in die Falten von Genoveva’s Kleide. Ein Ahnen erfaßte die junge Frau.
„Du darfst mir Alles sagen, Jana; denn ich bin Dir gut und kann Dir vielleicht beistehen.“
„Das hab’ ich selber gemeint und bin von zu Haus mit dem Willen fortgangen, der Gnädigen Alles zu beichten, aber ich wag’s nit, und wenn’s heraus ist, so hab’ ich kein Anwerth mehr bei Ihnen, und das halt’ ich nit aus – ach, ich seh’ meiner Noth kein End’ und getrau mich für die nächsten Monde nit nach Haus – –“
Genoveva strich ihr über das lockige Stirnhaar.
„Auf, Jana!“ sagte sie kräftig. „Ich bin Dein Richter nicht, aber Dein Helfer will ich sein in Angst und Noth. Sprich getrost!“
Das Mädchen regte sich nicht. Kaum vernehmlich stammelte sie ein langes, banges Geständniß von Liebe und Schuld, vom todten Liebsten und unendlicher Herzensangst, und als nach einer Weile die Amme wieder in das stille Gemach trat, da senkte Jana, wie vor Schmerz und Scham, die langen Wimpern, und zwei große helle Thränen hingen daran.
„Das ist nun Deine Genossin,“ sagte Frau von Riedegg, zu der Amme gewandt, „eine zweite Wärterin für den Kleinen. Sei gut mit ihr!“
Jana’s Augen strömten vor Dank über, Frau von Riedegg aber sagte mit dem stolz heiteren Ausdruck, der ihr gewöhnlich eigen war, hellen Tones:
„An’s Werk jetzt, kleine Kränzewinderin!“
„Auf die Gesundheit des jungen Herrleins!“ rief der alte Servitenpater, und seine schmalen, gutmüthigen Augen zwinkerten vor Wohlbehagen, während er das Glas hob, um mit der Schloßherrschaft anzustoßen. „Möcht’ ihm das heilige Taufwasser, so er empfangen hat, gütlich gedeihen und der christliche Name Sigismund ihm auch Sieg bedeuten über alle Fährlichkeiten an Leib und Seele!“
[439] „Amen!“ erwiderte Genoveva lebhaft, während das Glas ihres Gatten hellen Klanges mit dem des Paters zusammentönte, dessen vergnügte Stimmung sich in jeder Miene kundgab. Das Amt war gebührend verrichtet, nun mochte er auch das Recht üben, sich die seltenen Freuden eines auserlesenen Taufschmauses zu Gute kommen zu lassen.
„Ja,“ hob er wieder an, indem er den goldig funkelnden Tokaier im frischgefüllten Glase mit fast gerührten Blicken betrachtete, „solch köstlich Tröpflein ist wahre Gottesgabe! Kommt so leicht nicht an Unsereinen – nicht einmal zu den heiligen Zeiten!“
„Ihr Kloster ist arm?“ sagte Meinhard; „und es ist doch ein gar stattliches Bauwerk. “
Der Mönch zuckte die Achseln; zwischen dem Vollbarte, dessen graudurchmischte Fülle das Gesicht etwas struppig umrahmte, spielte ein vieldeutiges Lächeln.
„Wohl, wohl,“ sagte er; „Mauern genug; unser Kloster ist richtig halb so groß wie’s ganze Städtle. An Platz thät’s nit fehlen, wär’ nur sonst von Allem g’rad’ so viel da. Wir armen Kutten laufen da drinnen ’rum wie die Kirchenmäuse im Dom. Wohl, wohl – zum Laufen sein wir ja da! Wann’s im Winter Flocken schneit, so groß wie ein Bauernhut, und wann im Juli die Sonne niederbrennt, daß man heil denkt, es bleibt nichts von Einem übrig, als ein Fettfleck, da müssen wir doch alleweil um einand’ laufen, bis in die höchsten Berg’ ’naufzannen, oder aber durch’s Wasser patschen, wo’s halt ’was zu amtiren giebt. Wären unserer zur Aushülf’ nur mehr, dann ging’s schon!“
Die alte Bronzeuhr schlug voll und langsam die dritte Nachmittagsstunde.
„Heilige Mutter Maria,“ sagte der Pater und schaute bestürzt nach der baroken Urne, welche das Zifferblatt trug; „schon so spät! Jetzt muß ich fort, sonst thät’ ich gar die Vesper versäumen.“
„Daraus wird nichts!“ lächelte die junge Frau. „Erst müssen Sie noch Kaffee trinken. Vom Programm der heutigen Festlichkeit wird Ihnen kein Iota erlassen, Pater Alois. Schlimm genug, daß Sie damals den Hochzeitwein nicht mit uns theilen wollten!“
Der Pater war auf seinen Füßen.
„Bscht, bscht!“ mahnte er und sah sich ängstlich rund um.
Ohne seiner weiter zu achtelt, stützte Genoveva ihre schlanke Hand auf die Schulter des Gatten
„Denkst Du den Tag?“ fragte sie halblaut und ließ ihr leuchtendes Auge durch das Fenster über Thal und Strom zum waldigen Brandenberge hinüber schweifen, wo es träumerisch an dem alten Bergkirchlein hängen blieb, das tief einsam zwischen dunkeln Tannen ruhte.
„Ob ich des Tages denke?“ wiederholte Meinhard leise und leidenschaftlich, indem sein Arm das schöne Weib umfaßte. „Allein! wir waren allein! Ueber Moos und Marmor schritten wir zwischen Föhrendunkel und feurigem Herbstlaub. Und als wir vor dem Altar standen, nur vom Priester und Eremiten geschaut, als einzelne Vogeltöne durch die heilige Morgenfrühe klangen, da bewegte der Frühwind das Glöckchen im Thurme und trug dem Walde die Kunde zu, daß Du mein geworden. Ein goldener Sonnenstrahl verklärte das Madonnengesicht über dem Altar
„Die Madonna mit dem Kinde!“ sagte Genoveva. „Sie ist gebenedeit.“
„Hörte ich recht?“ rief der Servitenpater und sein volles, heute etwas weingeröthetes Gesicht strahlte vor Freude. „Sie benedeien die heilige Muttergottes. So hat sich an Ihnen also die Gnade erwiesen, welche ich mit so manchem Vaterunser und englischem Gruße alle Tage vom grundbarmherzigen Himmel heruntergebetet habe? Sie kehren in den Schooß unserer heiligen Kirche zurück, oder sind gar schon –?“
Die junge Frau schüttelte heiter den Kopf.
„Nicht doch, Pater Alois! Was ich gewesen, das bin ich, und was ich bin, werde ich bleiben. Wär’s denn wirklich wahr, was ich einmal von Ihnen selbst meine vernommen zu haben: daß wir armen Lutheraner ewig in der Hölle brennen müssen?“
Der schalkhafte Zug, welcher nur in seltenen blitzartigen Momenten, dann aber als besonderer Reiz dieser vornehmen Erscheinung zu Tage trat, ging an dem guten Pater spurlos verloren.
„Mit nichten, mit nichten!“ sagte er eifrig und wehrte mit der Hand ab, als wären strafende Flammen schon bereit, aufzulodern. Mit seinem Behagen schien es aber vorbei. Unruhig schweifte sein Auge nach seinem breitrandigen Hute umher, und sobald er ihn erfaßt, sagte er etwas hastig. „Empfehl’ mich zu Gnaden – darf wahrhaftig nicht länger dableiben, wenn ich nicht leidige Rüge auf mich laden soll. Gelobt sei Jesus Christus!“ Meinhard hielt ihn auf:
„Der Taufschein, hochwürdiger Pater? Sie haben ihn ausgefertigt, mir aber noch nicht eingehändigt.“
„Wohl, wohl! Das hätt’ ich nun bald vergessen hab’ ihn an mich genommen.“
Er zog das Blatt aus der Brusttasche seines langen Klosterrockes, räusperte sich stark und legte es auf den Tisch, um sich dann eiligst zurückzuziehen.
Als Meinhard, nachdem er ihm Geleit gegeben, das Speisezimmer wieder betrat, fand er seine Frau tief verloren in Betrachtung des Taufzeugnisses. Sie blickte lebhaft zu ihm auf; ein gleich lebhaftes Wort schien auf ihren Lippen zu schweben, doch sprach sie es nicht ans.
Als er die Hand ausstreckte und das Blatt schweigend an sich nahm, senkte sich der heißfragende Blick der jungen Frau. Ein finsterer Zug, der plötzlich den ganzen Eindruck ihrer Physiognomie verwandelte, trat um die schöngeschwungenen Lippen.
„Genoveva!“
Eine Fülle von Liebe klang aus dem weichen Laut, womit er den Namen rief. Sie hob die Augen, blickte ihn einen Moment zögernd an und warf sich dann mit leidenschaftlicher Inbrunst in seine Arme.
Wir Modernen, im Reisen und Schauen Geübten sind durch den Besuch mancher öffentlichen Sammlung mit den Einzelnstücken früherer Einrichtungen ziemlich vertraut geworden. Wer alte Schlösser besucht hat, wird mit Interesse bei jenen eingelegten Möbelstücken, jenen kunstreichen Schlosserarbeiten, Waffen und Geräthen verweilt haben, welche unsere Vorstellung von altdeutscher Häuslichkeit schärfen. Der historische Sinn, welcher zur Zeit unserer Voreltern selbst im schlichten Bürgerhause dem Ererbten Werth beilegte und somit dem Urenkel ein Stück unberührter Vergangenheit übermittelte, ward aber von unserer schnelllebigen Generation längst in alle Winde verstreut.
Deshalb sind wirkliche Heimstätten alter Zeit ebenso selten geworden, wie jene Stammsitze von Geschlechtern, welche Jahrhunderte lang demselben Namen zu eigen geblieben. Wer heute ein solches durch vier oder fünf Jahrhunderte dem gleichen Stamm zugehörendes Schloß betritt, den ergreift ein seltsames Verstehen. Wie groß, wie stark mußten sich die fühlen, die hier wohnten! Die stummen Wände schon predigen dem Kinde, das hier heranwächst, vom Ansehen und Stolz seines Geschlechtes; was die Jahrhunderte im Ausdruck, den sie aufgeprägt, von einander unterscheidet, wird zur Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In der prächtigen Fülle, die sich hier vererbt, der immer neue Fülle hinzugefügt wird, lebt etwas Großartiges, ja sogar etwas Großmütiges; denn nirgends begegnet hier der Gedanke jenem Zuge unseres Jahrhunderts: auf Kosten jeder Freigebigkeit immer gleich wieder sparen zu wollen oder zu müssen. Man kann sich in solche gleichsam zur verkörperten Historie gestaltete Räume nichts Kleinliches hineindenken, weder körperlicher noch geistiger Art.
Das Stammschloß der Grafen Riedegg, seit einer Reihe von Generationen demselben Tiroler Adelsgeschlechte eigen, gehört in diese Kategorie. Es liegt unfern der Grenze des deutschen und italienischen Sprachgebietes, auf steilem, von der Ebene aus scheinbar unzugänglichem Felsenvorsprunge, von dunklen Föhren dicht umstanden. Tief drunten ich Thale braust der gelbe Eisack.
Das Gemach, welches wir zunächst betreten, hat einst eine Königin beherbergt; davon ist ihm der Name Königinzimmer geblieben; trotz der zierlichen Parquettirung und der außerordentlich schönen Schnitzarbeit der Decke zeigt es aber gegenwärtig ein strenges, jener weiblichen Bezeichnung widersprechendes Gepräge. Der gewaltige Eichentisch in der Mitte ist mit Büchern und Mappen beladen; Alles, was der Einrichtung dient, verräth Pracht und Ernst zugleich. Man möchte sich diesen Raum ungern als Wohngemach denken, böte nicht das weit hinausspringende Eirund [440] eines der Eckthürme ein Asyl für Behaglichkeit. In diesem Ausläufer des weiten Gemaches schimmert zwischen zwei hohen Fenstern ein kostbar eingelegter Schrank, dessen halbgeöffnete Thür Schriften und Pergamente im Innern unterscheiden läßt. Auf einem der hochlehnigen Sessel, welche den runden Tisch umstehen, sitzt der Herr des Schlosses im Gespräch mit seiner ihm gegenüberstehenden Enkelin.
„Du siehst nicht froh aus, Großvater. Und doch ist heut ein Freudentag.“
„Es könnte ein Freudenfest sein.“
„Und wäre es kein Fest?“
Der Greis, an welchen sich diese Fragen richteten, sah allerdings nicht aus, als sei er im Begriff einen festlichen Tag zu begehen. Gedankenschweres Sinnen hatte sich in jeden Zug seines ausdrucksvollen Gesichtes eingegraben. Zwar zeigte die hünenhafte Gestalt des Grafen Riedegg nichts von der Last seiner hohen Jahre, diese Jahre mochten ihm aber eine um so schwerere Last von Erfahrungen aufgebürdet haben. Er hatte stets für einen der schönsten Männer seiner Zeit gegolten und war dies in gewissem Sinne noch heute. Das intensive Blau des scharf blickenden Auges hatte nichts von seiner Färbung eingebüßt; Stirn und Schläfen schienen nur durch jene Linien gefurcht, die eine zwar unbeugsame, aber auch nicht ohne Enttäuschung gebliebene Energie zu graben pflegt. Haar und Bart waren gebleicht, aber noch in starker Fülle; Graf Riedegg’s Blick haftete in diesem Momente prüfend auf dem Gesichte seiner Enkelin, deren Stirn und Auge den seinigen wunderbar glichen.
„Fünfzehn Jahre!“ sagte er; „in diesem Alter trägt man sich mit langen Haaren und kurzen Gedanken. Laß’ Dich das aber nicht erzürnen!“ warf er ironisch dazwischen, als das heiß erglühende Kind eine der niederhängenden, vorwärts geglittenen Flechten mit stolzer Geberde über die Schulter zurückwarf. „Wir nehmen an, Du seiest eine Ausnahme, Ottilie, und Du sollst Antwort haben. Nein! es ist mir kein Freudenfest; denn Dein Vater kehrt nicht so zurück, wie er es mir verheißen. Die heutige Generation begreift adelige Pflicht nicht mehr.“
Die Gluth auf Ottiliens Wangen brannte heißer. „Du machst es meinem Vater zum Vorwurfe, daß er mir keine Stiefmutter geben will?" erwiderte sie in dunkelm Tone. „Ich bin ihm dankbar dafür.“
„Du bist doch noch ein Kind von kurzen Gedanken,“ sagte Graf Riedegg achselzuckend. „Stiefmutter – wie aus einem Ammenmärchen! Die Gattin meines Sohnes wird meiner Enkelin den Frauenschutz bieten, welcher für Deine Vorstellung unentbehrlich ist. Im Uebrigen handelt es sich darum, daß der angestammte Besitz dem Namen verbleibe.“
Sie blickte lebhaft auf; das feste Auge traf den Greis mit vollem Strahle, während ihr Kopf sich hob. „Wenn unser Name einst durch mich mit einem andern vertauscht werden sollte, so darfst Du darauf rechnen, Großvater, daß dieser andere von gleich reinem Klange ist.“
Ein kurzes, scharfes Lachen ging der Antwort des Grafen voraus: „Darauf rechne ich um so sicherer,“ sagte er, „als ich selbst dafür sorgen werde. Uebrigens ist Dein Vater noch ein junger Mann; was sich an fremden Höfen nicht gefunden, findet sich vielleicht in der Nähe. In meiner Berechnung dieser europäischen Reise fehlte leider eine Ziffer: Meinhard’s Schwanken jedem Entschlusse gegenüber.“
Das feine Ohr Olliliens empfand die leise Geringschätzung der letzten Worte.
„Du liebst meinen Vater nicht,“ sagte sie mit bedeckter Stimme, „und doch –“
„Und doch ist er der letzte Sohn , welcher mir geblieben, willst Du sagen?“
Ein weicher Zug, der diesem festgezeichneten jungen Gesichte nicht immer eigen war, trat voll Anmuth um des Mädchens Augen und Lippen.
„Und doch ist mein Vater so liebenswerth. Das wollte ich sagen. Onkel Wolf ist seit langen Jahren todt – ihm trauerst Du heute noch nach, Großvater, liebst den todten Sohn mehr als den lebenden. Sonst hättest Du Papa gewiß nicht beredet oder auch nur darein gewilligt, daß er so lange von uns fern blieb. Papa ist gut – ich liebe ihn. Daß er heimkehrt, macht mich froh, daß er allein heimkehrt, macht mich glücklich.“
Der Graf hob die Brauen.
„Worauf wartest Du denn? Kleide Dich geziemend an! Der Wagen wird nach einer Stunde abfahren.“
„Ich darf also?!“ Das Wort brach voll Gluth hervor.
„Wie ich Dir gestern gesagt. Mademoiselle begleitet Dich nach Brixen zur Frau von Lichtwehr. Schüller fährt mit, erwartet auf der Post Deines Vaters Eintreffen und macht Dir Meldung, während der Vorspann besorgt wird.“
Die helle Stirn des Mädchens zog sich zusammen. „So nicht, Großvater,“ sagte sie verstimmt. „Daß ich nicht allein fahren darf, weiß ich ja – also mag Mademoiselle mitkommen. Ist das aber nicht genug? Zu Lichtwehrs? Ach, sie werden mir während der ganzen Wartezeit den Kopf summen lassen vor lauter Gerede, und dann wird der alte Herr am Ende gar mitkommen wollen, um Papa zu begrüßen. Nein, nein! wenn ich ihn nicht mit Mademoiselle im Posthause erwarten und dort allein empfangen darf, bleibe ich lieber zu Hause.“
„So bleibe zu Hause!“ sagte Graf Riedegg sehr ruhig, aber in einem Tone, welchen seine Enkelin gut zu verstehen schien. Sie wechselte die Farbe, strich sich mit stolzer Wendung des Kopfes das kurze Gelock aus der Stirn, machte eine Verbeugung, welche jedem Hoffräulein zur Ehre gereicht haben würde, und verließ das Zimmer ohne ein Wort zu erwidern. Draußen im Bogengange, der diesen Mittelflügel mit jenem verband, welcher die eigentlichen Wohngemächer umschloß, warf sie einen flüchtigen Blick in den Hofraum und wendete sich nun der steinernen Säulentreppe zu, um hinabzusteigen.
[457] Von dem weiten Quadrat des inneren Hofes aus gesehen, boten die großartigen Verhältnisse des Schlosses stets einen fürstlichen, heut einen festlichen Eindruck. Die auf massivem, von uraltem Epheu umgittertem Gefüge des Unterbaues ruhenden Gallerien, welche sich in gothischen Bogen kühn und luftig um das erste und zweite Stockwerk zogen, waren mit schweren Laubgewinden umkränzt. Der Springbrunnen inmitten des Hofraumes warf seinen glitzernden Strahl aus einer Fülle blühender Gewächse empor, womit der Marmorrand schon in erster Morgenfrühe umzogen worden. Einige Dienstleute waren am Flügel der Einfahrt beschäftigt, letzte Hand an einen Triumphbogen zu legen, der aus Laubgewinden, Fähnchen und alterthümlichen Waffen zusammengefügt worden.
Das Grafenkind trat mit kurzem Nicken gegen die Beschäftigten hinaus auf den umwaldeten Plan, der sich westwärts weit hindehnte, während der Fels, auf welchem das Schloß vom Thale aus wie auf spitzer Nadel stehend erschien, sich nach Osten zu steil niedersenkte. Durch den Wald wand sich in weiten Krümmungen ein wohlgehaltener Fahrweg, während, dem Schlosse ziemlich nahe, ein gleichfalls geschlängelter, trotzdem mitunter jäher Fußpfad sich zwischen einem wohlgepflegten Hain von Kastanien und Wallnußbäumen niederzog. Ganz nahe unterhalb des Schlosses erhob sich eine starke Esche, deren weitaus gespannte Zweige eine Bank mit rundem Tische davor beschatteten.
Dies war Ottiliens Lieblingsplatz, und dorthin wandte sie sich jetzt. Den Arm leicht aufgestützt, saß sie müßig und folgte mit den Augen dem Spiel des Sonnenlichtes, das mit jedem Windhauche die Schatten des Laubes neugestaltig tanzen ließ. Die schlanke, lichte Gestalt erschien ganz in Uebereinstimmung mit dem hellen Tage; mit tiefem, freiem Athemzuge genoß das Kind Einsamkeit und Schweigen; es blieb aber nicht lange ungestört.
Eine stattliche Dame, überaus genau, fast pedantisch in schwarze Seide gekleidet, näherte sich vom Schlosse her.
„Mademoiselle – Sie wünschen?“ fragte Ottilie und richtete sich auf.
„Wie ich eben erfuhr, werden wir nicht ausfahren, Comtesse,“ antwortete Jene mit großer Artigkeit, die eine leise Färbung geheimen Verdrusses nicht ganz verdecken wollte oder konnte. „Ich erinnere deshalb an die englische Stunde. Es ist zehn Uhr.“
Das Mädchen nahm den vorigen Platz wieder ein.
„Sprechstunden – heute? Sie vergessen den Feiertag.“
„Von einem heutigen Festtage ist mir nichts bekannt, Comtesse.“
Ottilie sah staunend auf.
„Wir erwarten meinen Vater,“ sagte sie langsam und sah ihre Gouvernante mit eigenthümlich bestimmtem Ausdruck an; „das wäre Ihnen nicht bekannt, Mademoiselle?“
„Nachmittags.“
„Und Morgens und in jedem Augenblick! Glauben Sie wirklich, daß ich heute Sinn für Vocabeln hätte?“
„Excellenz wird unzufrieden sein.“
„So fragen Sie an!“ rief Ottilie unmuthig. „Freiwillig setze ich mich nicht in das Schulzimmer.“
Ohne zu antworten, verneigte sich das Fräulein vorschriftsmäßig, wie zuvor, und kehrte nach dem Schlosse zurück. Ottilie sah ihr einen Moment nach; zwischen ihren dichten Brauen stieg eine Linie gegen die helle Stirn auf und nahm derselben alles jugendliche Licht – freilich nur für eine Secunde; dann schlug sie die Arme übereinander und spann sich wie zuvor in ihre Gedanken ein. Es waren zukunftsfrohe, hoffnungsreiche Gedanken – von der Heimkehr des Vaters erwartete das Kind eine neue Phase der eigenen bisher in enge Schranken gebannten Existenz. Sich von diesen Schranken ganz eigentlich frei zu wünschen, kam Ottilie allerdings nicht in den Sinn; denn der in ihrem Hause gültige Begriff des noblesse oblige war ihr zu sehr in’s Blut übergegangen, als daß sie sich gegen irgend eine Einschränkung hätte auflehnen mögen, welche mit solcher Anschauung zusammenhing. Eines aber wußte sie: der kühle Hauch, welcher sie seit so langer Zeit umgeben, daß sie sich bereits an solches Klima gewöhnt hatte, würde von dem Augenblick an sonnendurchwärmt sein, in welchem der lang Entfernte wiederkehrte. Und doch hatte sie den Vater weit weniger lebhaft entbehrt, als sie sich nun auf ihn freute! Erst als seine Heimkehr in naher Aussicht stand, war ihr sein mildes, angenehmes Gesicht aus schlummernder Erinnerung wieder lebendig in’s Gedächtniß gestiegen. Als er schied, war sie ein Kind gewesen, das Alles als selbstverständlich hinnahm, was das Leben gab. Heute war sie noch eine Schülerin, aber kein Kind mehr. Die kühlen Lehren der Weltweisheit, vom Großvater dem jungen Ohre allmählich eingeträufelt, eine in Kenntnissen mancher Art bereits vorgeschrittene Bildung, wie sie der alte Graf an den Frauen geschätzt, mit denen er auf der Höhenstufe seiner eigenen Generation verkehrt hatte, und die er bei den heutigen Damen alter Geschlechter oft mit scharfem Urtheil zu vermissen pflegte, hatten Ottiliens Geist zu einer für ihre Jahre fast zu großen Reife geführt. Doch läßt sich die Jugend zwar Alles [458] geben, aber nicht Alles nehmen. Was in dem fünfzehnjährigen Herzen an Kindlichkeit, Feuer und Glücksbedürfniß nur immer unzerstört geblieben, das wallte heute auf und strömte, blühte der idealen Gestalt entgegen, als welche des Vaters Bild im Innersten dieses Herzens geborgen war.
Die Uhr auf dem westlichen Thürmchen des Schlosses schlug Elf. Noch war der letzte Ton nicht verhallt, als mit jener Pünktlichkeit, mit der jeder Anordnung des alten Grafen Folge geleistet wurde, der zur Einholung des Erwarteten bestimmte Wagen durch das Portal rollte und bald auf dem Fahrwege zwischen den Föhren verschwand, welche sich auf dem Kamm des Schloßberges entlang zogen.
Ottilie sah dem Gefährte mit leuchtendem Blicke nach. Flüchtig hob sie den schlanken Zeigefinger an die Lippen und warf einen Kuß in die Lüfte. Als sie aber nun den Kopf wandte und ihr Auge achtlos den niederwärts schlängelnden Fußpfad streifte, entschlüpfte ihr plötzlich ein lebhafter Ausruf. Das Blut schoß ihr bis in die Stirn. Dort unten, wo der Weg sich um die Felswand bog und nur für eine kurze Strecke von hier oben erschaut werden konnte, hatte sie eine Gestalt erblickt – nur eine Secunde lang; denn der Wanderer verschwand eben, als ihr Auge ihn traf, zwischen den Bäumen – dennoch deutlich genug für das Falkenauge, für das wache, bereits in die Ferne lauschende Herz. Wie von Schwingen getragen flog sie abwärts, um nach wenigen Minuten glühend, athemlos, fast taumelnd an der Brust des Vaters zu liegen, der sie fest in die Arme schloß, durch ihr Erscheinen in diesem Moment nicht minder überrascht, als sie durch das seine.
Dicht an der Stelle, wo Beiden dieses Wiedersehen vom Himmel gefallen, stand eine der zahlreichen Bänke, die im Wäldchen zur Rast luden. Wie auf Verabredung wandten Vater und Kind sich derselben zu, sobald sie einander aus den Armen gelassen, und jetzt erst schaute Eines das Andere mit jenem Blicke an, der nur beim Scheiden und beim Wiedersehen so aus dem Herzen in die Augen steigt – jenem Blicke, der beim Abschied uns selbst fragt: „Wirst Du auch jeden Zug festhalten? Schaue! schaue! Du siehst Dein Liebstes lange nicht, vielleicht niemals wieder“ – der beim Wiederfinden den Andern fragt: „Bist Du es auch noch?“
Meinhard Riedegg hatte sich gesetzt und hielt nun die beiden Hände seiner Tochter, die vor ihm stand, in den seinen. Sein Auge schien in der That zu fragen: „Bist Du es noch?“ Selbst in diesem Momente, wo Glück und Freude sie mit lichtem Schimmer übergossen, glich das schlanke hohe Mädchen gar wenig dem Kinde, von dem er vor zwei Jahren geschieden. Weit mehr glich sie den Briefen, welche er, namentlich neuerdings, von ihr erhalten, deren Ausdruck ihn oft ebenso frappirt hatte, wie ihn heute die bereits jungfräuliche Erscheinung überraschte.
„Wie groß Du geworden bist, Tila!“
„Und Du,“ flüsterte sie, erröthend vor Freude über den Schmeichelnamen, welcher ihr nie von anderen Lippen erklungen. „Wie siehst Du jung aus! Gar nicht wie ein Vater. Und jetzt – nicht wahr – jetzt bleibst Du bei uns? Jetzt gehörst Du mir – ganz allein?“
Er wich dem dringenden Blicke des Kindes aus, indem er sich erhob, ihren Arm unter den seinen zog und auswärts zu wandern begann. Erst nach einigen Augenblicken sagte er lächelnd:
„Ganz allein? Dem Großpapa wirst Du doch wohl ein Besitztheilchen abtreten müssen.“
„Das meine ich nicht – Du verstehst mich schon. Mir war so bange vor –“
„Wovor bange, Tila?“
„Vor Deiner zweiten Frau!“ Scheu und heftig kam das Wort heraus.
Er stand plötzlich still und sah sie an, blaß und stumm. „Meiner zweiten Frau?“ wiederholte er betroffen.
„Die es ja nicht giebt, die es hoffentlich niemals geben wird. Großpapa spricht ewig davon, Du würdest mir eine Mutter zuführen – wozu bedarf ich einer Mutter, jetzt, nun ich erwachsen bin? O, wie lieb’ ich Dich dafür, daß Du denkst wie ich! Wir Beide wollen zusammenhalten; Alles, was Du verlangst, kann ich thun und Dir sein.“
Meinhard strich ihr das lockige Haar aus der Stirn. „Laß das ruhen, Tila!“ sagte er weich. „Ja, Kind, wir wollen zusammenhalten – zunächst uns wieder kennen lernen; denn über das Maß, was ich von meinem Töchterchen in mir trug, bist Du weit hinausgewachsen. Finde ich noch mehr Veränderungen hier in Riedegg? Wie geht es meinem Vater?“
„Gut!“ sagte Ottilie. „Der Großpapa verändert sich nie – das weißt Du. Was könnte hier auf Riedegg anders geworden sein? Alles geht regelmäßig auf und nieder, wie die Sonne – nein, das paßt nicht; die Sonne verbirgt sich zuweilen, und dann sehnt man sich nach ihr – die Sonne warst Du. Großpapa und Mademoiselle sind immer sichtbar, immer an der gleichen Stelle und bezeichnen die Stunden durch das ewige Gleichmaß ihres Thuns.“
„Du liebst Deine Erzieherin nicht, Ottilie?“
Sie warf einen staunenden Blick aus den Vater.
„Lieben? Was sollte sie damit anfangen? Mademoiselle ist ein Born der Weisheit; daraus schöpft und trinkt man – und ich habe viel Durst. Der Bronnen selbst aber lockt nicht zum Weilen. Nein, Papa, wir lieben uns nicht. Was würde auch Großpapa dazu sagen, wäre es anders?“
Meinhard schüttelte leise den Kopf. Ein nachdenklicher Zug legte sich, fast wie Trauer, um den feinen Mund.
„Armes Kind!“ murmelte er kaum hörbar; „ich blieb zu lange fern.“ Er drückte den Arm, der in dem seinen lag, fester an sich und sagte mit heiterer Ironie: „Mir scheint, Du bist selbst ein Born der Weisheit, Tila. Sprichst Du immer in Gleichnissen?“
Sie wurde roth und lachte. „Nicht immer, Papa! Warum sprechen wir überhaupt von den Anderen, während ich dürste, von Dir zu hören? Wie viel hast Du geschaut, erlebt in fremden Ländern? – Davon wirst Du mir nun erzählen – nicht wahr? Und später nimmst Du mich mit Dir hinaus in die weite Welt.“
„Die doch nicht um ein Haar weiter ist, als unser schönes Heim.“
Sie hatten das Plateau erreicht. Im hellen Morgenglanze schimmerte dem Grafen der fürstliche Sitz seines alten Geschlechtes entgegen, auf dessen östlichem Thurme soeben eine roth-weiße Flagge aufgezogen ward. Sein Kind am Arme trat Meinhard elastischen Schrittes durch das geschmückte Portal in den Schloßhof, auf dem er sich kaum gezeigt hatte, als das dort noch mit festlichen Vorbereitungen beschäftigte Gesinde ihn mit lauten Rufen des Staunens und der Freude umringte. Blitzschnell drang die überraschende Kunde in das Innere des Schlosses. Noch hatte der Ankömmling dessen Eingangsworte nicht erreicht, als zwischen einem Bogen der Gallerie die Hünengestalt des alten Grafen für einen Moment sichtbar wurde. Er hob den Arm zum Gruße und trat dann sogleich zurück. Das Familienoberhaupt erwartete den Sohn im eigenen Gemache.
Als Meinhard die Schwelle des Königinzimmers überschritt und seinem Vater in sichtlicher Bewegung entgegeneilte, sprühten gleichsam Funken aus dem Erz, aus welchem des Greises Züge gegossen schienen. Ein rascher Freudenstrahl brach aus dem kalten Auge, das die ganze Erscheinung des Heimgekehrten wie ein Blitz überflog. Das Adlerauge des scharfen Menschenkenners hatte in dem Gesichte, das er durchspäht, einen neuen Zug erfaßt – dieser Zug sprach von Kraft.
„Willkommen auf Riedegg, Meinhard! Du siehst gut aus! Wir sind überrascht – Dein Reiseplan ließ Dich frühestens zum Abend erwarten.“
„Ich traf schon gestern in Brixen ein, wenn auch spät, und nahm heute frühzeitig Extrapost. Wagen und Gepäck folgen; es lockte mich, unten im Dorfe auszusteigen und in Einsamkeit unsere alten Kastanien wiederzugrüßen.“
Die tiefe Falte , welche seit langen Jahren zwischen den Brauen des alten Grafen hauste, grub sich schärfer. Er wandte sich seitwärts und murmelte: „Immer noch der alte Phantast!“
Es giebt wenig Einflüsse, die mächtiger wirken als eine Autorität, welche aus der Stellung und der Individualität ihres Trägers zugleich herangewachsen ist. Das galt im vollen Umfange für den Grafen Raimund Riedegg. Er hatte lebenslang starke Empfindungen hervorgerufen, war viel gefürchtet, nachhaltig und ernsthaft geliebt worden; denn seine Kraft trat so energisch zu Tage, daß man ihr volle Berechtigung zugestand und ihm jedes Böse, das er unterließ, nicht weniger hoch anrechnete, als das Gute, welches er that. Er besaß einen scharfen Verstand; dennoch [459] wurzelte seine Festigkeit nicht hierin, sondern im Willen, während sein durchdringender Geist den Menschen und Dingen bis auf den Grund blickte und ihm so eine verborgene, selten versagende Macht über dieselben gab. Vollendeter Weltmann, hatte er in seiner Jugend am Wiener Hofe geglänzt, im frühen Mannesalter schon bedeutende Erfolge als Diplomat errungen. Daß sich der Greis in die Einsamkeit seines Schlosses zurückgezogen, war nicht die Folge nachlassender Kraft, sondern die Wirkung des einzigen Schicksalsschlages gewesen, dem sein Bewußtsein nicht gewachsen war. Für jeden Menschen giebt es ein Wesen, dem gegenüber er schwach ist – Graf Raimund war es für seinen ältesten Sohn, in welchem ihm ein Ebenbild erwuchs, mit dem ihn jene starke Liebe gleichgestimmter Individualitäten verband, welche selbst dann, wenn sie zusammenstoßen wie Stahl und Stein, nur den im Kiesel verschlossenen Funken weckt. Jede Kraft, die er selbst besaß, entfaltete sich auch im Stammhalter: Scharfblick, Menschenkenntniß, die Gabe zu regieren. Auf Jahrhunderte hinaus dachte er sich so die nachfolgenden Generationen seines Geschlechtes, einer Eiche gleich, die auf freier Höhe steht, mit den Wurzeln tief in den Boden hinabsteigt, die Schatten der mächtigen Krone weithin breitet. Solche Kronen aber trifft mitunter der Blitz.
Graf Wolf fiel im Alter von fünfundzwanzig Jahren im Duell, als er eben im Begriff war, sich zu vermählen. Der Rückschlag auf den Vater wirkte zerschmetternd. Er mochte einer Welt nicht mehr genießen, die ihm fortan keinen Ausblick auf die Zukunft bot, und zog sich mit seiner Familie nach Riedegg zurück.
Noch lebte ihm ein Erbe seines Namens und Stammes. Der seinem Bruder um sechs Jahre nachgeborene Meinhard war aber zu spät gekommen; alles, was das kalt-leidenschaftliche Herz des Vaters auszugeben hatte, gehörte bereits dem Andern, dem Stärkeren, Glänzenderen. Der Jüngere blieb seiner Mutter überlassen, einer zartbesaiteten, verschüchterten Natur, deren Seele voll Liebe und Furcht an ihrem Gatten hing, stets bemüht, die Höhe beider Gefühle vor ihm zu verbergen, und der Alleinbesitz des Knaben ward zum schmerzlich süßen Glück ihres entbehrungsreichen Daseins.
Menschen von Graf Raimund’s Schlage sind nur gegen die gerecht, welche sie lieben. Mutter und Sohn standen ihrem ganzen Wesen nach für ihn gleichsam auf einem andern Ufer. Nachdem ihn das Leben so furchtbar beraubt hatte, verwandelte sich diese Gleichgültigkeit in ein Gefühl, das an Abneigung grenzte.
Meinhard, welcher, als sein Bruder starb, aus der Universität weilte, wohin er unter Obhut des Caplans gesendet worden, dem zuvor seine Hauserziehung anvertraut gewesen, ward ein halbes Jahr später vom Vater nach Riedegg berufen. Mit prüfendem Blick forschte der alte Staatsmann nach einem Boden für neue Saat, aber bald sagte er sich in tiefem Mißmut, daß er seinen jüngsten Sohn dennoch zu oberflächlich beurtheilt und daß es heute zu spät sei, das Versäumte einzubringen: Was er als unüberwindlich erkannte, war keineswegs die erwartete Mittelmäßigkeit, sondern ein theils angeborener, theils durch den Einfluß der Mutter in jeden Nerv übertragener Idealismus. Der Vater sah scharf und klar, daß es ihm nie gelingen würde, dem Sohn etwas von seiner eigenen Kraft mitzuteilen. Dies ward ihm zur Richtschnur: der nicht sein Zögling sein konnte, mußte sein Abhängiger bleiben.
Ein Jahr nach Wolf’s Tode führte der Zwanzigjährige auf Befehl des Vaters die verwittwete Braut seines Bruders zum Altar, obgleich er wußte, daß Jene einzig das Bild des Todten im Herzen trug. Der „Träumer“ war nicht dazu geartet, eine hervorragende Rolle auf der Weltbühne zu spielen; deshalb zog das Familienhaupt vor, ihn dort überhaupt nicht auftreten zu lassen. Graf Raimund’s letztes Hoffen richtete sich auf die Zukunft – noch fühlte er Lebenskraft genug in sich, um dem Stammhalter, welchen er von dieser Zukunft erwartete, etwas von seinem Geiste einzuimpfen. Aber auch diese Hoffnung schlug fehl. Die Ehe des jungen Paares blieb lange kinderlos, und nachdem Gräfin Blanka im fünften Jahre ihrer Verbindung mit Meinhard diesem eine Tochter geschenkt, siechte sie hin, ohne sich wieder erholen zu können. Die kleine Ottilie hatte eben ihr zwölftes Jahr angetreten, als der schwache Hauch ihrer Mutter erlosch, fast zu derselben Zeit, als auch Meinhard’s Mutter die müden Augen schloß, und nun überkam diesen eine unsägliche Schwermut, die mit jeder Woche, jedem Monat wuchs, bis sich endlich Alles, was Gesundheit in ihm war, gegen diesen kranken Zustand wehrte.
Eines Tages – es mochte ein halbes Jahr seit den Trauerfällen vergangen sein – sprach er seinem Vater den Entschluß aus, zu reisen, die Welt zu sehen, ein Verlangen, das vom alten Grafen mit Befriedigung vernommen wurde. Endlich doch einmal ein Wille, eine Initiative!
Es war der Wunsch Graf Raimund’s gewesen, den Sohn für eine zweite Ehe zu stimmen; er rüstete ihn mit Empfehlungsbriefen an alle Höfe Europas aus und stellte ihm unbeschrankte Mittel zur Disposition. In der Stunde des Scheidens machte er es ihm nachdrücklich zur Pflicht, nicht heimzukehren, ehe er eine zweite Wahl getroffen.
Zwei Jahre waren vergangen und darüber. Nun kehrte der Erbe des Hauses zurück – aber allein. Mit einer Vorsicht, die weder seinem starrköpfigen Temperament, noch seinen autokratischen Gewohnheiten entsprach, vermied der alle Graf zunächst jede Berührung der für ihn brennenden Frage. Seinem Scharfblicke bestätigte sich, trotz der ersten mißmuthigen Regung über des Sohnes „Phantasterei“, mehr und mehr der Eindruck, daß mit Meinhard etwas vorgegangen sei. Er harrte auf eine Eröffnung. Daß solche bevorstand, lag ihm außer Zweifel, aber welcher Art sie sein würde, ließ sich nicht berechnen. Scharf beobachtend, bedächtig sondirend, wartete er und notirte jeden Widerspruch, der ihm bei den Berichten des Sohnes auffiel, schweigsam im Kopfe.
An solchen Widersprüchen fehlte es nicht. Während Meinhard im Anschlusse an frühere Briefe lebendig und präcis auf die Erlebnisse seines ersten, im Auslande zugebrachten Reisejahres einging, glitt er mit kaum verhehlter Absichtlichkeit rasch über die Gründe hinweg, welche ihn später zur Abkürzung des Wiener Aufenthaltes, zur abermaligen Reise nach Italien veranlaßt hatten. Was er aber auch zurückhalte mochte, Eines ergab sich aus seiner ganzen Art: daß ein Anderer heimgekehrt, als der vor wenigen Jahren in die Fremde gezogen. Mit nie geübter Freimüthigkeit, die während seiner Kindheit durch Furcht, später durch Gewöhnung des Schweigens erstickt worden, ließ er nun seinem ursprünglichen Wesen vollen Lauf.
Echte Liebenswürdigkeit gleicht der Sonne; es geht eine Wärme von ihr aus, die jedes Eis aufthaut Zum ersten Mal regte sich in Graf Raimund etwas wie Vaterstolz dem Sohne gegenüber. Wie in jenem Märchen vom steinernen Reiche alles Lebende aus der Versteinerung erwacht, sobald der Erlöser es betreten und der erste Morgensonnenstrahl es berührt, war ein fröhliches Regen und Treiben über Riedegg gekommen. Heiter thaten alle Diener ihre tägliche Pflicht, der ein freundliches Wort des jungen Gebieters Reiz gab. Nirgends war die Ordnung unterbrochen, aber in die starre Regelmäßigkeit war ein Wohlbehagen gekommen, das ihr gleichsam einen frischeren Pulsschlag verlieh. Selbst Mademoiselle, die personificirte Regel, gab ohne Bemerkung nach, als der Vater sich zunächst volle Ferienfreiheit Ottiliens bedingte.
Die Harmonie dieser Stimmungen warf ihren Glanz vor Allem auf die junge Tochter des Hauses. Ottilie war wie verwandelt. In dieser spröden Kindesnatur machte sich etwas Lauschendes geltend, ihre Augen und Gedanken trennten sich nicht mehr von der lieben Gestalt, die gleichsam als ein Neues in ihr Leben getreten; jeder Strahl von des Vaters anmutiger Intelligenz wurde begierig von ihr aufgesogen. Fühlte sie, daß er voll heimlicher Dringlichkeit um sie warb, daß er sehnsüchtig danach strebte, ihr volles Verständniß seiner eigensten Natur zu wecken, ihr jene große Liebe einzuflößen, welche Alles giebt und vergiebt?
Ungefähr um die gleiche Stunde, wo Ottilie vor acht Tagen ihren Vater zuerst erblickt, saß Meinhard eines Morgens unter der gleichen Esche, wie damals. Ottilie hatte hier mit ihm eine jener. frühen Tagesstunden verplaudert, zu denen der alte Graf noch nicht sichtbar zu sein pflegte, und war eben in’s Schloß gegangen, um sich zu einem verabredeten gemeinschaftlichen Ausritte zu rüsten Meinhard sah ihr nach, bis die schlanke Gestalt im Thore verschwand, und versank tief in Gedanken. Ein Wort seiner Tochter hatte ihn daran erinnert, daß seit seinem Hiersein eine volle Woche verflossen war. Eine Woche – wie wenig Zeit das ist! Und doch kann in solcher kurzen Reihe von Tagen unendlich viel versäumt, unendlich viel gewonnen werden. Wer sich mit Entschlüssen, ja mit Notwendigkeiten trägt, für den bedeutet eine Woche untätigen Zögerns Unberechenbares. Es geht mit der Zeit zuweilen wie mit einem Menschen, dem man begegnet, dem man Wichtiges [460] zu sagen hätte und an dem man doch vorübergeht – man besinnt sich, wendet sich und versucht den Andern einzuholen. Da sieht man betroffen, daß sich dieser inzwischen schon so weit entfernt hat, daß er nicht mehr einzuholen ist.
Ein Augenpaar drang über Berg und Thal und fragte vorwurfsvoll: Worauf wartest du? – Und sein Gedanke antwortete: Wüßtest du nur! Ich kam gerüstet zum Kampfe mit einem Riesen, statt seiner fand ich ein Kind; ich kann es, darf es nicht zu Boden werfen; ich muß es auf meine Arme, an mein Herz heben – nur so wird unser Weg frei!
Des Menschen Seele ist ein wundersames Instrument. Derselbe Ton, der gestern noch als reine Lösung der Dissonanz klang, die unseres Lebens Harmonie untergräbt, läßt morgen vielleicht die straff gespannte Saite springen. Was Meinhard bisher beschwichtigt, was er sich noch eben wiederholt, traf sein eigenes Ohr plötzlich wie leerer Schall. Stärker, gewaltiger klang das Echo der berechtigten Frage: Worauf wartest du? Jähe Gluth stieg ihm bis in die Stirn. Ihm war, als müßte er die Augen niederschlagen vor Allem, was ihm lieb und theuer zugleich, und er schlug sie lebhaft auf, mit dem Blitze des Entschlusses darin.
Als er im Begriffe war, dem Schlosse zuzuschreiten, kam ihm ein Diener mit der Meldung entgegen, die Comtesse sei bereit. Wirklich saß Ottilie schon in Hut und Schleier auf dem ihr zugehörenden Maulthier, während der Reitknecht daneben Meinhard’s Fuchs am Zügel und in der Linken Reitpeitsche und Mütze hielt. Mit jener angeborenen Eleganz, die jede seiner noch durchaus jugendlichen Bewegungen kennzeichnete, schwang sich der Graf in den Sattel. Die Augen der Bediensteten folgten dem Paare mit jener gemütlichen Eigenthumsfreude, die Herrn und Hof als „unsere“ umfaßt.
Schweigend ritten Vater und Kind durch den lichten, zu Anfang des Weges von mancherlei Anlagen unterbrochenen Forst. Der schöne Morgen lachte über ihren Häuptern und strömte sein volles Glänzen über das Thal, welches sich zur Linken des Fahrweges bald dem Blicke öffnete. Der stete Wechsel südlicher und nördlicher Vegetation, wie er der deutsch-italienischen Grenzscheide eigen, verlieh den terrassenartig über einander steigenden Geländen charakteristischen Reiz. Weinbelaubte Hügel, schattige Kastanienhaine strebten zu dunklen Föhrenwäldern aufwärts; fern, als Grenze des Thales, stand der imposante Gebirgszug im Morgendufte.
„Woran denkst Du, Papa?“ fragte Ottilie plötzlich.
Schon wußte sie, daß ihr Auge vom Vater empfunden werde, wenn er auch abgewendet schien, nun aber hatte es seit Minuten an ihm gehangen, ohne ihn der Versunkenheit zu entreißen, welche ihn gefesselt hielt.
Er wandte den Kopf und sah sie mit verlorenem Blick an.
„Woran ich denke? An Dich, Tila. Ich möchte Dir etwas vertrauen, was uns Beide angeht, nahe, sehr nahe angeht.“
Ihr Auge glühte auf.
„Du willst mir vertrauen?“ fragte sie lebhaft. „Ich danke Dir. Was Dich angeht, muß ja auch mich angehen o, mir ahnt, um was es sich handelt. Du denkst künftig nicht auf Riedegg zu bleiben; Du willst in die lebendige Welt hinaus, wirken, schaffen, und nimmst mich mit Dir?“
Meinhard schüttelte leise den Kopf.
„Nicht so, Tila! Von Jüngstvergangenem will ich Dir erzählen, und was sich uns daraus an Zukunft aufbaut. Wir sind hier nahe bei Lichtenwerde. Dort wollen wir absteigen und rasten, dann hörst Du mir zu.“
Ottilie warf einen fragenden Blick aus den Vater und verstummte. Im Tone seiner Stimme, so weich er geklungen, lag etwas, das sie befremdete und mit unbestimmtem Bangen erfüllte. Nachdenklich ritten Beide vorwärts, ohne ein Wort zu tauschen, bis sich aus der weit vorgeschobenen Berglehne eine Lichtung öffnete, auf deren Plan die Trümmer einer längst zerfallenen Burg ausgestreut waren, von Moos und Buschwerk wie in einen Mantel gehüllt. Es war eine Heimstätte tiefster Einsamkeit; selbst in dieser Stunde, wo das goldene Tageslicht sich in jeden Winkel ergoß, breitete sich eine bezaubernde Melancholie über den weltabgeschiedenen Ort. Welche Ruhe hier, welches Schweigen! Dicht am Abhang stand ein verlassenes Kirchlein, über dessen altersgraues, verwittertes Gemäuer wildes Geranke niederhing. Wind und Wetter hatten die Kuppel des Thürmchens halb abgedeckt; die stumme Glocke, welche längst keine Stunde mehr bezeichnete, hing frei zwischen den Sparren. Zur Linken der Pforte breitete eine Kastanie ihren Schatten über Rasen und Moos. Nur mit leisen Athemzügen regte sich das Leben der Natur. Würziger Waldblüthenduft, goldene Sonnentropfen füllten die Stätte.
[473] Meinhard hielt sein Pferd an.
„Welcher Friede!“ sagte er tiefaufathmend. „Hier müssen alle Stürme schweigen“
„Weißt Du schon, daß der Platz uns jetzt zu eigen gehört?“ fragte Ottilie.
„Wie das?“
„Ja,“ sagte sie mit dem herben, geringschätzigen Klange, dessen ihr helles Organ mitunter fähig war. „Lichtenwerde’s dachten in allem Ernst daran, die Ruinen ihres Stammhauses an den nächsten Besten zu veräußern. Als Großpapa erfuhr, daß ein Unterhändler ihnen im fremden Auftrage ein Angebot auf den Platz gethan, und daß sie Willens wären, sich darauf einzulassen, kam er durch eigenen Ankauf jeder Möglichkeit unberufener Nachbarschaft zuvor. Diesmal wäre übrigens auch sonst nichts daraus geworden; Lichtenwerde’s hatten mit jenen Leuten sofort abgebrochen, als sie Näheres erfuhren. Es waren Protestanten.“
„Deshalb abgebrochen?“ sagte Meinhard mit Betonung.
Ottilie sah ihn erstaunt an.
„Man wird doch nicht zugeben. daß sich Protestanten hier ansässig machen?“
Ein rasches Wort zuckte auf seinen Lippen, doch sprach er es nicht aus. Wie hatte ihn befremden können, was er wußte, zu gut wußte? Er war in Tirol! Die Farbe kam und ging in seinem bewegten Gesicht. Schweigend ritt er dem Kirchlein zu, um dort abzusteigen und sein Pferd an den Baum festzubinden.
Der Reiter war eben im Begriff aus dem Sattel zu springen, als sich die Kirchenpforte unversehens von innen öffnete und eine unförmliche Gestalt auf deren Schwelle erschien. Das Pferd stutzte, bäumte sich hoch auf und wendete sich jäh. Ein Aufkreischen durchschnitt die Luft. Der lose gehaltene Zügel war der Hand des Reiters entfallen; das Pferd, von dem schrillen Laute, der so unmittelbar vor seinen Ohren ertönte, noch mehr erschreckt, bäumte sich abermals. Meinhard glitt aus dem Sattel; sein Haupt schlug im Niederstürzen gegen einen Baumstamm und sank schwer zu Boden, während sein linker Fuß noch im Bügel hing. Das aufgeregte Thier schleifte den widerstandslosen Körper zwei, drei Schritte weit, stand darauf still, senkte den Kopf zu seinem Herrn nieder und beschnoberte dessen Gesicht.
Es war das Werk eines Momentes. Ottilie starrte dorthin, als zöge ein furchtbares Traumbild lähmend an ihren Sinnen vorüber. Erst dann, als gellendes Gekreisch von Neuem an ihr Ohr drang, überkam sie das Bewußtsein eines Wirklichen, und löst die Starrheit ihrer Glieder. Wie durch einen Nebel sah sie, während sie von ihrem Maulthier niederglitt, ein altes Weib die hochaufgethürmte Luft frischgemähten Grases vom Rücken abwerfen und mit fortwährenden Jammerrufen den Fuß des Unglücklichen aus dem Bügel befreien. Ottilie stürzte hinzu, warf sich neben dem Regungslosen zu Boden und schloß einen Moment die Augen, als sie aus den todtblassen Schläfen Tropfen um Tropfen niederrinnen sah. Nur eine Secunde lang ließ sie sich vom Entsetzen überwältigen; in der nächsten schon faltete sie mit fliegender Hand ihr Tuch und band es über Gras und Blätter, womit die Alte das Blut zu hemmen suchte. Nicht das leiseste Lebenszeichen antwortete ihrem erstickten Zuruf, ihrem Druck der schlaffen Hände. Als der nothdürftige Verband befestigt war, hob das Kind das stumme Haupt des Vaters in ihren Schooß und mühsam drang der erste verständliche Laut aus ihrer zusammengeschnürten Kehle:
„Hülfe, holt Hülfe!“
Die Alte nickte nur; wußte sie auch kaum, daß sie selbst die unheilvolle Ursache des Geschehenen gewesen, so war sie doch ganz fassungslos. So eilig ihre zitternden Beine es vermochten, humpelte sie den Fußpfad entlang, der dem nächsten Einödhofe zuführte.
Als sie zwischen den Tannen verschwunden war, regte sich nichts mehr. Ottilie blieb allein mit dem Vater. Sollte wirklich nie mehr ein Hauch des Lebens die Lippen bewegen, welche eben noch zu ihr gesprochen? Dieses Auge, dessen heller Strahl des Kindes Herz erwärmt hatte bis in seine Tiefen, sollte es dem ihren nie mehr begegnen? Jammer und Grauen überwältigte die junge Seele; ihr war sterbensbange, und zum ersten Male begriff sie den Tod. Die Mutter war ja gleich einem Schatten durch das Leben gegangen, gleich einem Schatten auch aus dem Leben verschwunden. Sie beugte den Kopf und drückte die Wange gegen das geliebte, blutüberströmte Haupt. Sie saß regungslos, den Rücken gegen die Kirchenmauer gelehnt, vom Laub der Kastanie überschattet, an deren Stamme ihr Theuerstes zerschellt worden. Ihre Augen hingen unverwandt an dem in ihrem Schooße gebetteten Haupte; das Ohr spannte sich bis zum Schmerze im Lauschen auf einen schwachen Lebenshauch, den es, ach! nicht vernahm.
Rings war es still, die Thiere grasten, kein leisester Laut weit und breit – so still ist’s im Grabe. Da begann eine Amsel dicht über der Verlassenen zu schlagen, und plötzlich stürzte ihr ein Strom von Thränen aus den verzweiflungsvollen Augen. Glühende Tropfen sanken auf Meinhard’s Lider und, als hätte der innerste [474] Quell aller Schmerzen etwas von der Kraft jenes sagenhaften Wassers des Lebens, schlug er die Augen auf.
Elektrisch zuckte es über Ottilie hin, ein Jubellaut brach halb erstickt aus ihrer wildklopfenden Brust, so groß war aber bereits die Gewalt, welche das Kind sich abzugewinnen vermochte, daß ihr selbst in diesem Moment grenzenloser Freude das Bewußtsein blieb, sich still, ganz still verhalten zu müssen. Sie preßte nur ihre Lippen auf des Vaters blasse Stirn und athmete:
„Du lebst.“
Er sah sie traurig an. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Ton ward vernehmbar. Namenlose Unruhe schien ihn zu bedrängen; die verängstigten Augen sprachen Worte, welche sich den Lippen versagten; schwach hob er die Rechte, als wollte er Ottilie näher zu sich ziehen. Sie neigte ihr Ohr zu den sich immer von Neuem bewegenden Lippen und lauschte, als sollte sie des Vaters Seele in sich trinken. Während ihre Augen in die seinen tauchten, ganz Liebe und Jammer, drangen endlich schwache, halb verwehende Worte an ihr Ohr:
„Du hast einen Bruder!“
Der Mund verstummte; der Blick sprach weiter mit jener unaussprechlichen Beredsamkeit, welche dem, der begreift, mehr sagt als tausend Worte, dem Nichtwissenden über nur eine Welt voll Angst ausdrückt. Alles, was noch von Leben in Meinhard war, sammelte sich zur letzten Kraftanstrengung; er richtete sich einen Moment auf; im nächsten sank sein Haupt zurück, und sein Kind wußte, er würde es nie wieder erheben.
Von heiligem Instinct geleitet strich Ottilie leise, ganz leise über die gebrochenen Augen hin, und die Lider schlossen sich. Jene Verklärung, die von anderen Welten predigt, ging in dem stillen Antlitz auf. Ein Zittern flog über das Mädchen hin; ihr Herz schrie zu Gott empor:
„Hast Du mich verlassen?“
Ihr zu Häupten klang fort und fort der melodische Amselruf wie eine Stimme vom Himmel.
Etwa eine Stunde mochte vergangen sein, als der Einödbauer mit seinen Knechten zur Stelle kam, um den Verunglückten, je nachdem, auf seinen Hof oder nach dem Schlosse zu schaffen. Da kein Fahrweg vom Einödhofe nach den Ruinen führte, war in der Eile aus Leitern und Tannenzweigen eine Tragbahre hergestellt worden. Bestürzt standen die Leute Angesichts eines Todten. Der Erbe weit ausgedehnte Besitzes, der letzte Sohn des Mächtigen, der, gleich einem regierenden Fürsten, selbst Solchen, die ihm nicht unterthänig, Gesetze vorschrieb und bei Allen Gehorsam fand, ward auf die armselige Bahre gehoben und zog nun, ein stummer Gast, dem Vaterhause entgegen, das ihm vor einer kurzen Woche Triumphpforten aufgerichtet.
Wohl niemals widerstrebt unser Herz mehr der grausamen Herrschaft einer von außen wirkenden blinden Naturgewalt, wohl niemals unterliegt es derselben schmerzlicher, als wenn ein geliebter Todter auf der Bahre ruht. Wie erhaben, wie großartig ist der Tod! Feierliches Schweigen fordert er, und uns ist, als dürften nur unsichtbare Flügel das Haus umrauschen, in das er eingekehrt – und doch drängt sich gerade Angesichts des Todes nur allzu viel Gefälligkeit auf, drängt sich selbst Gemeines herzu und läßt sich nur durch Abwehr fern halten. Diese Abwehr kennt, im Grunde genommen, aber nur der Arme; der Reiche, der Hochgestellte liegt hier, wie auch sollst im Leben, in den Banden einer rücksichtslosen Tyrannei der Sitte; denn im Hause des Vornehmen wohnt der dem Erhabenen fremdeste Gast: die Etiquette.
Was auch in der verschlossenen Seele des kinderlosen gräflichen Greises vorgehen mochte, er vergaß nicht, jede Vorschrift solcher Etiquette anzuordnen. Reitende Boten gingen und kamen. Durch das vom Morgen bis zum Abend geöffnete Schloßthor strömte schon am nächsten Morgen nach dem Unglückstage die gesammte Nachbarschaft herein, den prunkvoll Aufgebahrten zu beschauen. Wohl mischte sich in die Neugier mancher rührende Zug; denn alle Grund- und Hofbesitzer des Bezirkes hatten den stillen Mann da auf der Bahre schon als Knaben gekannt und gern gehabt – und nun sollten sie sein Antlitz zum letzten Male schauen. Still ward es erst am dritten Tage um den Todten her, als er seine letzte Reise antrat.
Vom Schloßgesinde und einer großen Anzahl von Landvolk geleitet, bewegte sich der Wagen, welcher Meinhard’s Leiche der Ruhe entgegentrug, langsam bergab. Ueber das gefurchte Gesicht des alten Kutschers, der dem Hause seit Jahrzehnten gedient, tropften große Thränen, und der lange Flor seines Hutes bewegte sich wie eine Trauerfahne im Morgenwinde. Kein Laut als die Tritte der Geleitenden störte die Waldesstille; nur zuweilen klirrte leise ein Rosenkranz, oder ein stärkerer Lufthauch trug das sonore Glockengeläute von der kleinen Dorfkirche gedämpft herüber an Ohr und Herz der Leidtragenden. Die hohen Wipfel der Bäume schwankten, als wollten sie dem Heimgegangenen einen letzten Gruß zuwinken, und stumm schwirrten die aufgescheuchten Vögel von Ast zu Ast. Aus dem leicht umwölkten Himmel brach hin und wieder ein Sonnenstrahl, drang durch das duftende Laub und vergoldete den letzten Weg eines Vielgeliebten, der eine Stunde später in derselben stillen Dorfkirche seine Ruhestätte fand, über deren Taufstein dereinst sein hoffnungsreiches Dasein eingesegnet worden.
Es war spät am Abend. Graf Raimund saß einsam in seinem Schlafgemach. Er sah alt und verfallen aus, und über seinem festgemeißelten Gesicht lag es wie Schatten äußerster Müdigkeit. Das im südwestlichen Eckthurm befindliche Gemach, welches den ersten und letzten Strahl der Sonne empfing, trug um diese Stunde einen düsteren Charakter; und die auf dem Tische brennende Lampe erhellte nur ihren nächsten Umkreis, in allen Winkeln lagerten tiefe Schatten. Die strengen Linien altdeutscher Bilder dämmerte von den Wänden nieder. Vor dem Grafen lag eine geöffnete Brieftasche, und einige Papiere waren über den Tisch hingestreut, darunter ein Brief, welchen der Greis jetzt zur Hand nahm und entfaltete. Noch ehe er dessen erste Seite beendigt hatte, schlug er das Blatt um und sah nach der Unterschrift; dann stützte er den Kopf auf die Hand und begann noch einmal das Schriftstück von Anfang an aufmerksam zu durchlesen. Die freien, festen Züge waren von Frauenhand.
„Mein Geliebtester!
Siegmund schläft. Ich saß an seiner Wiege, bis es dunkelte, und schaute ihn an. Wenn das Kind schlummert, gleicht es Dir Zug um Zug; nur die Augen mögen sein Muttererbe sein. Während ich unseren Sohn behüte, fühle ich mich Dir plötzlich seltsam nahe – der Gedanke dringt unaufhaltsam bis in Dein Zimmer, ich sehe Dich dort umhergehen, das lächelnde Auge zu den alten Reimen aufgeschlagen, die, wie Du mir erzähltest, im Schlosse Deiner Väter die Wände schmücke; deutlich vernehme ich den Klang Deiner Stimme; sie liest eben einen der Sprüche und trifft mein Ohr so vernehmlich, daß mein Herz merklich höher schlägt.
Meinhard, ich denke Deiner mit jedem Athemzug – nicht nur weil ich Dich liebe, mehr noch, weil im Bewußtsein, daß alles Licht, alle Wärme nur von Dir ausgehen, mein ganzer Himmel liegt. Erst seit ich Dein bin, seit unser Kind die Augen aufgeschlagen, weiß ich, daß Liebe das Heiligste aus Erden ist. Geheiligt sind fortan all meine Freuden und Leiden. Wäre es möglich, daß ich Dich je verliere könnte, so ginge mehr zu Grunde als Glück und Leben; der Gott in meiner Brust müßte sterben – aber die Götter sind unsterblich; ich kann Dich nie, niemals verlieren! Der bloße Gedanke daran ist ein Verbrechen – vergieb ihn mir! Seit zwei Tagen quält mich namenlose Unruhe; selbst die Liebesworte Deines Briefes konnten sie nicht einschläfern Bleischwer lasten die endlosen Stunden des Fernseins. Wir hätten bei einander bleiben sollen. Keine thörichte Ungeduld, kein Drängen spricht aus mir, nur Sehnsucht, die mich zuweilen anfällt fast wie körperlicher Schmerz. Seit Stunden schon tobt um die Moosburg heftiger Gewittersturm; es grollt von Berg zu Berg, und der Himmel steht meilenweit in Blitzen. Aber hier im Schlafzimmer ist es so todtenstill und öde – ich höre jeden Federstrich.
Gute Nacht! felicissima notte – weißt Du noch, wo Deine weiche Stimme den Gruß des Südens zuerst vor mir sprach? Es war in Sorrent. Schlaf wird bei mir so bald noch nicht zu Gaste komme, um weiter zu schreiben bin ich aber zu ruhelos. Im Erkerfenster, aus dem wir so gern zusammen in’s Thal niederschauen, will ich noch ein Weilchen dem Toben der Elemente lauschen und Deiner denken. Gute Nacht!
Graf Raimund las mit zusammengezogenen Brauen langsam bis zu Ende.
[475] „Deshalb also!“ murmelte er und preßte die schmalen Lippen fester auf einander.
Im Begriff, das Blatt niederzulegen sah er dessen letzte Seite mit einigen Strophen von Meinhard’s Hand beschrieben. Er zuckte die Achseln, doch las er auch diese:
„Wie der Sturmwind brausend die Wolken trägt,
Nimmt der Donner auf Schwingen mein Herz
Und wühlt es mir auf und hat’s mir erregt,
Daß es dunkelt und grollt und Blitze schlägt –
Weiß nicht, ob in Glück oder Schmerz.
Da träum’ ich mir einen feurigen Traum
Wie ich, ein zuckendes Wolkenkind,
Mich stürzen will durch den sausenden Raum,
So schnell, daß den Himmel ich streifte kaum,
So schnell, wie kein Blitz sich’s ersinnt.
Wo die Ferne aufhört, da hielt’ ich ein –
Ich weiß, wo die Ferne hört auf!
Und glühend strömt’ ich den Flammenschein
In Dein Herz mit zündender Kraft hinein,
Bis es feurig loderte auf.“
Des Greises Lippe lächelte ironisch. Selbst in diesem Augenblick, wo Grabesodem ihn umgab, regte sich sein Skeptizismus. Er faltete den Brief bedächtig zusammen, schob ihn zurück in das Couvert, welches ihn umschlossen hatte, und notirte dessen Absendungsort. Dann fuhr er fort, die vor ihm liegenden Papiere sorgfältig durchzusehen. Aus einem derselben fiel ihm eine lange dunkle Locke entgegen, um welche als Knoten feine lichtblonde Kinderhärchen geschlungen waren – ein Frösteln überlief den Grafen.
Schneidend empfand er die herbe Ironie des Geschickes: mit der Hälfte seiner Habe, ja mit dem Preise seines eigenen Lebens hätte er sich einen Enkelsohn erkaufen mögen – und dieser Enkel lebte und athmete nun – vielleicht ihm zum Unheil, statt zum Heile. Grollend dachte er des Weibes, des Kindes, deren Liebe sich Meinhard im Verborgenen gefreuet, und der zertrümmerte Wille knirschte gegen jene Macht, die der Greis nur als blinde Schicksalsmacht anerkannte, aber deren immer neue Schläge ihm widerwillig die Ahnung eines leitenden Verhängnisses in die Seele drängten.
Ein Pochen an der Thür scheuchte ihn aus finsterem Brüten auf. Ueberrascht sah er Ottilie eintreten, die schweigend und befangen auf der Schwelle stehen blieb und leicht zusammenschreckte, als er ihr nicht ohne Unzufriedenheit entgegenrief:
„Wie, noch nicht zur Ruhe?“
Sie näherte sich.
„Ich muß Dir etwas sagen, Großvater. Tags über konnte ich es nicht – auch wollte ich damit warten, bis – bis – ihre Stimme erstickte in Thränen.
Der Graf betrachtete sie schweigend. Sie war überaus blaß, und zum ersten Male zuckte der Gedanke, daß auch dieses Kind sterblich sei und den Andern nachsinken könnte, durch Haupt und Herz des alten Mannes, der ihr im Grunde seiner Gedanken nie verziehen hatte, daß sie ein Mädchen war. Er legte leise die Hand auf ihren Scheitel und sagte gütiger:
„Und was hättest Du mir heute noch zu sagen, Ottilie?“
Sie stand mit niedergeschlagenen Augen vor ihm – ihre Brust hob und senkte sich, und erst nach einer Pause sagte sie sehr leise:
„Etwas – etwas von meinem Vater – er sagte mir – im letzten Augenblicke seines Lebens vertraute er mir –“ Ihr Gesicht bedeckte sich mit heißer Röthe – sie neigte sich dicht zum Ohr des Greises nieder und athmete: „Ich habe einen Bruder.“
Ueberrascht sah er ihr in die Augen
„Das weißt Du?! Nun, ich weiß es auch. Hat Dir Dein Vater etwa Aufträge hinterlassen?“
Sie schüttelte den Kopf. Abermals brachen ihre Thränen unaufhaltsam hervor.
„Nichts! Nur die paar Worte – und ich komme, um Dich zu bitten – Großvater, ich bitte Dich flehentlich –“
Er unterbrach sie rasch:
„Du magst Dich beruhigen. Ich bin über die Sache bereits orientirt; es wird für alles Nöthige Sorge getragen werden.“
„Aber auch ich, Großpapa – ich möchte erfahren – möchte selbst –“
„Laß das ruhen!“ sagte er kalt. „Es ziemt Dir nicht, Deine Gedanken hiermit zu beschäftigen Du weißt, daß Dein Vater nicht vermählt war. Diese Angelegenheit zu ordnen steht nur mir zu, und daß es in allgemeiner Weise geschehen wird, darfst Du voraussetzen; damit begnüge Dich! Und nun genug davon! Nimm Platz – es ist mir angenehm, daß Du gekommen bist; auch ich habe Dir etwas zu sagen, und es könnte sich dazu keine ungestörtere Zeit finden, als die gegenwärtige.“
Das junge Mädchen setzte sich mechanisch ihm gegenüber; ihre kummervolle Seele irrte noch um den ihr eben verbotenen Gedanken. Dennoch horchte sie auf, als der Graf ruhig fortfuhr:
„Ich habe beschlossen Dich für die nächsten zwei Jahre nach Wien zu den Damen des sacre coeur zu senden. Eine zweite Ehe Deines Vaters würde mich vielleicht veranlaßt haben, diesen längst gefaßten Beschluß aufzugeben, aber jetzt muß er ausgeführt werden. Mademoiselle genügte bisher, nun wird es aber hohe Zeit, daß Du Dich in angemessener Umgebung bewegen lernst. Nach dem, was wir erleben mußten, erscheint mir räthlich, hiermit nicht zu zögern; denn eine Ortsveränderung für Dich ist nothwendig – je eher, desto besser! Die Luft eines Trauerhauses ist keine gesunde Luft, und deshalb wirst Du spätestens übermorgen unter Mademoiselles Schutz abreisen. Ich selbst folge bald und werde mich persönlich überzeugen wie Du Dich einlebst.“
Ottilie hörte den Worten welche sie so nahe angingen, ohne Bewegung zu. Ihr Gram um den erlittenen Verlust brannte so heiß, daß ihr Alles gleichgültig erschien, was nicht unmittelbar damit zusammenhing, und wurde sie sich während der Ankündigung, daß und in welcher Weise über sie verfügt worden, irgend einer schwachen Regung bewußt, so war es zu Gunsten eines Beschlusses, der sie wenigstens der grauenhaften Oede des Schlosses entführte. Dennoch sprach ein Klang des Heimathgefühls aus der Frage: „So bald schon?“
Der Graf erhob sich und trat zu ihr. Ein bei ihm so seltener Blick der Zärtlichkeit traf sie aus seinen müden Augen.
„Ja,“ sagte er, indem er sie einige Augenblicke schweigend betrachtete, „bald! Am liebsten schon morgen! Du wenigstens sollst mir bleiben, und auf Riedegg – pflegt man zu sterben“
Etwa eine Woche war vergangen, seit Meinhard in die Gruft seiner Ahnen gebettet worden. Stunden und Tage hingen bleischwer über Schloß Riedegg, von welchem mancher vorüberkommende Wanderer den Eindruck einer menschenverlassenen Stätte mit hinwegnehmen mochte – so lautlos bewegte sich die Dienerschaft innerhalb der Höfe und Gänge, so selten erschien ein Menschenantlitz an den Fenstern oder unter den Pforten. Graf Raimund verließ sein Schlafgemach nur, um im Königinzimmer die Papiere des Archivs zu sichten und persönliche Schriftstücke abzuändern. Mit Ottilie war der letzte Schimmer von Jugend und Freude aus den weiten Hallen von dannen gezogen, und bereits rüstete sich der Graf, ihr nach Wien zu folgen; er wartete nur noch auf das Eintreffen seines vertrauten Kammerdieners, welchen er den Damen als Geleite mitgegeben und zugleich mit der Mission betraut hatte, auf der Rückreise in discreter Weise die Schreiberin jenes Briefes an Meinhard zu ermitteln. War auch nur ihr Vorname unterzeichnet, so gaben die Station der Absendung und die dem Datum beigefügte Bezeichnung der Moosburg hinreichende Anhaltspunkte. In welcher Weise für die von seinem Sohne Hinterlassenen zu sorgen sei, behielt sich Gras Raimund nach Maßstab der erwarteten Auskunft vor, und die Stimmung des eigenen Verlustes, das Mitwissen Ottiliens hatten ihm eine Angelegenheit, welche er unter anderen Umständen wahrscheinlich frivol behandelt haben würde, der Art vertieft, daß er sie erledigt wünschte, ehe er Tirol verließ, um ein etwa wünschenswertes persönliches Eingreifen nicht zu erschweren.
Die Nachmittagssonne brannte heiß, und ermattende Schwüle lag über Berg und Thal. Dennoch war Graf Raimund bereits seit einer Stunde im Erkerthurm des Archivzimmers ernsthaft beschäftigt. Die antike Maske, welche den Deckel eines Schreibzeuges von Bronze bildete, dessen ausgezeichnete Arbeit Cellini zugeschrieben wurde, war zurückgeschlagen, und langsam aber sicher bewegte sich die Feder des Greises. Er war im Begriff, den neuen Entwurf eines Testaments aufzusetzen, welches er bei seinem Notar in Wien vollziehen zu lassen dachte.
[476] Der letzte Federstrich war geschehen; bedächtig streute der Graf Sand über das Blatt und überlas noch einmal, was er geschrieben. Er war so sehr bei der Sache, daß ihm das immer näher kommende Rollen eines Wagens entging. Nun schallte es dicht an den Fenstern des Schlosses. Der Graf blickte auf. Besuch? Seit die Condolenzen des benachbarten Adels, welche sich in den ersten, Tagen förmlich drängten, überstanden waren, hatte Schloß Riedegg vor Besuchern Ruhe gehabt. Wer mochte heute vorsprechen? Er faltete das Blatt zusammen, legte es in ein Fach des Pergamentschrankes und schloß dessen Thüren; das durch die Fenster hereinströmende Sonnenlicht brach sich im Schimmer des Metall- und Perlmutterglanzes. Die Augen des Grafen hafteten zerstreut auf den Blumen und Arabesken des kostbaren alten Geräthes. Es war eines jener Besitzstücke, auf die er Werth gelegt – heute war ihm die ganze Welt und Alles, was sie an Besitz für ihn umschloß gleichgültig.
Die erwartete Meldung blieb nicht lange aus, war aber sichtlich unerwarteter Art:
„Gräfin Riedegg wünsche den Herrn Grafen zu sprechen.“
„Wer, Joseph?“
„Die Gnädige ist mir unbekannt,“ sagte der Alte respectvoll. „Da Störung untersagt war, führte ich die Frau Gräfin in den kleinen Salon, glaubte aber doch Meldung machen zu sollen, weil Hochdieselbe Excellenz gleich zu sehen wünschten.“
„Gut! Ich komme hinüber.“
Als der Diener sich zurückgezogen, zögerte Graf Raimund noch einen Moment. Der Umstand, daß sein alter Kammerdiener eine Dame, welche den Namen Riedegg trug, nicht von Person kannte, fiel ihm auf; denn es gab wenige Frauen in der Familie. Mit unbestimmter Vorahnung neuen Unheils durchschritt der alte Herr die Gallerie, welche den Eckthurm mit dem andern Flügel verband, und als er die Schwelle des Salons überschritten hatte, blieb er staunend stehen.
Eine hohe, jugendliche Gestalt, deren marmorblasses Gesicht aus wallendem Trauerschleier blickte, trat ihm entgegen. Die Falten des schwarzen Gewandes glitten an königlich schönen Formen nieder, und während sich die Augen Beider begegneten, mischte sich in das unverhohlene Befremden, welches der Blick des Grafen aussprach, ein schärferer, gespannter Zug. Es war ihm, als habe er dieses schöne Gesicht bereits früher gesehen. Alles in ihm setzte sich gleichsam im Voraus zur Wehr gegen die Ahnung, welche in ihm aufzudämmern begann. Zur ganzen Höhe seiner Hünengestalt aufgerichtet, trat er einige Schritte vor.
„Was verschafft mir die Ehre?“ fragte er, indem er sich leicht verbeugte, mit eisiger Höflichkeit.
„Sie haben nach mir gesandt, Herr Graf.“
„Nach Ihnen gesandt?“ fragte er, und sein Blick traf sie scharf wie Stahl. „Also – in der That? Sie, Fräulein von Meillerie, waren meines Sohnes – Freundin?“
Sie wurde weiß bis in die Lippen, und ein glühender Strahl flammte in ihrem Auge auf, um sogleich wieder zu erlöschen.
„Meinhard war mein Gatte,“ erwiderte sie, beide Hände gegen die Brust gepreßt, stolz und feierlich.
„Vor Gott, wie man zu sagen pflegt,“ erwiderte der Graf gelassen. „Nehmen Sie Platz, Mademoiselle! Ich bin wahrlich nicht geneigt, um Worte mit Ihnen zu streiten. Sie finden mich bereit, Ihnen in jeder Weise entgegenzukommen, sowohl in Betreff Ihrer selbst wie Ihres Sohnes dessen Graf Meinhard vor seinem Abscheiden erwähnte.“
Genoveva’s mit allem Aufgebote ihres Willens gesammelte Kraft wankte plötzlich. „Vor seinem Abscheiden!“ dieses Wort, hier in Meinhard’s Heimath, von seinem Vater ausgesprochen, traf sie, als erführe sie nun erst, daß der Heißgeliebte ihr wirklich verloren, daß Liebe und Wonne auf ewig hin, ihre Sonne untergegangen war. Was sie zu sagen, zu fordern gekommen, verschwand ihr vor dem ungeheuren, unfaßbaren Schmerze, der sich vernichtend um ihre Seele klammerte und sie niederwarf. Eine Fluth von Thränen stürzte ihr aus dem Herzen in die Augen, und ohne des Grafen zu achten, warf sie sich vor dem Sessel, welchen er ihr zugeschoben, auf die Kniee und drückte ihre strömenden Augen gegen die Polster.
Graf Raimund betrachtete sie einige Minuten, ohne sie zu stören. Ein anderer Moment, in welchem er sie früher gesehen, stand vor seinem Gedächtnisse – damals strahlte sie in erster Jugend, von duftigen Ballgewändern umwallt, wie heute vom Trauerschleier, bestrickend gleich einer Willy im Reigen der Tänzer. Ja, das Weib war schön, und er begriff, wie sie Meinhard, gerade Meinhard hatte fesseln können; denn jeder Zug, den die Natur in Diesem nur gleichsam angedeutet, war hier zur reichsten Vollendung gediehen. Er trat einen Schritt näher, berührte die Schultern Genoveva’s und sagte mit jener vollkommenen Höflichkeit, die unter Umständen der Herzlichkeit etwas abzuborgen versteht:
„Ich bitte dringend, stehen Sie auf, Mademoiselle!“
Mademoiselle! Er nannte sie abermals: Mademoiselle? Wie eine schrille Dissonanz fiel dieses Wort in Genoveva’s heiligen Schmerz. Hier galt es nicht dem Todten, sondern dem Lebenden. Die junge Frau erhob den Kopf, strich, sich besinnend, das Haar aus der Stirn und stand ihm hoch aufgerichtet gegenüber. Noch einen Augenblick blieb sie stumm, und als sie dann sprach, bebte das jäh zurückgedrängte Schluchzen noch aus ihrer Stimme:
„Sie nennen mich Mademoiselle, Herr Graf, und sagten doch zuvor, Meinhard hätte unserer Ehe erwähnt?“
„Eines Sohnes, der ihm lebte, ja! Es war dies sein letztes Wort. Das Ende kam zu rasch, als daß er Aufträge hätte hinterlassen können, doch betrachte ich solchen Auftrag als gegeben und angenommen. Sprechen Sie sich frei über Ihre Wünsche aus! Ihre und Ihres Sohnes Zukunft soll meine angelegentliche Sorge sein.“
„Ohne es zu wissen, Herr Graf, fahren Sie fort, mich schwer zu beleidigen! Schon die Andeutungen Ihres Boten ließen mich befürchten, daß Ihnen auch jetzt noch unbekannt geblieben, was Sie längst erfahren haben sollten.“ Sie hielt inne, blickte ihn mit den mächtigen Augen voll an und sagte sanft und fest: „Meinhard war mir durch den unauflöslichen Segen der Kirche verbunden. Unser Sohn ist der rechtmäßige Erbe seines Namens.“
Der alte Graf wankte. Sein Gesicht wurde todtenfahl. Mit unwillkürlicher Geberde, als wolle er einen Angriff auf sein Leben abwehren, hob er die Rechte.
„Das dürfte schwer zu beweisen sein, Gnädige.“
„Der Beweis muß sich in den Papieren finden, welche Meinhard bei sich führte,“ sagte Genoveva gelassen. „Nicht hierum handelt es sich, sondern einzig darum, ob Sie das theure Erbe, welches ich Ihnen bringe, in der Weise willkommen heißen wollen, wie das Ihrem Enkel vor Gott und der Welt gebührt.“
[489] „Eine heimliche Ehe?“ fragte Graf Raimund nicht ohne den Anflug leiser Ironie. „In der That, meine schöne Dame, Sie stellen den Glauben an Ihre Worte auf eine starke Probe. Was hätte meinen Sohn zu einem so außerordentlicher Schritte veranlassen können? Er war der Unmündigkeit längst entwachsen, sein eigener Herr. Vorausgesetzt, er hätte sich zu solcher Mesalliance entschließen mögen, stand es nur bei ihm, dieselbe öffentlich kund zu geben.
„Der Name, den ich trug, ehe Graf Riedegg mir den seinigen gab, gehört einem altfranzösischen Geschlechte zu,“ entgegnete Genoveva rasch.
„Ich kenne diesen Namen und – kannte seinen letzten Träger,“ sagte der Graf schneidend. Er trat ihr einen Schritt näher, heftete einen scharfen Blick auf sie und sagte mit nachdrücklicher Betonung: „Zur Zeit, als dieser Name öffentlich – als er von Vielen genannt wurde, um später nie wieder ausgesprochen zu werden, befand ich mich in Wien. Sie selbst, Gnädige, waren damals noch zu jung, um über jene Tage und ihre Consequenzen ein Urtheil haben zu können. Monsieur de Meillerie –“
Genoveva erhob ihre Hand, als wollte sie ungesprochene Worte zurückhalten.
„Er lebt nicht mehr; er war mein Vater –“ sagte sie tonlos.
„Ihr Vater!“ bestätigte der Graf herb.
„Wenn Sie mein Schicksal kennen,“ fuhr sie lebhaft fort, „so wird Ihnen vielleicht auch nicht unbekannt geblieben sein, daß mir die Frau des französischen Gesandten ein Asyl in ihrem Hause bot, bis sie selbst nach der Heimath zurückkehren und mich meinen dortigen Verwandten zuführen konnte; sie und ihr Gatte rechneten mir ein Verhängniß, in das ich schuldlos hineingerissen worden, nicht zur Schmach.“
„Lassen wir Ihre Vorgeschichte zunächst ruhen!“ unterbrach sie der Graf. „Bleiben wir bei der Sache! Es ist nothwendig, über den seltsamen Anspruch, welchen Sie erhebn, sofort und für immer in das Reine zu kommen. Ich wiederhole meine Frage: Womit gedenken Sie Ihre Behauptung zu beweisen, womit einen so unwahrscheinlichen Vorgang zu begründen?“
Die Augen der jungen Frau hatten sich unter den kalten Blicke des Grafen gesenkt. Sie kämpfte heftig mit sich selbst, und sobald sie Herrin ihrer Gefühle war, ließ sie sich auf einem der zunächst stehenden Sitze nieder, und sagte sanft: „Sie wollen mich anhören?“
Er neigte schweigend den Kopf und setzte sich ihr gegenüber. In jede Linie seines düsteren Gesichtes schien das Wort gemeißelt: „Was Du auch sprechen magst – umsonst!“
„Ich werde kurz sein,“ sagte Genoveva, „lassen Sie mich ohne Unterbrechung zu Ende kommen. Alles, was ich zu sagen habe, geht Meinhard an. Wir lernten uns in Neapel kennen, vor einem Jahre etwa. Ich war dorthin gekommen, die Stellung einer Gesellschafterin bei der Fürstin Baccini anzutreten. Ein Brief, welcher mir den Aufschub von deren Rückkehr aus Palermo mittheilen sollte, hatte mich nicht mehr erreicht; deshalb wartete ich die Ankunft der Principessa in der deutschen Pension ab. Zu den dort bereits anwesenden Gästen gehörte Meinhard. Wir lernten uns kennen – wir liebten uns. Er warb um mich; ich verhehlte ihm Nichts, nicht, was Sie eben noch meine ‚Vorgeschichte‘ nannten, nicht meinen protestantischen Glauben und daß ich jeden Uebertritt ohne Ueberzeugung für schmählich halte. Er liebte mich und war entschlossen, glücklich zu sein. Deshalb, Herr Graf, beschwor er mich, zunächst in aller Stille die Seine zu werden.“
Sie hatte dies Alles gelassen gesprochen. Nun aber brach flammendes Leuchten aus ihren Augen; ihre Wangen färbten sich schwach, während sie rasch zu sprechen fortfuhr:
„Ja, er beschwor mich. Er schilderte mir sein armes, armes Leben und daß er bisher niemals glücklich gewesen sei. Er sah den Sturm von Widerspruch voraus, welchen unsere Verbindung erregen würde, und bat so dringend, so flehentlich, ihm ungetrübte Seligkeit zu gönnen, sei es auch nur für ein kurzes Jahr. Ich aber fühlte mich sein, mit jedem Athemzuge, mit jedem Blutstropfen sein. Wie hätte ich seinen Bitten widerstehen mögen? Allein gelassen in weiter Welt, arm an Glück von je, gleich meinem Geliebtesten, wie hätte ich uns den Himmel verschließen mögen? So ward ich die Seine. Er verließ mich auf kurze Zeit, uns in Tirol ein Heim zu suchen, der Welt verborgen und doch seiner eigenen Familie nicht allzufern. Dorthin führte er mich, nachdem ein Mönch aus jener Gegend unsere Ehe in einer stillen Waldcapelle eingesegnet. Ein armer Einsiedler war unser Zeuge.“
Sie schwieg einen Moment und faltete ihre Hände im Schooße.
„Wir waren glücklich in der Verborgenheit,“ sagte sie dann leise. Als aber unser Sohn seine Augen aufschlug, sagten wir uns, daß mit ihm Rechte und Pflichten geboren waren, stärker, höher als die Seligkeiten der Stunde. Deshalb ließ ich Meinhard ziehen, um für Weib und Kind in seiner Heimath eine Stätte zu bereiten, ließ ihn ziehen – und – verlor ihn.“
[490] Graf Raimund hatte ihr aufmerksam zugehörst Er schwieg einige Minuten, den Kopf sinnend aus die Hand gestützt.
„Sie haben den Charakter meines Sohnes jedenfalls richtig erfaßt,“ sagte er endlich. „Meinhard war von je ein Phantast, bei welchem ein extravaganter Schritt nicht zu den Seltenheiten gehörte. Aber – er war zugleich ein Ehrenmann.“ Mit diesen Worten erhob sich der Greis zur vollen Höhe seiner mächtigen Gestalt, schlug beide Arme in einander und fuhr mit starker Stimme fort:
„Knüpften ihn wirklich so ernste Bande an Sie, so würde er sich darüber, während einer vollen Woche ungestörten Verkehrs mit mir, geäußert haben.“
Auch Genoveva stand aufrecht da.
„Sie zweifeln – zweifeln noch?“ rief sie flammend.
„Das werden Sie mir allerdings gestatten müssen, Gnädigste. Die Mär klingt allzu seltsam. Wie ich eben vernahm, sind Sie Protestantin und behaupten, von einem Priester Tirols mit Meinhard getraut worden zu sein; wissen Sie nicht, daß hier dem katholischen Priester das Einsegnen solcher Ehe untersagt ist? Dieser Mönch dürfte denn doch nicht aufzufinden sein, so wenig wie die ,Beweise‘, auf deren Vorhandensein bei meines Sohnes Hinterlassenschaft Sie sich zuvor stützten, Ich habe persönlich seine Papiere, Blatt für Blatt, durchgesehen aber außer zwei Briefen – wohl von Ihrer Hand? – fand sich darunter nichts, das auf Sie oder auf Ihren Sohn Bezug hätte. So lange Sie mir die Rechte Ihres Sohnes nicht beweisen, muß ich annehmen, daß sich in Ihrem Berichte Dichtung und Wahrheit vermischen. Dies passirt liebenswürdigen Damen zuweilen, und Ihre Phantasie mag reicher entwickelt sein, als Frauenphantasien ohnedies zu sein pflegen. Abenteuer zu ersinnen – zu erleben ist ja schwerlich etwas Neues für die Tochter eines Abenteurers.“
Die tödtliche Beleidigung, mit welcher der lang zurückgedrängte Despotenzorn ausgebrochen, traf bis auf den Nerv. Genoveva gehörte aber nicht zu Denen, welche sich äußerlich maßlos zeigen wenn ihr Innerstes in Flammen steht. Ihre hohe Gestalt schien zu wachsen.
„Schweigen Sie!“ sagte sie.
Die Stimme, welche dem Grafen diese Worte zuschleuderte, erhob sich nicht; sie klang sogar noch dunkler als sonst. In den weiten Augen brannte aber so glühender Haß, daß selbst der eherne Geist des Mannes, der ihr feindlich gegenüberstand, einen Moment bezwungen ward.
Genoveva wendete sich in königlicher Haltung der Thür zu. Ehe sie die Schwelle überschritt, blickte sie noch einmal zurück. Die Augen Beider wurzelten einen Moment in einander.
„Sie werden von uns hören, Herr Graf,“ sagte die junge Frau kalt und verließ das Zimmer.
Es ist einige Jahre später, im Beginn des Octobers. Schon färben sich die Ausläufer der in den Buchten des Innthales weit vorgestreckten Wälder mit bunten Schattirungen, während die Fruchtbäume welche Lahnegg umgeben, noch in frischem Grün stehen. Von den Dachfirsten der Häuser hängen Maiskolben, auf Schnüre gereiht, in goldigen Guirlanden nieder.
Nordwärts vom Dorfe senkt sich der Weg in eine kleine Thalschlucht, deren Schooß nur wenige, vereinzelte Häuser birgt. Wer das malerische Felsenthor durchschritten hat, welches dieses stille Fleckchen Erde von der übrigen Welt gleichsam abscheidet, der wird von einem wundersamen Friedensgefühl umhaucht. Die mächtigen Bergriesen jenseits des Inn bleiben dem Wandelnden im Rücken; er könnte sich in dem lieblich begrenzten Grunde fern von den Alpen wähnen, erinnerte nicht ihr lebensprühendes Kind, der silberstockige Alpbach, fortwährend an ihre Nähe.
Heute brauste das Wildwasser stärker als je. Mehrtägiger Regen, erst seit diesem Morgen durch die Sonne verdrängt, hatte den Bach zu mächtiger Fülle anschwellen lassen, und schäumend und tobend stürzte er in dreifachem Gefälle einer raschen Bodensenkung zu, von wo aus er sich in mehrere Arme theilte. Wie im Wirbel bewegten sich die Räder einer pittoresk gelegenen Mühle, welche dort, nahe dem Abhange vorsprang. Purpurfarbiges Weinlaub bekleidete das dazu gehörende Wohnhaus, dessen Fenster in der Sonne blitzten, und eine Gruppe alter Nußbäume, die sich kräftig gegen die Luft abzeichneten, begrenzte ein in Terrassenform angelegtes Gärtchen, dessen bunter Asternflor in voller Blüthe stand.
Dort saßen zwei Frauen auf der Sommerbank Die Aeltere trug die übliche Landestracht; das noch dunkle Haar, welches ihr frühgefurchtes Gesicht umrahmte, bewies, daß sie mehr durch Arbeit gealtert war als durch Jahre. Sie sprach redselig auf ihre Banknachbarin ein, welche zwar das landesübliche Filzhütchen mit Goldquasten trug, sonst aber mehr städtisch als dörflich gekleidet erschien – ein junges Weib, mit lichtem Antlitz, weich in jeder Bewegung; die Haltung, mit welcher sie, die Hände im Schooß, zurückgelehnt saß, war voll natürlicher Anmuth. Obgleich sie den an sie gerichteten Reden und Fragen getreulich Antwort gab, schien doch ihre Aufmerksamkeit getheilt. Wenigstens galt das Lächeln, welches zuweilen in dem feinen Gesicht aufblitzte, offenbar einer Kindergruppe, welche auf der mit einem festen Zaun umhegten unteren Terrasse spielte. Wirklich schien es der Mühe werth, dorthin zu schauen.
Der in violetten Sammet gekleidete, etwa vierjährige Knabe, welcher lang ausgestreckt auf einem grauen Plaid lag und den lockigen Blondkopf mit beiden Händchen stützte, war so frisch von Gesicht und trug so hellen Sonnenstrahl in den Blau-Augen, daß es war, als ströme ein klares, warmes Licht von ihm aus. Seine langen, lockigen Haare flogen im Winde; goldiges Schimmern lag darüber. Vielleicht ließ gerade dies das dicht neben ihm kauernde Mädchen noch dunkler gefärbt erscheinen, als es wirklich war. Die Kleine mochte etwa gleichen Alters sein; dichtes, blauschwarzes Lockengewirr ringelte sich um ihr bräunliches Gesicht, aus dem große Augen hervordunkelten. Sie glich einem Zigeunerkinde, und das hellrothe Halstuch, welches über ihr graues Kleidchen flatterte, saß so verschoben daß beide Zipfel am Rücken niederhingen; einen besondern Reiz aber verlieh ihr die wilde Grazie, welche aus jeder ihrer Geberden sprach. Geschmeidig, wie ein Kätzchen, wechselte sie alle Augenblicke ihre Stellung, während sie in glitzernden Scherben Phantasiegerichte aus Sand und zerpflückten Astern zurecht machte und ihren kleinen Genossen beständig am Aermel zupfte, um ihm zu verkünden, was nun angerichtet würde. Der aber nahm nur geringe Notiz von ihrem Eifer; seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Hände eines älteren Knaben gerichtet der ein paar Schritte weiterhin auf einem Holzklotze saß und aus einem Stück Ahorn eine Figur schnitzte, die bereits den Umriß eines sitzenden Hündchens verrieth. Der junge Künstler beugte sein intelligentes Gesicht eifrig über die Arbeit, was ihn aber nicht abhielt, zuweilen einen raschen Blick auf das Schwarzköpfchen zu werfen, dem er zunickte, so oft es zufällig einmal aufsah. Trotz des groben Lodens, mit dem der Knabe bekleidet war, hatte seine Erscheinung etwas Feines, Vornehmes; er war schlank und zart gebaut.
„Itz sag einmal, Jana, bleibt’s denn richtig dabei, daß Dein’ Gnädige den Winter lang auf der Moosburg forthausen will?“ fragte die Müllerin. „Ich hab gemeint, das wär’ nur so an Gered’, weil sie doch bislang keinmal hat dableiben mögen, seit der Herr todt ist. Gott schenk ihm die ewige Ruh! Daß sie im Frühjahr herkommen is, hat mich weiters net gewundert, daß sie ober jetzt mutterseelenalleinig im Winter da droben hocken mag, das wundert mi’ doch.“
„Mutterseelenallein?“ wiederholte Jana. „Hat sie ja doch ihren Sigmund und mich, und – und die Maxi.“
„Das is an schöne Unterhaltung für so an vornehme, städtische Frau muß i sag’n. Die Gesellschaft hat sie ja auch in den letzten drei Jahr’n um sich g’habt und is doch lieber in der Stadt blieben; da fehlt sich nix. Mir kann’s viel recht sein. Du läßt doch nimmer von ihr ab, bist ja auch gut versorgt dorten, und wir daheim sind froh, daß wir Dich auf die Näh’ behalten. Ja, wann’s nur Dauer hat! Denn siehst, Jana, wir vergunnen Dir ja das gute Leben. Die Gnädige hat Dich in manchem Stück unterwiesen, und es is fein, daß sie Dich beinah hält wie ein Anverwandtes und Dir nix zumuthen mag, als was Dir leicht is. Wohin taugst aber, falls sich einmal ihr Sinn umkehrt, falls sie wieder heirathen möcht’ oder sonst was? Zu uns Bauernleut’ taugst nimmer, und ob Du für einen andern Dienst taugen thätst, das weißt’ selber net.“
Jana schüttelte den Kopf.
„Nein, Mutter,“ sagte sie mit ruhiger Zuversicht. „Meine Gnädige heirathet nimmer und läßt mich auch nimmer von sich; das ist alles Beides so sicher und gewiß wie das Evangelium.“
[491] „No, no! Wenn gleich das Zweite sich so ausweisen mag, denn sie hat einmal ihren Narren an Dir gefressen, so möcht’ ich auf’s Erste keinen Eid thun. Jung is sie noch genug, und noch viel feiner als jung; Geld muß sie auch haben – wie Heu, sonst thät’ sie nit so herumziehen; da bliebe die Heirath nit aus, und am End wird ihr schon Einer in die Augen stechen, daß sie denkt, ein lebendiger Mann ist besser als ein todter, wenn man ihn auch noch so germ gehabt hat. Und – was ich schon lang hab’ fragen wollen –“ Sie unterbrach sich, rückte an ihrem Hut, räusperte sich ein paar Mal, und sagte dann, während ihre Stricknadeln in doppelter Eilfertigkeit durch einander klapperten: „Wie steht es mit Dir selber, Jana? Das beicht’ mir einmal! Willst mit aller Gewalt an alte Jungfer werden? Es war uns leid, dem Vetter und mir, wie Du dem Bäck und dem Schmied abgesagt hast, aber freilich, wir haben’s begriffen, und ich hab’s ja grad noch selber gesagt : für’s Dorf bist verdorben. Daß Dir aber auch der Heer Lehrer aus Hall nit recht war, das weiß ich nit, warum. Der is doch an G’studirter; der hätt’ Dir doch recht sein mögen.“
Jana’s zartes Gesicht färbte sich purpurrot. Sie wandte den Kopf ein wenig zur Seite, legte die Hand mit raschem Druck auf den Arm der Müllerin und sagte ganz leise, aber nachdrücklich :
„Warum fangt Ihr allzeit wieder damit an, Mutter? Ich hab’s doch schon oft genug gesagt, daß ich nicht heiraten will und mag. Meine Gnädige und ich, wir bleiben zusammen, so hab’ ich’s mir vorgenommen, und versprochen hab’ ich’s ihr auch, mit Hand und Mund.“
„Denkst gar jetzt noch an Dein Schatz, den Wendelin Platzer, der sich todt gefallen hat auf den Fernern? Was hilft’s? Todt ist todt,“ murrte die Mutter, ohne Jana anzusehen. So entging ihr auch die abwehrende Handbewegung, welche der Tochter einzige Antwort war. Das Mädchen blickte sinnend, aber ohne Trauer im Auge, vor sich in’s Weite. Es war noch unverändert das gleiche in Schnitt und Farbe zarte Gesicht, welches damals an der Wiege von Genovevas Knaben so heiße Thränen der Herzensangst und des bittern Leids geweint, derselbe jungfräuliche, fast kindliche Ausdruck; nur waren die Farben blühender, die Gestalt etwas voller geworden, und vor Allem bildete die Elasticität ihrer Bewegungen und ein heiterer Zug um Mund und Augen, der einem verhaltenen Lächeln glich, den Contrast zwischen damals und heute. Lächelte sie aber wirklich, wie eben jetzt, wo sie auf die Kindergruppe schaute, dann trat seltsamer Weise das schwermütig Sinnende, welches im Grunde der Augen lag, fast gleichzeitig an den Tag.
Wie mit unwillkürlicher Bewegung erhob sie sich, um zu den Kindern hinabzugehen, und bemerkte in demselben Moment einen Fremden, welcher auf der andern Seite des über die Gefälle zum diesseitigen Fußpfade führenden Steges stand und Haus und Mühle mit großer Aufmerksamkeit zu mustern schien. Dies kam öfters vor; denn war die Zahl der Lahnegg durchstreifenden oder gar dort rastenden Reisenden damals auch noch spärlich, so pflegte doch jeder Vorüberkommende, von der pittoresken Lage des Anwesens gefesselt, an jener Stelle zu zögern.
Die Gestalt, auf welche sich Jana’s Blick richtete, war ihr übrigens von Ansehen bekannt. Der stets vom Kopfe bis zu den Füßen in Grau gekleidete Fremde hielt sich seit einigen Wochen in der Gegend auf und streifte viel umher. Um so mehr wunderte sie sich, daß er heute das von ihm sicher schon früer bemerkte Haus mit so scharfen Bllcken betrachtete. Denselben Eindruck schien die Müllerin zu empfangen.
„Was gafft Der?“ fragte sie. „Wird wohl an Maler sein, so an verdrehter. Jetzt schaut er gar durch sein Spektivi auf uns her, der Narre.“
„Ein Maler ist Der nicht,“ sagte Jana, „sondern ein Musikprofessor, und in Wien ist er daheim.“
„Kennst ihn also?“
„Nur von Ansehen. Er wohnt schon wochenlang. beim Judenwirth und geht oftmals nach der Zillerbrücke spazieren, da bin ich ihm manchmal begegnet, und auch meine Gnädige hat ihn gesehen. In Wien waren wir einmal im Concert, wo er dirigirte.“
„Was redst da? Und Du hast Dir das Gesicht gemerkt, unter so viel Volk heraus?“
Jana lachte.
„Der Oberste von den Musikanten, weißt Du, der steht auf einem hohen Schemel und schlägt mit einem Stöckchen in die Luft, damit die Anderen wissen, ob sie geschwind oder langsam spielen müssen, und ob sie leis’ oder stark blasen und geigen sollen. So Einer ist der Herr Fügen. Auch hat er schöne Weisen und Lieder ausgedacht; die sind gedruckt wie Bücher; ich singe mehr als eins davon. Aber schau, sollt’ man nicht meinen, er wollt’ herüber kommen, zu uns herein?“
In der That hatte der Fremde eben den Steg überschritten; er näherte sich der Gartenumzäunung und öffnete nun eine sehr primitive Gitterthür, während er Jana, die ihm entgegen ging, freundlich begrüßte. Ihre Haltung schien ihm aufzufallen; denn sie entsprach wenig der halb ländlichen Tracht. Unwillkürlich nahm er den zuvor nur leicht berührten Hut ab; während ihre weiche Altstimme ihn ansprach:
„Gewiß wünscht der Herr, sich hier ein Weilchen auszuruhen?“
„Wenn das gestattet ist, gern,“ sagte der Gast, indem er sich durch das dichte, aufwärts strebende Haar fuhr und neben ihr der Bank zuschritt. „Der eigentliche Grund, weshalb ich hier eingetreten bin, ist freilich ein anderer. Ich möchte mich nämlich erkundigen, ob vielleicht hier im Hause ein oder zwei Zimmer miethweise zu haben wären, für einige Zeit.“
Die Müllerin, in deren Hörweite der Fremde nun gelangt war, und welche ihn neugierig betrachtete, schüttelte kategorisch den Kopf:
„Dös giebt’s net,“ sagte sie kurz und bündig.
„Meine Geschwister und die Mühlburschen brauchen Gelaß; da haben die Eltern keine Zimmer übrig,“ erklärte Jana. „Außerdem würde Ihnen die Einrichtung schwerlich behagen; sie ist nicht auf städtische Gewohnheiten berechnet. Aber wollen Sie nicht Platz nehmen?“
Der Gast setzte sich mit leichtem Kopfnicken neben die Müllerin und sah rings um sich mit einem langen Blick, der zu sagen schien: „Schade!“ Ausdrucksvoll, wie dieser Blick, war des Mannes ganze Erscheinung. Der von einer schmächtigen Gestalt getragene Kopf schien auf den ersten Blick fast zu groß, was aber nur an der Masse lichtbraunen Haares lag. Merkliche Erhöhungen, welche sich über den vollen Brauen herabwölbten, verliehen der Stirn geistreich ernsten Charakter, um die feinen Lippen spielte aber zuweilen ein Schalk. Nur ein sehr kundiges Auge würde im ersten Moment das Alter des Musikers festzustellen vermocht haben; denn es schien zweifelhaft, ob Jahre oder Gedanken diese feinen Züge so herausgearbeitet hatten. Aus den nußbraunen Augen leuchtete unvergänglicher Jugendglanz. Es waren die Augen eines Künstlers.
„Hier ist gut sein!“ sagte er mit tiefem Atemzuge, während er zu Jana aufsah, die vor ihm stehen geblieben war. „Da hätte man sich leicht eingewöhnt. Nun bleibt’s wohl beim Weiterziehen.“
„Der Herr logirt doch beim Judenwirth?“ fragte die Müllerin. „Seid Ihr dort nit zufrieden?“
„Ei doch! Sonst wär’ ich nicht wochenlang geblieben. Jetzt aber, wo ich mich für den Spätherbst hier einrichten möchte, wäre mir eine Privatwohnung lieber. Damit schaut’s aber in Lahnegg knapp aus.“
„Der Lehrer, mein’ ich bald, hätt’ ein Gelaß übrig.“
„Beim Lehrer? Wo alle Samstag Singproben für’s Hochamt abgehalten werden? Soll mich der Herrgott bewahren!“
Jana sah mit verstohlenem Lächeln seine erschrockenen Augen.
„Vielleicht wüßt’ ich Ihnen Rath,“ sagte sie; „kennen Sie die Moosburg?“
„Freilich! Mein Lieblingsgang führt an den alten Schlössern vorbei, nach der Zillerbrücke. Dort sind wir einander öfters begegnet. Wissen Sie, daß ich mehr als einmal in Versuchung war, mit Ihren reizenden Kindern anzubinden? Sie wohnen gewiß der Brücke nahe? Ein gehöriges Stück Weges bis hierher, und doch nicht zu weit, wenn man bedenkt, wie oft sich eine Tochter in wirkliche Ferne verheiratet.“
„Ich bin nicht verheiratet,“ sagte Jana tief errötend. „Die Kinder gehören meiner Herrin zu, der Frau von Riedegg auf der Moosburg.“
„Ah!“ Er hob plötzlich den Kopf mit einer der schnellen Geberden, die ihm eigen maren. „Diese Dame habe ich nennen hören. Sie ist Wittwe, nicht wahr? Ist nach langer Abwesenheit [492] auf ihr Schloß zurückgekehrt? Ein beneidenswerter Sitz, den ich mir schon längst gern näher beschaut hätte, doch nehme ich Anstand, die Ruinen zu besichtigen, weil ich selbst zu viel von Einsamkeit halte, um gleiche Vorliebe nicht bei Anderen zu respectiren. Wenn sich eine Dame an so weltentfremdetem Orte häuslich niederläßt, wünscht sie aber sicherlich allein zu bleiben.“
„Und doch fände sich vielleicht gerade auf der Moosburg, was Sie suchen, falls Ihnen der Platz nicht zu entlegen scheint,“ sagte Jana. „So viel ich weiß, wäre die Gnädige nicht abgeneigt, einige Zimmer zu überlassen.“
Ein Blitz beinahe kindlicher Freude ging im Auge des Fremden auf. „Das wär’ ein Fund!“ rief er lebhaft. „Aber – aber – wird die gnädige Frau mich haben wollen, wenn sie erfährt, daß ich Musik zu machen pflege? In dem Punkte kann ich weder bei Tage noch bei Nacht für mich einstehen.“ Seine dichten, beweglichen Brauen rückten gegen einander, was dem Gesicht einen drollig besorglichen Ausdruck gab, obgleich der Sprecher durchaus nicht scherzte; er sah im Gegentheil wie ein recht ernstlicher Bittsteller auf Jana. „Es wäre prächtig dort zu hausen. Aber ich muß wirklich warnen – wahrhaftig, ich könnte nicht versprechen, ein stiller Gast zu sein! Mein Name ist Fügen, Richard Fügen.“
Jana lachte – das stand ihr reizend zu Gesicht. „Das zweite Stockwerk steht unbenützt,“ sagte sie ermuthigend. „Wenn Sie die Räumlichkeiten gelegentlich betrachten wollen, Herr Fügen, so ließe sich Weiteres besprechen.“ Sie neigte grüßend den Kopf. trat dann ein paar Schritte vor und rief zu den Kindern hinab. „Kommt! Es wird kühl; wir müssen heim.“.
Auch der Fremde stand auf und lächelte in sich hinein, während er die herbeispringenden Kinder betrachtete. Ein überaus angenehmes Gefühl überkam ihn, gleichsam eine rosige Perspective künftiger Tage, auf deren schwankendem Grunde der blonde Mädchenkopf da vor ihm sich abhob, von zwei Kinderköpfchen umgeben, die beinahe ausschauten wie die Engelchen zu Füßen der Sixtinischen Madonna. Er fuhr sich durch den Haarbusch, der über seine Stirn aufstrebte, trat den Kindern entgegen und hob den Knaben unversehens auf seinen Arm. Dieser ließ es ruhig geschehen, wandte nur einen gleichsam fragenden Blick auf Jana und richtete dann, als er sie lächeln sah, die blauen Augen forschend auf den fremden Mann. Während diese Augen auf ihm hafteteten, wurde Fügen seltsam zu Muthe. Jedes Kindes Blick birgt Geheimnißvolles; zuweilen begegnet er uns aber in einer Verklärung, welche an das Wort erinnert: „Kinder mit solchem Blick leben nicht lange.“ Der Junggeselle kannte diesen Ammenspruch nicht, auch spottete des Knaben strahlende Frische jeder bösen Ahnung; er glühte und blühte wie eine gesunde Frucht. Dennoch fühlte sich Fügen wie von Unirdischem angeweht; eine Art Heimwehgfsühl überkam ihn, wie Ton und Duft es zuweilen weckt.
[505] „Wie heißest Du?“ fragte Fügen, nur um des Kindes Stimme zu hören.
„Siegmund Riedegg heiß’ ich. Und Dich kenn’ ich auch. Du bist ein Richard – hab’ Euch vorhin schwatzen hören. Kommst Du auf die Moosburg, Mann? Dann zeig’ ich Dir mein Schaukelpferd.“
„Ich komme,“ rief Fügen mit wunderlicher Inbrunst, drückte seine bärtige Wange gegen das weiche Gesichtchen des Kleinen und war im Begriff, ihn niedergleiten zu lassen, als er sein linkes Bein fest umklammert fühlte.
„Laß los! Laß mein’ Sigi los!“ rief es mit vollem Kinderzorn zu ihm auf. Das Dirnchen rüttelte so tapfer, als wollte es den Angegriffenen zu Falle bringen. Die schwarzen Augen blitzten.
„Maxi!“ mahnte Jana strafend.
„Ist das ein Unkräutchen!“ sagte die Müllerin und faltete ihr Strickzeug zusammen. „Die müßt Ihr besser ziehen, sonst kommt Das aus Rand und Band. Man merkt’s gut, daß hier wildes Blut sein Wesen treibt. Jetzt mag’s noch angehen, bald wird’s aber doch Zeit, sie anders zu halten, als wie ein Geschwister vom jungen Herrlein.“
„Ist sie denn das nicht?“ sagte Fügen, der lachend den Knaben niedergestellt hatte.
„I bewahre!“ eiferte die alte Frau. „Ein wilder Schoß ist’s, der in Wien der Gnädigen einmal vor die Thür gelegt worden ist und den sie da behalten hat und großziehen will, statt den Wurm im Findelhaus abzugeben, wohin so Was gehört. Kann mir schon vorstellen, daß unsere Jana dabei die Hand im Spiele gehabt hat – die war alleweil ein Kindernarr und weichmüthig wie Butter. Ich mein’ bald, ich hör’s, wie sie der Gnädigen vorgeredet haben mag, daß sie alle Müh’ auf sich nehmen wollte. Na, das hat sie freilich rechtschaffen gethan; man darf sagen, sie giebt auf Eins von den Kindeln so viel, wie auf’s Andere. Und Gotteslohn is schon dabei – nur verziehen sollen sie das Ding nit. Ist so wie so an Unband. Aber da schauen’s nur wieder die Jana an! Roth wie ein Puthahn wird sie allemal, wenn Eins an ihrem Ziehkind ’was auszusetzen hat. Komm daher, Maxi!“
Die Gerufene schlüpfte wie eine Eidechse unter den Händen Jana’s durch, welche eben im Begriffe war, ihr das Strohhütchen festzubinden, lief blitzschnell zur Müllerin und funkelte sie mit erwartungsvollem Blicke an.
„Dem Herrn da sollst ein Patschhändchen geben, daß er sieht, Du kannst auch brav sein.“
Flink kletterte das Kind auf den Schooß der Frau, stellte sich dort kerzengerade aufrecht und streckte Fügen ein braunes Händchen entgegen, um es hurtig zurückzuziehen, als er Miene machte, es zu fassen. Im nächsten Momente rollte sie wie ein Knäuel auf den Boden.
„Ist das eine Art!“ schalt die Alte. „Woher das Kind nur all den Unfug lernt!“
„Den weiß ich auswendig,“ rief Maxi lustig.
„Komisches Ding!“ lachte Fügen ergötzt.
Die Kleine sah ihn bitterböse an. „Bin kein Ding – Ding ist was Garstiges – bin Maxi.“
„Darf ich Sie begleiten und meinen Frieden mit diesem Kampfhähnchen machen?“ fragte Fügen, zu Jana gewendet. „Wir haben gleiche Richtung, und wenn ich Ihnen nicht lästig falle –“
Sie nickte zustimmend, verabschiedete sich von der Mutter und rief ihrem Bruder Lois, welcher seine Schnitzarbeit nicht unterbrochen hatte, einen Gruß zu. Dann schlug sie den Heimweg ein, an jeder Hand ein Kind, wie Fügen sie stets gesehen. Als sie vor ihm her den Steg überschritt, ward ihm ihr leichter Gang und die fein aufgebaute Gestalt mit dem schweren Blondhaare als Krone zur wahren Augenweide. Alles an dieser Erscheinung war musikalisch, harmonisch. So auch fand er ihre Aeußerungen, während er, von Dem und Jenem plaudernd, neben ihr des Weges schritt. Gern hätte er sein Geleite bis nach der Moosburg angetragen, doch gehorchte er dem Tactgefühle, das ihn zurückbleiben hieß, als Jana in das Postbureau eintrat, um nach etwa vorliegenden Briefen zu fragen.
Der angeregte Wunsch ließ aber dem lebhaften Manne nicht länger Ruhe, als bis zum folgenden Nachmittage. Obgleich der Himmel schwer voll Wolken hing, mochte er den Gang nach der Moosburg nicht verschieben – wer weiß, morgen strömte vielleicht einer der unsterblichen Tiroler Regen nieder, welche ein mindestens achttägiges Regiment energisch durchzuführen pflegen. Also vorwärts! Jede Berührung seines empfänglichen Naturells wirkte unmittelbar auf den ganzen Menschen, so auch diese neue Regung von Freude. Nur ein Bedenken störte ihn. Welche Bewandtniß mochte es mit der Herrin des Hauses haben, in das er einzuziehen wünschte? Er wußte von ihr nichts, als daß sie Wittwe sei. Eine noch junge Wittwe ohne Zweifel, dem zarten Alter ihres Knaben nach, ebenso gewiß aber eine melancholische, ungesellige Natur. Er suchte sich die wenigen Aeußerungen Jana’s über ihre Herrin zusammen; sie hatte gerathen, Nachmittags hinauszukommen, [506] da während der Morgenstunden die gnädige Frau beschäftigt und nicht gern gestört sei. Am Ende gar eine Schriftstellerin? Dieser Gedanke war ihm unheimlich. Gleich den meisten naiven Männern schätzte er an der Frau nur das Unmittelbare; geistreiche Frauen „von Profession“ waren ihm unsympathisch. Was lag aber im Grunde hieran? Die Person der Burgherrin kümmerte ihn wenig. Mochte sie sich beschäftigen und geberden wie sie wollte. Die anheimelnde Burg, der gute Geist, welcher jedenfalls dort waltete und den er bereits mit Augen geschaut, die interessanten Kinder zogen ihn an.
Während er den moosigen Hügel erstieg, dessen Fläche die Ruinen und das Wohnhaus trug, kehrte volles Frohgefühl bei ihm ein, und es erschien ihm als gutes Omen, daß er schon von fern die beiden Kinder auf dem Rasenplatze vor dem eisenbeschlagenen Hausthor spielen sah. Kaum erblickten sie den Gast, als sie ihm zutraulich entgegenrannten. Ein riesiger Neufundländer, der auf der Schwelle gelagert, erhob sich majestätisch und richtete die klugen Augen auf den Fremden, als wolle er prüfen, ob solches Zutrauen auch verdient sei.
Im Geleite dieser Gesellschaft betrat Fügen wohlgemuth das Haus und vertraute sich ihrer Führung zur „Mutter“, Auf die Frage nach Mama hatte nämlich Siegmund den Kopf geschüttelt und energisch sein deutsch gewohntes Wort betont. Während der Gast Treppe und Flur überschritt, sah er sich nach Jana um, als sei es selbstverständlich, daß sie ihn einführe. Doch kam sie nicht zum Vorschein, und er mußte sich mit der Meldung begnügen, welche Maxi, während Siegmund, auf den Zehen erhoben, die Thür aufklinkte, unter dessen Arm im höchsten Discant ihrer hellen Stimme in’s Zimmer hinein rief:
„Der Richard kommt!“
Sie faßte nun den Knaben am Röckchen und jagte mit ihm davon.
Die Herrin des Hauses erhob sich; sie trat Fügen entgegen. Ihre Schönheit überraschte ihn so sehr, daß er im ersten Moment vergaß, sich zu verbeugen, und als er dies alsdann nachholte, geschah es ein wenig linkisch.
In der Art vollkommen schöner Menschen liegt etwas von der Einfachheit hervorragender Geister. Sie sind so daran gewöhnt auf Andere zu wirken, daß sie selbst nie an Wirkung denken, und somit den ersten frappanten Eindruck, den sie hervorgerufen, in reines Wohlsein auflösen Schönheit erfreut Jeden, auf den Künstler übt sie aber einen besonderen Zauber; es ist gleichsam, als würde sein auf das Ideal gerichtetes Bedürfniß momentan durch dessen Spiegelbild befriedigt; Fügen’s Lebensgeister hoben sich sofort um einige Grade, und sobald dieser naive Mensch sich gehen ließ, ward er ungemein liebenswürdig, „durchsichtig“ könnte man sagen, durchsichtig bis in sein ehrliches Herz hinein.
Noch waren zwischen Gast und Hausfrau nur wenige Worte getauscht, und schon war man über alle Präliminarien des künftigen Vertrages im Reinen. Das Bedenken Frau von Riedegg’s, daß man bei der isolirten Lage der Moosburg dort, was materielle Lebensbedürfnisse betrifft, sehr beschränkt und von Zufälligkeiten abhängig sei, machte Fügen wenig Sorge. Das seinige dagegen kam etwas zögernd zum Vorschein, und der Ausdruck seines Gesichts erhielt einen Anflug von Komik, während er sagte:
„Fräulein Jana wird nicht verschwiegen haben, daß ich zu Zweien einziehen würde?“
Die rasche Fingerbewegung, womit er sich deutlich zu machen suchte, war leicht in eine Cadenz zu übersetzen.
„Ein Flügel ist hier zur Disposition,“ sagte Genoveva, „und gern überlasse ich ihn einer Meisterhand. Es ist ein gutes Instrument, das unbenutzt steht, da ich selbst nur mit dem Ohr musikalisch bin. Betrachten Sie sich die Räumlichkeiten des zweiten Stockwerkes! Wenn sie Ihnen zusagen, Einsamkeit Sie nicht abschreckt und Sie mit ländlicher Bewirthung vorlieb nehmen wollen, sollen Sie willkommen sein. Für uns Frauen wäre es ein beruhigender Gedanke, für einige Zeit auf männlichen Schutz in dieser Abgeschiedenheit rechnen zu dürfen.“
Während sie sprach, horchte Fügen mehr auf das vollklingende Organ, als auf die Worte und betrachtete dabei den schönen Kopf vor ihm so arglos und anhaltend, als sei er ein plastisches Kunstwerk. Die elastisch reinen Züge verschönerten sich noch im Sprechen, aber dennoch schien darin etwas zu leben, was deren Verwandtschaft mit den Gebilden der Antike gleichsam wieder aufhob.
Darüber verlor er sich in ein Grübeln, das ihn die Antwort vergessen ließ, und gerieth in Verwirrung, als er einem etwas erstaunten Blicke begegnete. Vergeblich besann er sich auf ein passendes Wort; er hatte das innere Gleichgewicht verloren und wünschte sich weit weg. Da ging die Thür auf und Jana trat ein. Das Unbehagen, welches den Gast so plötzlich ergriffen, verschwand auf der Stelle. Er bot der schlichten, hellen Gestalt die Hand entgegen, wie einer uralten Bekannten, die man in der Fremde wiederfindet.
„O du guter Hausgeist!“ dachte er.
Wenige Tage später hatte der Musiker seine luftige Warte bezogen. Als er, von der Morgensonne geweckt, welche durch den herzförmigen Ausschnitt des Fensterladens in das nach Osten gelegene Schlafzimmer strömte, dort zum ersten Mal die Augen aufschlug, lachte er vor Behagen. Alles, worüber sein Auge hinschweifte, heimelte ihn an. Die großen bunten Blumen der Zitzvorhänge erschienen so farbig in der Sonnenbeleuchtung; die Ringe und Schlösser der alten ausgebauchten Kommoden und Schränke blitzten wie Gold. Selbst die aus Urgroßmutterzeiten stammende, aus allerlei Kattunstückchen zusammengesetzte Decke des fast viereckigen Bettes, in welchem sich der Erwachende behaglich dehnte, machte ihm Freude. Er drückte seinen buschigen Kopf in das Kissen zurück, staunte die Stukkaturen des Plafonds an und besann sich, ob es nicht wohlgethan sei, mit gleichen Füßen aus dem Bette zu springen, die Läden weit zu öffnen und all das Leuchten voll hereinströmen zu lassen – oder ob dies hindämmernde Wohlsein vorerst jeder Augenweide vorzuziehen sei. Er blinzelte mit den Augen und lachte lautlos in sich hinein, wie ein Kind, dem etwas gar Schönes gezeigt wird, wonach es nur die Hand auszustrecken brauchst. Und doch stand dieser Mann bereits auf der Neige der dreißiger Jahre, war durch manche rauhe Schule des Lebens gegangen, nicht arm an Erfahrungen und Enttäuschungen. Das aber gehört zum Wesen des Künstlers, daß lebenslang etwas vom Kinde in ihm lauscht, eine Frische, die ihn bei dem leisesten Anstoße die Augen weit öffnen, alles Neue mit Hochgenuß erfassen läßt. Solchem Sinne ist es gegeben, jedes einzelne Erlebniß, das Anderen für bloße Zufälligkeit gilt, als ganz eigens für sich erfunden und vom Schicksal zubereitet aufzufassen. Nicht selten giebt auch die Zukunft diesem Sinne Recht, und aus dem Körnchen, welches achtlos gesäet worden, keimt ein Baum hervor, dem Jahresringe anwachsen und der endlich über ein Schicksal schattet.
Richard Fügen war von Geburt ein Wiener. Melodien hatten bereits seine Wiege geschunkelt. Sein Vater, ein begabter, wenngleich kein genialer Künstler, war Orchestermitglied der kaiserlichen Oper, seine Mutter zur Zeit eine gefeierte Zerline und Funchon gewesen, hatte aber bald ihre Stimme verloren, und der brave Geigenstrich des Vaters gewann ihm auch im Laufe der Jahre keine bessere Stellung, als er schon in der Jugend errungen. Murrend und mit bitteren Klagen über erlittene Ungerechtigkeit verschwor sich Moritz Fügen hoch und theuer: sein Junge solle Kanzlist oder gar Handwecker werden, nur kein Künstler, der es lebenslang zu nichts bringen könne. Kaum hatten aber die Händchen des Knaben Kraft zu einer selbstständigen Bewegung, als sie sich schon nach der Geige ausstreckten. Es ging mit den Gelübden des Alten, wie mit allen in Liebesgrimm geschehenen Schwüren; sie schmolzen wie Schnee vor der Sonne, und so kam es denn auch, daß dem Vater das Künstlerherz in heller Freude zitterte, als er wahrnahm, daß die Träume seiner eigenen Jugend im Sohne Wirklichkeit zu werden versprachen. So viel hatten aber doch selbsterlittene Enttäuschungen vermocht, daß er darauf bestand, Richard müsse alle Schulclassen durchmachen, um nicht auf Musik als Broderwerb hingewiesen zu sein. Hörte er indessen, wie der Gymnasiast schon bei grauendem Morgen im Dachstübchen den Bogen ansetzte, um während der dem Schlafe entzogenen Stunden mit eisernem Fleiß zu üben, dann wurden dem alten Geiger die Augen feucht, ob er sich das gleich nicht merken ließ. Im Gegentheil ward der Vater von Jahr zu Jahr karger gegen den Sohn, nicht nur mit Lob, nein, mit Allem. Seit ihm die Frau bei Anlaß einer Epidemie rasch hinweg gestorben, wurde der alte Fügen fast zum Geizhals, begann Stunden zu geben und beschnitt seine Ausgaben [507] um so mehr, je mehr er erwarb. Ohne es Richard am Nothwendigen fehlen zu lassen, erhielt er ihn nach allen Richtungen hin bei strenger Diät. Der Sohn ertrug jede vom Vater geteilte Entbehrung als selbstverständlich, und war nicht wenig ergriffen, als Dieser ihm ganz unerwartet Freiheit und Mittel bot, seinen heißesten Wünschen zu folgen. Sobald Richard's Abiturientenexamen bestanden war, sandte der Alte ihn nach Rom und Paris, um Kirchen- und Opernmusik zu studiren und sich in der Compositionslehre zu vervollkommnen; er griff hierzu sogar sein kleines, wohlgehütetes Capitalvermögen an. Des Jünglings lange gebundene Flügel regten sich kräftig; wechselnde Affecte gingen durch seine Tage; seine Intelligenz fand vielfache Anregung, der Brennpunkt seines Daseins war und blieb aber die Musik.
Der Name des jungen Künstlers ward bekannt; Empfehlungen und Förderung boten sich ihm sowohl in der Fremde wie in der Heimath; sein originelles Compositionstalent fand Anerkennung und gewann ihm die Unabhängigkeit, welche seinem Naturell unentbehrlich war. Im Lauf der Jahre wurde ihm der Dirigentenstab derselben städtischen Capelle angeboten, welcher sein nun hingeschiedener Vater als Mitglied angehört hatte; er mochte sich aber nicht für lange Dauer binden und hatte vorgezogen, die weniger reichlich dotirte, aber unabhängigere Stellung als Capellmeister eines Musikvereins anzunehmen, dessen Kräfte immerhin gut waren, welcher aber nur einen Theil seiner Zeit in Beschlag nahm. Ein Sturm, der plötzlich durch die Welt brauste, hob diese Verpachtung auf, indem er den Musikerverein gleich manchen anderen, in alle Winde verwehte – das Jahr 1848.
Fügen war Idealist; arglos, leicht entzündbar, aber auch leicht abgestoßen, niemals fähig sich nach einer andern Decke zu strecken, als der seiner Individualität, würde er sich vielleicht in Leidenschaften verbraucht haben, hätte nicht die Kunst jede gefährliche Rivalität zurückgedrängt. Persönlichkeiten wirkten weniger stark auf ihn, als Ideen; was über dem Treiben gemeinen Lebens stand, riß ihn leicht hin. So kam es, daß ihn das Revolutionsjahr in seine Wirbel zog. Sein braves Herz hatte sich allzeit empört, wenn er das Elend Armer, Unterdrückter sah; feurig erfaßte er das drastische Heilmittel einer Weltverbesserung, die er im idealsten Sinne begriff und mitzugestalten ersehnte. Welch ein Schmerz aber ergriff ihn, als er den Giganten, an den er geglaubt, schon nach kurzer Zeit in schwache verzerrte Linien zerfließen sah! In den Reihen, in die er sich gesellt, wurde es schwüler und schwüler; statt männlichen Wirkens kamen zügellose Phantasien zu Worte, und der Entschluß, sich alledem wie durch einen Ruck schnell zu entziehen, erwachte in ihm als Selbsterhaltungstrieb. Menschen und Dinge waren ihm verleidet; es litt ihn nicht mehr in der Hauptstadt, wo er sich täglich mehr ernüchtert und abgestoßen fühlte.
Diese Stimmung hatte den Meister nach Tirol geführt, wo er sich im Umgang mit schlichten Leuten, ein paar Lieblingsbüchern und seinen Gedanken wieder auf seine eigenen Ziele zu besinnen versuchte. Und nun fand er sich ganz unerwartet wohlgeborgen in fremder Häuslichkeit. Fast ohne sein Zuthun war ihm das geworden, wie im Märchen Wünsche ausgesprochen und durch gute Feeen sofort erfüllt werden. Es kam ihm vor, wie ein paradiesischer Traum nach unleidlichem Alpdruck. Der stets in einem Winkel seines inneren Menschen auf der Lauer stehende Enthusiasmus bemächtigte sich seiner Stimmung, und bald wogten auch musikalische Gedanken vor ihm auf, noch unfaßbar wie ziehende Wolken, aber auch darin den Wolken gleich, daß sich Umrisse bildeten, farbige, goldbesäumte. Es ward ihm glückselig zu Muthe; Tage und Wochen glitten ihm so freudig dahin, daß er sich selbst zuweilen ein wenig närrisch vorkam, weil sich doch eigentlich gar nichts Besonderes mit ihm zugetragen hatte.
Darin freilich irrte er; denn mit Einem, der nie ein wirkliches Hausleben gekannt und nun dessen wohltuenden Hauch athmet, trägt sich wirklich Besonderes zu. Auf mutterlose Kinderjahre voll Entbehrung war sein achtloses Junggesellenleben gefolgt, das Leben eines Wandervogels, überall und nirgend daheim, selbst dort, wo sein Nest stand, weder kundig noch fähig, sich dieses Nest irgendwie weich auszufüttern. Zum ersten Mal im Leben fand er sich als Glied eines geordneten Haushaltes, in Frauenpflege, im Genuß eines Comforts, den er täglich, stündlich als unendliches Behagen empfand, wenn er ihn auch zuvor nie vermißt hatte. Kein Unberufener störte ihn bei all seinem Dichten und Trachten; nach überreichen Stunden einsamen Schaffens warteten Anregung und Ruhe zugleich auf ihn, und das Alles genoß er daheim. Wie köstlich war ihm das, wie neu und lebenswerth!
Die Tage gingen auf der Moosburg in rhythmischem Schritt, einfach und gleichmäßig. Zwei weibliche Dienstboten besorgten Haus und Feld in stiller Weise, und Jana traf dafür die Anordnungen. Tags über bekam der Gast die Hausfrau niemals, Jana nur vorübergehend zu sehen; diese war dann immer mit den Kindern oder mit Blumen beschäftigt. Von seinem Fenster aus sah er sie das im Herbstflor stehende dem Wiesenplan abgewonnene Gärtchen pflegen, auch die letzten Früchte des Jahres sammeln.
Das einfache, aber stets sorgsam bereitete Mittagsmahl wurde dem Gast auf seinem Zimmer servirt, aber das Abendbrod, überhaupt die Abendstunden, genoß er mit den Frauen. Dies hatte sich anfangs nur ab und zu, halb zufällig ergeben, ward aber bald zur stehenden Gewohnheit. Schon zur Zeit seines Einzuges begannen sich die Tage zu kürzen. Das Einbrechen der Dunkelheit bestimmte die Zeit, zu welcher Frau von Riedegg in ihrem Wohngemach, einem Eckzimmer, sicher zu treffen war und der Hausgenosse sich willkommen wußte, er mochte sich früher oder später einfinden.
Dieses Eckzimmer, zwischen dem an die Terrasse grenzenden Saal und der Kinderstube gelegen, fand er besonders warm und traulich. Es war bis zur halben Höhe getäfelt; den übrigen Theil der Wände deckten alte Gobelins, deren noch frische Farben verschiedene Jagdzüge darstellte, figurenreich und lebendig, und die Einrichtung stimmte zum Charakter dieser Wandbekleidung. Auf geschnitzten Schränken standen Gruppen von Majoliken, dazwischen schwere deutsche Krüge und schlanke Gläser aus Venedig. Jetzt, bei schon vorgerückter Jahreszeit, war der getäfelte Boden mit einem dichten Teppich belegt.
In der Nähe des riesenhaften Ofens, dessen blaßgrünen Kacheln Scenen aus dem alten Testament eingebrannt waren, stand der ovale schwere Tisch, auf welchem das Material für die Abendbeschäftigung der Frauen ausgebreitet lag. Fügen wußte nun, daß er der Schloßherrin „Unrecht gethan“, als er ihre zurückgezogenen Stunden schöngeistiger Thätigkeit gewidmet glaubte. Sie schriftstellerte nicht, nein, sie brachte diese Zeit damit hin, Fächer zu malen, welche einem Geschäftshause in der Residenz zugingen. Als Fügen einmal Jana beim Einpacken einiger dieser zierlichen Kunstwerke betraf, zeigte sie ihm dieselben. Er verstand sich wenig auf Malerei, um so besser aber auf die Natur, und war entzückt von der Grazie dieser Blüthen und Phantasiegewinde, welche nur künstlerische Begabung so erdacht und ausgeführt haben konnte.
Obgleich Frau von Riedegg in seiner Gegenwart von dieser Uebung nicht sprach, wie sie sich denn überhaupt nicht über ihr Thun und Lassen zu äußern pflegte, so that sie doch auch nicht heimlich damit. Nicht selten nahm sie statt der Nadelarbeit des Abends eine ihrer Mappen zur Hand, um unter mancherlei Skizzen eine Wahl zu treffen, und zog Fügen's Geschmack dabei zu Rate. Die Behaglichkeit, welche er im Hause genoß, erhöhte sich ihm, seit er wußte, daß er nicht der Kostgänger einer vornehmen Müßiggängerin sei. Genovevas Persönlichkeit imponirte ihm nach wie vor, die Entdeckung aber, daß sich in dieser Juno eine den Anforderungen des Lebens tapfer gegenüberstehende Frau, eine Arbeiterin, gewissermaßen eine Künstlerin verberge, brachte sie ihm innerlich näher und machte sie ihm zugleich um Vieles interessanter, wie sie denn überhaupt seine Gedanken besonders dann oft beschäftigte, wenn er sich nicht in ihrer Gegenwart befand. Ihre Verhältnisse schienen ihm klar vor Augen zu liegen. Eine junge Wittwe, bei vornehmer Gewöhnung in ihren Mitteln beschränkt, und so darauf angewiesen, ein abgelegenes Eigenthum zu bewohnen, vielleicht weil Erinnerungen es ihr lieb machten, vielleicht auch weil es bei gegenwärtigen Zeitläuften nicht verkäuflich war, oder die alten Lebensgewohnheiten sich nur so durchführen ließen – was konnte ihm einleuchtender, wahrscheinlicher erscheinen? Daß sie mit ihrem Gatten hier gewohnt hatte, daß derselbe während einer Reise plötzlich auswärts verunglückt und die so hart Betroffene dann mit Kind und Gesinde aufgebrochen war, um erst nach einigen Jahren zurückzukehren, das war ihm schon früher erzählt worden. Wie kam es trotzdem, daß er das Gefühl nicht los werden konnte, in dieser Frau ein Rätsel vor sich zu haben? Vielleicht lag das aber nur in dem Contrast, der zwischen ihrer Lage und ihrer Persönlichkeit bestand Genoveva gab sich zwar einfach, aber sie war es nicht. Ihr geistreiches Gespräch, das nicht selten zu feuriger Lebhaftigkeit [508] aufblitzte, bewies, wie viel sie von Welt und Menschen kannte, welchen weiten Horizont ihre Gedanken, selbst ihre Erfahrungen übersahen. Sie riß dann ihren Zuhörer hin und brachte in ihm selbst alles Feuer in Fluß; sein Auge hing bewundernd an dem unerforschlich schönen Gesicht, und doch fühlte er etwas wie eine unsichtbare Mauer zwischen sich und ihr. Alles, was er war, kam durch sie in Bewegung; den tiefsten Grundton seiner Seele schlug sie nicht an. Und doch hatte sie für ihn etwas Lockendes, als stünde er vor einem Waldwege, der sich in golddurchglühte Schatten verliert, wo man eindringen möchte, um zu schauen, wie es tief drinnen aussieht, ob auch da noch Sonnenfunken das Laub vergolden oder tiefes Schattendunkel vorherrscht.
Wenn Fügen an Genoveva dachte, wurde er ernst; dachte er an Jana, so lächelte er in sich hinein. Jana ward ihm zum Herzenstrost, wo und wie er sie immer sah. Der Instinct seiner Zusammengehörigkeit mit diesem harmonischen Wesen gestaltete sich ihm binnen wenigen Wochen zu einer Art Anrecht auf ihre Person. Zu diesem Gefühle in ihm mochte auch beigetragen haben, daß sie sich gleich anfangs sein „Fräulein“ verbeten und begehrt hatte, mit ihrem Taufnamen von ihm gerufen zu werden.
„Jeder nennt mich nur Jana,“ sagte sie, „ich bin und bleibe das Dorfkind, und mein Tirolerhütchen paßt für kein Fräulein.“
Das hatte ihm überaus gefallen, und seitdem trug er, wie er sich einmal scherzend äußerte, ein unsichtbares Halsband, auf dem der Name Jana stand. Der naive Vergleich war trotz seiner Kühnheit nicht ganz aus der Luft gegriffen; denn sobald der Musiker seine Zimmer verließ, folgte er Jana’s Spur. Er hatte beständig etwas mit ihr zu theilen, irgend ein Anliegen, worüber er mit ihr verhandeln mußte. Bei ihr waren fast immer die Kinder, mit denen ihn eine große Freundschaft verband und die des „Richard“ habhaft zu werden suchten, sobald sie seiner ansichtig wurden. Durften sie mit Jana hinab in’s Thal, zu nahen oder weiteren Gängen, dann entwischte zuvor gewiß eins oder das andere von ihnen und klopfte, allem Verbot zum Trotz, heimlich an seine Thür. Das hörte er immer gern, selbst wenn er mitten in der Arbeit war, und stand dann ganz unversehens mit seinem buschigen Kopfe, dessen Zustand sofort verrieth, daß er im Schaffen gestört worden, wanderlustig neben der sanft scheltenden Jana. Auf solchen Spaziergängen plauderte sich’s am besten. Das kleine Volk schwärmte voraus oder nebenher, von der Pflegerin nie einen Moment außer Augen gelassen, während Sinn und Ohr jedem Worte ihres Begleiters ebenso eifrig lauschte, als er ihre Reden hinnahm. Gerade die Mischung von Unerfahrenheit, ja Unwissenheit, mit feinstem Verständniß entzückte Fügen an ihr. Nicht umsonst hatte das kluge, von Natur gedankenvolle Mädchen seit Jahren in stetem Verkehr mit Genoveva gelebt; mit dem Instinct, welcher der weiblichen Natur so besonders eigen, hatte sie sich gerade nur das zugeeignet, was für sie paßte. Fügen meinte im Stillen, er sei nie zuvor so anziehender Mädchenhaftigkeit begegnet. Und wie hell und frei lag dieses junge Leben dem Auge offen! Ihr bis in den Grund der Seele zu schauen, schien ihm kinderleicht, und wenn plötzliches Erröthen oder Stocken verrieth, daß auch sie zuweilen etwas verschwieg, so wußte er, das galt der Herrin.
[521] Es konnte nicht ausbleiben, daß sich die Gespräche, welche Fügen mit Jana zu führen pflegte, manchmal auf Genoveva richteten; ganz abgesehen von den stillen Betrachtungen, die er über seine Schloßherrin in sich ausspann, machte es ihm auch immer Freude, Jana’s ruhig-heiteres Wesen zur Lebendigkeit erhöht zu sehen, und das geschah leicht, sobald sie von ihrer Dame sprach, welche sie zu vergöttern schien. Auch das Verhältniß dieser beiden Frauen zu einander interessirte Fügen. Zwischen Frau von Riedegg und dem jungen Mädchen bestand eine feine Grenzlinie; mochte dieselbe im Willen der Herrin oder im natürlichen Tactgefühle der Untergebenen beruhen, genug, sie wurde nie überschritten und schloß Vertraulichkeit ein- für allemal aus. Daß aber Jana das Vertrauen Genoveva’s im höheren Sinne besaß, ersah Fügen daraus, daß in die Hände des Mädchens die ganze Gestaltung des äußeren Lebens unbeschränkt gelegt war; auch blieb ihm kein Zweifel darüber, daß Jana in Dinge eingeweiht sein mußte, welche den Kern jenes Rätselhaften ausmachten, das er ahnte, wenn auch nicht sah. Sie war eine zu einfache Natur, um sich zu verbergen; sie konnte nur schweigen. In unüberwindlicher Verwirrung brach sie stets ab, wenn auf das erste Jahr ihres Zusammenlebens mit Frau von Riedegg die Rede kam. Fügen wußte nur, daß Jana derselben als Wärterin des Kindes gefolgt war, nachdem die Unglücksbotschaft, daß sie Wittwe geworden, sie erreicht. Wo und wie die zunächst daraus folgende Zeit hingebracht worden, erfuhr er nicht, und hier mußte der Knoten von Genoveva’s Schicksal liegen; denn an dieses Jahr zu rühren, erregte Jana offenbar Pein, und so vermied er dies denn auf das Aengstlichste.
Gab es doch übrigens des Stoffes genug! Von sich selbst zu sprechen, was Details des eigenen Lebens und Treibens betraf, war Fügen nie zuvor eingefallen; dies wird nur einem ganz sympathischen, persönlich interessieren Zweiten gegenüber zum Reiz und Vergnügen. Mit Jana aber sprach er von jedem Zeitpunkte seines Lebens – er that es mit einem ihm nur halbbewußten inneren Behagen; in solchen Momenten besann er sich bis auf die halbvergessenen, unter mütterlichem Flügel verlebten Kinderjahre zurück und gewann plötzlich an seinem eigenen Dasein ein naives Interesse, wenn es ihm so Bild nach Bild aus der Erinnerung aus die Lippen trat. Wie verstand Jana das aber auch hervorzulocken, wie folgte sie ihm verständnißinnig auf jedem Wege, den er sie mit sich wandern ließ, oft recht in die Kreuz und die Quere! Sie selbst gab sich keine Rechenschaft über ihre Hingabe, war sich derselben in keiner anderen Weise bewußt, als durch ein innerliches Wohlsein, das ihr ganzes Wesen erfüllte. Unmerklich fanden in ihrem Herzen zwei Götter neben einander Platz – Fügen neben Genoveva; denn wie ihre Herrin, so sah sie auch ihn hoch über sich. Seines Gleichen war ihr zuvor nie begegnet; das Träumerische und doch zugleich Thatkräftige seines Geistes, den sie trotz ihrer Einfachheit verstand, weil Alles in ihm auf Wahrheit beruhte, erhob ihn vor ihr; seine Fähigkeit, durch alles Schöne, durch dessen geringste Annehmlichkeiten beglückt zu werden, brachte ihn ihr ganz nahe; denn auch ihr, dem schlichten Landmädchen, war es in die Wiege gelegt worden, Alles schön zu sehen und selbst zu verschönen. Das kam ihm jetzt zu Gute; Jana war es, die persönlich für des Burggastes Behagen sorgte, und wie sorgte! Sympathisch errieth sie Alles, was dem Alltäglichen Anmuth verleiht, und wußte im Stillen das Hausleben, so weit es ihn berührte, nach seinem Behagen zu gestalten.
„Guter Hausgeist!“ hatte sein Gedanke sie schon am Tage seines Einzuges genannt; jetzt gab er ihr den Namen laut. Aber auch ein anderer Name, den sie früher getragen, gefiel ihm sehr, und er ward allabendlich an denselben erinnert.
Die „Kränzewinderin“ übte zu dieser Stunde ihre alte Kunstfertigkeit; denn wenn die an schweren Ketten hängende Ampel ihr Licht über den Tisch ausgoß und Fügen mit der Hausfrau über mancherlei tiefsinnige Dinge oder gar über Welthändel sprach, dann waren neben ihnen Jana’s schlanke Mädchenhände eifrig bemüht, grüne Blätter aus Taffet oder Battist zierlich an einander zu fügen oder hier ein paar auf Draht gezogene Wachsperlen, dort ein leichtes Büschel von Silberlahn zwischen das Grün zu flechten; sie that es immer mit sicherem Geschmack und wies jedem die Stelle an, wo es am besten wirken mußte; so entstand denn manch ein Hutsträußchen für den Hochzeiter oder ein Feiertags-, ein Brautkranz – wohl auch ein Todtenkranz. Das auf großem Theebrette ausgebreitete Geflimmer war auch eine nie erschöpfte Verlockung für die Kinder, namentlich für Maxi, die oft herangelaufen kam und, auf ihre Zehen erhoben, etwas von all dem Glänzenden fortzustibitzen versuchte. Die Thür zum Kinderzimmer stand Abends immer offen, und das kleine Paar trieb sein Wesen unbeschränkt bald dort, bald um die Großen her bis zur Schlafenszeit. Darnach wurde von den drei Hausgenossen das leichte Nachtmahl eingenommen, nach welchem sie sich häufig hinauf in das Musikzimmer begaben Jana hatte zu den Kirchensängerinnen gehört, war als solche fest im Tact und vertraut mit den Note gewesen, ehe sie in das Haus Genoveva’s eintrat. Sie besaß eine nicht besonders [522] starke, aber herzbewegende Stimme und hatte aus Veranlassung ihrer Herrin während des Aufenthaltes in der Hauptstadt einige Zeit über guten Unterricht genossen, der sie zur Liedersängerin heranbildete. Doch verstand sie nicht, sich zu begleiten. Nun erklang die sympathische Altstimme bei der Begleitung des Capellmeisters zu Aller Freude. Schon in der Residenz hatte Jana einzelne Lieder Fügen’s mit Vorliebe gesungen; ihm war es große Freude, als er fand, wie richtig ihr feiner Instinct den musikalischen Gedanken zu erfassen und wiederzugeben wußte. Wenn er dann selbst spielte, wehte ein wunderbarer Geist über Alle hin. Besonders nach solchen Tagen, wo ihm das Componiren recht nach Wunsch gelungen, strömte es wie elektrisches Feuer aus seinen Fingerspitzen über die Tasten; gab er der alten Meister Schöpfungen wieder, so klang das wie Befreiung und Erlösung von aller Erdennoth; ergoß er sich in freien Phantasien, dann brauste sein individuelles, ausdrucksmächtiges Spiel in einer Kraft dahin, welche über ihn selbst hinauszuwachsen schien.
Das wirkte seltsamer Weise auf Genoveva stets verdüsternd, und wenn es verklungen war, pflegte sie mit stummem Gruß hinabzugehen und mit Keinem mehr zu sprechen. Empfand Fügen gleich an der ganzen Art ihrer Haltung gegen ihn, wie der Mensch, der Künstler in ihrer Schätzung wuchs, so konnte ihn das doch nicht abhalten, ihr Gebahren wunderlich zu finden. Ihm blühte gerade dann die heiterste Stimmung auf, wenn er sich zuvor auf dem Instrument so recht ausgetönt hatte. Sogar eine gewisse Schalkhaftigkeit regte sich dann leicht in ihm und würzte die kurzen Wechselreden, welche er noch mit Jana tauschte, während der Flügel geschlossen, die Lichter gelöscht wurden.
Jana aber ging wie beschwingt in ihr Schlafzimmer, erhellt und gestärkt im Gemüth.
Die Weihnachtskerzen, welche aus der Moosburg von einer Riesentanne gestrahlt hatten, waren erloschen. Nachdem die Kinder in Aufregung und Glückseligkeit weit über die gewohnte Zeit wach geblieben, lagen sie nun friedlich schlummernd in ihren Bettchen. Es war bereits spät; noch saßen aber die Großen im Gespräch, in Erwartung der Mitternacht. Sie hielten sich nicht im gewohnten Raume aus, sondern hatten sich im wohldurchwärmten Terrassenzimmer, wo der Kinder Bescheerung aufgebaut worden und das noch ganz mit Harzgeruch und Wachsdüften angefüllt war, vor dem großen, dreiteiligen Fenster niedergelassen, welches den Ausblick in das Innthal bot.
Es war eine Vollmondnacht; der in großen Massen gefallene Schnee flimmerte weit und breit wie Silber; träumerisch stand das im Lichte des Tages so majestätische Gebirge; seine scharfen Spitzen und Kanten hatten sich unter dem weichen, weißen Flaume gesänftigt, und zwischen beglänzten Kuppen zeichneten sich bläuliche Schluchten, an deren Rande stolze Tannen silbern aufragten. Die Welt erschien so still in der Einsamkeit der weiten, weiten Schneegefilde; der Inn allein durchrauschte als ein Lebendiges das Thal; alle seine Quellen und Nebenflüsse lagen gefesselt unter starrer Eisfläche. Gleich dunklen Adern liefen schmale Wege thalwärts, und auf diesen Pfaden begann es sich zu regen, als die Mitternachtsstunde näher kam. Hat es in der Christnacht zwölf geschlagen, dann wird in allen Tiroler Kirchen feierliche Mette gehalten; jeder Bauernhof entsendet dann einen Theil seiner Insassen, um vor dem neugeborenen Heiland das Knie zu beugen.
Seltsam war es, von dieser hohen Warte aus auf die Wallfahrer niederzublicken; denn von hier aus erschienen ihre Gestalten nur wie dunkle Pünktchen; wie Funken erglänzten die Kienfackeln, welche sie trotz des Mondlichtes in den Händen trugen, während sie hier von den Höhen niederstiegen, dort das Thal durchzogen Alle dem gleichen Ziele zupilgernd, wenn auch nach verschiedenen Richtungen. Scharf zeichneten sich gegen den sternhellen Himmel die schlanken dunkeln Thürme der zahlreicheren Kirchen und Capellen ab, welche in der Thalbucht zerstreut oder von einzelnen Hügelvorsprüngen aufragten Die hohen Kirchenfenster schimmerten allerwärts in blassem Goldglanze; fast in einem und demselben Augenblicke schwang sich vielstimmiges Glockengeläute empor. Diese hallenden, schwellenden Töne verliehen der feierlich stillen Schneelandschaft etwas Prächtiges und entführten die Geister, welche ihnen lauschten, in weltentfremdete Regionen.
Lange schon waren die Glocken verhallt, als Fügen das Schweigen brach:
„Wie stimmt diese schneeweiße Welt doch so schön mit dem Christkindgedanken! Der Heiland sollte inmitten einer Schneelandschaft geboren sein – so rein ist nicht einmal ein Frühlingsmorgen.“
„An einem Frühlingsmorgen ward er dann gekreuzigt,“ sagte Genoveva.
Fügen wandte jäh den Kopf und sah sie fragend an. Die langsam gesprochenen Worte hatten ihn herbe berührt – nun begegnete er einem gleich herben Zug um die gewölbten Lippen. Ihre Meinung war ihm räthselhaft, und er brütete dem Sinne der eben gehörten Worte schweigend nach. Seltsam! all das Lichte, wovon seine Seele eben noch erfüllt gewesen, löschte auf einmal vor ihm aus.
„Sie sprechen gläubig vom Heiland,“ fuhr Genoveva fort, indem ihre unergründlichen Augen fest auf ihm hafteten. „Glauben Sie auch an einen Gott, an den Gott, meine ich, welchem in all diesen Kirchen und Capellen täglich so viel irdische Angelegenheiten vorgetragen werden, in der zuversichtlichen Erwartung, daß er sich darein mischen und sie schlichten werde?“
Fügen zögerte einen Moment.
„Habe ich nicht mißverstanden, so fragen Sie mich, ob ich an einen Gott der Gerechtigkeit glaube?“ sagte er nachdrücklich. „Ja! Aussaat und Ernte folgen sich aus Erden.“
„Vorausgesetzt, daß der Lauf der Welt eine Ernte reifen läßt,“ entgegnete die schöne Frau bitter. „Gerechtigkeit! Wo sind Sie der begegnet? Etwa dort, als Sie selbst mit Feuer und Schwert für die Sache der Unterdrückten eintreten wollten? Gottes Gerechtigkeit! In sie sollte das Recht des Schwachen sein und menschliche Gewalt ist es, die Alles regelt.“
Er schüttelte energisch den Kopf.
„Keiner darf die Gottheit anklagen. Was ist uns denn der Himmel schuldig? Es ist wahrhaftig kein Wahn beschränkter Seelen, an die Einmischung einer höheren Macht in unsere Angelegenheiten zu glauben. Mir wenigstens zeigte bis heute jede Existenz, deren intimer Gang mir bekannt geworden, meine eigene mit eingerechnet, einen geheimnißvollen Zusammenhang, der die entferntesten Fäden immer wieder rückwärts spinnt und verknüpft. Es ist mit dem Leben nicht anders wie mit einer Ouvertüre; kein Motiv, das einmal aufgeklungen, verhallt zusammenhangslos. Wie oft wird der Ton, den man in der Jugend angeschlagen, erst im Alter zum Accord; in das, was wir gewollt, mischt sich Unberechenbares und giebt ihm veränderte Gestalt; das, wonach wir streben, wird uns nicht – das Köstlichste fällt uns aber oft ungesucht in den Schooß. In allen Dem erkenne ich einen Plan, dessen durchlaufende Linie sich nur von einem Punkte aus überschauen läßt. Dieser Punkt existirt. Und für Jeden tagt der Moment, wo er einmal dort stehen wird, sollte es damit auch währen bis zu seiner letzten Stunde. Eins aber müssen wir Alle schon auf halbem Wege begreifen, daß aus jeder Verschuldung ganz unmittelbar die Buße aufkeimt.“
„Für Jeden? Wahrlich nicht! Haben Sie so wenig Menschenkenntniß oder sind Sie so optimistisch, um nicht zu sehen, wie das Schicksal, dem Sie einen Lenker zuerkennen, gar viele Schuldige straflos hindurchschlüpfen läßt, ohne Buße, ohne Selbstkritik sogar? Einer büßt dann für diese Alle, und vielleicht war gerade dieser Eine weitaus der Bessere unter ihnen, dessen inneres Sein kerngesund blieb, auch wo er getaumelt. Dennoch – wer sich mit Schuld beladen, mehr oder minder, möge die Folgen tragen! Wenn Ihr Gott aber müßig zusieht, wie dem Unschuldigen Gewalt gegen Recht geschieht, daß er wehrlos schreiende Unbill erleiden muß, welches Wort erfinden Sie dann statt des tönenden Wortes: Gerechtigkeit? – ‚Schicksal‘! werden Sie sagen, und so stoßen wir wieder zusammen“
Er sah betroffen in ihre flammenden Augen. „Sie vergessen das heilige Richteramt der Zeit,“ sagte er in tiefem Ernst; „diese Macht geht mitunter langsam, aber sie kommt – –“
„Wenn man Zeit behält auf die Zeit zu warten, vielleicht. Ich kenne nur Eines, dem sich Jeder unterwerfen muß, ohne Kampf und Murren, weil es die Welt beherrscht – das ist der Tod. Allem Anderen gegenüber heißt es: hilf dir selber, und kannst du’s nicht, so geh zu Grunde!“
Sie brach ab und erhob sich, als wolle sie Weiteres weder hören noch äußern. Die Arme leicht in einander verschlungen ging sie in der Tiefe des großen schwach beleuchteten Saales auf [523] und nieder. In dem schwarzen Tuchkleide, eine Spitzenhülle leicht über den Kopf geworfen, glich sie einem Schatten, dunkel und geräuschlos.
Fügen’s Augen und Gedanken folgten ihr nach; so oft sie während ihres Wanderns in den Bereich der einzigen Lampe trat, die noch brannte, erschien ihm die herrliche Gestalt imposanter als je; zu keiner Stunde hatte ihre dunkle Schönheit einen so übermächtigen Eindruck auf ihn geübt, während ihn zugleich der scharfe Gegensatz überschauerte, der sich zwischen ihrem Denken und Empfinden und dem seinigen fühlbar machte. Eine Fluth widersprechender Gedanken quoll in ihm auf; all das Ungesagte lag schwer wie eine Bürde aus seinem beunruhigten Geiste. Während er so stumm saß, dem Fenster abgekehrt, erinnerte ihn eine leichte Berührung seines Armes an die vergessene Nähe Jana’s, welche sich die ganze Zeit über schweigend verhalten hatte. Auch jetzt sprach sie nichts, sondern deutete nur hinab.
Die hellen Kirchenfenster erloschen hier und dort; dafür sammelten sich dicht neben den Gotteshäusern eine Menge zitternder Lichtfunken, schwebten eine Weile auf und nieder wie Glühwürmchen um Johanni und bewegten sich dann, gleich goldenen Linien, vorwärts. Die Fackeln waren auf den Kirchhöfen neu entzündet worden, und nun zogen die vereinzelt Gekommenen in Processionen nach Hause. Wandernde Wolken verhüllten den Mond, doch blieb die Nacht durchsichtig – jeder einzelne der funkelnden Sterne schien zu beben. Eindringlicher noch als zuvor ergriff die keusche Ruhe dieser klaren Winternacht Fügen’s Gemüth; gleich allen Musikern hatte er instinctives Landschaftsgefühl, welches sich leicht seiner Stimmung, nicht selten seinen Compositionen einprägte. Die eben empfundene Dissonanz zerfloß vollends in Harmonie, als Jana mit ihrer sanften, innigen Stimme halblaut sagte:
„Ich danke Ihnen.“
„Wofür?“ fragte er ohne Erstaunen im liebreichsten Ton.
„Für Ihre Worte vorhin! Es ist so wahr, daß der Himmel tausendmal mehr schenkt, als er Einem schuldig wäre, und – es macht mich so froh, daß Sie, klug und gelehrt, doch auch getreu an Gottes Walten glauben. Sie haben Religion – wie viel lieb ist das!“
Jana hatte sich, während sie sprach, ein wenig vorgebeugt; ihr feines Gesicht sah im blassen Sternenlicht wie von Freude durchgeistigt aus. Er nahm ihre Hand in die seine und sagte etwas hastig, wenn auch in gleich gedämpftem Tone:
„Wer weiß, ob Sie mit mir zufrieden bleiben, wenn wir einmal mehr hierüber sprechen! Eins aber ist wahr: gewiß, gewiß, ich habe Religion. Und so, wie ich sie verstehe, ist sie mir, was dem Menschen sein Vaterland, dem Kinde seine Wärterin. Man kann sich davon zeitweise entfernen, dann aber sehnt man sich danach.“ Er brach ab und wandte den Kopf der Tiefe des Saales zu. „Sie geht in die Fremde,“ sagte er. „Ob sie sich aber sehnt? Mir scheint eher, sie will noch weiter fort.“
„Sie ist nur verschiedenen Glaubens,“ sagte Jana traurig. „Ich kenne davon nicht viel, aber es giebt dabei Manches, was anders ist als bei uns und nicht so tröstlich. Seit ich mit ihr lebe, weiß ich ja, daß es nichts Schlimmes ist um die Protestanten, aber sie dauern mich. Denken Sie nur Eins – sie kennen es nicht, daß man für seine Todten betet, was doch Christenpflicht ist. Da mein’ ich, müßt es sich noch viel bitterlicher weinen, weil man gar nichts mehr thun kann, als eben weinen.“
„Haben Sie denn für einen lieben Todten zu beten, Jana, weil Sie das so gut wissen?“ fragte er treuherzig.
Sie fuhr zusammen und löste ihre Hand plötzlich aus der seinen. Ohne zu antworten, stand auch sie nun auf, drückte einen Moment ihre Stirn gegen die kalten Scheiben, ging dann mit ihrem gewohnten leisen Schritt nach dem Tische, wo etliche Leuchter standen, und zündete die Kerzen an. Eben schlug es auf der alten Stutzuhr Eins.
Genoveva, von dem Klang und zugleich vom helleren Lichte berührt, näherte sich.
„Gute Nacht,“ sagte sie im gewohnten melodischen Ton. Jede Spur der leidenschaftlichen Regung, welche zuvor in ihren Zügen aufgeloht, war daraus verschwunden. Als sie Fügen die Hand bot und ihr Auge seinem ernst forschenden Blicke begegnete, irrte ein Lächeln um ihre Lippen. Es schien ihm ironisch – das verdroß ihn. Er wandte sich etwas rasch ab, und war im Begriff, während Genoveva vorausging, noch ein Wort an Jana zu richten. Als er aber aus ihrer Hand den Leuchter nahm, sah er große Tropfen an ihren gesenkten Wimpern hängen. Nun blieb er einen Moment vor ihr stehen, sagte aber nur. „Gute Nacht!“ und ging nach seinem Zimmer, ohne sich weiter umzuschauen.
„Wer mag aus Frauen klug werden!“ dachte er und sann sich erst spät in den Schlaf hinein.
Die Tage wurden länger, und schon lockten einzelne milde Stunden in’s Freie. Weiden und Erlen blühten als Verkünder des nahen Frühlings; zwar schlüpfte noch kein grüner Keim aus dem Boden, aber dennoch begann es sich im Schooß der Erde zu regen. Im Thale quollen allerwärts lang gefesselte Wasser dem Inn entgegen, und wenn andere ihres Gleichen auch in der Klamm, den Schluchten der Berge noch seufzten verrieth schwaches Glucksen doch schon, wie bald auch sie den Schnee überwältigt haben würden, der sie bändigte; schon tropfte es leise von Stein zu Stein.
Fügen weilte noch immer auf der Moosburg. Seit er die Composition eines großen Musikwerkes begonnen, galt es als selbstverständlich, daß diese Aufgabe hier vollendet werde. Er ward längst nicht mehr als Gast, sondern als zum Hause gehörig betrachtet; man hatte sich nicht nur in einander eingelebt; es waren auch allerlei Beziehungen und Aufgaben entstanden.
Fügen’s Erbieten, den unterbrochenen Clavierunterricht Jana’s seinerseits wieder aufzunehmen, wurde von Dieser mit heimlicher Freude, von Genoveva mit aufrichtiger Dankbarkeit ergriffen. Niemand hätte gewagt, an den Meister selbst solches Ansinnen zu stellen da es aber von ihm ausging, wurde die erfreuliche Gelegenheit, Jana so weit vorwärts zu bringen, daß sie künftig ihre Lieder sich selbst begleiten könnte, als große Annehmlichkeit geschätzt. Fügen brachte damit kein Opfer, weil Jana ihm nicht nur sympathisch, sondern auch durch und durch musikalisch war. Bestimmte Stunden wurden festgesetzt und pünktlich eingehalten.
Im Verlaufe der Zeit nahm der Meister noch einen zweiten Schüler an. Jana’s jüngster Bruder Lois kam jeden Sonntag Nachmittags sie zu besuchen – nicht blos der Schwester, sondern auch der Kinder wegen, welche dem schweigsamen Knaben sehr anhingen, und denen er ein unermüdlicher Spielgefährte war. Von Maxi ließ er sich sogar tyrannisiren. Sein ernstes, nachdenkliches Gesicht war Fügen schon beim ersten Zusammentreffen an der Mühle aufgefallen und im Laufe der Zeit, als Lois seine Scheu etwas überwunden hatte, ward der Mann durch die künstlerischen Instincte des Knaben wiederholt frappirt. Als ihn Fügen einmal des Sonntags, nachdem Jana’s Uebungsstunde beendet war, vor dem Flügel ertappte, wo Lois sich ein eben gehörtes Mozart’sches Thema mit merkwürdigem Gedächtniß auf den Tasten zusammensuchte, warf er die Frage hin, ob er wohl auch Lust hätte, Clavierspielen zu lernen? Ein leidenschaftlicher Freudenblitz, der aus des Knaben meist so dämmernden Augen brach, war Antwort genug.
Seitdem besaß der Meister einen regelmäßigen Sonntagsschüler. Nicht die Lernenden waren es aber, denen sein höchstes Künstlerinteresse zugehörte – dies galt einem kaum erst erwachenden Ohre. Sobald der Flügel erklang, ließ Fügen’s Liebling, der kleine Siegmund, vom liebsten Spiele, schlich sich in das Musikzimmer und blieb dort regungslos in einer Ecke sitzen, bis er plötzlich, gleichsam überwältigt, hinweglief oder gar in Schluchzen ausbrach; das geschah ihm namentlich bei großer Musik. Jana strebte das Kind fern zu halten; seine Mutter war anderer Meinung. Sie that ihm niemals Zwang an, diesen Nervenreiz zu überwinden, verbot aber, ihn zurückzuhalten, wenn er in stets wiederkehrendem Drange den Tönen zustrebte, welche ihn doch zu foltern schienen, sobald sie ausdrucksmächtig wurden. In diesem Punkte stimmte Fügen mit ihr überein, was sonst nicht oft der Fall war, wenn es sich um Siegmund handelte. Zu Allem, was er an Frau voll Riedegg ungewöhnlich fand, gehörte auch ihr Verhalten dem kleinen Sohne gegenüber. Mit welcher Leidenschaft sie ihn liebte, verrieth jeder unbewachte Augenblick; er war offenbar der Mittelpunkt, der Brennpunkt ihres Daseins. Diese Liebe war aber von einer Strenge durchwoben, welche bei Siegmund’s zartem Alter fast übermäßig erschien. Unverkennbar strebte Genoveva, ihn auf alle Weise körperlich und geistig zu stählen. Nie gab sie ihm gegenüber einem Impulse nach; nie [524] duldete sie dies von Andern, und doch war kaum je ein Kind so geschaffen, Impulse hervorzurufen. Keine Welle konnte beweglicher sein. Eben noch sprühend vor Lust, nach Sonnenstrahlen haschend, in deren Gefunkel er tanzte, war Siegmund im Stande, schon im nächsten Augenblicke mit kummervollem Vorwurfe in den großen Augen zum Himmel aufzusehen, weil dort eine Wolke zerfloß, die er gebeten hatte, zu verweilen. Dann wieder sah man ihn mit dem Wildfange Maxi um die Wette toben; jubelnd vor Uebermuth rannten die Kinder einander nach, bis ihnen der Athem ausging, schauten sich bis in den Grund der Augen, wenn Eins das Andere erhascht hatte, und brachen dann in unauslöschliches Gelächter aus, ohne zu wissen worüber. Mitten in der glühendsten Spielfreude genügte aber stets ein Ruf der Mutter, um das Kind augenblicklich an ihrer Seite zu haben.
Fügen, der den Knaben insgeheim vergötterte, war stets entrüstet, wenn dieser irgendwie in seiner Freiheit beschränkt wurde. „Wäre der Bub’ ein Prinz und die gnädige Frau seine Aja, dann ließe ich mir solches Einschränken gefallen,“ sagte er mitunter im Unmuthe zu Jana, wenn er eben Zeuge gewesen war, wie dem Kleinen schon so früh Selbstüberwindung in jeder Form auferlegt wurde. „Solch ein armes, stets auf hoher Warte sichtbares Fürstenkind muß freilich bei Zeiten dahin abgerichtet werden, überall Schranken zu sehen, sei’s nun für die Andern oder für sich selbst. Auch für Alltagsnaturen möcht’ es gelten, weil Die geborene Subalterne sind. Ist aber unter Hunderttausenden einmal eine Natur wie diese aus dem Ei geschlüpft, wozu sie einengen? Gewähren lassen ist Alles bei den Kleinen wie bei den Großen. Laßt doch das Kind frei sein! Es wird schon von selber ausfindig machen, was ihm nützlich ist; es findet überhaupt Alles von selbst aus durch den Engelsinstinct. Laßt ihn doch nach Gefallen lärmen oder auch in sich hineinsinnen! Wenn er so dasteht, wie ein verzückter Heiliger, und seine Sternaugen das ganze Gesicht erhellen, dann weiß und sieht er mehr als wir Alle – das dürft Ihr mir glauben. Jetzt schon weiß das kleine Gemüth sich unsere Stimmungen von unserer Stirn abzulesen, und auf seinem Gesichtchen spielt unser Leid und unsere Freud’ wieder, wie Sonnenlicht und Schatten auf dem Laub. Trotz alledem – nun, mein Trost ist, daß noch Keiner aus einem Sonntagskinde eine Alltagsfigur zurechtgemodelt hat – sonst könnte Einem angst und bange werden.“
Jana lachte zu solchen Ausfällen, machte wohl auch einen schwachen Versuch ihrer Herrin straffe Zucht zu vertheidigen, doch merkte Fügen bald genug, daß sie heimlich seiner Meinung sei. Sie war überhaupt immer seiner Meinung, nicht weil sie ihn damit unbewußt hätte bestechen wollen, sondern weil Alles, was er sprach und that, ihr als das Beste vorkam. Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, wie so ganz das liebe Mädchen in ihm aufging, und ebenso wenig verhehlte er sich, wie sehr ihn das beglückte. Gedanken, die er früher nie gehegt, oder als nicht gemäß für sich und seine Ziele abgewiesen hacke, klopften jetzt oft und öfter bei ihm an. Die Vorstellung, später von hier fort zu müssen, all das Behagen zu entbehren, das ihm nicht mehr neu, aber noch ebenso köstlich erschien, wie zu Anfang, war ihm überhaupt sehr unerfreulich; ein Zukunftsbild ungemütlicher Häuslichkeit vielmehr des Mangels jeder wirklichen Häuslichkeit, wobei er früher seine Tage hingebracht, erschien ihm Grau in Grau. Ewig konnte er nicht aus der Moosburg bleiben. Warum nicht thun gleich Andern, sich ein Heim gründen, das ihm eigen blieb, er mochte sich nun aufhalten, wo immer? Der gute Hausgeist für solches Heim war ja gefunden.
[537] Es giebt kein wohlthuenderes Gefühl, als sich voll einer Seele, zu der die eigene neigt, so recht aus Herzensgrunde erfaßt zu wissen. Einfach, wie Jana war, hatte Fügen an ihrem Geiste und dessen Aeußerungen vollständiges Genüge; sie war klug und sah mit hellem Auge auf Menschen und Dinge; vor Allem war sie herzensgut und immer die Gleiche. Mit ihr das Leben hinzubringen ward gewiß niemals zur bedenklichen Sache. Ihr weißes Gesicht, die sanften etwas verschleierten Augen, das Musikalische, was in jeder ihrer Bewegungen lag – all dies schien Fügen geschaffen zur dauernden Augenweide. In ihr lebte etwas, das den Künstler bestechen konnte; wie treu würde sie den Mann hegen und pflegen! Er wußte, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte nach diesem Gute, um es zu besitzen, und daß es ein wertvolles Gut sei. Dennoch zögerte er von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, das, was bereits sein Vorsatz war, durch ein ausgesprochen Wort zur That zu gestalten. Warb er um Jana, verlobte er sich mit ihr, dann konnte er für’s Erste nicht mehr hier bleiben, und so oft er daran dachte, von der Moosburg fort zu müssen, empfand er unüberwindliche Unlust.
Es war ja noch Zeit. Zuvor sollte seine Symphonie beendet sein; bis er mit dem Werke zur Instrumentirung vorgeschritten, ging noch mancher Tag in’s Land.
Heute hatte der Meister sein Andante beendet und die Frauen auf den Abend in das Musikzimmer geladen, wo er es ihnen vorspielte. Das Hauptmotiv desselben war von so treuherziger Innigkeit, daß es tief in’s Gemüth drang – schlicht im Beginn, voll Wehmut, bis es unerwartet zu einer Hymne ausklang.
„Wie schön und so ganz Ihr eigen!“ sagte Genoveva wärmer, als sie pflegte, nachdem Fügen den Flügel geschlossen, als wolle er sagen: Für heute Basta!
„Ja,“ entgegnete er etwas verschämt; „mit Ausnahme von Geld habe ich mein Lebtage nichts von Andern borgen können.“
Genoveva sah ihn liebenswürdig an:
„Und doch ist dieses Motiv entlehnt.“
„Was?!“
Seine Brauen rückte zornig an einander.
„Diese gehaltenen, schwellenden Töne haben Alles verrathen; Ihr Andante ist einer Nachtigall abgelauscht – leugnen Sie nur nicht!“
Er wurde roth vor Freude und sah mit strahlenden Augen in das schöne Gesicht, welches so selten durch ein Lächeln erhellt ward, dessen Lächeln aber entzückte wie alles Seltene.
„Im Ernst? Nun, das Wort ist eine Krone werth. Alles, was wir fassen, zieht ja so unglaublich rasch vorüber – glückt es ein Echo vernehmen zu lassen, so ist das ein halbes Wunder.“
„Musik ist immer ein ganzes Wunder. Mir, die nur andächtig horcht, ohne selbst einen Ton zu haben, ist sie es vielleicht in weit höherem Maße als ihrem Priester. Wie sehr sind Sie zu beneiden! Alle Künste haben es mit schon Vorhandenem zu thun; Musik quillt aus der eigenen Seele ihres Schöpfers.“
Er sah sie nachdenklich an.
„Und was könnte unsere Seele geben, das sie nicht zuvor empfangen hätte? Was wir mit der einen Hand vollführen, muß die andere zuerst erfaßt haben; je nachdem der Mensch beschaffen ist, wird der Künstler in sich betrachten und wiedergeben, nicht wahr? Wir wissen, daß Beethoven es liebte im Wandern zu componiren – hört man nicht in seiner Musik oft die Wälder rauschen, gab er uns nicht die Pastorale? Bei Schubert und Haydn ist’s nicht anders; manches Schubert’sche Quartett erzählt die Lebensgeschichte eines Charakters. Und doch behalten Sie Recht, es bleibt das Idealste jede tiefste Empfindung in Tönen ausströmen zu lassen – was Erhabenheit betrifft, steht Musik noch über der Poesie; denn sie dringt in Tiefen, wohin das Wort nicht reicht, weiß zum Ausdruck zu bringen, was nicht von dieser Welt ist.“
„Aber in diese Welt hinausgeht und Kunde bringt,“ sagte Genoveva belebt.
Der Funke im Auge des Meisters verwandelte sich; um seinen Mund traten die kleinen Falten, welche so leicht seine eigenen Humor verriethen oder auch wohl den der Andern weckten. Und doch war es ihm bitterer Ernst, als er kläglich sagte: „In die Welt hinaus? O gnädige Frau! in dem Punkt sind wir tausendmal übler daran als die Andern. Sehen Sie, der Bildhauer, der Maler bringt, was er in sich schaute, ganz und völlig zum Ausdruck, so weit eben seine Kraft reicht. Was er geschaffen, steht fertig da; Keiner kann’s ihm hinterdrein verpfuschen Je unabhängiger aber die Kunst vom Stoff ist, was Sie vorhin der Musik nachrühmten, desto schlimmer ergeht es dem Himmelskind, wenn es über die Erde wandern will. Jeder verständnißlose oder eigensinnige Capellmeister bringt es zu Stande, einen Beethoven zu entstellen. Giebt man Neues hinaus, so möchte man verzweifeln; beim eigenen Dirigiren ist nicht einmal viel gewonnen. Nehmen Sie zum Beispiel mein Andante – da soll das Cello, das Fagott wie ein Hauch hintönen und die Seele mit schwermüthigem [538] Erinnern füllen, wie Dämmerzeit oder Mondlicht, und dann, wenn – die Violinen einfallen, soll es wie Morgenröthe aufblitzen, wie Lichtstrahlen voll Klarheit, die Alles frei macht. Bis das begriffen ist, möchte man vor Schmerz und Aengsten aus der Haut fahren. Und nun gar erst draußen, irgendwo – was wird da aus unserem Stil, wenn’s ein individueller ist!“
„Wie mag Ihnen zu Muthe gewesen sein, Herr Fügen, als Sie zum ersten Male selbst eine Melodie erfanden!“ sagte Jana schüchtern. „Wissen Sie noch, wann das gewesen ist?“
Er schüttelte lächelnd den Kopf.
„Weiß nicht! Vielleicht, als ich drei Käse hoch war, wie unser Sigi. Der componirt ja auch schon. Neulich knirschte die Thür, ja wirklich sie miaute, daß ich mir die Ohren zuhielt, er aber hatte eine Melodie herausgewittert und sang ihr nach, bis mir auf einmal selbst ein Licht darüber aufging, daß in dem Geknirsch ein Ton steckt. So fangen wir an, vielleicht mit der halbvergessenen Melodie eines Ammenliedchens, die man sucht und nun anders herausbringt.“
Er sann heiter in sich hinein
„Ich hätte wohl Lust, einmal wieder ein paar Lieder zu componiren, gerade jetzt,“ sagte er, nach Genoveva blickend. „Das Allegretto steht mir noch nicht fertig da; bis das reif wird, ließen sich etliche Weisen einfangen, die mir lange schon durch den Kopf summen. Aber wo den Text hernehmen? Unter all dem poetischen Kram findet sich gar selten Sangbares. Stecken hier in der Burg vielleicht ein paar alte Gedichtbände oder dergleichen, worin man blättern könnte?“
„Ich fürchte, nein,“ sagte Genoveva; „doch wollen wir morgen nachsehen“
„O gnädige Frau, möchten Sie nicht –“ rief Jana hastig, brach aber wie mit Blut übergossen mitten im Satze ab.
„Nun?“ fragte Fügen gespannt, und blickte von Einer zur Andern
„Ich weiß nicht,“ stammelte das Mädchen mit befangenem Blick aus ihre Herrin.
„Weshalb sprichst Du nicht frei heraus?“ fragte Genoveva gelassen „Es braucht kein Geheimniß für unseren Freund zu sein, daß ich zuweilen eine Strophe aufschreibe – aufgeschrieben habe. Jetzt kommen mir keine Lieder mehr. Wollen Sie das Heft durchblättern, welches Jana meint, so stelle ich es Ihnen frei. Nur dürfen Sie keinen Anspruch auf kunstreiche Formen oder geistvollen Inhalt mitbringen. Es sind Tagebuchblätter, ganz persönlicher Art, deshalb kaum von Werth.“
„Also lyrisch!“ sagte er mit leuchtendem Blicke. „Nun, lyrisch und ganz persönlich sind auch Lerche und Nachtigall. Wollen Sie mir so hohes Vertrauen gönnen, wie dankbar werde ich sein!“
Genoveva sah ihn mit den dunklen Augen seltsam an.
„Vertrauen?“ wiederholte sie mit leichter Bewegung der Schultern „Vor Zeiten hätte ich Ihnen so wenig wie sonst Einem preisgegeben, was nur mich angeht. Heute geht Vergangenes mich nichts mehr an. Was vorüber ist, gleicht abgefallenem Laub – wer sollte sich’s noch zu Herzen nehmen? Sentimental sein ist wahrlich nicht der Mühe werth. Ich glaube, die Lieder, von denen wir sprechen, sind ziemlich sentimental; doch sagen sie Ihnen nichts Neues; daß ich einst besessen und verloren habe, wissen Sie ja.“
Fügen forschte, während sie sprach, umsonst mit einem dringlichen Blick in ihren unbewegten Zügen; er hätte in diesem Augenblick ein Stück seines Lebens dahingegeben, um zu wissen, ob, was sie sagte, ihre wahre Meinung sei oder nur schmerzliche Ironie. Das Peinliche, was ihre ersten Aeußerungen für ihn gehabt, löschte an ihren letzten Worten wieder aus.
„Anderes sagt Keinem das Leben,“ rief er lebhaft. „Wer überhaupt besessen hat, ist glücklich zu preisen, was auch folgen mag; denn er hat auskosten dürfen, was lebenswerth gewesen, und kann mit Wünschen abschließen. Die leer ausgingen, können das nie.“
„Abschließen?“
Eine jähe Blutwelle stieg ihr bis in die Schläfen.
„Wie trüge sich das Leben ohne Wunsch?“
„Und was ist der Ihre?“ rief er hastig, die Frage bereuend, sobald sie ihm entschlüpft war.
„Reichthum,“ sagte Genoveva mit plötzlicher Kälte, indem sie aufstand, langsam über das Zimmer schritt und durch einen Druck auf einen Knopf im Getäfel das Gefach eines Wandschränkchens aufspringen ließ.
Fügen starrte ihr nach, ohne ein Wort hervorzubringen. Ihm war, als sei er aus farbiger Abendbeleuchtung unerwartet in’s Dunkle geraten wo man umhertappt und sich nicht zurecht finden kann. Wozu wünschte diese Frau Reichtümer, sie, für welche die selbsterwählte stolze Einsamkeit so gemäß schien – was sollten ihr Schätze? Sich ihr dunkles, vornehmes Bild in goldgleißendem Rahmen zu denken, mißfiel ihm. Doch behielt er jetzt nicht Zeit zum Grübeln. Genoveva hatte dem Gefach eine Mappe entnommen, und drückte nun die Feder wieder ein.
„Hier,“ sagte sie, und reichte ihm die dunkle Mappe. Ihr schönes Gesicht war marmorblaß. „Sehen Sie nach, ob sich unter den halbvergilbten Blättern Sangbares findet! Sie lagen lange vergessen.“
Sie blickte sinnend auf Jana.
„Wie kamst Du doch darauf?“
„Haben Sie vergessen, gnädige Frau, daß Sie mich damals, als wir für lange Zeit fortgingen, Alles, was im Schranke liegt, hier herauftragen ließen, und daß dann ein Blättchen aus der Mappe glitt, das Sie mir zu lesen erlaubten ehe Sie abschlossen? Ich hab’s nie vergessen können; es war ein Lied vom Scheiden. Und ich weiß es heut noch auswendig.“
Sie zögerte einen Moment – dann, als die Beiden fortfuhren zu schweigen sprach sie in ebenso leisem Tone wie zuvor:
„Leb’ wohl, leb’ wohl! Kurz ist das Wort,
Der Inhalt aber tief –
Lang’ tönt es noch im Herzen fort,
Nachdem der Mund es rief
Auf Wiedersehn! Melodisch Wort
Voll Trug und Süßigkeit,
Du ruhst als tief verhüllter Hort
Im Schooß der Ewigkeit.“
Genoveva, die aufrecht stehen geblieben war, sah unverwandt auf das junge Mädchen, während es die Verse sprach. Langsam wendete sie die sinnenden Augen von Jana auf Fügen hinüber; ein schwer zu deutendes Lächeln flog um ihre Lippen.
„Ewigkeit!“ wiederholte sie nach kurzer Pause in seltsamem Tone. „Um zu erfahren, wie sanft es ist, die Todten zu beweinen, muß man erst um Lebende geweint haben und um Geschicke. Irre ich nicht, Jana, so hast Du damals über dieses Gedicht viele Thronen vergossen. Heute weinst auch Du nicht mehr.“
Der Behauptung zum Trotz stürzten unaufhaltsam Thränen über des Mädchens zartes Gesicht.
Genoveva lächelte kühl.
„Sie werden das eben Citirte zwischen dem übrigen finden,“ sagte sie zu Fügen; „vielleicht componiren Sie es. Nun aber, gute Nacht!“
Längst waren auf der Moosburg alle übrigen Lichter erloschen als Richard Fügen noch bei seiner Lampe saß. Die ihm unbegreifliche Aufregung, mit der er sein Schlafzimmer betreten, wollte nicht weichen, verscheuchte jeden Gedanken von Schlaf und Ruhe. Er kam sich wie im Fieber vor, wo man sieht, was nicht da ist, während alles Feste, Vorhandene in’s Schwanken gerät. Sein Zimmer schien ihm behext; aus jedem Winkel trat dieselbe Gestalt auf ihn zu, sahen ihn dieselben magnetischen Augen an. Er wollte sich zwingen, nicht an Genoveva zu denken – umsonst, ihre ernst leidenschaftlichen Züge standen vor ihm, wie in die Luft gezeichnet; in seinem Ohre klangen immer dieselben Worte, von melodischer, den tiefsten Nerv berührender Stimme gesprochen. Wo war denn Jana? Er rief sie, die sonst so leicht und rasch vor sein inneres Auge trat, aber nur wie durch Nebel, undeutlich sah er das liebe Gesicht, die unschuldigen Augen. Genoveva war da, sie allein – aber was ging ihn diese an? „Alles!“ rief jede Fiber in ihm, „Alles!“
Jeder erlebt den Augenblick, wo er plötzlich erfährt, wie es in seinem Herzen aussieht. Seltsam, daß gerade dieses Herz, welches sich so oft mit dem Kopfe berät, das der Kopf so genau zu kennen meint, unerwartet seine eigenen, fremden Wege geht, gefährliche Wege mitunter, wie Nachtwandler thun. Lange, lange kann es sich auf schwindelnder Höhe sicher vorwärts bewegen, so gut verhüllt, daß es ungesehen bleibt, so träumerisch, daß es nichts [539] von sich selber weiß. Da unterbricht irgend ein Laut den Schlaf und Traum, und nun kann ihm geschehen, daß es in grundlose Tiefen sinkt, so tief wie der Tod, aus dem man nicht mehr erwacht. Etwas von den Schauern des Todes lag für Richard Fügen im Erkennen der Macht, welche längst Besitz von ihm genommen, ohne daß er davon wußte. Er wehrte sich heftig gegen den Bann, wie er sich von je gegen jeden Druck, jede Unfreiheit gewehrt. Nie hatte er sich auch nur zu einer Berufsfessel entschließen mögen, und doch bleibt, wenn man solche Fessel trägt, bei äußerlicher Abhängigkeit die Seele frei, die Liebe aber macht sie zum Sclaven. Liebe zu dieser Frau drohte Schlimmeres noch; denn in demselben Moment, als er sich der übermächtigen Gewalt bewußt wurde, sagte er sich auch, wie gänzlich hoffnungslos diese Leidenschaft sei. Nichts spricht eine so furchtbare deutliche Sprache, wie Gleichgültigkeit. Und – hätte er das Gegentheil auch nur wünschen mögen? Nein, tausendmal nein! Was ihn hier bezwang, widersprach Allem, was ihn jemals angezogen. In Kunst und Leben erkannt er nur eine Göttin an: Harmonie. Was auch Genoveva besaß, harmonisch war sie nicht. Er liebte alles Helle, und was konnte dunkler sein, als diese Gestalt, dunkel freilich wie eine gestirnte Nacht –?
Oft hatte er sie gütig gesehen, freundlich nie; immer blieb zwischen ihr und Denen, welchen sie Güte erwies, eine unsichtbare Grenze bestehen. Was er lange an ihr bewundert, das stolze Maß ihrer Erscheinung, war nur eine Hülle – keine Maske; denn es gehörte untrennbar zu ihrer Vornehmheit, die sich nie verleugnete; er wußte nun aber, daß leidenschaftliches Wollen und Bedürfen dieser Hülle Kern sei. Was wollte, was bedurfte sie? Dem grübelte er selbst in diesem Tumulte seiner Gedanken nach, ohne etwas ergrübeln zu können, das auch nur den Schimmer von Wahrscheinlichkeit bot. Das Geheimniß dieses Lebens brannte ihm jetzt in’s Herz. Aus manchem Worte Jana’s wußte er, daß Genoveva’s kurze Ehe eine glückliche, daß sie eine Liebesehe gewesen sei. Lag hier der Knoten des Räthsels? Hatte sie, was der Tod so früh hinweggenommen, zuvor schon durch das Leben verloren? Das hätte wenigstens die Bitterkeit erklärt, welche zuweilen so herb zu Tage trat, hätte erklärt, weshalb sie nimmer rückwärts zu schauen begehrt, nur vorwärts. Träumende, Liebende fliehen nicht, was vergangen; sie hegen es als letzten Besitz.
Er zog die Hand von seinen brennenden Augen hinweg und schlug Genoveva’s Mappe auf. Als wollte er aus deren Inhalt die ihm unbekannte Seele herauslesen, so tief versenkte er die seinige hinein. Und wahrlich, es kam ihm vor, als hätte dieses Weib zwei Seelen. Während er Blatt nach Blatt wandte, ging die eine Seele, welche ihn so sehr befremdet und doch bezwungen, fort aus seiner Erinnerung; eine andere war an ihre Stelle getreten, die er nicht kannte, die ihn mit sympathischem Blicke ansah, zu Allem, was weich und warm in ihm war, wie mit Glockentönen sprach. Wenige, tieferschütternde Klagelaute zwischen Liebes- und Wiegenliedern – kunstlosen Liedern, oft zart wie ein Hauch, reinsten Klanges, nur hin und wieder leidenschaftlich durchglüht, alle wahr, wie das Lächeln und die Thränen der Einsamkeit wahr sind.
So viel Sonnenschein hatte also dieses Herz erfüllt? – und heute! – Die Stunden der Nacht folgten sich; der Träumer merkte es nicht. Plötzlich stand er auf, verließ sein Schlafgemach und öffnete im daranstoßenden Musikzimmer den Flügel. Die Lampe warf ihren matten Schein nur bis auf die Schwelle. Im Dunkeln reihten sich Accord an Accord, während die Lippen ein Thema murmelten. Der Meister componirte. Es war aber keines der zarten gemüthstiefen Lieder, die ihn so sehr entzückt hatten, welches sich ihm zu Tönen gestaltete – er componirte das Lied vom Gewitter, welches der alte Graf Riedegg in der Brusttasche seines todten Sohnes gefunden.
„Sie bekommen Besuch,“ sagte Fügen, der am Fenster. stand und in den kühlen Märztag hinaus schaut. „Ein Wagen! der bald oben sein wird!“
„Heute schon?“ erwiderte Genoveva, ohne sich zu erheben.
„Sie erwarten also Jemand!“ rief der Musiker bestürzt. „Wohl gar Logirbesuch, und für längere Zeit?“
„Nicht so schlimm! Es handelt sich nur um einen Passanten. dessen Vorsprechen im Laufe dieser Tage mir allerdings brieflich gemeldet worden ist. Ich gab im vorigen Jahre einem Wiener Agenten Auftrag wegen Vermiethung der Moosburg und habe versäumt, das zurückzunehmen. Wie es scheint, sucht ein Fremder jetzt dergleichen und will sich, da ihn sein Weg nach Süden führt, die Gelegenheit ansehen. Namen nennen ihn nicht – der Geschäftsmann schreibt mir von einem vornehmen Ausländer, der auf das ganze Haus und für den ganzen nächsten Sommer reflectiren würde. Dies wäre im vorigen Jahre erwünscht gewesen, nun habe ich mich aber hier eingelebt und zunächst durchaus keine Lust, mich in einer Stadt niederzulassen. So handelt es sich für den Herrn also um eine überflüssige Fahrt, für welche ihn unsere Aussicht entschädigen muß. Du sorgst wohl für eine passende Erfrischung, liebe Jana?“
„Und ich entrinne,“ sagte Fügen eilig. „Ein fremdes Gesicht hier auf der Moosburg kommt mir schon von Weitem vor wie eine Dissonanz. Sie brauchen mich ja nicht – also ade!“
Ehe die Hausfrau noch zu einer Entgegnung Zeit gefunden, befand er sich bereits auf der Flucht nach seinen Zimmern. Genoveva trat an das Fenster, welches Ausblick nach dem Fahrwege bot, der sich, selten benützt, in leichter Krümmung hügelaufwärts zog. Die langsam näher kommende geschlossene Kalesche war offenbar kein mit Extrapostpferden bespannter Privatwagen, sondern stammte aus der Lahnegger Posthalterei. Das Lächeln, mit dem Genoveva beim Anblick dieser höchst bürgerlichen Auffahrt des gemeldeten „Vornehmen“ gedacht, erstarb in demselben Augenblicke, als der Wagen hielt und ein nicht mehr junger, aber sehr beweglicher Mann vom geöffneten Schlage niedersprang. Sie trat mit unwillkürlicher, jäher Bewegung erblassend vom Fenster zurück, preßte die Lippen auf einander, näherte sich dann mit einigen hastigen Schritten der Klingelschnur, berührte sie aber nicht, sondern blieb regungslos davor stehen.
Wenige Minuten nachher trat das Dienstmädchen ein und reichte der Herrin eine Karte. Genoveva warf kaum einen Blick darauf und gab schweigend ein Zeichen, den Fremden einzuführen.
Ein schlanker, eleganter Mann von etwa fünfzig Jahren trat ein. Das Zwinkern der Augen verrieth Kurzsichtigkeit, die degagirte Haltung den ci-devant jeune homme. Mit der Leichtigkeit des Weltmannes näherte er sich der Dame des Hauses, welche ihm keinen Schritt entgegenkam, kaum hatte er aber die Hälfte des Raumes durchmessen, der ihn von ihr trennt, als er, plötzlich stutzend, den Kopf zurückwarf und dann vorwärts eilte, indem er in namenlosem Staunen ausrief: „Genéviève!“
Genoveva neigte mit der gewohnten vornehmen Ruhe den Kopf und bot ihre Hand zur Begrüßung.
„Willkommen, mon cousin!“ sagte sie in französischer Sprache. „Dies ist wirklich eine Ueberraschung, und täuscht mich Ihre Miene nicht, so überrascht unser Begegnen nicht mich allein.“
„Ma foi, gewiß nicht! Ich hatte keine Ahnung – sollten Sie hier engagirt sein, Genéviève?“
„Sie befinden sich in meinem Hause, Cousin. Wollen Sie Platz nehmen?“
Während ihre Handbewegung ihn einlud, hatte sie selbst sich bereits niedergelassen.
„In Ihrem Hause? – hm – man gab mir die Adresse einer verwittweten Madame Riedegg.“
„Mein Name!“ sagte Genoveva gelassen.
Der Gast, welcher neben ihr Platz genommen, sprang, wie elektrisirt, wieder auf.
„Sie haben sich verheiratet, sind Wittwe, und wir erfuhren nichts von alledem! Vrainment, Genéviève. Sie sind von einer Originalität –“
Nach kaum merklicher Pause sagte sie in leicht ironischem Ton: „Originell wäre meinerseits nur die Voraussetzung gewesen, daß man sich in Paris für dergleichen interessirte, nachdem –“
„Nachdem Sie französischen Abschied genommen,“ ergänzt der Andere. „Mein Gott, wenn Ihnen auch das von mancher Seite etwas übel genommen worden, so denken hierüber nicht Alle gleich. Ich zum Beispiel fand Sie durchaus in Ihrem Recht und erlaubte mir auch, mich in diesem Sinne zu äußern. Offen gesagt, stand ich freilich mit meiner Ansicht ziemlich allein; meine Frau schlug sich zur Gegenpartei, aber Sie wissen, Genéviève, daß ich stets zu Ihren Bewunderern zählt, und that es mir unendlich leid, nichts mehr über Ihr Ergehen erfahren zu können. Nun [540] uns ein günstiges Ungefähr zusammengeführt, hoffe ich, Sie erzählen mir, welche Wendung Ihr Geschick nahm, nachdem Sie uns verließen.“
„Was gäbe es noch zu erzählen?“ fragte die junge Frau in der kühlen Weise, die sie unnahbar machte, sobald sie das wollte; „ich habe mich mit einem Deutschen verheiratet und bin Wittwe geworden, wie Sie vorhin richtig bemerkten. Nun lebe ich hier in Zurückgezogenheit und erziehe meinen Knaben.“
Der Gast betrachtete sie interessirt. „Aber jetzt denken Sie daran, diese Zurückgezogenheit aufzugeben?“ fragte er; „Ihre Absicht, dieses Schlößchen zu vermieten oder zu verkaufen, war es ja, die mich hierher geführt.“
„Einen Verkauf der Moosburg beabsichtigte ich nie; der Gedanke, das Haus zu vermiethen, entsprang dem vorigen, unruhigen Jahre und ist bereits aufgegeben. Lassen Sie sich’s also gefallen nur Gast dieses Hauses zu sein! Uebrigens – wenn auch Sie mir eine Frage gestatten wollen – ich bin überrascht, Cousin Clairmont, Ihnen als Aspiranten für eine abgelegene Gebirgswohnung zu begegnen. Einsiedlerische Neigungen schienen Ihnen früher fern zu liegen.“
Ein Zug leichter Verlegenheit glitt über das feine Gesicht des Cousins.
„Ich suchte nicht für mich. Sie wohnen übrigens vortrefflich – stilvolle Einrichtung – ein ganz passender Rahmen für die Schloßfrau. Ein Erbgut etwa des verstorbenen Gemahls?“
Während er sich, das Lorgnon vor die Augen gedrückt, prüfend umschaute, fesselte Jana’s Eintritt seine Aufmerksamkeit und ließ ihn das Ausbleiben einer Antwort auf seine letzte Frage vergessen. Er ließ die leichte Gestalt, welche das Cabaret so anmuthig trug und die zierlich geordneten Erfrischungen schweigend auf den Tisch niedersetzte, nicht aus den Augen; kaum hatte sich Jana so geräuschlos entfernt, als sie gekommen war, als schon die Frage aus Herrn von Clairmont’s Lippen sprang:
„Wen haben Sie da? Das ist ja ein reizendes Gesichtchen! Warum stellten Sie mich nicht vor?“
„Das würde Jana, die mein Hauswesen führt, nur in Verlegenheit gesetzt haben; gesellschaftliche Formen zu üben, wird uns hier kaum je Gelegenheit. Wollen Sie sich die Gastfreundschaft der Moosburg – länger gefallen lassen, so findet sich schon der Anlaß, Sie mit der Gefährtin meiner Einsamkeit bekannt zu machen.“
„Leider unmöglich! Ich werde noch heute Abend in Innsbruck erwartet und darf hier nur im Fluge verweilen. Voraussichtlich kehre ich aber im nächsten Jahre nach Deutschland zurück und suche Sie dann, wenn Sie es gestatten, zu günstigerer Zeit hier auf – lieber noch anderswo; denn so reizend Ihr Wittwensitz auch ist, Genevieve, erscheint es mir doch unverantwortlich, Ihre Schönheit, Ihren Geist für die Dauer hier zu begraben. Der bloße Gedanke hat etwas Absurdes –“
Genoveva unterbrach ihn:
„Sie sagten mir noch nichts über Frau von Clairmont’s Ergehen?
„Meine Frau? Ah, toujours petite santé Sie wissen! Die Aerzte verordnen Bäder, bald das eine, bald das andere, und haben die Arme neuerdings ängstlich gemacht. Sicher ohne Grund! Sobald diese Herren kleine Uebel nicht zu heben verstehen, deuten sie geheimnisvoll aus große Schäden. Mon dieu! Nerven, nichts als Nerven! Kinderlose Frauen langweilen sich; ihr Dasein gestaltet sich zu sorgenfrei, dabei gedeihen Launen und Grillen.“
Ein eigentümlicher Blick Genoveva’s, der den Lächelnden streifte, schien ihn zu geniren; er setzte das Weinglas nieder und sagte leichthin:
„Sie erwähnten eines Söhnchens, Genevieve? Lassen Sie mich seine Bekanntschaft machen, ehe ich wieder aufbreche, woran ich jetzt denken muß!“ Er blickte auf seine Uhr und sprang auf. „Wirklich die höchste Zeit, ma, belle! Zum Glück befahl ich, nicht auszuspannen, sonst wäre die in Ihrer liebenswürdigen Nähe vergessene Zeit kaum noch einzuholen.“
Er küßte flüchtig ihre Hand und ergriff seinen Hut.
„A revoir“ Und werden Sie mir gestatten, Ihnen zu schreiben? Darf ich hoffen von Ihnen zu hören, Genevieve? Sie schweigen? Aber wirklich, das ist nicht – Warum noch heute so ablehnend? Ich weiß, daß Sie stolz sind wie Lucifer, hier befinden wir uns aber auf Ihrem eigenen Terrain; ich sehe Sie allem Anschein nach in sorgenfreier Lage, Sie haben nicht zu befürchten, daß man Ihnen aufzunöthigen sucht, was Sie verschmähen – und wirklich, Genevieve, ich verehre Sie.“
Er hatte eifrig, sogar warm gesprochen; das feine, aristokratische Gesicht erhielt dabei einen angenehmen Ausdruck; auch Genoveva’s kühler Blick milderte sich.
„Es wird mich freuen, von Ihnen zu hören, Cousin,“ sagte sie, indem sie ihm das Geleite gab.
Als Beide aus dem Thore in den Vorhof traten, begrüßte sie das helle Jauchzen einer Kinderstimme. Siegmund saß, vom Postillon gehalten, auf einem der Kutschenpferde und schwenkte die kleine improvisierte Peitsche.
„Voila!“ sagte der Gast lebhaft indem er herantrat und das Kind neugierig betrachtete. „Ein reizender kleiner Bursche – Ihnen gleicht er aber nicht, Genevieve! Uebrigens ganz geschaffen zur Tröst-Einsamkeit!“
Während der Postillon im Begriff war, Siegmund auf einen Wink Frau von Riedegg’s herabzuheben, warf dieser den lockigen Kopf zurück und rief, seinen Platz behauptend, in hellem Tone:
„Richard, Richard, ich reite.“
Herr von Clairmont folgte erstaunt dem aufwärts gerichteten Blicke des Kindes; der seinige streifte noch eben den Kopf Fügen’s, der bereits wieder vom Fenster verschwand. Der Gast unterdrückte ein Wort, das mit dem leicht ironischen Lächeln identisch sein mochte, welches nur einen Moment um seine Lippen spielte. Dann wurde der Knabe wirklich vom Pferde genommen und der Cousin sprang in den Wagen. „A revoir, ma belle! Und langweilen Sie sich nicht allzu sehr!“ rief er in liebenswürdigem Tone und lüftete den Hut
Genoveva’s Auge war seinem forschenden, etwas schalkhaften Blicke mit stolzer Ruhe begegnet. Ihren Sohn an der Hand, stand sie, ehe sie in das Haus zurückgekehrt, einen Moment und blickte dem abwärts rollenden Wagen nach. Ein Schatten ging über ihre Stirn – ein Schatten der Vergangenheit.
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Der April brachte ungewöhnlich warme Tage, und schon lockte die seit länger als einer Woche stets unbewölkte Sonne junges Laub und Knospen hervor. Kirschen und Aprikosen standen in voller Blüthe. Die von Genoveva mit Vorliebe gezogenen Zierpflanzen, welche im Verandazimmer überwintert hatten, waren bereits draußen, zu dem grünen Winkel geordnet, welcher den Ausblick freiließ, während er die dort Sitzenden verbarg.
Es war Sonntag Nachmittag. Fügen saß, ein Buch in der Hand, hinter den breiten Palmenblättern, auf deren glänzender Fläche die bereits auf der Heimreise begriffene Sonne funkelnd spielte. Der Meister las aber nicht in dem Buche; er sah träumerisch hinab in’s grüne Thal, auf den blitzenden Strom. Drunten läutete es hier und dort von den Glockentürmen; es war um die Vesperzeit. Ganz nahe tönte das Frühlingslied einer Grasmücke in die Feierklänge hinein zuweilen auch eine Kinderstimme.
Auf der mit Obstbäumen bestandenen Wiese, welche die innere Eingangspforte begrenzte, saßen Siegmund und Maxi einträchtig beisammen auf einem über das noch lichte Gras gebreiteten Teppich, dessen einen Zipfel der Neufundländer so gravitätisch inne hatte, als habe er das Amt übernommen, die zuweilen von einem Windhauche gelüftete Schutzdecke festzuhalten, eine um so großmütigere Leistung, als die Kinder heute keinerlei Notiz von ihrem geduldigen Spielgefährten nahmen. Sie waren eifrig mit einer gezähmten Jochdohle beschäftigt, die zwischen ihnen hin und her hüpfte und sie mit den klugen Augen abwechselnd ansah. Maxi hatte ihr ein scharlachrothes Band um den Hals geschlungen und auf dem schwerfällig beweglichen Kopfe saß ein Käppchen voll Goldpapier; dieser seltsame Aufputz, zusammen mit dem tiefschwarzen, glänzenden Gefieder und dem rothen Schnabel verliehen dem Vogel etwas besonders Phantastisches. Vor Sigmund, der auf der dem Hunde gegenüberliegenden Teppichecke kniete, lag ein Haufen bunter, glitzernder Steine und Schieferstücke, woraus er einen Bau aufthürmte. Der Eifer, mit dem er sich dem Geschäfte hingab, ward höchstens von der Lebhaftigkeit Maxi’s übertroffen, welche mit der Dohle sprach, fest überzeugt, von ihr verstanden zu werden, und daß der Vogel jetzt ein Prinz und der entstehende Prachtbau sein Palast sei. Die Kinderphantasie schwang ihren Zauberstab, der alle Dinge sicherer verwandelt, als das Gebot einer Märchenfee.
Hinter der Gruppe, wenige Schritte von ihr entfernt, saß Jana mit ihrem Bruder Lois unter einem blühenden Birnbaum im Gespräch. Der gedämpfte Klang ihrer Stimme ließ Fügen den Kopf wenden und niederschauen; sein zerstreutes Ohr und Auge nahm erst jetzt das stille Leben auf der Wiese wahr. Jana’s dem Bruder zugewandtes Profil hob sich klar von dem dunklen Stamme ab, gegen den sie gelehnt saß; so oft der Wind sich regte, taumelten einzelne Blüthen nieder und hingen sich ihr in das Haar. Die reiche Flechte schien heute besonders schwer über dem seinen Köpfchen zu lasten, vielleicht weil das Gesicht zarter noch als sonst aussah; es war farblos wie die fallenden Blüthen. Fügen sah unverwandt auf sie hinab und seufzte; er lehnte sich ein wenig vor, um ihre sympathische Stimme besser zu hören, sie sprach aber zu leise, um von hier aus verstanden zu werden. Dafür hörte er Sigi’s klares Stimmchen ernsthaft sagen:
„Wie ich noch ein Vogel war, hab’ ich droben auf der Heitern Bahn gewohnt, bin immer rundum geflogen, und hab’ ganz tief in den Himmel hineingucken dürfen.“
Es war nicht zum ersten Male, daß Fügen Aehnliches aus dem Munde des kleinen Poeten vernommen; warum trafen ihn diese Worte so tief?
„Als Du noch ein Vogel warst –“ murmelte er, und die Gedanken irrten um das Wort, weiter und weiter. „Ich war auch einmal einer – ein Singvogel, ein Wandervogel. Da hab’ ich auch in den klaren Himmel hineingeschaut, oft und tief. Was bin ich denn heute?“
Es überlief ihn. Alles, was er je erlebt, kam ihm vor, als sei unermeßliche Zeit inzwischen vergangen; es war ihm, als wäre er gar nicht derjenige gewesen, an den sich jene Erlebnisse knüpften, sondern als wäre es ein Anderer, von dem man ihm erzählt hatte, Dieser Andere hatte nichts von dem Druck gewußt, der jetzt so schwer auf ihm lag. Er besann sich im halben Traum, wann doch das angefangen habe, und da glitt ein lichter Morgen vor seinem Geiste vorbei, wo er die Augen geöffnet und gesehen hatte, wie die Sonne auf der bunten Decke seines Bettes spielte. Ganz deutlich erinnerte er sich, wie das ihm so wohl gethan, da ihm war, als hätte er einen Alpdruck überstanden und dürfe sich jetzt freuen, wen das vorbei und weil es Tag war. Aber er konnte sich nicht freuen. Wie frisch war er dann auf seine Füße gesprungen, und wie fröhlich hatte er den Laden zurückgeschlagen! Da war die Sonne voll hereingeströmt, so licht, so gesund, daß ihm tröstlich zu Muth geworden. Damals, ja, da hatte es angefangen. Seitdem war er den fremden Druck nicht mehr los geworden; seitdem zog seine Symphonie so fern über ihm dahin, wie Wolken am Himmel; seitdem hatte er sich wie ein abgerissenes Blatt, das vom Baum [554] in den Strom gefallen, dahintreiben lassen durch fruchtlos gelebte Tage. Darauf besann er sich heute zum ersten Male. Wie ein plötzliches Zürnen über seine eigene Schwäche kam es nun über ihn, da er so scharf in sich hineinsah. Niemand wirft sich Schwäche so bitter vor, wie ein starker Mensch. Sich in Arbeit und Genuß an das Leben hinzugeben – das war das Ideal des Mannes in Fügen. Und daß nur in der größten Ruhe, im ungestörten Streben nach dem Unendlichen, die Kunst gedeihen kann – das war in ihm das Glaubensbekenntniß des Künstlers. War das Alles auf einmal Nichts? Warum blieb er hier, wo Kraft und Stolz und Manneswerth in jeder Stunde gefährdet wurden? Das mußte ein Ende nehmen. Der Entschluß zu gehen, und bald zu gehen, stand auf einmal so fertig vor ihm da, daß er es wie einen heimlichen Trost empfand, dieser Gedanke müsse doch schon lange in ihm gewesen sein, nur verschüttet, sodaß er nicht früher hatte zu Worte kommen können.
Mit letztem Hall zog ferner Glockenton durch die Luft. War es die hierauf folgende Stille, oder hatte sich der Wind gewendet – genug, die vorhin nur in einzelnen Lauten vernehmliche Stimme Jana’s und ihres Bruders berührten jetzt Fügen’s Ohr klar und deutlich; vielleicht hatte sie sich auch im Eifer des Gesprächs etwas erhoben. Mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt, dachte er nicht daran, darauf hinzuhören, hörte aber dennoch.
„Wenn Du mir helfen könntest, Jana!“ sagte Lois eben eindringlich. „Es wär’ mein Höchstes. Aber sie wollen daheim nichts davon wissen, der Vater nicht, und die Mutter noch weniger.“
„Meinst Du denn wirklich, daß es sein muß?“ wendete Jana in sanftem Tone ein. „Bedenk’ nur, wer soll einmal auf der Mühle hausen? Der Florian, den unsere Theres’ heirathet, bekommt sein väterlich Hofgut; ich geh’ nie von meiner Gnädigen; übrigens gehört dort auch ein Mann hin. Wer also soll’s übernehmen? Das Mühlwerk ist unserem Geschlechte so lang schon eigen gewesen – bedenk’s doch, Lois! Wie kommst Du nur darauf, daß Du jetzt auf einmal geistlich werden willst?“
„Wie ich darauf komme? Weißt noch den Tag, Du warst noch nicht lang wieder hier, wo der Bartelmä Pichler dazumal seine Primiz gefeiert hat? – Da ist’s über mich kommen. Wie er im Priestergewand so dagestanden hat, vor dem nämlichen Altar, wo ihm die erste heilige Communion ausgeteilt worden ist, und wie er unter dem großen Glockenläuten seiner eigenen Gemeind’ den Segen hat geben dürfen, und ihm vor Freud’ die hellen Tropfen über’s Gesicht gelaufen sind, da hab’ ich auch anfangen müssen zu weinen, und da hat mir mein Schutzpatron den Gedanken eingeben, geistlich zu werden. Ich hab’ zur Muttergottes aufgeschaut; die hat zwischen lauter goldigem Sonnenstaub geflimmert über dem Altar. Da bin ich glückselig gewesen, wie ich mein Lebtage nicht war, und hätt’ ihr gleich das Gelöbniß gethan wenn ich gedurft hätt’. Weil aber doch Vater und Mutter erst Ja sagen müssen, hab’ ich mich nicht wirklich verlobt; nur vorgenommen hab’ ich mir’s so fest, wie man sich vornimmt, in den Himmel zu kommen.“
„Mit dem Vater wird’s schwer halten, die Mutter wär’ schon eher herum zu bringen. Und Du bist halt noch so viel jung und müßtest dann ja schon zu Pfingsten nach Hall auf die Schulen, und später könnt’s Dich reuen, Lois. Das Mühlgut ist fein. Manch Einer gäb’ den Finger gern von der Hand, wenn’s das seine wär’.“
„Gerade das freut mich,“ sagte Lois. „Ist’s nicht noch feiner, dem lieben Gott recht was Großes als Opfer schenken zu können?“
Ein braunes Händchen zupfte an seinem Aermel; in seinem Eifer hatte der Knabe nicht bemerkt, daß Maxi herangelaufen war und mit großen Augen zuhorchte.
„Was will der Lois dem lieben Dott schenken?“ fragte sie begierig. „Thu lieber Maxi was schenken, lieber Dott is gar nis da.“
Der Knabe wandte dem Kinde sein glühendes Gesicht mit einem Blicke der tiefliegenden Augen zu, der wie aus weiter Ferne zurückzukehren schien.
„Der liebe Gott ist immer da, Maxi; Du siehst ihn nur nicht,“ sagte er, indem er das Kind auf seinen Schooß hob.
„Warum sieht ihn Maxi nit? Siehst ihn Du?“
„Nicht ich, und Keiner kann ihn schauen.“
Des Kindes dunkle Augensterne vergrößerten sich. Offenbar machte das Problem dem klugen Köpfchen zu schaffen, auf einmal erhellte sich das gespannte kleine Gesicht, und mit einem schelmischen Blitz in den Augen rief sie triumphirend mit dem hellsten Tone ihrer hellen Stimme:
„Wenn der liebe Dott in Spiegel duckt, kann er sich doch sehen.“
Ein kurzes Lachen unmittelbar hinter ihm machte Fügen zusammenfahren. Als er jäh den Kopf wandte, ließ Frau von Riedegg sich eben auf dem zweiten Sitze nieder. Er nahm sich zusammen; er that sich immer Gewalt an, wenn er in ihre Nähe kam; heute ward ihm das nicht schwerer, als sonst, eher leichter. Ein gefaßter Entschluß ist wie ein Damm; er hält die brausende Strömung auf.
„Sie hat das letzte Wort behalten, wie gewöhnlich,“ sagte Genoveva. „Dinge der Welt, oder Dinge des Himmels, der Instinct dieses originellen Geschöpfes erfaßt blitzartig jede Möglichkeit.“
„Gefährliches Talent für ein Mädchen! Doppelt gefährlich vielleicht für Diese,“ erwiderte er. Dann, nach einer Pause: „Wenn ich fragen darf, gnädige Frau, was haben Sie in Zukunft mit dem Kinde vor?“
Frau von Riedegg sah ihn erstaunt an.
„Was ich vorhabe mit dem vierjährigen Mädchen? Nun sie wird leben, um zu lernen, wie alle Menschen. Was sie aber lernen, was aus ihr werden mag, wer sagt das heute? Vielleicht eine Dorfschullehrerin, vielleicht eine Kränzewinderin, wie ihre – wie Jana.“
„Nun bin ich befriedigt. Mir war, offen gesagt, bange, daß Ihr Interesse an dem aparten Naturell Sie daran denken ließe, Maxi als Kind des Hauses zu erziehen. Und das fällt selten gut aus! Ich weiß, daß sie Ihnen zugeweht ist wie eine Schneeflocke von irgendwo her. Sie gaben dem Findelkind eine Heimath – das war ein Werk der Barmherzigkeit; nur dann kann es aber ein solches bleiben, wenn Sie den Pflegling einzig für Pflichten erziehen. Wollten Sie ihr Rechte geben, oder nur irgend einer Anspruch darauf wecken, so würde die rechtlos Geborene dem gegenüber wahrlich nicht das letzte Wort behalten.“
„Wie meinen Sie das?“ fragte Genoveva.
„Ich meine, daß ein Wesen, welches im bürgerlichen Sinne keinen festen Boden unter sich hat, nur auf bescheidener Stelle leisten und genießen kann, was dem Leben Werth giebt – auf untergeordneter Stelle, wenn ich mich klar ausdrücken soll. Wollten Sie Maxi geschwisterlich neben Ihrem Sohne heranwachsen lassen, so hieße das nicht nur Siegmund beeinträchtigen – ihr selbst müßte solche Zwitterstellung verderblich werden. Sie wollen eine Arbeiterin aus ihr machen – gut und recht!“
Genoveva antwortete nicht. Ihr Auge hing an den Kindern, die wieder dicht neben einander spielten.
„Wie sagten Sie doch?“ sprach sie endlich in bedecktem Tone. „Ein Wesen, das keinen festen Boden unter sich hat, könne nur auf untergeordneter Stelle gedeihen? Ein seltsamer Satz im Munde eines so eifrigen Verfechters der Menschenrechte! Aber wahr – wahr! Und eben darum, damit es mir nie geschehen mag, dies zu vergessen, soll das rechtlos geborene Kind neben meinem Sohne aufwachsen.“
Fügen sah betroffen in ihr marmorstarres Gesicht; ein plötzliches Hellsehen durchzuckte ihn. Zugleich entwich jeder Gedanke an sein eigenes Selbst in weite Fernen; es war einzig sein braves, menschenfreundliches, jeder Noth zugewandtes Mannesherz, was jetzt zu Worte kam:
„Ich bin Ihnen längst kein Fremder mehr, Frau von Riedegg; Sie haben mich wiederholt mit dem Namen eines Freundes geehrt, und ein Freund verdient Vertrauen. Nicht erst heute ahne ich, daß Sie Sorgen um Siegmund’s Zukunft tragen. Darf ich davon erfahren? Ich stehe vor Ihnen, ein Mann, der jeden Augenblick bereit ist, Alles, was er vermag, für das Kind einzusetzen, welches auch sein Kleinod geworden.“
Genoveva sah ihn unverwandt an: sein treuherziger Blick, der redliche, männliche Ausdruck seiner Züge ergriffen sie mit der vollen Macht der Wahrheit. Sie faßte und hielt einen Augenblick die ihr dargebotene Hand; dann antwortete sie ernst:
„Ich danke Ihnen. Vielleicht kommt wirklich der Tag, an dem ich Sie fragen werde, ob Sie Ihr. Wort einlösen wollen. [555] Zunächst kann uns Keiner beistehen, wir müßten uns denn selbst helfen können. Mein Sohn ist zu großen Ansprüchen berechtigt – jeder Anspruch wird ihm bestritten. Lassen Sie sich hierin genügen! Es giebt Dinge, welche nur Schweigen behütet. Ich war kühn genug, zu glauben, daß es blos der Energie bedürfe, um dorthin zu dringen, wo man das Recht hat, zu stehen – inzwischen bin ich weiser geworden und habe begriffen, daß ich an fremder Gewalt scheitern mußte, weil ich nur ein Weib bin und – allein.“
Wie eine Fluth brach des Mannes lang zurückgedämmte Empfindung bei diesem Worte zu Tage:
„Nicht allein, nie wieder allein, sobald –“
Sie hob leicht die Hand. Es war nur eine leise abwehrende Bewegung, doch verstummte er davor augenblicklich, während ihm das erregte Blut zurück zum Herzen trat. Schon einmal hatte ihm diese fast unmerkliche Geberde das Wort auf der Lippe, fast den Gedanken in der Seele erstickt; das war vor Wochen gewesen; seitdem lag es wie ein Riegel vor seinem Innersten – was hatte diesen zurückgleiten lassen in einem Moment, wo jeder Wunsch, sich zu äußern, ferner von ihm gelegen als je?
Genoveva’s kühle Hand berührte flüchtig die des Verstummtem
„Irre ich nicht, so sprachen Sie mir einst vom Richteramte der Zeit,“ sagte sie gelassen, „sie mag unsere Bundesgenossin werden. Warten ist auch eine Kraft. Die meisten Menschen wollen und suchen Vieles; Einiges davon wird ihnen dann auch wohl zu Theil. Ich will nur Eines; es giebt für mich nur Eines zwischen Himmel und Erde: meinen Sohn!“
Sie schwieg, wie erschöpft; ein tiefer Athemzug hob ihre Brust. Dann erhob sie sich und stand vor Fügen, der aufgesprungen war, als ihm zuvor die leidenschaftlich erregten Worte entschlüpften; etwas gegen ihn vorgeneigt, sagte sie mit großer Anmuth:
„Sie forderten Vertrauen, lieber Freund – ich gab es. Sie kennen nun den Grundton meiner Gegenwart und Zukunft.“
Ihre dunklen Augen forschten einen Moment in seinem abgewandten Gesicht und senkten dann den Blick auf die Baumwiese, über welche Jana’s leichte Gestalt eben dem Hause zuschritt.
„Vertrauen fordert Vertrauen,“ sagte Genoveva immer noch mit dem halben Lächeln, welches ihre letzten Worte begleitet hatte; „auch mir ahnte vor Kurzem noch etwas, was Sie betrifft; hätte ich nur geträumt?“.
Er wendete sich rasch; sein Blick folgte ihrem auf Jana gerichteten Auge.
„Geträumt!“ sagte er schroff mit dicht an einander gerückten Brauen. „Oder sagen wir lieber wie im Märchen: es war einmal. Uebrigens habe ich Ihnen wirklich etwas mitzutheilen, gnädigste Frau. Briefe – Sie wissen, ich erhielt heute Morgen Briefe – rufen mich ab, früher als ich dachte. Man hat mir die Stelle als Capellmeister des P…’schen Conservatoriums angeboten; ich bin nicht entschlossen, will aber zunächst an Ort und Stelle. So stehe ich unerwartet vor raschem Abschied. Sie entlassen einen Dankbaren, Ihnen tief Verschuldeten“
Er hatte dies hastig, fast athemlos gesprochen. Als er nun doch Genoveva ansah, blickte er in ein seltsam befremdetes Gesicht. Während er sich längst von ihr errathen glaubte, selbst ihre Abwehr zu empfinden gemeint, war sie himmelweit davon entfernt gewesen, ihn zu sich in irgend einer Beziehung zu denken. Ihre frappirte Miene gab ihm sofort Stolz und Maß zurück.
„So plötzlich?“ fragte sie. „Und Ihre Symphonie?“
„Sie hören das Finale wohl einmal vom Orchester. Statt dessen, gnädige Frau, gestatten Sie mir, ein Heft Lieder auf Ihre Schwelle zu legen, ehe der wandernde Musikant morgen darüber hinausschreitet.“
„Morgen schon? Wahrlich, ein kurzer Abschied für die lange Freundschaft.“
„Ist es nicht genug am Abschied – sollte er auch noch lange währen? Zwischen heute und morgen giebt es viele Stunden.“
Er trat ein paar Schritte vor und blickte nun, die Hand auf dem Geländer, in den leuchtenden Abend hinaus. Ja, mit Abschiedsaugen sah er auf Berg und Thal. Die Sonne stand schon hinter dem Gebirge und jeder Gipfel begann sich zu färben; röthliche Flöckchen irrten am Gestein entlang und zerflossen. Hoch darüber standen die goldbesäumten Wolken, als spiegelte sich das Gebirge am Firmamente wie in einem See. Er hätte die Arme ausbreiten mögen; tief innen sprach eine Stimme mit vollem, süßem Klang: „Es war doch eine schöne Zeit“
Ob das Wort wirklich auf die Lippen getreten, ob Genoveva es in seinen schimmernden Augen gelesen? Sie stand an seiner Seite; ihr herrlicher Kopf war von Licht umflossen; nie hatte er in ihren Augen diesen hinreißenden Ausdruck gesehen
„Eine schöne Zeit!“ sprach auch sie. „Viel brachten Sie uns; viel nehmen Sie mit sich, wenn Sie uns verlassen. Ich habe auf der Welt keine große Summe von Freunden zu verlieren. Haben Sie Dank! Und Sie wissen, Dank ist neue Bitte. Ich zähle auf Ihre Wiederkehr, zähle darauf, voll Ihnen zu hören.“
Ehe er geantwortet, trat Jana auf die Terrasse. Hatte sie diese letzten Worte vernommen? Vielleicht; vielleicht auch hatte es einen anderen Grund, warum das Theebret, welches sie in den Händen trug, so erzitterte, daß die darauf stehenden, mit Erfrischungen gefüllten Glasschalen leise an einander klirrten. Genoveva sah sie nachdenklich an. Als Jana die leichte Last auf dem Tische niedergestellt hatte, ging Frau von Riedegg an ihr vorüber, dem Zimmer zu.
„Ich bin gleich zurück,“ sagte sie, auf der Schwelle den Kopf nach ihr gewendet; „laß Dir inzwischen erzählen, daß unser Hausgenosse von uns gehen will in die weite Welt hinaus! Darum nehme ich Dir für heute Dein Amt; der letzte Abend soll festlich sein – das will ich selbst anordnen.“
Sie nickte und verschwand in der Thür.
Jana blieb, wie angewurzelt, stumm dort stehen, wo sie die unerwartete Kunde vernommen. Aus ihren bang auf Fügen gerichteten Augen sprach so unverhülltes, tiefes Leid, daß sein ohnehin zum Aeußersten angespanntes Fühlen überwallte. Mit zwei Schritten war er neben ihr, faßte ihre beiden Hände und sah ihr mit dem treuesten Blick in das bebende Gesicht.
„Jana, liebe Jana!“ rief er innig, „es ist wahr: ich will, ich muß fort. Wie viel hätte ich Ihnen zu sagen und kann doch Nichts sagen, Nichts. Kann Sie nur um Verzeihung bitten tausendmal, wenn ich mich an Ihrem goldenen Herzen versündigt habe – nicht zu meinem Heil, o, nicht zu meinem Heil.“
Er war in diesem Moment fassungslos; während er ihre kalten Hände zu seinen Augen emporhob und diese dagegen drückte; vernahm er des Mädchens sanfte, zitternde Stimme:
„Ich verstehe Sie nicht, lieber Herr Fügen. Das heißt, ich weiß ja Alles, was Sie mir nicht sagen; ich habe es ja schon lange gesehen, und es ist so natürlich. Wer könnte mit ihr zusammen sein, und sie nicht – auch hat es mich wohl bekümmern müssen, da ich weiß, wie sie einzig nur trauert, wenn sie das auch nicht zugiebt, trauert, und einzig um Sigi sorgt. So mag’s denn gut sein, wenn Sie fortgehen. Sie waren längst nicht mehr froh, nicht mehr wie sonst – es wird also gut sein. Was Sie aber von Verzeihung sagten, das verstehe ich nicht. Mir – ich – ich habe nur zu danken.“
Dies Alles war stockend, allmählich zu Worte gekommen. Er ließ ihre Hände los und sagte traurig, ohne sie anzusehen:
„Es war eine Zeit, Jana, da habe ich einen schönen Traum geträumt. Da sah ich ein liebes Mädchen, ein treues Herz an meiner Seite, lebenslang, als mein gutes Weib, mit dem der Weg eben und sonnig wäre, oder doch leichter zu gehen, falls er einmal steil würde. Jana, zuweilen spricht man aus dem Traume heraus, und vielleicht ist mir das auch geschehen, mit und ohne Wissen und Wollen – das möcht’ ich mir von Ihrem guten Herzen verzeihen lassen. Denn – Sie haben recht gesehen – und mein schöner Traum ist aus.“
Ihr zartes Gesicht glühte. Seliges Lächeln theilte ihre Lippen, ging in den lieben Augen auf.
„Jetzt träum’ ich selber wohl,“ sagte sie ganz, ganz leise. „Oder könnt’ es wahr sein, hätten Sie wirklich je, auch nur einen Augenblick lang, so an mich gedacht, mich werth gehalten –? Ich bin es gar nicht werth, aber ich dank Ihnen tausendmal dafür, wie für Alles, Alles, was Sie mir jemals gönnten. Nie – Gott ist mein Zeuge – nie hatt’ ich so hohe, so unmögliche Gedanken; nie hätte das auch sein können, lieber Herr Fügen; denn ich hab’ ein heiliges Gelöbniß gethan, bei meiner Herrin und den Kindern zu bleiben, so lang ich lebe. Das dürft’ ich nicht brechen, auch nicht um den höchsten Preis. Was Sie mir da sagten, hat mir Armen, Geringen aber eine Krone aufgesetzt, die Keiner jemals sehen wird, die ich nur allein weiß, und daran gedenken werde ich bei Tag und bei Nacht, um ihrer werth zu sein, so weit ich’s vermag. Seit Sie bei uns sind, bin ich viel besser geworden – das ist gewiß; [556] bei jedem heimlichsten Gedanken steht gleich der zweite, was Sie darüber denken würden, und das macht so gut.“
Dem Manne gingen die Augen über. Ihm war, als sähe er auf einem Strom all sein reichliches Hab und Gut an sich vorüberschiffen in’s Weite. Es anzuhalten war aber unmöglich.
„Ja, wir wollen versuchen, gut zu sein, Jana,“ sagte er weich. „Und Freundschaft halten, ob nun so und so viel Meilen dazwischen stehen oder nicht. Versprechen Sie mir Eins in die Hand: Sie rufen mich, wenn Sie je meines Beistandes bedürfen, Sie oder die Andern. Verlassen Sie sich darauf – ich komme.“
Vor Vesperläuten des folgenden Tages hatte der Wintergast die Moosburg verlassen. Es ist seltsam, wie still und leer plötzlich alle Räume erscheinen, wenn ein Genosse des täglichen Lebens daraus verschwindet. Eine Stimmung geht durch das Haus, wie sie Einen überkommt, wenn Glocken aufhören zu läuten – die Welt steht und geht wie zuvor, aber sie scheint auf einmal stumm geworden. Genoveva hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen; die Kinder spielten auf der Wiese. Jana ging lautlos im Hause umher und besorgte pünktlich die täglichen Abendgeschäfte. Dann stieg sie still hinauf in die verlassenen Zimmer – auch hier zu ordnen, war ihr Amt. Als sie die Thür öffnete, überkam sie ein Abschiedsweh, das sie nur einmal ähnlich empfunden – damals galt es dem Tode. Ist Scheiden, Verschwinden nicht auch ein Sterben? Ihr war es so – in diesem Augenblick schwand Alles dahin, was sie getröstet; sie wußte nur Eins: es war vorbei. Still, mit überströmenden Augen, ging sie umher, ordnete, glättete hier und dort, berührte, wie liebkosend, jedes Geräth. Kaum wagte sie zu athmen, als ob ein Seufzer schon den Hauch von Gegenwart verscheuchen könnte, der hier noch zögerte und für ihr Empfinden noch Alles füllte, wie der Odem der Natur die Welt füllt. Auf dem Tische des Schlafzimmers, wo Fügen mit Vorliebe zu arbeiten pflegte, obgleich ihm andere anstoßende Räume zu Gebote standen, lag neben dem Schreibzeug eine Feder; es war ein Kiel, wie ihn der Meister stets zum Notenschreiben benützte. Wie manchesmal, wenn sie ihm eine Erfrischung in das Zimmer getragen, hatte sie solchen Kiel in der Hand gesehen, die Melodien festbannte. Feines Roth stieg ihr bis unter die Haare; sie streckte fast scheu die Hand aus und barg die Feder in ihrem Gewande. Als sie dann in das Musikzimmer hinaustrat, lag auf dem Pult des geöffneten Flügels ein Heft. Sie beugte sich hinab; ihr ahnte schon, was das sei. Ja wohl zögerte hier noch seine Seele. Genoveva’s durchcomponirte Lieder füllten die Blätter, welche des Mädchens Hand jetzt langsam umwendete. Seltsam zwiespältiges Empfinden ergriff sie. Zwei Seelen zugleich blickten ihr entgegen, die der Herrin und die seine; diese Gemeinsamkeit that ihr wehe. Während sie vor dem Flügel saß und, die Linke auf den Tasten ruhend, Seite um Seite durchblätterte, flog ihr Auge über die Textesworte, welche er gewählt. Das Meiste war ihr unbekannt; die letzte Seite trug die Ueberschrift: Scheiden.
Auch die Rechte sank nun auf die Tasten nieder; halb unbewußt schlug Jana die einfachen Accorde der Begleitung an, und mit leiser, durch das heftige Klopfen ihres Herzens halb erstickter Stimme intonirte sie die schlichte, innige Weise:
Leb’ wohl, leb’ wohl! kurz ist das Wort,
Der Inhalt aber tief –
Lang tönt es noch im Herzen fort,
Nachdem der Mund es rief.
Auf Wiederseh’n! melodisch Wort,
Voll Trug und Süßigkeit,
Du ruhst als tief verhüllter Hort
Im Schooß der Ewigkeit.“
Ihre Stimme brach in Schluchzen. Um wen weinte sie so trostlos? Um den Lebenden, oder um einen Todten?
[569]
Seit einem Jahre hatte Richard Fügen die Stellung in Prag, welche ihn nach seinem Scheiden von der Moosburg längere Zeit fesselte, mit einer andern, ihm mehr zusagenden vertauscht. Er war einem Rufe nach S. als Director eines dort unlängst gegründeten Musikinstitutes gefolgt, und waren auch weder Gehalt noch Wirkungskreis ersten Ranges, so bot sich doch gerade das, was ihm zusagte: Frei von jeder andern Aufgabe, als der, eine Musikschule und den Domchor zu leiten, fand er Muße genug zu ungestörtem künstlerischem Schaffen.
Als er aus dem weiten, von großartigen Schneehäuptern begrenzten Thalgrunde in den malerischen Bergpaß einfuhr, in dessen Schooße die schöne Stadt so vornehm ruht, wallten und sprühten seine Lebensgeister in die Wette mit dem grünen Gebirgsstrome, welcher plätschernd vor ihm hereilte. Wer je den Alpen nahe gelebt hat, wird den Zug nach ihnen nicht wieder bannen. Der erste Eindruck, dessen sich Richard Fügen bewußt wurde, glich einem Heimathsgefühle und bestätigte sich ihm bald in erfreulicher Weise; denn alle Verhältnisse, in denen sich sein Leben hier bewegte, gestalteten sich befriedigend; er fühlte sich in seinem neugewonnenen Berufe wohl. In der Stellung eines Capellmeisters liegt für den Musiker ein großer Reiz; stellt sie doch Kräfte zu seiner Verfügung, über die er im vollen Sinne des Wortes nur den magischen Stab zu schwingen braucht, um den ihm werthvollsten Inhalt des Lebens zum Ausdrucke zu bringen.
Aber nicht nur in seinem Wirken nach außen hin fand Fügen Befriedigung, er hatte sich auch sein häusliches Leben schon seit Jahren behaglich eingerichtet. Seine Haushälterin, die alte, noch flinke Resi, hielt zwar ihren Herrn in gewissen Punkten etwas unter dem Pantoffel, wäre aber für ihn durch alle Feuer gegangen und verstand sich vollkommen auf seine Art und Weise. Daß sie ihm von Prag nach S. folgte, erschien Beiden als selbstverständlich; sie hatte die von ihm hier gewählte Wohnung so gefällig und behaglich einzurichten gewußt, daß er sich nicht ohne eine Art naiven Stolzes „daheim“ umschaute.
Aber heute fühlte sich der Herr Capellmeister in seiner freundlichen Wohnung nicht recht wohl. Obgleich erst der September zur Rüste ging, stürmte es doch draußen schon herbstlich, und zum ersten Male fiel es Fügen auf, wie rasch die Tage abnahmen. Draußen plätscherte der Regen, leise, unermüdlich; im Zimmer über ihm wurde Clavier gespielt – das zog ihm die Stirn kraus und verbesserte keineswegs seinem Humor. Er streckte die Hand nach der Klingelschnur aus, ohne dieselbe jedoch zu ziehen, und griff dann plötzlich nach Hut und Ueberzieher, um seine schlechte Laune spazieren zu führen.
Dieses probate Mittel, das fast etwas von homöopathischem Beigeschmack hat, versagte auch heute seine Wirkung nicht; denn Sturm und Regen, welche den Menschen zum Kampf herausfordern, sei es auch nur zu dem zwischen seinem Schirm und dem Winde, schlagen die gewöhnliche Species üblen Humors meist in die Flucht – so auch hier! Während Fügen auf seinem Gange durch die Straßen an St. Peter vorbeikam, drangen durch die schwach erleuchteten Fenster der Basilika langgezogene Orgeltöne. Die vereinzelten Klänge mischten sich mit dem Plätschern des Regens und des Petrus-Brunnens, und plötzlich trat dem Capellmeister ein Motiv klar vor die Seele, das seit Tagen schon immer vor ihm her in den Lüften geschwebt hatte, ohne sich ergreifen zu lassen.
Eilig machte er sich aus der Heimweg und kam triefend und durchfroren, aber seelenvergnügt in seiner Clause an, wo bereits die brennende Lampe seiner harrte. Es gehörte zu Fügen’s Eigenthümlichkeiten, daß er es nicht leiden konnte, in ein finsteres Zimmer zu treten; bis seine sparsamkeitsbeflissene alte Köchin sich dieser „Verschwendung“ gefügt, hatte es manchen Kampf gekostet, und noch jetzt erlebte der Hausherr zuweilen, daß er, von der Straße aufblickend, oben alles dunkel fand und die Sünderin überführen konnte, heimtückisch auf der Lauer gestanden, und sich erst des Gehorsams befleißigt zu haben, während er bereits die Treppen erstieg.
Als er, aus den nassen Hüllen geschält, jetzt in sein Zimmer trat, schimmerte ihm zur Erhöhung der glücklich gewendeten Laune von einem Tischchen her etwas Weißes entgegen. Heimzukommen und einen Brief vorzufinden gehörte für Fügen zu den guten Dingen einer Welt, die ihm überhaupt in keiner Weise als schlechte erschien. Er hatte noch niemals Anlaß gehabt, sich vor verschlossenen Briefen zu fürchten, correspondirte überhaupt nur mit Befreundeten oder den Verlegern seiner Compositionen, und durfte von Beiden meist Günstiges erwarten Dennoch grüßte er den stummer Gast vorläufig nur mit einem Augenzwinkern, setzte sich sogleich an den mit rastrirtem Papier bedeckten riesengroßen Schreibtisch und zeichnete sein Motiv auf.
Als nach geraumer Zeit die Wirthschafterin eintrat, um für das Abendbrod zu decken, und nun den Brief sachte auf den Schreibtisch legte, streifte sein Blick zerstreut die Adresse, blieb aber sofort daran hängen. Eilig streckte er die Hand aus, der Brief [570] zu ergreifen, während er aber sonst jedes Couvert aufzureißen pflegte, prüfte er dieses so genau, als wäre noch etwas anderes viel Bedeutsameres darauf verzeichnet als sein eigener Name; er griff dann nach der Scheere, um es behutsam am Rande zu durchschneiden. Seine Brauen bewegten sich, indem er das dichtbeschriebene Blatt entfaltete. Lange, lange hatte er die Züge dieser Hand nicht mehr erschaut.
Gleichsam in Uebereinstimmung mit seinen Gedanken begann Genoveva’s Brief in gleichem Sinne:
Jahre sind vergangen, seit wir zuletzt von einander gehört, lieber Freund. Sicher gab es Gründe, welche Ihnen versagten, uns durch ein Wiedersehen zu erfreuen, obgleich Sie uns seit einiger Zeit nahe leben. Ihrer Gesinnung bin ich so sicher, daß ich Sie heute unbedenklich frage, ob Sie sich des Wortes noch entsinnen, welches Sie einst zu mir gesprochen: Sie wären bereit, Alles für meinen Siegmund zu thun? Damals antwortete ich Ihnen, daß ich Sie vielleicht einmal hieran erinnern würde. Es ist lange her, acht Jahre – aber Raum und Zeit ist keine Schranke zwischen Freunden, und ich spreche darum ohne Rückhalt.
Siegmund hat sein dreizehntes Jahr zurückgelegt, bis jetzt an meiner Seite. Ernste Gründe gebieten mir nun, ihn von mir zu geben. Ich wünsche nicht nur ihn eines weiteren, freieren Athemzuges theilhaftig werden zu lassen, sondern habe für die nächsten Jahre selbst einen Weg vor mir, auf dem mein Sohn mich nicht begleiten kann. Während dieser Zeit möchte ich ihn der Leitung eines Mannes anvertrauen, auf den ich mich in jedem Sinne verlassen darf, und ich kenne einen solchen Mann. Würden Sie, mein Freund, sich entschließen, Siegmund bis nach seiner vollendeten Berufsausbildung in Ihr Haus zu nehmen, ihm Schutz und Führung zu gönnen, als sei er Ihr eigener Sohn? Ich wäre dann ruhig.
Ich blieb nie ohne Kenntniß Ihres Aufenthaltsortes und Ergehens. Ich weiß, daß Sie unverheirathet geblieben; doch haben Sie sich ein Heimwesen gestaltet, genießen einer festbegründeten bürgerlichen Stellung und haben bleibende Stätte. Unter solchen Verhältnissen steht die Aufnahme eines jugendlichen Haus- und Lebensgenossen nicht außer Frage.
Sollte mein Vorschlag Ihnen dennoch störend sein, so rechne ich auf die Offenheit, welche Freunde einander schuldig sind. Siegmund folgt in diesem Falle seinem bisheriger Hofmeister nach Wien. Stimmen Sie zu, so wünsche ich Ihnen meinen Sohn selbst vorzustellen; erst dann, wenn Sie sich überzeugt, ob der Knabe Ihnen dieselbe Sympathie weckt, welche das Kind Ihnen abgewann, verabreden wir Weiteres.
Ich stelle es in Ihre Entscheidung, ob Sie uns in S. erwarten oder uns auf der Moosburg besuchen wollen.
Auch in dem Falle, daß Sie Gründe wider meinen Vorschlag haben, wäre es mir, wie uns Allen, sehr erwünscht, Sie hier zu sehen. Sie finden Menschen und Dinge so unverändert, wie dies nach Verlauf von Jahren überhaupt möglich ist, unverändert vor Allem das herzliche Gedenken an gemeinschaftlich verlebte Zeit.
Fügen saß eine ganze Weile regungslos da; er hatte den Kopf auf die linke Hand gestützt, während die rechte durch den Haarbusch fuhr und dort, als Signalement für ein scharfes Gefecht hinter der Stirn, das übliche Chaos anrichtete.
Resi, die vorhin zu ihrem Schrecken den Hausherrn über den Notenblättern gefunden, welche ihren fertigen Mahlzeiten oft genug verderbliche Concurrenz machten, hatte eiligst ihre Schüsseln aufgetragen, als sie sah, daß er den Brief zur Hand nahm. Zweimal war aber die Meldung: „Es ist angerichtet, Herr Capellmeister,“ an dem achtlosen Ohre verhallt. Jetzt räusperte sie sich kräftig und sagte, als auch diese Mahnung erfolglos blieb, im Ton einer schwer gekränkter Seele: „Das Gebachene wird kalt. Es ist angerichtet, gnä’ Heer.“
Er wendete den Kopf. Ein Freudenblitz schoß aus seinen Augen; wie ein Jüngling sprang er aus, faßte die alte Person an beiden Schultern und drehte sich um und um. „Hurrah, Resi! Wir kriegen einen Sohn.“
„Was wär denn das?“ rief die Alte mit weit aufgerissenen Augen und vergaß nun selbst auch ihr „Gebachenes“.
„Einen Sohn!“ wiederholte Fügen, und all die kleinen Fältchen um seinen Mund regten und rührten sich. „Bring’ Sie mir meinen Ueberzieher! Ich will gleich um Urlaub nachsuchen – morgen oder längstens übermorgen geht’s fort.“
„Urlaub nachsuchen? Jetzt? Bei nachtschlafender Zeit? Den Rock hab’ ich zum Trocknen aufgehängt; der tropft wie eine Dachrinne, und ’s Essen steht auf dem Tisch, und die Herren sind um diese Zeit allesammt beim Wein.“
Das leuchtete dem Eifrigen ein; richtig, bis morgen früh mußte man warten. Er setzte sich an den Eßtisch und sprach lebhaft weiter, während Resi die Schüsseln abdeckelte.
„Ich verreise also nächster Tage, so für eine Woche denke ich. Dann wird Sie schon sehen, wen ich mit heimbringe.“
„Ist’s wirklich und wahrhaftig Ihr Sohn?“ fragte sie mißtrauisch. „Hab’ doch nie vernommen, daß der Heer Capellmeister ein Wittiber wäre.“
Er schüttelte lachend den Kopf.
„Das grüne Gastzimmer thut’s, aber es muß noch allerhand hinein! Morgen geht Sie einkaufen – ein nettes Bücherschränkel und ein Schreibpult und was sonst fehlen möchte. Und daß Sie mir alles schön ausputzt! Es muß ganz schmuck ausschauen und so recht behaglich. Keine Sparerei, wie Sie das gern prakticirt, alles Nummer Eins!“
„Na, na, nur stat! Das ist mir ja ein absonderlicher Gast, für den so mit allen Glocken geläutet werden soll,“ staunte die Alte und füllte das mit einem Zuge geleerte Kelchglas des Herrn auf’s Neue mit rothem Tiroler.
„Kein Gast!“ Er ward plötzlich schweigsam und versank in heiteres Sinnen. Das süße, sinnige Kindergesicht tauchte wie leibhaftig vor ihm auf, und zugleich Bild nach Bild aus unvergeßlichen Zeiten. Nichts Störendes mischte sich in die Freude, welche ihm die Adern durchströmte wie feuriger Wein. Ist es doch eines der größten Geschenke, welche die Zeit dem Menschen gönnt, daß sie alles Dunkle verzehrt, jedes Fünkchen Licht aber hell entfacht und verklärt. Das Vergangene glänzt. Was an Trübem, Leidenschaftlichem darin gährte, verrinnt in jenen Strom, welcher all unser Erlebtes aufnimmt, wie Bäche, die ihn verstärken. Es ward Fügen zu Muthe, als sei er plötzlich mit einer großen Gabe beschenkt worden; seine Zusammengehörigkeit mit den Menschen, welche ihm unter Allen, denen er je begegnet, die Bedeutendsten geworden, kam ihm stark zum Bewußtsein. Seit er von ihnen geschieden, war eine Reihe von reich ausgefüllten Jahren an ihm vorübergegangen, aber keines derselben hatte ihm Stunden gebracht, wie er sie auf der Moosburg verlebt. Das stand einzeln, mit nichts vergleichbar in seiner Erinnerung. Lange hatte er sich mit dem heftigen Zuge, dorthin zurückzukehren, herumgeschlagen. Auch dies kam zur Ruhe, doch blieb eine Lücke übrig, deren er sich endlich kaum mehr bewußt gewesen, die ihm erst heute, als sie sich füllte, deutlich fühlbar ward. Acht Jahre! Zeit genug, jeden Rausch zu beschwichtigen; weit mehr Zeit, als nöthig, ihn bis zum letzten Hauche verfliegen zu machen, wenn es nur ein Rausch gewesen. Jede wahre Leidenschaft birgt aber Besseres, als nur den Hang nach Befriedigung; etwas von dem Mitgefühl, welches sich der gesammten Menschheit gegenüber Erbarmen nennt, wächst sich im Herzen fest und läßt den Funken nicht sterben. War Genoveva’s ferne Gestalt neuerdings vor ihm angestiegen, so sprach sein Empfinden nur noch das eine Wort: Könnte ich Dir helfen!
Daß sie seiner jetzt wirklich bedurfte, sich ihm zuwandte, als es solches Bedürfen galt, erfüllte ihn mit Stolz und Freude. Voll Spannung dachte er, wie Siegmund sich entwickelt haben würde; aus dem interessanten Kinde mußte ein Knabe erwachsen sein, mit dem zu leben sich’s verlohnte. Bei dieser Vorstellung ward dem Einsamen warm und wohl. Die freudig angeregten Gedanken schweiften den nächsten Tagen voraus. Wie er wohl Alles auf der Moosburg finden würde? Unverändert – schrieb Genoveva. Kaum denkbar! „Die Kinder sind doch älter, und wir Andern wahrhaftig nicht jünger geworden – Jana?“ Er lächelte dem feinen Blumengesichte in Gedanken zu. Das war inzwischen wohl verblüht; sie mußte nun beinahe Dreißig zählen, wesentlich verändert konnte er sie sich aber wirklich nicht vorstellen – auch Lois, ihren Bruder, nicht. Maxi aber und vor Allem Siegmund! An diesem blieben seine Gedanken haften, die ihn bereits als Eigenthum ergriffen hatten; die sonnigen blauen Augen folgten ihm bis in die Träume der Nacht.
Der Postillon schmetterte sein „Gott erhalte Franz den Kaiser!“ in den hellen Octobermorgen hinein, während die alte, gelbe Karriole durch die Fahrstraße von Lahnegg rasselte. Nur ein Passagier saß im Innern, doch konnte er für zwei gelten, da sein buschiger Kopf bald zum rechten, bald zum linken Wagenfenster hinausfuhr, als wollte er jedes Haus und jeden Steig zu gleicher Zeit in’s Ange fassen. So kam es, daß er schon von Weitem dem schlanken Jünglinge sichtbar wurde, der einige Schritte vom Posthause entfernt stand und sich demselben rasch näherte, als der Wagen still hielt. Sein schmales Gesicht färbte sich leicht, und die grauen Augen blickten dem Ankömmling so beredt entgegen, daß Fügen keinen Moment in Zweifel darüber blieb, wer ihn hier erwartete.
„Lois!“ rief er froh, indem er niedersprang und dem jungen Menschen beide Hände entgegenstreckte. „Das ist ja schön.“
„Grüß Gott, Herr Fügen!“ sagte Lois mit wohlklingender, tiefliegender Stimme, welche Fügen mehr noch als seine Erscheinung an die Reihe von Jahren mahnte, welche seit dem Verkehr Beider als Lehrer und Schüler verflossen waren. Der hochaufgeschossene Seminarist erschien in der langen Soutane noch größer, als er wirklich war. Schon beschattete dunkler Flaum seine Lippen, und in dem intelligenten Gesichte trat ein prägnanter Ausdruck von Kraft hervor. Doch wölbte sich die entschlossene Stirn auch jetzt noch über dämmernden, etwas verschleierten Augen, deren rascher Freudenblitz sich nach der ersten Begrüßung in Stille verlor.
„Ich kam im Auftrage der gnädigen Frau mit dem Einspänner des Auwirthes,“ sagte er, während er dem Reisenden seinen Mantelsack aus der Hand nahm.
„Fahren? Nicht doch!“ sagte Fügen. „Ich habe mich seit einer Stunde schon darauf gefreut, durch den Ort und über die Wiesen zu gehen. Der Reisesack mag sich kutschiren lassen; wir Zwei wollen wandern.“
Während Lois dem vor der Thür des Judenwirthes harrenden Kutscher das leichte Gepäck übergab, ließ Fügen seine Augen über den wohlvertrauten Platz schweifen, auf dem sich nichts verändert hatte. Dort der Brunnen mit den verwitterten Umfassungsmauern drüben das alte von der Straße etwas zurückweichende Wirthshaus, daneben dessen tiefschattiger Garten, wenige Schritte weiter der rothe Spitzthurm des hochgelegenen Pfarrkirchleins! Das Rauschen des Alpbaches drang Fügen in’s Ohr, und der Ton klang wie Heimathslaut. Nun lief der Postexpeditor aus seiner Bude, ihn zu begrüßen – dasselbe treuherzige, nur etwas faltiger gewordene Gesicht von einst! Die Judenwirthin kam über die Straße und bot ihm schon von Weitem die Hand entgegen. Ein Gefühl von Heimkehr überwallte ihn so warm und wohlig, wie seit seiner Knabenzeit nicht mehr, und wuchs, während er nun durch den Ort schritt, wo die Leute feiernd auf den Bänken vor ihren Häusern saßen. Alles erschien ihm geschmückt und festlich. Rothblühendes Bohnengeranke, purpurfarbiges Weinlaub spann sich über die Wände; vom First der steinbeschwerten Dächer hingen goldige auf Schnuren gereihte Maiskolben in Girlanden nieder und berührten fast die blaßrosa Hortensien, welche auf dem Sims der „Lauben“ gereiht standen. In dem kleinen Garten erhoben sich hochstämmige Malven in buntem Flor. Das Alles hatte er ganz ebenso gesehen vor langen Jahren, und die Menschen schienen ihm auch ganz dieselben zu sein wie damals. Er wunderte sich durchaus nicht, von allen Seiten erkannt und begrüßt zu werden, als sei er gestern erst von hier fortgegangen; der Gedanke, daß seine Ankunft durch Lois und den wartenden Wagen angekündigt worden, kam ihm nicht einmal in den Sinn; er nickte nur und warf fröhliche Worte nach rechts und links.
Erst als Lois das Pförtchen zurückschlug, welches durch leichte Umzäunung in Wiesen- und Waldrevier führte, verstummte der Wanderer. Wie oft war er in Gesellschaft Jana’s und der Kinder diesen seinen Lieblingsweg gegangen! Die Sonne stand bereits hinter den Bergen, welche ihre zackigen Schatten weithin über noch frischleuchtenden Wiesengrund warfen; dieser führte, langsam aufsteigend, durch ein kleines, vom Herbst über und über vergoldetes Gehölz.
Auf der Höhe, wo sich der Blick auf die Flußebene öffnete und die Burg in das Bild trat, stand Fügen stille. In alter Schöne prangte das Gebirge; hoch mit Schnee bedeckt glänzten seine Häupter über dem blitzenden Strom; das Womperjoch stand im Purpurschein. Nur für kurze Momente hing das Auge des Wiederkehrenden an der lauteren Herrlichkeit des Bildes; dann kam es über ihn, als sei jeder Augenblick des Zögerns eine Verschwendung, und Fuß und Sinn drängten dem Ziele um so eifriger zu. Der junge Begleiter vermochte nur eben Schritt mit ihm zu halten.
„Es ist doch schön, daß Sie mich einholen kamen, Lois,“ sagte er fröhlich. „Hatte nicht auch Siegmund Lust, von der Partie zu sein?“
„Lust genug,“ entgegnete der junge Mensch mit einem Lächeln, das seinem festgezeichneten Munde besonders gut stand. „Seine Mutter bat ihn aber zu Hause zu bleiben, und wenn die bittet, dann thut oder läßt er Alles, so brennend er auch darnach verlangen möchte. Ich glaube, die gnädige Frau hält darauf, dabei zu sein, wenn Sie unsern Siegmund treffen Und sie hat Recht. Uebrigens – was ich schon vorhin bitten wollte, Herr Fügen: sprechen Sie doch nicht so fremd zu mir! Noch bin ich Schüler, wie zur Zeit, als Sie sich meiner annahmen, und ich hörte so gern wieder das alte Du.“
Fügen schüttelte den Kopf und streifte mit der Hand leicht über das Gewand, welches des Jünglings künftigen Stand bezeichnete. Der ehrliche Blick, welcher ihm begegnete, gewann es ihm dennoch ab.
„Na, für die paar Tage, für diesmal mag’s noch gelten, lieber Geselle,“ sagte er. „Jetzt erzähl’ mir aber von der jungen Gesellschaft, von Siegmund, aber auch von der Maxi! Im Briefe, der mich herbeschied, stand von ihr kein Wort; sie ist doch noch auf der Moosburg? Ich bin neugierig, was aus dem Blitzmädel für ein Kräutlein geworben ist. Was treibt sie, was hat sie gelernt? Ist sie noch immer Dein Verzug?“
Lois’ freie Stirne trübte sich.
„Was hätten wir viel mit einander zu theilen!“ sagte er herb. „Spielzeit ist vorbei, und die Maxi hört nicht. Seit sie aus der Schule ist, hat sie von meiner Jana gelernt, Blumen und Kränze zu winden; darin ist sie geschickt, und verdient sich ihr Gewand damit.“
„Schau, schau! ist das Sprühteufelchen so seßhaft geworden? Dann hat sie Jana auch wohl noch mehr abgesehen, als Kränze winden?“
„Ist nicht weit her,“ sagte Lois rasch und brach dann ab. Seine ernsten Augen wurden weich. „Meiner Jana ließe sich freilich viel absehen, gleich sehen wird ihr aber nicht leicht irgend wer. Ich möcht Ihnen lieber nichts von ihnen Allen berichten, Herr Fügen. Sie sind ja bald mitten drinnen – es dünkt mich gar sonderbar über die eigenen Leute zu reden, und – die auf der Moosburg kommen mir eben vor wie meine Leute, wenn mir auch Keiner verwandt ist, außer der Jana.“
„Dann erzähle mir vom Lois!“ lächelte Fügen; „dagegen wirst Du wohl nichts einzuwenden haben – wie? Daß Du Deine geistlichen Gedanken festgehalten hast, sehe ich. Nun möcht ich auch erfahren, wie es mit der Musik stehst und ob es Dir im Seminar behagt?“
Der junge Mensch antwortete nicht gleich.
„Von Musik kann nur wenig die Rede sein,“ sagte er mit einem leichten Seufzer. „Das ist der Regel unterworfen, wie alles Andere. In den Ferien aber – ganz verlernt hab’ ich’s nicht; ich übte, wo und wie es möglich ward, und Jana läßt sich gern von mir begleiten. Im Uebrigen – jeder Beruf legt seine Opfer auf.“
„Wie alt bist Du jetzt?“ fragte Fügen nachdenklich. „Siebenzehn, wenn ich mich recht entsinne? Richtig! Hm! Weltentsagung ist ein großes Wort. Du wirst darüber mit Dir im Reinen sein. Manch ein Ding, was jeder Andere darf, muß Hochwürden der Herr Curat bleiben lassen.“
Lois’ Wangen färbten sich tief.
„Das gerade ist schön. Wenn der Geistliche nicht wie jeder Andere darf, so zeigt das nur, wie hoch ein Priester steht. Er muß in der Gemeinde sein, wie die Kirche unter den Häusern, fester aufgebaut und höher als Alles, was um ihn her ist. Und was dürfte man denn nicht? Ich möchte kein Mönch werden, der sich lossagen soll von jeder Liebe und jedem Umgang, aber thun möchte ich, wie unser Herr Jesus, der auch der Welt entsagt hat und doch mitten unter den Menschen wohnen geblieben ist und Theil genommen hat an all ihrem Leid und Freud’ und für sich selber nichts begehrt hat, als die Menschen in’s Himmelreich zu führen – das kann nicht allzu schwer sein und Schöneres giebt es nirgends.“
[572] Fügen drückte des Jünglings Hand, ohne ein Wort zu entgegnen. Er wußte kaum, ob es Befriedigung oder Trauer war, was er ihm gegenüber empfand. So viel edles Feuer in seinem jungen Freunde! Aber wäre ihm nur Raum gegeben zu freierem geistigen Fluge! Die Ueberzeugung, daß große Enttäuschungen dieser jungen Seele bevorstünden, drängte sich ihm schmerzlich auf. „Stoff zu etwas Großem!“ dachte er, „allzu großartiger Stoff für einen Dorfpriester!“ Und wieder hielt sein Gedanke still; Schilderungen, die er vom Leben der Gebirgspfarrer vernommen, stiegen seiner Erinnerung auf. Wie konnte so ein Pfarrer menschlich schön und groß wirken! Welcher Hingabe bedurfte es, im Hochgebirge, inmitten armer, weit zerstreuter Gemeinden, in tiefer geistiger Einsamkeit auszudauern, arm an Genuß, reich an Opfern und Entsagung, selbst an Gefahren! In solchem Beruf war Kraft und Feuer nicht verschwendet; es bedurfte dessen in seltenem Maße, um nicht zu erlöschen, das karge Leben von innen heraus zu nähren und zu erwärmen. Die bewegliche Phantasie Fügen’s gestaltete ein Zukunftsbild, das sein Denken so erfüllte, daß er die Scenerie um sich her vergaß und im Geiste zwischen jäh niederfallenden Alpenwänden steile, schneebedeckte Pfade wanderte. Und doch schritt sein achtloser Fuß bereits den Hügel zur Moosburg hinan. Auf überraschende Weise ward er hieran erinnert; aus dem Buschwerk zur Rechten des anssteigenden Weges brach mit freudigem Gebell der Neufundländer, stürzte dem Ankömmling entgegen, hob sich wie zum Sprunge und ließ, als Zeichen des Wiedererkennens, die beiden Vordertatzen auf Fügen’s Schultern nieder. Ehe sich dieser so recht auf die Situation besonnen hatte, klang helles Lachen auf.
Unwillkürlich wendete er den Kopf und erblickte zwischen dem goldigen Land der Büsche einen dunklen Mädchenkopf, dessen große Augen ihn anleuchteten; das glühende, blühende Gesicht lachte über und über. Halb verlegen, halb ärgerlich strebte er sich der Zärtlichkeiten des vierfüßigen alten Freundes schleunigst zu entledigen ehe dies ihm aber gelungen, war die Erscheinung schon verschwunden. Endlich frei geworden, wandte er sich lebhaft gegen Lois. „Wer ist das gewesen?“
„Das fragen Sie, Herr Fügen? Natürlich die Maxi!“
„Warum nicht gar! Die ist ja noch ein Kind – dieses bildschöne Geschöpf aber –“
„Sie war’s,“ murmelte der junge Mensch.
Ehe Fügen hierauf erwiderte, hatte sein der flüchtigen Erscheinung nachspähender Blick das Haus gestreift und haftete nun an einem der Fenster. Mutter und Sohn standen innerhalb desselben, und ein weißes Tuch flatterte zum Willkommgruß. Fügen’s Herz begann rascher zu schlagen. Eine starke Aufregung ergriff ihn plötzlich; ohne ein weiteres Wort, ohne um sich zu schauen eilte er vorwärts durch die wohlbekannte Pforte, die Treppen hinauf, dem Terrassenzimmer zu, wo ihm die beiden Gestalten erschienen waren. Als er die Schwelle überschritten hatte, sah er im ersten Moment nur Genoveva. Ja, sie war es, in ihrer ganzen Macht. Als sie auf ihn zutrat und ihm die Hand bot, traf es ihn wie mit einem elektrischen Schlage. Der dunkle, magnetische Blick setzte sein Innerstes in jähe Bewegung, als sei ein Pendel, der lange stillgestanden, plötzlich berührt, und die Uhr schlüge nun den alten Tact, nachdem sie Jahre hindurch tief geschwiegen. Aber nicht umsonst geht ein Mann in kräftigem Wirken und Schallen durch eine Reihe von Jahren. Richard Fügen empfand die Gewalt Genoveva’s, gleichzeitig blieb er sich aber des Willens bewußt. Mit festem Händedruck erwiderte er die Begrüßung der edlen Frau, und schon im nächsten Moment leuchtete ihm wieder schöne Freude aus den Augen.
[585] „Mein Sohn!“ sagte Genoveva mit einem Blick auf den im halben Wege stehen gebliebenen Knaben und wich etwas zurück. Fügen streckte beide Hände nach Siegmund aus und betrachtete ihn, während er ihn festhielt, mit so spähender Liebe, als stünde sein eigener Sohn vor ihm. Wie hatte sich Siegmund verändert! Vergebens forschte Fügen nach einer Spur der seiner Erinnerung so lebhaft eingeprägten kindlichen Züge. Selbst die Augen blickten ihn anders an; noch hatten sie ihr feuriges Blau, aber das Träumerische, welches einst mit so sprühendem Glanze abgewechselt, war einem bewußteren Ausdrucke gewichen. Fein, etwas zurückhaltend erschien der Ausdruck des festen Gesichtes, trotz der offenen Stirn, dem Lächeln, welches eben jetzt um den Mund des Knaben spielte. Der zartgebaute Körper verrieth ein Vorherrschen des Nervensystems, ohne doch von Schwäche zu zeugen. Leichte, wenn auch selten nur rasche Bewegungen, und eine stolze Haltung des Kopfes verliehen der ganzen Erscheinung etwas Ausgezeichnetes.
„Und das wäre also der kleine Sigi,“ sagte Fügen. „Schon jetzt mir beinahe über den Kopf gewachsen; was soll das geben, wenn wir zusammen hausen!“
„Sie bringen uns Ihr Ja!“ rief Genoveva erfreut „Doppelt willkommen mit so guter Botschaft!“
„Wenn Telemach einstimmt – Mentor ist’s zufrieden.“
„Ich hätte Sie überall erkannt,“ sagte Siegmund freundlich, „und weiß noch gut, wie viel Sie mir zu Liebe thaten. Wohin könnte ich lieber gehen, als zu Ihnen, dem Freunde meiner Mutter, dem – Meister,“ setzte er mit leisem Nachdruck hinzu.
Fügen verstand ihn sogleich.
„Du liebst die Musik noch?“ rief er voll Freude.
„Sie ist mein Leben,“ sagte Siegmund mit flüchtigem Seitenblick auf seine Mutter.
Der leicht bewegliche Mann war bezaubert. In raschem Impuls umfaßte er die Schultern des Knaben:
„Wir werden uns verstehen“ sagte er und mit lebhaftem Blick aus Genoveva: „Ich danke Ihnen.“ .
Es entstand eine kurze Pause des Schweigens, in deren Stille leises Klirren aus dem anstoßenden Zimmer hineintönte.
„Maxi rumort, und Jana – wartet,“ sagte Frau von Riedegg lächelnd. „Uebrigens muß unser Reisender hungrig sein. Zu Tische also! Morgen verhandeln wir Ernsthaftes, heute aber wollen wir vor Allem der Freude leben. Sie wieder zu haben. Wir behalten Sie doch einige Zeit?“
„Ich habe acht Tage Urlaub,“ sagte Fügen. „Spätestes am Ersten muß ich wieder in die Pflicht. Acht Tage aber! da gehen viel gute Stunden hinein, vorausgesetzt, daß Sie mich so lange beherbergen wollen.“
Er folgte Genoveva, welche schon die Thür zum Eckzimmer geöffnet hatte, aus welchem heller Lichtschein drang. Da inzwischen Dämmerung eingefallen, waren dort bereits die Läden geschlossen und die Ampel entzündet worden. O, wie es ihn anheimelte, dieses dunkelgetäfelte , wohlvertraute Gemach, über dessen unveränderte Einrichtung sich das weiße Licht ergoß! Sein Blick streifte wie liebkosend darüber hin, während er auf der Schwelle zögerte, vor Freude gebannt, wie das Kind beim ersten Anblick seiner Weihnachtsbescherung.
Elastischen Schrittes eilte ihm eine helle Frauengestalt entgegen – Jana’s sympathisches Gesicht erhob sich zu ihm.
„Endlich,“ rief sie innig, „endlich suchen Sie uns heim!“
Wie das in ihm nachhallte – „Endlich!“ dachte auch er und staunte heimlich, wie er doch so lang hatte fortbleiben mögen. Stilles, freudevolles Staunen beherrschte überhaupt sein Empfinden, während sich Minuten zu Stunden reihten. War ihm doch, als wäre die Zeit stille gestanden, seit er zuletzt an diesem runden Eßtische gesessen, der auch damals, als die ersten herbstkühlen Tage kamen, im Wohnzimmer gerüstet worden. Die Majoliken blickten vom Schranke, und drüben aus dem Eichentische am Ofen schimmerten silberne Flitter. Alles wie sonst – nur der Kreis war vergrößert, Jugend an Stelle der Kindheit getreten, mit ihrem eigenen Leben und Streben daran mahnend, wie manches Jahr vergangen, und daß Jahre auch um die Menschen Ringe ziehen, wie um Bäume.
Das Gespräch floß leicht und heiter dahin, an Vergangenes anknüpfend, zu Gegenwärtigem überspringend. Obgleich es nur Thatsachen berührte und Fügen voll und ganz dem glücklichen Augenblick lebte, ohne an Prüfen und Vergleichen zu denken, fiel ihm doch schon in dieser ersten Stunde aus, welche bestimmten, von einander gesonderten Individualitäten hier mit und durch einander lebten. Dies galt wesentlich für die junge Generation.
In Lois schien der künstlerische Hang, welcher sein frühes Knabenalter bezeichnet, erloschen oder bezwungen; nichts Unmittelbares kam zu Tage, während er mit freier, bescheidener Sicherheit am Gespräch Antheil nahm; Alles erschien überlegt, gewollt. Siegmund, der, im engsten Umkreis aufgewachsen, kaum mehr vom Leben wissen konnte, als er gesehen hatte, setzte Fügen durch manche hingeworfene Aeußerung in Erstaunen; er sprach nicht oft, in jedem seiner Worte lag aber etwas Frisches und Bedeutendes, dessen Kern seinem Alter vorauseilte und dennoch selbst im Munde eines Kindes einfach geklungen hätte. Am schweigsamsten erwies sich [586] Maxi, welche während der Mahlzeit ein und aus huschte, die Speisen auftrug und die Gäste mit flinker Gewandtheit bediente. Erst nach beendeter Mahlzeit, als die kleine Gesellschaft nach dem Eichentische übersiedelte, setzte sie sich dort zwischen die Anderen und begann an ihren Blumen zu arbeiten. Bei jedem flüchtigen Blick aus das Mädchen war Fügen von Neuem frappirt. Kein Wunder, daß er sie nicht erkannt hatte – wer hätte in diesem reinen Oval, der warmem aber klaren Färbung dieses schönen Gesichtes wohl des Wildfangs rundes, dunkles Köpfchen wiedergefunden? Klein von Wuchs, auch heute noch geschmeidig wie ein Kätzchen, war Maxi nach Formen und Bewegungen ein Kind; nichts Kindliches lag aber im Ausdruck ihrer fast übergroßen schwarzen Augen, deren eigentümlich rascher Ausschlag um so mehr etwas Blendendes hatte, als die gebogenen Wimpern sich ebenso plötzlich wieder senkten. Während sie, mit ihren Flittern und grünen Blättern beschäftigt, dem Gaste gegenüber saß, richtete er neugierig öfters das Wort an sie, erhielt aber zur Erwiderung nur einen Blitz der schwarzen Augen oder ein Lächeln, das die schimmernden Zähnchen enthüllte. Statt zu antworten, warf Maxi jedesmal einen schnellen Blick auf Lois, als solle dieser das Wort für sie führen. Nicht er war es aber, der das scheue Kind vertrat, welches sich doch bei Fügen’s Ankunft so keck gezeigt – es war Jana, wie es ihm denn überhaupt nicht entging, daß sie in kaum merklicher Weise Maxi stets im Auge behielt. Zu Jana aber kehrten seine eigenen Augen am häufigsten, am liebsten zurück. Sie gefiel ihm mehr als je; ihm schien, als habe sie während dieser Jahre nur gewonnen. Heitere Ruhe lag auf dem weißen angenehmen Gesicht; ihre klaren Augen leuchteten in so wohltuender Güte, daß sie Anderer Blicke immer wieder zu sich zurückriefen, wie eine sanfte Melodie, welche man oft zu hören begehrt. So anspruchslos ihre Haltung war, erschien sie neben Genoveva jetzt als deren Gleichen. Fügen empfand, daß sie die Stelle, auf welcher ihr Dasein wurzelte, als ihr Recht betrachtete und für immer eingenommen hatte. Bestand noch eine Abhängigkeit für sie, dann war es jedenfalls eine freiwillige.
„Es bedarf keiner Versicherung, daß ich bereit bin, dem großen Vertrauen zu entsprechen, welches Sie mir gönnen,“ sagte Fügen, als er am nächsten Morgen Genoveva gegenüber saß. „Ob ich es kann, wird davon abhängen, was Sie von mir erwarten. So weit ich Sie verstand, übertragen Sie mir auf Jahre hinaus, also bis Siegmund als erwachsen zu betrachten ist, alle moralischen Pflichten und Rechte eines Vormundes. Für Aufmerksamkeit und Zuneigung, auch für sorgfältige körperliche Pflege vermag ich zu bürgen, die Erfahrung eines Erziehers fehlt mir aber durchaus, und ich bin sogar in Zweifel, ob ich die dazu nötigen Eigenschaften besitze. Wohl traue ich mir zu, einem jungen Geiste die Richtung zu geben; auf Charakter und Temperament einzuwirken erscheint mir jedoch überaus schwierig, fast unmöglich. Strenge zu üben liegt nicht in meiner Natur, und was ich sonst bieten kann, ist mehr Moralisches als Belehrendes.“
Genoveva neigte zustimmend den Kopf.
„Ihr Charakter, lieber Freund, bürgt für Alles, was mir als das Wichtigste erscheint. Siegmund ist am richtigen Platze neben einem rechtschaffenen Manne, welcher alle Dinge des Lebens frei von Nüchternheit, doch mit Ernst betrachtet. Was ich unter Erziehung verstehe, liegt vor Allem in der Richtung der Willenskraft. Ihn alle Bedingungen menschlicher Existenz in großer Auffassung sehen zu lehren, ist für seine Zukunft das Notwendigste. Diese Zukunft wird vielleicht einen glänzenden Rahmen haben – sorgen wir, daß sich dafür ein im edelsten Sinne vornehmes Bild vollende!“
Fügen’s nachdenkliche Miene wurde fest.
„Sie haben ein bestimmtes Ziel im Auge,“ sagte er mit Nachdruck, „und bestimmte Verhältnisse. Soll ich Siegmund in Ihrem Sinne leiten, muß ich auch erfahren, wohin sein Weg geht.“
„Ohne Zweifel,“ sagte sie gelassen. „Das Recht, über unsere Verhältnisse Aufklärung zu empfangen, steht Ihnen von jetzt an zu. Ich bin bereit, Ihnen vollen Aufschluß zu geben; um des Zusammenhanges willen ist es sogar notwendig, Sie mit Erlebnissen bekannt zu machen, die viel älter sind als Siegmund. Die Geschichte, welche Sie hören werden, könnte in manchem Sinne als eine ungewöhnliche gelten – im Grunde berichtet sie nichts, als die alte Geschichte von Macht gegen Recht.“
Während sie sich schweigend zurücklehnte und mit gesenktem Blick in sich hineinzusinnen schien, betrachtete Fügen das schöne, blasse Gesicht, in dem sich keine Spur von Erregung zeigte. Um so aufgeregter war er selbst – das Wort des Rätsels, welches ihn vor Jahren soviel hatte grübeln lassen, sollte ausgesprochen werden. Um seine Unruhe zu verbergen, entgegnete er kein Wort.
„Meine Familie,“ begann Genoveva, „ein altes Geschlecht, verließ Frankreich nach Aufhebung des Edictes von Nantes. Meine Großeltern, deren ich mich noch entsinne, lebten in Berlin auf glänzendem Fuße, auf allzu glänzendem; denn meinem Vater fiel nach ihrem Tode ein im Verhältniß zu seinen Gewöhnungen geringes Erbe zu. Er verheiratete sich frühe mit einer Bürgerlichen, die als reich galt. Von dieser Mutter, von meiner ersten Kindheit überhaupt sind mir nur schwache Erinnerungen geblieben; denn meine Eltern wechselten so oft den Aufenthaltsort. daß wir nirgends daheim waren, und als ich kaum das achte Jahr erreicht hatte, wurde ich einem adeligen Erziehungsstift in Berlin übergeben, das ich erst mit achtzehn Jahren verließ. Mein Vater führte mich nun nach Wien, wo er sich seit dem schon vor geraumer Zeit erfolgten Tode meiner Mutter häuslich eingerichtet hatte und in der ersten Gesellschaft verkehrte. Unter dem Schutze der Gemahlin des französischen Gesandten trat auch ich in diese Kreise ein. Ein paar glänzende Jahre rauschten im Fluge vorüber; dann kam ein Abend –“
Sie erblaßte bis in die Lippen hinein. Aber nur einen Moment lang weigerten sich diese blassen Lippen, weiter zu sprechen. Mit einem Tone, der so fest war, daß ihre melodische Stimme fast hart klang, fuhr sie fort:
„Während einer Soiree in unserem eigenen Hause, die von ausgezeichneten Persönlichkeiten besucht war, beschuldigte ein diesem Kreise Zugehöriger meinen Vater, mit dem er am L’hombretische saß, mit lauter Stimme des falschen Spieles, und fast in demselben Augenblicke erklärte ein eben bei uns eingeführter Fremder gleich nachdrücklich, in Herrn von Meillerie den Croupier der Spielbank des Bades M. wieder erkannt zu haben. In derselben Nacht erschoß sich mein Vater.“
„Um Gotteswillen!“ rief Fügen.
„Sie erschrecken schon beim Anfang,“ sagte Genoveva mit einem Lächeln, das ihm wehe that. „Allerdings geht auch dies Siegmund an, sonst würde ich mir erspart haben, es zu erzählen Hören Sie weiter! Einige Zeilen fanden sich, aus denen erhellte, daß tolle Börsenspeculationen meines Vaters die Summen, welche er durch die Spielbank erworben, rasch verschlungen hatten – ich war eine Bettlerin; man zwang mich, im Hause des französischen Gesandten Gastfreundschaft hinzunehmen, während meine Seele nach Einsamkeit dürstete, nach Selbstständigkeit rang. Man schrieb und petitionirte wider mein Wissen und Wollen bei den Pariser Verwandten – ich fand bei ihnen ein Asyl. Hochmütige Menschen voll grausamer Höflichkeit, ohne Herzlichkeit – dort dauerte ich nicht aus. Nach etwa einem Jahre glückte es mir, als Gesellschafterin nach Italien engagirt zu werben. In Neapel begegnete ich meinem künftigen Gatten.“
Sie hielt inne; ihre Hand beschattete die dunklen Augen. „Graf Riedegg,“ nahm sie nach kurzer Pause wieder das Wort, „erfuhr Alles, was gegen seine Wahl sprach, durch mich selbst. Es bedurfte nicht seiner Offenheit, mich zu überzeugen daß ich seiner Familie nicht willkommen sein konnte, er aber war Herr seiner Entschlüsse. Wir verbanden uns in der Stille und lebten in glücklicher Verborgenheit hier auf der Moosburg, aber nach Siegmund’s Geburt wünschte ich um des Kindes willen freies Auftreten. Mein Gatte begab sich zu den Seinen, um mit ihnen die nötigen Einleitungen zu treffen – dort ereilte ihn ein jäher Tod. Ich trat für das Recht meines Sohnes ein. Es ward bestritten. Im Grabe noch wurde Meinhard durch die Behauptung beschimpft, er hätte sich nicht zu uns bekannt. Die Zeugnisse unserer Trauung und Siegmund’s Taufschein, welche mein Gatte mit sich genommen, wie ich aus seinem Munde wußte, wurden vom alten Grafen Riedegg verleugnet, meinem Kinde und mir selbst die Ehre genommen, das Recht verhöhnt, den uns gebührenden Namen zu führen.“
„Unerhört! Und Sie duldeten –? Es giebt doch Kirchenbücher –“
[587] „Auf die ich mich verließ,“ sagte Genoveva bitter. „Empört, wahrlich nicht verzagt, kehrte ich zurück, entschlossen unser Recht zu erstreiten. Natürlich war, sobald ich hierher zurückgekehrt, mein erster Gang nach dem Servitenkloster. und dem Pater, welcher Trauung wie Taufe eingesegnet hatte. Da sagte man mir, Pater Alois sei vor etwa vierzehn Tagen an einem Schlagflusse verstorben. Nun, der Herr Prior erklärte sich sofort bereit, die Bücher des Klosters nachzuschlagen und beglaubigte Duplicate der beiden Acte ausfertigen zu lassen. Es fand sich nichts. Der geistliche Herr ließ mich selbst Einsicht in das Kirchenbuch nehmen, während er bemerkte, daß mein Anliegen ihn überhaupt befremdet habe, da Trauungen und Taufhandlungen Angelegenheiten der Pfarrgemeinden, aber nicht einer Klostergenossenschaft seien; überdies habe Pater Alois ihm keine hieraus bezügliche Meldung gemacht. Er begann ein Examen anzustellen, dem ich mich in der Bestürzung dieses Momentes ohne Rückhalt unterwarf. Als der Prior erfuhr, daß es sich um eine gemischte Ehe handle, verwandelte sich sein Ton; er äußerte mit Schärfe, daß sich der Pater, falls er eine solche wirklich eingesegnet, der höchsten Pflichtverletzung schuldig gemacht und hierüber selbstverständlich kein amtlicher Act hätte eingetragen werden können, da jede Ehe dieser Art null und nichtig sei.
Das war für wich ein Donnerschlag. Noch lebte aber ein Zeuge: Der Eremit auf dem Hilariberge, zugleich Küster der Capelle, in der unsere Verbindung stattgefunden, hatte als Trauzeuge gedient und den Act der Trauung mit unterschrieben. Dieser Mann, welchen ich sofort aufsuchte, erklärte sich bereit zur Bestätigung, aber am nächsten Morgen erschien er nicht zur verabredeten Stunde und bald erfuhr ich, daß er anderen Sinnes geworden. Man hatte ihn vom Kloster aus über den Zusammenhang belehrt und er verschwor sich hoch und theuer, daß er mit einer Ketzerin nichts zu schaffen haben wolle.
Nu blieb nur ein Weg: offene Anklage! Dieser Mensch mußte gezwungen werden, die Wahrheit zu bestätigen, der alte Graf Riedegg zur Herausgabe der schriftlichen Zeugnisse genöthigt werden, die er – noch heute will ich es beschwören – widerrechtlich unterschlagen. – Ich begab mich mit Jana und dem Kinde nach Wien, suchte dort einen berühmten Rechtsanwalt auf und legte ihm die Lage der Dinge dar. Er riet mir, jenes Zeugen guten Willen zu erkaufen, so hoch es sei, den Tod meines Schwiegervaters abzuwarten und erst dann, auf jenes Zeugniß gestützt, meine Klage zu erheben. Er begründete mit scharfer Klarheit seine Ueberzeugung, daß gegenwärtig jedes Vorgehen meiner Sache verderblich werden müsse und daß späterer, auf das Erbrecht erhobener Anspruch mehr Aussichten und weniger Gefahren böte, als eine Beschuldigung des Lebenden, für die jeder rechtliche Beweis fehle.
So beschloß ich denn zu warten. Der Graf war bei Jahren, ein hoher Sechsziger. Er lebt noch heute. Auch der Eremit lebt und weigert sich noch heute. Was habe ich nicht aufgeboten, diesen Menschen zu gewinnen! Der Armselige fürchtet sich – daran prallt jedes Bemühen ab. Ich aber warte. Der ganze Plan meines Lebens drängt einzig nur diesem Ziele zu. Auf des Grafen Erbe hat Niemand directen Anspruch als die Tochter meines Gatten aus erster Ehe. Sie ist seit Jahren verheiratet und lebt dem Großvater fern. In der Stille ist Alles vorbereitet, Siegmund’s Anspruch zu erheben, sobald sich zwei Augen schließen. Wie es auch ende, ohne Kampf, ohne äußersten Kampf soll Siegmund ’s heiliges Recht nicht aufgegeben werden. Daß es hierzu großer Mittel bedürfen wird, hat mir der Rechtsanwalt dargelegt. Nun, wir blieben nicht entblößt zurück; mein Gatte hielt eine namhafte Summe zur Disposition; er hatte mich mit der Moosburg, mit kostbaren Juwelen beschenkt. Die Zukunft im Auge, beschränkte ich unsere Form zu leben; Sie sahen mich arbeiten – dies geschah Jahre hindurch. Jetzt handelt es sich um Siegmund’s Ausbildung, und von Beschränkung darf hierbei keine Rede sein. Ich werde Genügendes in Ihre Hände legen, lieber Freund; die gleiche Summe trifft in regelmäßigem Raten bei Ihnen ein. Ich selbst folge Aussichten, welche – einerlei! Diese äußerlichen Punkte bedürfen keiner weiteren Erörterung.“
Sie schwieg, wie erschöpft, als aber Fügen beginnen wollte zu sprechen, hielt sie ihn durch eine Geberde zurück und sagte lebhafter: „Ein Wort noch! Siegmund ist in all Das nicht eingeweiht. Es ist mein Wille, daß er in der Voraussetzung aufwächst, bürgerlichen Herkommens zu sein, sich den Weg durch das Leben selbst bahnen, Wohlstand und Ansehen sich selbst gewinnen zu müssen.“
Fügen stützte den Kopf nachdenklich aus die Hand.
„Und wenn nun in ihm ein Grundton wäre, der sich künstlerisch ausklingen wollte? Er ließ gestern Worte fallen, die solchen Hang betonten. Was dann? Haben Sie hieran gedacht, bei der Absicht, ihn dem Hause eines Künstlers zu übergeben, wo er in Musik leben und athmen wird, vom ersten Tage bis zum letzten?“
„Ich widerspreche,“ sagte Genoveva ruhig, „seinem Hange zur Musik so wenig, daß ich bei der Wohl des Hofmeisters, welcher ihn bisher unterrichtet hat, ausdrücklich auf gediegene musikalische Kenntniß desselben bedacht war. Siegmund weiß, daß ihm Freiheit für dereinstige Berufswahl gewährt wird, zugleich aber weiß er, daß ich zunächst den Erwerb allgemeiner Bildung von ihm fordere. Bis zur Vollendung seiner Studienjahre muß sich unser Loos entschieden haben; denn Graf Riedegg zählt achtzig Jahre. Lassen wir Siegmund gewähren! Sie verstehen, daß bis dahin von jedem Heraustreten in die Oeffentlichkeit abgesehen bleibt. Im Uebrigen – Musik erhebt die Gedanken – selbst in Gefahren.“
Sie ergriff Fügen’s Rechte und hielt sie mit starkem Druck, während ihre unerforschlichen Augen dunkel auf ihm ruhten.
„Ich übergebe Ihnen mein Alles,“ sagte sie mit unsicherer Stimme. „Bisher waren mein Sohn und ich nie getrennt, auch nicht für einen Tag; jetzt lasse ich ihn für Jahre von mir, aber es muß sein. Oede ist der Weg ohne ihn – nie besaß ich, nie werde ich ein anderes Glück besitzen als meinen Sohn.“
Er blickte sie mit eigentümlichem Ausdruck an.
„Jetzt, in Zukunft – nun ja!“ sagte er hastig. „In der Vergangenheit aber? Sie besaßen seines Vaters Liebe.“
Ein finsterer Blick begegnete dem seinen.
„Liebe?“ wiederholte sie herb. „Er hat Weib und Kind verleugnet.“
Wenige Vorkommnisse des täglichen Lebens bringen den Betheiligten nahe bevorstehendes Scheiden so zum Bewußtsein, als die letzten gemeinschaftlichen Mahlzeiten. Wer von dannen zieht, nimmt den langgewohnten Platz bei Tische mit der stillen Betrachtung ein, wie fern er sein wird, wenn die Andern das nächste Mal zu gleicher Stunde hier beisammen sein werden; wer zurückbleibt, sieht im Geiste seinen Platz schon leer. Wider Willen schleicht sich ein Schweigen ein – Schwermut sitzt mit zu Gaste. Unter solchem Banne lag heute die kleine Mittagsgesellschaft auf der Moosburg. Mit diesem Tage war Fügen’s Zeit um. Morgen in der Frühe stand seine Abreise mit Siegmund bevor, welche der Beginn allgemeiner Zerstreuung der heute noch so traulich vereinten Tafelrunde war. Für Genoveva’s Reise, als deren Ziel sie Paris bezeichnete, war schon alles vorbereitet. Lois, dessen Eltern ihm gestattet, seine diesjährigen Ferien auf der Moosburg zu verleben, kehrte im Lauf derselben Woche nach dem Seminar zurück. Nur Jana und Maxi blieben hier.
Der geheime Bann, welcher sich Allen fühlbar machte, schien Siegmund am meisten zu bedrücken; er gab sich heute unruhiger, als in seiner Art lag, und nachdem man vom Tische aufgestanden und in das Terrassenzimmer übergesiedelt war, überkam den Knaben großes Unbehagen bei dem Gedanken an alle die Stunden, welche noch bis zum späten Abend zu überdauern waren. Er stand am Fenster und blickte hinab auf das herbstlich farbige Thal. Plötzlich wandte er den Kopf:
„Mutter! weißt Du, was ich möchte?“
„Nun?“
„Ich möchte noch einmal drüben vom Hilariberg die Sonne untergehen sehen. Natürlich nur, wenn Du mitkämest. Es ist ja so schönes Wetter; alle Wege sind trocken – gewiß, der Spaziergang würde Dir gut thun. Alle gingen wohl gerne mit, nicht wahr?“
„Warum nicht?“ sagte Genovevoa „Dann laßt uns aber keine Zeit verlieren! Die Octobersonne geht frühzeitig nieder, und der Weg ist weit.“
Bald wanderte die kleine Gesellschaft hinab zum Inn, ließ sich auf das linke Ufer übersetzen und schlug dann, das schmale offene Thal verlassend, den Weg durch den Forst ein, welcher, [588] dicht an die Höhen gedrängt, zu denselben aufstieg und ein hochragendes Joch bis zum Gipfel bewaldete. Die Sonne stahl sich nur in einzelnen Funken durch den düstern Föhrenwald, auf dessen Moosgrunde schwere Felsblöcke verstreut umherlagen. Das ernste Dunkelgrün der Tannen, nirgends von buntgefärbtem Laube belebt, das mächtige Gestein, welches so fremd, wie nicht hierher gehörig, grauweiß erschimmerte, verlieh dieser Waldstrecke wilden Reiz. Der schmale, wenig betretene Fußpfad war mit grauem Geflechte dicht übersponnen; trotzdem hallte jeder Schritt der Spaziergänger in der tiefen Einsamkeit wieder. Nur je Zwei konnten neben einander bleiben. In stiller Übereinstimmung hatten die Andern Frau von Riedegg und ihrem Sohne einen Vorsprung gelassen, der sie isolirte. Lois, welcher mit Maxi zunächst folgte, hielt den Schritt an, so oft das Mädchen zwischen die Bäume huschte, um die späten Waldblumen zu sammeln, die noch vereinzelt zwischen bunten Pilzen und riesigen Farrnkrautbüscheln gediehen. Der junge Mensch war schweigsam und schien ganz mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, während des Kindes funkelnder Blick verrieth, wie viel Mühe es kostete, die Aeußerungen zu unterdrücken, welche sich am liebsten alle zugleich an den Tag gedrängt hätten. Aber schon bei Maxi’s auf ihn gerichtetem Blick runzelte Lois die Stirn wie vor etwas Störendem; dann warf sie trotzig die rothen Lippen auf und schwirrte wieder seitwärts zwischen die Bäume. So war und blieb Alles still im Bereiche der Strecke, welche Fügen und Jana in geringer Entfernung von Jenen durchschritten; sie sprachen mit einander in so gedämpftem Tone, daß der einzige schwache Naturlaut, das noch ferne Brausen der Ache, fast vernehmlicher klang als ihre Stimmen.
„Mir bangt für Sie, liebe Jana,“ sagte Fügen; „Sie werden allzu einsam sein. Der ewig lange Winter – was wollen Sie da mit sich anfangen, wenn Sie ihn hinbringen sollen wie eine Märchenprinzessin auf dem verwünschten Schlosse?“
„Halten Sie mich zum Besten?“ lachte sie. „Im Märchen werden allerdings aus Hirtinnen manchmal Prinzessinnen, um die es sehr schade wäre, blieben sie im verwünschten Schlosse. Die sind aber jung und haben nichts auf der Welt zu thun, als wunderschön zu sein und sich erlösen zu lassen. Ich dagegen bin ein altes Mädchen und habe zu thun vollauf. Sie brauchen wahrlich nicht zu sorgen, daß mir die Zeit lang würde. Zur Schloßverwalterin, Schulvorsteherin, Kirchensängerin und Armenpflegerin bestellt – und Sie fragen, was ich mit mir anfangen werde?“ Ihre klaren Augen blickten ihn so heiter an, daß all ihre sanfte Wärme auf ihn überging.
„Ja, ich weiß,“ sagte er innig; „wohl hab’ ich’s gesehen in diesen wenigen Tagen, daß die ganze kleine Welt ringsum Sie wie eine gütige Vorsehung betrachtet. Und was ich nicht selbst gesehen, das ist mir erzählt worden: wie die Betrübten zu Ihnen heraufkommen und Sie zu den Kranken hinabsteigen, und daß Ihnen bei alledem Zeit bleibt, sich mit den Fröhlichen zu freuen, mit Ihren hülfreichen Händen und liebreichem Herzen auch am Glücke eines Jeden mitzuarbeiten, der um Sie her lebt. Gut für all diese braven Leute! Aber Sie, Jana, Sie selbst? Unmöglich können Sie mich im Verdachte haben, Ihnen Complimente machen zu wollen, wenn ich es ausspreche, wie sehr Sie gewonnen haben, seit wir uns zuletzt trafen. Nicht an Güte und Vortrefflichkeit – da war nichts Besseres zu gewinnen – aber Sie müssen diese Jahre über neben Alledem, was Sie den Andern leisten, doch auch viel Zeit gefunden haben, Ihr eigenes Können und Wissen auszubilden. Ihr Gespräch, Ihr Gesang verrathen es – ja gewiß, Sie haben gelernt und geübt. Was so erworben worden, trägt auch den Anspruch in sich, genährt und befriedigt zu werden. Es ist wiederholt, es ist ausdrücklich die Rede davon gewesen, daß Frau von Riedegg Jahre hindurch abwesend sein wird. Denken Sie im Ernste daran, diese Jahre ganz allein auf der Moosburg zu verleben – mit keiner andern Aussicht auf Unterbrechung Ihrer Oede, als die für einige Herbstwochen hier verabredeten Zusammenkünfte von Mutter und Sohn? Nein, Jana, ich müßte nicht Ihr Freund sein, wenn ich mich scheuen wollte, dagegen zu sprechen! Sie sind zu jung, zu strebsam und begabt für solches Leben absoluter geistiger Einsamkeit. Das ertragen vielleicht Träumer oder Menschen, welche schweres Unglück ganz erschöpft hat – Sie müßten dabei verkümmern, und so sehr ich Frau von Riedegg verehre – das könnte ich ihr nicht verzeihen, solchen verkehrten Lebensplan zu unterstützen oder gar von Ihnen zu fordern. Längst schon brannte mir auf der Seele, hierüber mit Ihnen zu reden, und ich bin der Gelegenheit froh, die sich endlich findet. Ich habe kein Recht mich in Ihre Verhältnisse zu mischen, wenn Sie mir aber nicht verbieten, in meinem Sinne mit Frau von Riedegg zu sprechen, so möchte ich dies heute noch thun; ich bin überzeugt, nur das momentane Uebergewicht ihrer eigenen Angelegenheiten läßt sie übersehen, daß sie ihrer treuesten, allzu selbstlosen Freundin Unrecht anzuthun im Begriffe steht.“
Jana hatte ihn ausreden lassen, ohne die sanften, leuchtenden Augen von ihm zu wenden.
„Ich danke Ihnen für Ihren Eifer,“ sagte sie jetzt lächelnd; „er zeigt mir, daß Sie mein Freund geblieben. Aber Sie irren ganz und gar. Auf der Moosburg zu bleiben, an meinen Verhältnissen nichts geändert zu wissen, war und ist mein eigener Wunsch. Ich fürchte mich weder vor der Welt noch vor den Menschen, aber ich kenne keinen anderen Kreis als den der Wenigen, denen ich ganz und gar angehöre, und würde auch schwerlich in einen anderen hineinpassen. Wünschte Frau von Riedegg mich mit sich zu nehmen, so wäre mir dadurch das höchste Opfer auferlegt, welches ich mir vorstellen kann – und wohin, zu wem sollte ich sonst gehen wollen, wenn ich von hier ginge? O nein, Einsamkeit erschreckt mich nicht – ich liebe sie. Und was ich mir etwa erwerben konnte an geringem Wissen und Können, das bereichert ja nur mein Leben. ja, es war mir lieb, als Siegmund einen Hofmeister bekam und ich so Gelegenheit fand, meine große Unwissenheit ein wenig zu vermindern. Es ist schade, daß Herr Steuber uns schon vor Ihrem Eintreffen verlassen mußte. Ich verdanke ihm viel.“
„Und nun werden Sie für Jahre hinaus auf den Verkehr mit Bauern und Gesinde angewiesen,“ grollte Fügen.
„Sie vergessen Maxi.“ Ihr Blick spann gleichsam einen Faden zu der kleinen behenden Gestalt hin, welche leichten Fußes vor ihnen hin und wieder huschte. Der warme Ton, in dem sie sprach, fiel ihrem Begleiter auf.
„Ein Kind! Und dem Sie nicht einmal weiter geben sollen, was Sie sich angeeignet,“ sagte er. „Oder ist der Plan geändert, sie zu bescheidener Stellung zu erziehen?“
„Gewiß nicht! Sie sahen doch, daß sie uns Allen dient, und in irgend einem Sinne soll das stets geschehen. Nur, daß sie es nicht nöthig haben wird, Fremden anders als freiwillig zu dienen, und –“ sie hob das helle, lächelnde Gesicht zu ihm auf. „Ich habe ‚Hermann und Dorothea‘ gelesen! In diesem herrlichen Gedicht kommt eine Stelle vor, die ich nicht wieder vergessen werde. Sie wissen doch: ‚Dienen lerne das Weib!‘ So will ich es unserer Maxi lehren, wenn ich das vermag. Und hat sie es so begriffen, was könnte es ihr dann schaden, wenn ich an sie weiter gebe, was ich selbst gelernt habe? Bedenken Sie auch, daß ich hier in der Nähe meiner eigenen Familie bleibe. Der Mutter würde es schwer fallen, zöge ich fort. Sie hängt auch an der Maxi, obgleich sie das nicht Wort haben will und immer auf sie schilt. Das Kind thut’s doch Jedem an.“
„Hm,“ sagte Fügen nach kurzer Pause; „Sie mögen Recht haben. Die Kleine hält bei Ihnen noch das alte warme Herzplätzchen inne, wie ich sehe. Sagen Sie mir doch, von welchem Schlage sie eigentlich ist? Recht dahinter gekommen bin ich noch nicht, obgleich ich auf sie Acht gab. Das Gesicht thut es Einem an; da werden Sie mit der Zeit zu hüten bekommen. Sie hat ja ein paar Augen, um damit die Welt in Brand zu stecken. Und wissen Sie, mir scheint, daß sie dem Kobold, der früher in ihr hauste, heute noch Herberge giebt, so sachte sie sich auch geberdet. Sie allein sind es, welche das Sprühteufelchen am Bande halten.“
Jana erröthete; nach immer war ihr der mädchenhafte Reiz dieses leicht erregten Aufsteigens des Blutes geblieben.
„Vielleicht,“ sagte sie; „mehr als ich vermag aber der alte Spielcamerad über Maxi. Es ist nicht Ihre Gegenwart, welche jetzt den sonstigen Muthwillen dampft – sie nimmt sich immer zusammen, wenn Lois in der Nähe ist. Ja, Maxi’s Naturell ist stürmisch; wetterwendisch ist sie aber nicht. Nur wo sie sich freiwillig unterwirft, ist ihr etwas abzugewinnen dann aber auch Alles, denn sie kann nichts halb thun oder sein.“
„Und Siegmund? Wie stellt er sich zu Maxi?“ warf Fügen ein.
Jana schüttelte den Kopf.
„Die Beiden haben nichts gemeinsam, als ihr Alter. Ihr ungestümes Temperament stört ihn; die Wege dieser Kinder gehen [590] weit aus einander.“ Sie schwieg und blickte sinnend vor sich nieder; dann sagte sie in warmem Tone: „Beide sind mir an’s Herz gewachsen. Und daß Sie jetzt den Einen zu sich nehmen, während mir die Andere bleibt, ist so viel lieb.“
Die Innigkeit der letzten Worte rief Fügen ganz und gar alte Zeiten zurück. Er sah liebreich auf Jana nieder, und während sie leichten Fußes neben ihm herschritt, regten sich halb vergessene Wünsche und Gedanken in seinem Innern – nicht laut genug, um zu Worte zu kommen, aber bewußt genug, um die Anziehungskraft, welche das liebe Mädchen stets auf ihn geübt, in sanfter Macht wirken zu lassen. Beide empfanden kein Bedürfniß weiterzusprechen, nachdem Wort und Blick so wohlthuend getauscht worden; still wandelten sie neben einander her, Fügen im Vollgefühl eines innerlichen Ausruhens nach Tagen, die ihm ewig wechselnde Stimmungen aufgedrängt.
Inzwischen hatten Mutter und Sohn einen ziemlichen Vorsprung gewonnen und waren im Begriffe die Höhe zu ersteigen, welche zum Aussichtspunkte führte. Vom höchsten schmalen Plateau ragte die Thurmspitze des Kirchleins über dunklen Föhren auf.
Genoveva, etwas ermüdet vom weiten Gange, ließ sich auf einen Block zum Sitzen nieder und blickte hinab zum nahen heiteren Thalgrunde, der mit vereinzelten Häusern und Höfen übersäet war. Die rothen Eckthürmchen eines schönen Edelsitzes inmitten dieser zerstreuten Gehöfte verliehen dem Bilde besondere Frische; am Saume des Waldgebietes drängte sich die lichtgrüne Ache mit Schäumen und Brausen durch ein enges Felsenbett dem Inn entgegen, und gleich einem Wall ragten westwärts die Wilden Kaiser in golddurchschimmertem Blau. Die Sonne stand bereits so niedrig, daß jeder Grashalm glitzerte und gleißte; ein Funkeln ging über die in Farben erglühende Welt.
„Die Sonne ist Dir hold,“ sagte Genoveva, indem sie den Kopf nach Siegmund wendete, der ihr zur Seite stand. Sein Blick war aber nicht auf das in Gold und Purpur niedergehende Tagesgestirn gerichtet; er stand abgekehrt, der vom Inn durchflossenen Thalseite zugewendet; dort dämmerten die unter tiefblauen Schatten schon beinahe verschwindenden Umrisse der Moosburg. Als der Mutter Auge ihn traf, füllte sich das seine mit blitzenden Tropfen. Er warf sich plötzlich vor ihr auf die Kniee, umschlang sie mit beiden Armer und rief in leidenschaftlicher Inbrunst:
„Meine herrliche Mutter!“
Beider Blicke tauchten in einander mit einem Ausdruck heißer, tiefer Zärtlichkeit, für die es keine Sprache in Worten giebt.
Erst als nahende Stimmen und Tritte zwischen den Tannen vernehmlich wurden, ließ er die Mutter aus seinen Armen.
„Wir sehen uns wieder!“ sagte Genoveva in einem Tone, welcher den Knaben durchschauerte. „Bis dahin laß’ uns an Einem fest halten: Mein Leben gehört Deinem Glück, das Deinige – der Ehre!“
„Der Ehre!“ wiederholte er stark, indem seine schlanke Gestalt sich hoch aufrichtete. „Ich gelobe Dir, Mutter, daß Du auf mich stolz werden sollst.“
Er stand von Licht umflossen. Alle Höhen ringsum entzündeten sich im Purpur der glorreich niedergegangenen Sonne. Schweigend hatten sich die Uebrigen den Beiden zugesellt, und auch nachher, als die vereinte Gruppe die kleine Wegstrecke nach dem höchsten Plateau gemeinsam zurücklegte, wurden nur wenige Worte laut.
Als Genoveva, der Fügen nun zur Seite ging, um die Capelle bog, um den hier jäh abfallenden Berghang zu erreichen, bezeichnete sie ihrem Begleiter durch einen Wink der Augen einen Mann, welcher mit Hacke und Spaten in dem zu einer Art von Garten abgesteckten Viereck arbeitete, welches spärlich mit Feldfrüchten angebaut war. Der schon ziemlich bejahrte, aber noch rüstige Mensch trug eine braune Kutte aus grobem Loden und richtete den barhäuptigen kahlen Scheitel auf, als er nahende Schritte vernahm. Sobald er Genoveva ansichtig wurde, warf er sein Arbeitsgerät aus den Händen und lief mit weiten Schritten in das der Capelle angebaute kleine Küsterhaus.
Genoveva hob den stolzen Kopf und sah Fügen an.
„Nun,“ sagte sie mit bitterem Lächeln, „mein Anblick versteinert wenigstens nicht, gleich dem der Medusa.“
[601]
Im Hause des Oberst Friesack, welcher das in S. garnisonirende Artillerie-Regiment commandirte, ward heute ein Familienfest gefeiert, als dessen Hauptpersonen zwei schlanke junge Männer galten. Nachdem der Champagner entkorkt, schenkte der Oberst ein und hob dann sein Glas, um mit dem älteren Gaste anzustoßen, der zwischen ihm und der stillvergnügten Hausfrau saß.
„Auf das Wohl unserer Absolventen, Herr Capellmeister!“ sagte er und winkte den jungen Leuten zu.
Fügen warf einen stolzen Blick auf seinen Mündel. Etwas wie Vaterfreude schwellte ihm das Herz. Ein erstes, festes Ziel war mit Auszeichnung gewonnen worden, und wie sich auch die Zukunft gestalten mochte, das Bild des Jünglings paßte in den stolzesten Rahmen. Er dachte an Genoveva und freute sich des nahe bevorstehenden Wiedersehens mit doppelt frohem Bewußtsein. Während angeregtes Geplauder wie Funken hin und wieder flog, schweiften seine Augen immer wieder zu den neben einander sitzenden Freunden. Nun lag das weite, weite Leben offen vor dieser Jugend – dieser Jugend, die Flügel hatte. An Wind, sie zu tragen, würde es nicht fehlen, hoffte er – und gab es auch einmal Gegenwind, je nun, die Beiden waren stark und jung; sie erreichten dennoch ihre Ziele. Während Fügen’s Optimismus solche Gedanken spann, war der Kaffee gebracht worden, und die Hausfrau zog sich zurück, nachdem sie die Tassen gefüllt und die Herren ihre Cigarren angeraucht hatten.
„Wir bitten um Urlaub, Papa,“ sagte Max Friesack. „Siegmund möchte in’s Freie –“
„Sie werden es mir nicht übel nehmen, Herr Oberst, wenn ich jetzt schon aufbreche,“ warf Siegmund dazwischen. „Sie wissen ja, ich soll heute Abend spielen. Da möchte ich zuvor noch ein Stündchen wandern.“
„Ist ja wahr,“ stimmte der Oberst zu. „Eigentlich ein starkes Stück, sich Morgens als Zögling der Schulweisheit und Abends als Adept der divina musica zu bewähren. Mußte denn die Aufführung Ihres neuen Opus gerade auf diesen Abend angesetzt werden, Herr Capellmeister?“
„Morgen beginnen unsere Ferien,“ antwortete Fügen, „es ist Vorschrift, das Prüfungsconcert am Vorabend zu geben. Soll mein Trio also heraus, so muß es heute geschehen, und das Zusammentreffen des Tages mit dem des Absolutoriums ist ein Zufall, nicht gerade erwünscht, aber auch nicht unüberwindlich. Ich habe nicht zugeredet –“ schloß er mit lächelndem Blick auf Siegmund; „er ist ja durch keinerlei Verpflichtung gebunden, wollte aber von Aufschub nichts hören. Nun muß er zeigen, wie er sich aus der Sache zieht.“
Ein flüchtiges Lächeln Siegmund’s antwortete.
„So lob ich’s mir.“ meinte der Oberst, als sich die Freunde verabschiedet hatten. „Wer wagt, gewinnt. Und daß Sie uns unter diesen Umständen heute keinen Korb gaben, lob’ ich auch! Es hätte uns das einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht; Sie und Ihr Mündel durften uns doch bei der Feier dieser glücklich zurückgelegten Etappe unseres Max nicht fehlen. Er würde sie – davon bin ich überzeugt – keinesfalls so glorios erreicht haben, hätte er sich nicht während der letzten Jahre mit Ihrem Siegmund zusammengespannt. Jammerschade, daß die jungen Leute sich schon so bald trennen müssen. Aber vorerst bleibt Max wohl noch hier und tritt in das Regiment; bis er zur Kriegsschule abgeht, dauert es noch ein rundes Jahr; wie ich höre, soll Ihr Mündel aber jetzt nach Wien oder Paris zur weiteren Ausbildung?“
Ein leichter Schatten ging über Fügen’s Gesicht.
„Darüber soll erst beschlossen werden, wenn wir mit Frau von Riedegg nächstens Concil halten.“
„Apropos,“ fiel der Oberst ein; „Frau von Riedegg! Da möcht’ ich Sie etwas fragen. Siegmund zeigte mir heute sein Absolutorium, und ich wunderte mich, ihn dort als Siegmund Riedegg vermerkt zu finden. Ich dachte immer, er sei von Adel? Es giebt bei uns eine alte Familie des Namens – freilich auf halbem Aussterbe-Etat, so viel ich mich entsinne, und weil es immer hieß: Frau von Riedegg, wenn dann und wann von der Mutter die Rede war –“
„Nur in Folge der landesüblichen Gewohnheit,“ sagte Fügen. „Aber entschuldigen Sie meinen Aufbruch, Herr Oberst!“ fügte er, indem er sich erhob, schnell hinzu. „Ich vergaß in Ihrer angenehmen Gesellschaft die Zeit; es giebt noch mancherlei für den Abend zu ordnen.“ – –
Die jungen Männer waren inzwischen durch die Anlagen bergaufwärts gewandert. Es war herbstlich kühl; die Sonne neigte sich zum Untergang. Sie ließen sich auf einer in halber Höhe angebrachten Bank nieder und blickten hinab auf die vom Abendschein beglänzte Stadt. Die goldenen Spitze der Thürme flammten, und der wilde, lichtgrüne Gebirgsstrom blitzte zwischen den Häuserreihen auf. Stolz und leuchtend lag die alte Fürstenstadt inmitten herrlicher Berge und Wälder, die der Herbst vergoldete.
„Ich bin doch froh, noch hier zu bleiben,“ sagte Max Friesack, „bliebst Du nur auch! Weißt Du, ich freue mich auch so auf [602] Alles, was jetzt kommt. Nichts Schöneres als solch ein frisches. fröhliches Soldatenleben, und früher oder später giebt’s gewiß auch einen Krieg. Da müßtest Du dabei sein, Siegmund! Wenn ich Dich so ansehe, den Prächtigsten auf der ganzen Welt, will es mir nicht in den Kopf, daß Du nichts weiter verrichten sollst, als Clavierspielen und Noten kritzeln. Nimm’s mir nicht übel – ich höre Dir ja für mein Leben gerne zu, aber so Einer wie Du müßte Soldat werden!“
„Du meinst?“ sagte Siegmund, indem er seinen Freund einen Augenblick ernsthaft ansah. Dann stand er auf. Die hohe, fest aufgebaute Gestalt, der edel schöne Kopf gaben seiner Erscheinung trotz ihrer Jugendlichkeit etwas Imposantes, Etwas, dem der von Max gebrauchte Ausdruck entsprach: er sei „der Prächtigste“.
Noch heute war der elastische Körper fein und schlank, aber die Nervosität des Knaben war geschmeidiger Kraft gewichen. In den geistreichen, bald scharf, bald mild blickenden Augen lag viel Festigkeit.
Er blickte schweigend hinab in’s Thal.
„Dazu könnte Rath werden,“ sagte er.
„Was sprichst Du da!“ rief Max, der nun auch aufsprang. „Habe ich recht verstanden? Du wolltest – Du würdest – so sage doch!“
„Ich kann Dir nichts sagen, als daß wir möglicher Weise beisammen bleiben“
Plötzlich erklangen Stimmen von der Höhe. Unwillkürlich blickten beide Freunde gleichzeitig aufwärts. Dann ein leises, silberhelles Lachen, und im nächsten Moment flog eine leichte Gestalt wie ein Vögelchen niederwärts, dem Vorsprung entgegen, der die Ruhebank trug. Die kleinen Füße schienen den Boden kaum zu berühren, bis ein unter ihnen fortgleitender Stein ihren Lauf plötzlich hemmte und das Mädchen auf die Kniee sank.
Siegmund, der nahe stand, sprang hinzu und half der in erster Bestürzung regungslos gebliebenen Kleinen sich zu erheben. Kaum hatte er aber das zarte Figürchen berührt, als es schon federleicht aufgesprungen war. Goldig braune, noch ein wenig erschrockene Augen blickten ihm entgegen. Der allzu rasche Lauf mochte das etwa zwölfjährige Mädchen wohl ein wellig betäubt haben; denn als es wieder aufrecht stand, entglitt der kleinen Hand zuerst ein Genzianenstrauß, dann das Strohhütchen, welches der Kleinen am Arme gehangen. Als Siegmund ihr Beides reichte, sagte sie freundlich:
„O danke! wie ungeschickt ich bin! wenn das Mama gesehen hat!“ Sie warf einen bestürzten Blick hinter sich. „Es war so prächtig, von ganz oben her in einem Zuge herunterzulaufen – wir haben daheim keine Berge. Nur wußt’ ich nicht, daß es hier auf einmal rechtsum geht; wir sind von der Festung her nach dem Aussichtsplatze gekommen – da ist Mama.“
Das zutrauliche Geplauder verstummte, als ein Heer und eine Dame auf dem niederwärts führenden Pfade sichtbar wurden; die Haltung des kleinen Mädchens ward plötzlich eine andere, und die kindliche Grazie verwandelte sich in die Grazie guter Manieren.
„Margarita“ sagte die Näherkommende, ohne im Geringsten die Stimme zu erheben, doch lag etwas in dem Tone, was das Mädchen, sichtlich verschüchtert, dicht an die Seite der Mutter huschen ließ.
Siegmund trat einen Schritt zurück, neben Max, um den Weg frei zu lassen, und beide junge Männer lüfteten den Hut. Während der mit einem Officierspaletot bekleidete Fremde den Gruß durch flüchtige Berührung seiner Mütze gleichgültig erwiderte, hatte der Blick, mit dem die Dame Siegmund gestreift, plötzlich einen eigentümlich forschenden Ausdruck angenommen, der ihn zu befragen schien: wer bist Du?
Seine Augen hafteten während der kurzen Zeit des Vorübergehens auf diesem ihm völlig fremden, nicht jugendlichen, aber schönen Gesichte, das so kalt aussah und ihm doch etwas zu sagen schien, das er nicht verstand.
„Kennst Du diese stolze Semiramis?“ fragte Max sehr erstaunt, nachdem die Gruppe der Fremden aus dem Gesichtskreise der jungen Leute verschwunden war.
„Nein,“ erwiderte Siegmund, dessen ernste Augen noch immer in die gleiche Richtung hinausträumten.
„Um so sicherer kennt sie Dich. Wie sie Dich betrachtete! Mir schien sie wechselte sogar die Farbe.“
„Ich kenne sie nicht,“ wiederholte Siegmund und warf den Kopf zurück, wie es seine Art war, wenn er Störendes abschütteln wollte. „Hoffentlich ist es kein böser Blick gewesen!“ fügte er lächelnd hinzu.
„Oder das kleine holde Ding hat für den bösen Zauber einen Gegenzauber gestiftet“ scherzte Max; „er hängt Dir in sichtbarer Gestalt ganz dicht am Herzen.“
Siegmund’s Blick folgte demjenigen des Freundes und – siehe da! eine tiefblaue Genziane, die sich aus dem Strauße des Kindes gelöst hatte, war an einem Knopfe seines Ueberziehers hängen geblieben.
„Die blaue Blume!“ sagte er heiter, indem er das Zweiglein im Knopfloche befestigte. „Sie soll mir Glück bringen, wenigstes für den heutigen Abend.“ – – –
Der heutige Abend – es wäre schwer zu sagen, wer ihm mit größerer Erregung entgegensah: Meister oder Schüler. Obgleich guter Erfolg für den sorgfältig vorbereiteten, sehr talentirten Debütanten in ziemlich sicherer Aussicht stand, war und blieb doch Siegmund ein Neuling und sollte sich vor einem Publicum bewähren, das nicht nur gewohnt war, feine und scharfe Kritik zu üben, sondern voraussichtlich an den außer der Competenz des Institutes Stehende besonders strengen Maßstab anlegen würde; denn Siegmund gehörte nicht zu den eingereihten Schülern des Instituts und hatte nur dann und wann, bei Anlaß der intimen Aufführungen, einen kleinen Part durchgeführt. Der Beschluß, daß er vor Ende seiner Gymnasialjahre nicht öffentlich auftreten solle, war streng aufrecht erhalten worden.
Fügen nahm heute seinen Tactstock mit innerlicher Unruhe zur Hand und bedurfte einer gewissen Willensanstrengung, um den ersten Theil des Programms, an dem Siegmund keinen Antheil hatte, mit gewohnter Sicherheit zu dirigiren; denn seine Gedanken eilten diesem Theile voraus, dem Momente entgegen, wo Siegmund’s Debüt beginnen sollte.
Der junge Künstler begab sich erst spät, als die Zeit seines Auftretens heranrückte, in das Nebenzimmer des Saales, welches für die Musiker reservirt war. Die Pause war beinahe zu Ende. Fügen eilte dem jungen Manne hastig entgegen.
„Wo bleibst Du?“ rief er vorwurfsvoll.
„Was soll ich hier?“ sagte Siegmund. „Zuhören?“
„Bist Du in Stimmung? Gieb mir einmal Deine Hand! Keine kalten Finger – gut!“
Der junge Mann lächelte, trat an die Verbindungsthür und warf einen Blick in den bis zum letzten Platz gefüllten Saal. Sein scharfes Auge durchforschte die erste Sitzreihe links; dort pflegte auswärtigen Gäste von Rang der Platz angewiesen zu werden. Ein Schatten von Enttäuschung ging über sein ausdrucksvolles Gesicht; fast in demselben Moment empfand er aber, wie sonderbar es sei, daß er in dieser Stunde, welche er zu den wichtigsten Perioden seines Lebens rechnete, nach Fremden ausgeschaut. Und nun erschien es ihm als unbegreifliche Kinderei, daß er dem Scherzworte des Freundes Folge gegeben und die Genziane des Nachmittags wirklich gleich einem Talisman bei sich trug. Im Begriff die halbwelke Blume abzustreifen, erfaßte ihn plötzliche Zerstreuung. Er wähnte zwei Augen auf sich gerichtet zu sehen – das waren aber nicht die braunen lachenden Augen des Kindes, sondern die forschenden tiefblauen Augen der Frau welche ihm heute begegnet.
Das Anklingen einer Saite hinter ihm rief alle Träumereien zur Ordnung. Siegmund’s Partner, der Violonist, gab sich das „La“ an.
„Vorwärts!“ sagte Fügen, im Begriff, an sein Pult zurückzukehren, um das sich die Orchestermitglieder schon geschaart.
Die drei Solisten folgten ihm auf dem Fuße. Als Siegmund sich vor dem Publicum verbeugte, fühlte er sich merkwürdig ruhig und erwartete ganz gelassen den Moment, wo der erste Accord des Flügels einzugreifen hatte. Seine Augen schweiften noch einmal über den Saal hin; er fühlte sich vollkommen Heer seiner selbst, und die Fähigkeit, sich zu concentriren, welche eine seiner individuellsten Eigenschaften war, verbannte jeden Rest von Aufregung. So begann er also muthig die ihm für heute Abend gestellte Aufgabe, und sobald er die Tasten berührt hatte, vertiefte er sich ganz und gar in sein Spiel.
Fügen’s neues Werk brachte die ihm eigene Begabung entschiedener zum Ausdruck, als irgend eine seiner früheren Compositionen. Schon die romanzenartige Melodie des ersten Satzes, in [603] welchem die Saiteninstrumente, voll ausdrucksmächtigen Accorden des Flügels begleitet, wie Gesang hintönten, weckte großen Beifall. Das lieblich beginnende, feierlich prächtige Andante, welches Siegmund die erste Stimme gab, riß die Zuhörer noch lebhafter hin und die wetterleuchtende Gewalt des Finale weckte einen wahren Sturm voll Applaus.
Dreimal zurückgerufen, ward Siegmund, nachdem er in das Zimmer der Musiker zurückgekehrt, von Glückwünschenden umringt. Gönner und Neider – Alle äußerten sich lebhaft über den großen Erfolg, welchen der Debütant gewonnen. Er athmete hoch auf, als der Beginn der nächsten Nummer Alles in den Saal zurückeilen ließ und er sich allein fand. Seine klopfenden Pulse ließen ihn nicht ruhig auf einer Stelle weilen; er ging erregt auf und nieder, warf sich aber endlich doch in einen Sessel, in welchem er, tief in Gedanken, das Ende des Concertes erwartete, um dann mit Fügen nach Hause zu gehen.
Das Programm näherte sich seinem Schluß. Während der zwischen die beiden letzten Nummern fallenden Pause ließ nahes Stimmengemurmel Siegmund aufblicken. Zwei Herren standen mit dem Rücken gegen das Zimmer unter der halboffenen Saalthür und unterhielten sich. Beide waren Siegmund als Musikfreunde bekannt, namentlich der Aeltere, welcher bei Fügen häufig aus und ein ging. Obgleich die beiden Herren ihre Stimmen dämpften, vernahm Siegmund in der tiefen Stille, die ihn umgab, doch jedes Wort. Sie sprachen über sein Spiel. Er wurde dunkelroth und änderte seine Stellung.
„Ganz vortrefflich!“ sagte der Eine enthusiastisch. „Nicht wahr? Wie zart kam jede Feinheit heraus; nicht die leiseste Nüance ging verloren Dieser junge Mensch wird noch einmal von sich reden machen“
„Hm,“ warf der Aeltere ein, „fanden Sie nicht bei alledem den Vortrag ein wenig conventionell? Das heutige Ensemble kann nicht als Maßstab gelten; ich hörte den jungen Riedegg aber wiederholt im Fügen’schen Hause spielen – Beethoven, auch Chopin, und jedesmal hatte ich gleichen Eindruck wie heute: mir wäre bei solcher Jugend ein weniger geschmackvoller Vortrag lieber; spürte man statt dessen nur etwas von dem Ungestüm, von dem dunklen Vorwärtsdringen, das den Anfänger vom beginnenden Virtuosen unterscheidet!“
„Aber ich bitte Sie –“
„Sie haben Recht in Allem, was Sie sagen wollen – ich habe aber auch Recht. Wir hörten einen trefflichen, einen ganz vorzüglichen Schüler des Meisters – diesen Meister wird er aber nie erreichen.“
Der vorgeneigte Kopf des im Schatten sitzenden Lauschers senkte sich tiefer, als der eben einfallende Schlußchor das Gespräch abschnitt. Einige Minuten nachher stand Siegmund rasch auf, nahm seine Noten unter den Arm und verließ das Haus.
Das schwache milde Licht des Neumondes begegnete seinen heißen Augen; hell und still lag die Straße vor ihm, welche von hier in gerader Richtung nach Fügen’s Wohnung führte. Auf dem Platze vor dem Conservatorium zeichneten sich die dunklen Silhouetten wartender Wagen ab, von schwatzender Dienerschaft umgeben. Siegmund wandte sich nach links und ging raschen Schrittes dem Quai zu. Dort war es tief einsam, und vom Strome her wehte scharfe Luft. Der späte Wanderer nahm den Hut ab und ließ den kühlen Wind durch seine Haare spielen, während er zwischen den schlanken jungen Bäumen der Uferanlagen auf- und niederging. Das that ihm wohl, ebenso das Schäumen und Brausen, mit dem das Wildwasser unaufhörlich gegen die Pfeiler der Bogenbrücke schlug.
Das wie Silber und Perlen auf dem Wasser zitternde Licht, so hold es war, sagte ihm nichts in dieser Stunde; sie war ihm keine Stunde der Träume. Jenes starke, wilde und dennoch rhythmische Brausen stimmte aber mit den Schlägen seines Herzens überein. Was er seit Monaten schweigend in sich getragen und durchgekämpft, forderte heute feste Gestaltung von ihm, und er war auch schon mit sich einig. Loszulassen, was als heißer Kämpfe werth erfunden worden, ist aber furchtbar schwer, bleibt selbst dann ein Schmerz, wenn es um des erkannten Besseren willen aufgegeben wird. Der alte Hang, zu dem er seit frühester Kindheit geneigt, packte Siegmund eben jetzt wieder mit so leidenschaftlicher Gewalt, daß er empfand, er müsse das beschlossene Loslassen ohne längeres Zögern zur That beschleunigen. Er hob plötzlich den Kopf. Sein Auge traf die gewaltigen Contouren des Gebirges, das sich, scheinbar näher gerückt, geheimnisvoll und majestätisch gegen den blassen Himmel abzeichnete. Wie anders dessen Formen, als die seiner heimatlichen Gipfel! Und doch mahnten ihn die dämmerigen Riesenhäupter an seine geliebte Heimath, an die theure Gestalt, welche höher und herrlicher in seiner Seele stand, als Alles, was aus Erden aufragte, höher sogar, als sein Ideal, die Kunst!
„Endlich!“ rief Fügen dem Eintretenden etwas unnwirsch entgegen. „Wo um Alles in der Welt hast du gesteckt, Junge? So durchzubrennen – mir nichts dir nichts! Und der Max hat Dich gesucht wie eine Stecknadel und war sehr üblen Humors, daß Du nirgends auszumitteln warst. Die Resi gar, sammt ihren gebratenen Enten! Willst Du von der in den nächsten acht Tagen ein gutes Gesicht schauen, dann mußt Du mindestens eine doppelte Portion aufspeisen. Gelt, Resi?“
Das runzlige Gesicht der Alten, welche eben mit der duftenden Schüssel eintrat, trug wirklich einen verdächtigen Ausdruck, doch schmolz der harte Blick, mit dem sie ihren jungen Herrn begrüßte, bei seinem Anblick sofort dahin. Er war ja ihr Herzblatt.
„Ist’s denn erhört?“ murrte sie vorwurfsvoll, „so erhitzt, und damit herum rennen bei dem Wind! Wenn der Herr Siegmund morgen stockheiser sind, kann er sich dafür bei sich selber bedanken, und wenn er jetzt halb verbrogelte Enten kriegt – na, meine Schuld ist’s nit.“
Der Gescholtene nickte ihr begütigend zu und setzte sich schweigend an seinen gewohnten Platz. Fügen warf einen kurzen, festen Blick auf ihn und begann in seiner lebendigen Weise von Diesem und Jenem zu plaudern, bis die kleine Mahlzeit erledigt war und Resi eine Bowle heißen Glühweines auf den Tisch gestellt hatte. Der Hausherr füllte die Gläser.
„Ziert gleich Bescheidenheit den Mann wie den Jüngling,“ sagte er, „so laß uns doch unter vier Augen anstoßen – auf unser heutiges gutes Glück!“
Siegmund erröthete lebhaft.
„Ich bin beschämt,“ sagte er, während die Gläser zusammenklangen; „verzeihen Sie mir, lieber Meister, daß ich Ihnen nicht eher Glück wünschte zur glänzenden Aufnahme Ihres Werkes!“
„Das namentlich Dein Spiel zu dem schuf, was es bedeuten soll und kann.“
„Sie waren zufrieden?“ fragte der junge Mann zögernd.
„Das fragst Du? Wenn unser Publicum zufrieden ist und das so nachdrücklich äußert, sollte ich meinen, auch Du dürftest befriedigt auf den Erfolg blicken den Dir der Abend gebracht“
Siegmund’s Augen verschleierten sich einen Moment; dann wurden sie weit.
„Dieser Abend hat mir Anderes gebracht,“ sagte er fest. „Wollte ich sagen: Erkenntniß, so wäre das falsch; denn diese kam mir längst, aber er hat mir einen Entschluß gebracht.“
Fügen’s gespannter Blick begegnete dem des Jünglings, doch äußerte er kein Wort, bis Siegmund langsam, nachdenklich hinzusetzte:
„Meine Zukunft kann nicht der Musik gehören –“
Des Meisters Brauen rückten dicht all einander.
„Und weshalb nicht?“ sagte er in einem Tone, dem anzuhören war, wie sehr er sich zusammennahm.
„Weil ich begriffen habe, was ich mich lange sträubte zu begreifen: daß mir Grenzen gesteckt sind, über die ich nicht hinaus kam, wenn ich auch jeden Blutstropfen, jeden Nerv einsetze. Musik ist mir ja der Gipfel des Lebens, aber meine Kraft trägt mich nicht dort hinauf, und doch habe ich Kraft und Willen und Muth gleich Anderen, mehr vielleicht als Viele. Das ist es gerade. Alles Herrliche, das Sie, Meister, wollen und erreichen, das vollbringen Sie doch auch nur als ein Mensch – ich sehe das und kann mich daneben des eigenen Thuns nicht stellen. Was ich je componirt, es ist vielleicht correct, vielleicht melodisch; Sie lobten Manches – die eigenste Kraft, die ich in mir spüre, die kommt nicht darin zum Ausdruck. Unter der Linie dessen zu bleiben, was meine Zeitgenossen bei gleichem Streben vermögen – damit mag und kann ich mich nicht begnügen; es genügt mir nicht, ewig nur ein Virtuose zu sein.“
[604] „Virtuose!“ unterbrach ihn Fügend unwillig, „welches Wort, und wie Du es aussprichst! Hab’ ich Dich etwa zum Virtuosen erzogen? In Einem hast Du Recht: ich leugne Dir nicht, daß wirkliche Schaffenskraft Dir fehlen mag. Giebt es aber keine anderen Ziele für Dich als die Composition? Liebtest Du die Musik so, wie Du sagst, dann könntest Du nicht ohne Weiteres hinfahren lassen, was bisher die Angel Deines Lebens schien. Gerade heraus: was Dich abtrünnig macht, ist nichts und aber nichts, als Dem Ehrgeiz. Du magst Dich nicht begnügen, ein Theil des großen Ganzen zu sein, wenn dies auch Deinem. eigenen Bewußtsein das Ideal repräsentirst. Die Mission, dem Großen, was Andere geschaffen, zur herrlichen Entfaltung zu verhelfen, dünkt Dir zu gering für Deine persönlichen Ansprüche. Ob ich das gut heißen kann, steht aber hier nicht in Frage; ich möchte Keinen zu einem Priesteramte überreden, am letzten einen Deines Gleichen“
Er sprang auf und ging, die Hände auf dem Rücken, eiligen Schrittes hin und wieder. Plötzlich stand er vor Siegmund still, der unbeweglich geblieben, und sagte schroff:
„Nachdem Du, so ganz auf Dich gestellt; Deine bisherigen Zukunftspläne aufgegeben, möcht’ ich Dich fragen, ob Du vielleicht schon einen anderen im Sinne hast?“
„Ja.“ sagte der junge Mann; „ich möchte Officier werden.“
„Was?!“ rief Fügen in entrüstetem Tone.
Siegmund erhob sich. Er war bleich geworden; sein geistvolles Auge blickte fest.
„Wollen Sie mich anhören, lieber Meister?“ sagte er mit etwas bewegter. Stimme. „Ich vermuthete wohl, daß Sie zürnen würden; nur deshalb mochte ich nicht voreilig über Gedanken reden, die mir seit langer Zeit im Kopfe herumgehen. Ja! ich bin ehrgeizig, wenn auch nicht in dem Sinne, wie Sie das Wort nehmen, und ich verdiene darum nicht, von Ihnen geringer geachtet zu werden. Nicht um meinetwillen sehne ich mich hoch zu steigen Als ich mich zum ersten Mal von meiner Mutter trennen mußte, habe ich ihr das Gelübde gethan, sie solle dereinst stolz aus mich werden. Und so weit meine Kräfte reichen, soll sie es werden in jedem Sinne! Sie wissen, wie groß meine Mutter denkt. Gleich einer Fürstin steht sie unter den Menschen, und welchen Platz nimmt sie ein? Ich habe, seit ich bei Ihnen lebe, manche Frau gesehen – ihres Gleichen sah ich nicht. Und sie lebt in Abhängigkeit. Wenn Ihr mir das auch nicht sagt, ich weiß es längst. Um meinetwillen, um reichlicher für mich sorgen zu können, hat sie ihre Freiheit aufgegeben; denn besäße sie Freiheit, zu thun oder zu lassen was sie wünscht, dann blieben wir nicht getrennt, wir, die einander über Alles lieben, über Alles auf der Erde. Ich soll nicht mit eigenen Augen sehen, was Alles sie erträgt, vielleicht in Aussicht auf eine Echtheit, das auch wieder mir zu Gute kommen soll. Oder wissen Sie es anders?“
„Ich weiß nichts, am wenigsten, wohin Du mit Alledem hinaus willst,“ sagte Fügen voll mühsam bekämpfter Ungeduld.
„Ja,“ nickte Siegmund gedankenvoll, „wer wagte auch, sie um etwas zu fragen, das sie verschweigen will? Wie oft hingen mir Fragen und Bitten schon auf der Lippe und durfte doch nicht zu Worte kommen! Was hätte es auch geholfen! Ich war und bin ja nichts. Aber die Zukunft ist mein. Ich will und werde ihr den Platz schaffen, der ihr gebührt – das ist mein Ehrgeiz. Und deshalb will ich Officier werden.“
[617] „Officier willst Du werden, um Deiner Mutter eine angesehene Stellung zu schaffen?“ fragte Fügen. „Du träumst wohl? Der Umgang mit Friesack ’s hat Dir den Kopf verdreht. Ja, könntest Du damit anfangen, Oberst zu werden oder Major! Welche Reihe von Jahren muß aber vergehen, ehe Du nur über den Lieutenant hinaus bist!“
„Ich trage den Gedanken seit langer Zeit in mir und hielt die Augen offen. Der Oberst will mir wohl; er wird mir alles Formelle erleichtern, wenn ich als Avantageur in sein Regiment trete. Anfänge sind in jedem Berufe zu überwinden – dieser führt sicher meinem Ziele entgegen. Keine Willenskraft kann mir Genie geben, mit Studium und Ausdauer läßt sich aber in der militärischen Carriere Auszeichnung gewinnen. Das will ich um meiner Mutter willen.“
Fügen antwortete nicht; ihm war, als sei der Knabe plötzlich nicht mehr derselbe, mit welchem er seit Jahren Haus und Herz, Freuden und Leiden seiner Künstlerseele getheilt hatte. Alles, was Fügen leidenschaftlich gehegt, seine Liebe zur Musik, zu Genoveva, zur Freiheit sogar, war ihm durch Siegmund zu einem Bilde verschmolzen, gleichsam verkörpert. Und nun sollte von diesem geliebten Menschen die Kunst fortan höchstens als eine Art von Luxus gepflegt, seine Freiheit in Fesseln geschlagen werden. Er kam über den Eindruck nicht hinweg, daß Siegmund sein göttliches Erbtheil um ein Linsengericht verkaufen wolle.
Während solche Gedanken sein Inneres bewegten, hatte Siegmund seinen Sitz am Tische schweigend wieder eingenommen; er stützte den Kopf in die Hand und hielt die Augen unverwandt auf seinen alten Freund gerichtet. Dieser blieb auf einmal vor ihm stehen; es wetterleuchtete in seinem Gesicht.
„Nun,“ sagte er, „Jeder mag thun, was er nicht lassen kann.“
„Dank!“ erwiderte Siegmund mit tiefem Atemzuge. „Und was, denken Sie, wird meine Mutter sagen?“
Der Meister bewegte unruhig seinen buschigen Kopf. Diese Frage war, seit Siegmund seine Eröffnungen begonnen, der Hintergrund aller seiner Gedanken gewesen.
„Deine Mutter,“ sagte er finster, „wird zustimmen.“
„Sie glauben?“ Ein Freudenblitz sprühte aus Siegmund’s Augen.
„Ich weiß – ich weiß,“ murmelte Fügen und warf sich in die Sophaecke. In der. That stand ihm außer Zweifel, daß Genoveva dem neuen Lebensplane zustimmen würde, welcher mehr als jeder andere ihren geheimen Erwartungen entsprach. Die Stellung des Officiers näherte Siegmund seinen angeborenen Standesrechten; gelang es ihm, diese zu gewinnen, so fand ihn ein solcher Moment bereits in entsprechenden Kreisen. Auch das vorhin flüchtig hingeworfene Wort: daß Oberst Friesack willig sein würde, dem Freunde seines Sohnes alles Formelle zu erleichtern, hatte für Fügen größere Bedeutung noch, als für den, welcher es ausgesprochen; denn er wußte sehr wohl, wie hoch der persönliche Einfluß eines Commandirenden in der österreichischen Armee anzuschlagen war, wie nöthig er gerade in diesem Falle sein würde. Das Fehlen aller Personalpapiere konnte durch den Oberst ausgeglichen werden. Fügen that sich Gewalt an und besprach mit seinem Mündel die zunächst nothwendigen Schritte, welche jedenfalls erst nach dem bevorstehende Zusammentreffen mit Frau von Riedegg unternommen werden konnten. Er that sich Gewalt an – denn daß etwas wie Reif zwischen sie gefallen war, empfanden Beide deutlich. Als sie sich trennten und Siegmund sein gewohntes: „Gute Nacht, Meister,“ sprach, polterte Fügen’s unterdrücktes Unbehagen in dem Worte heraus: „Bin ich nicht mehr!“
Siegmund athmete tief auf, als er in sein Schlafzimmer trat, aber so luftig das Gemach war, heute erschien es ihm dumpf. Er öffnete das Fenster, um die kühle Nachtluft hereinströmen zu lassen, und lehnte sich auf das Sims. Es war spät, die Straße menschenleer; die meisten Häuser standen in Dunkel und Schweigen. Nur hin und wieder flimmerte schwacher Lichtschein hinter einzelnen Scheiben. Der Mond war niedergegangen; Nebelmassen stiegen auf. Die hochgelegene Citadelle schien frei im Hintergrunde zu schweben. Siegmund hatte ein Gefühl, als müßten ihm hohe Geheimnisse aufgehen.
Die Schwere, welche er von den letzten Stunden mit hinweggenommen, lüftete sich plötzlich. Es war eine steile Stufe, die er heute erstiegen, sein Auge blickte aber von dort aus freier in die Weite. Während sich Fügen mit dem Gedanken quälte, daß er fruchtlos gestrebt, sein Eigenstes in die Seele des Zöglings zu pflanzen, wuchs diesem gerade auf der Basis innerer Harmonie, die er vom Meister empfangen, das Bewußtsein auf: jedem Conflict des Lebens gewachsen zu sein. Wie ein Gestirn stand das Bild der Mutter über ihm, und diesem Sterne zu folgen, konnte auf keinen Irrweg führen.
In gehobener Stimmung schloß er das Fenster. Als er die Kleider abstreifte, fiel etwas Leichtes, Kühles auf seine Hand. Sinnend betrachtete er im Sternenzwielichte die noch im Welken tiefblaue Blüthe und legte sie dann in ein Fach seines Notizbuches. Sie sollte ihm ein Zeichen des Tages bleiben, der über sein Geschick entschieden hatte.
[618]
„Höher hinauf, Lois!“ sagte Jana zu ihrem Bruder, der auf der Trittleiter stand und schwere Laubguirlanden über dem Mittelfenster des Terrassenzimmers befestigte; „es macht sonst zu dunkel.“
Lois folgte der Weisung.
„Es sind nicht Deine Kränze, die das Zimmer verdunkeln,“ sagte er dann im Niedersteigen. „Sieh nur den Himmel an!“
Sie trat näher und blickte nach dem Gewölk, das in fliegender Eile einherzog. Fast in demselben Moment klappten die geöffneten Fensterflügel zu; unheimliches Rauschen ging durch die Luft, und ein feiner, gelblichgrauer Wolkenstreif fiel wie ein Schleier über den Gipfel des Heiteren Lahn.
„Gut, daß unsere Reisenden erst nach einigen Stunden eintreffen!“ meinte Jana. „Der Scirocco ist im Anzuge.“ Sie schloß eilig das wieder auffliegende Fenster, zu dem ein Gluthhauch hereindrang.
Lois schwieg. Sein Auge hing unverwandt am Himmel, der ein eigentümliches Schauspiel bot. In Form und Farbe unaufhörlich wechselnd, jagte eine Heerschaar von Wolken vorüber, kupferfarbig, grünlichgrau, kiesschwarz, mitunter von weißlichen Punkten erhellt, die sich wie riesige Schneeflocken auf den schwer dahinwogenden Massen zu schaukeln schienen. Nebel flatterten über die Wälder, und hinter den Bergen drohten dunkle Gewalten bis eines der Gebirgshäupter nach dem andern von den Wolken gleichsam verzehrt wurde.
Lois wendete plötzlich den Kopf.
„Wo ist Maxi?“ fragte er unruhig.
„In der Mühle. Keine Sorge! Sie bleibt dort bis zur Postzeit – das ist noch lange hin; die Mutter läßt sie auch nicht fort bei solchem Wetter.“
„Und wozu heut in der Mühle?“ fragte Lois ärgerlich.
„Warum läuft sie weg, während Du alle Hände voll zu thun hast? Kann das Mädchen nie zur Stelle bleiben, wo man sie braucht? Du lässest ihr auch allen Eigenwillen.“
„Nun, nun!“ begütigte Jana lächelnd, „wozu ereiferst Du Dich? Vielleicht hab’ ich sie nur deshalb gehen lassen, weil mir ahnte, daß Du kommen würdest. Ihr zankt Euch ja beständig – das ist nicht besonders angenehm für die Zuhörer, und ich möchte mir heut die Laune nicht gern verderben lassen. Scherz bei Seite: warum könnt Ihr Beide Euch denn gar nicht vertragen?“
Lois erglühte. Ohne zu antworten, ergriff er rasch die Trittleiter und trug sie hinaus. Er hatte während verschiedener häuslicher Hülfsleistungen vorhin die Soutane abgestreift und eine leichte Leinwandblouse übergeworfen, die seinen schlanken Wuchs trefflich zur Geltung brachte. Jana sah ihm wohlgefällig nach, war aber erstaunt, als er völlig angekleidet, den flachen runden Hut in der Hand, zu ihr zurückkehrte.
„Du willst doch jetzt nicht fort?“ sagte sie rasch. „Bis Du heimkommst, ist das Gewitter längst ausgebrochen; es wäre doch ein Unsinn, da unterwegs zu sein. Ich dachte überhaupt, Du wolltest Riedegg’s hier erwarten – sagtest Du nicht so?“
„Heut ist mehr im Anzug als ein gewöhnliches Unwetter,“ sagte er und blickte wieder unruhig nach dem fahlen Wolkengetriebe. „Wenn daheim etwas passirte!“
„Was soll passiren?“ meinte Jana gelassen. „Gewitter sind doch keine Seltenheit bei uns; ich begreife nicht, warum Du Dir heute solche Gedanken machst. Nein, ich lasse Dich nicht fort, brauche Dich auch noch bei meinen schönen Einrichtungen, und Du hast ja nichts zu versäumen. Komm, setz’ Dich, und laß uns ein wenig plaudern! Schau’ mir vor Allem nicht gar so ernsthaft drein! Ich bin so freudig: meine Feiertage brechen an.“
Lois legte schweigend den Hut weg, setzte sich zu Jana und sah sie an. Ihr liebes Gesicht war wirklich von Freude wie beleuchtet. In plötzlicher Bewegung ergriff er ihre Hand und drückte sie warm:
„Gute, genügsame Seele!“
„Genügsam, während ich vollauf habe? O Lois, es giebt so viel Schönes auf der Welt, so viel Liebes zu tun alle Tage! Und dazu noch in jedem Jahr auf solche Festtagszeit warten, sie dann erleben zu dürfen, wie herrlich ist das! Um nichts gäb’ ich schon die Vorfreude hin, und wenn sie dann Alle kommen und ich fühle, daß ich zu ihnen gehöre, mich an diesen drei Menschen erlaben darf die ihres Gleichen nicht haben – sollt’ ich da nicht glücklich sein? Und dieses Jahr habe ich Dich dazu nach langer Entbehrung.“
„Mich –“ sagte Lois und sah zu Boden.
„Meinst Du, Dein Ernst könnte meine Freude stören? O nein! Ich möchte Dich nicht anders, jetzt, wo Deine Weihen so nahe sind. Dieses Warten auf ein Höchstes muß Dich ja von Menschen und Dingen abziehen; ich begreife Dein Innenleben und wie Du jetzt dahin zurückgezogen bist, wie in eine heilige Einsiedelei.“
Lois stand rasch auf und trat wieder an das Fenster. Schweres Dunkel überschattete plötzlich das große Zimmer; es krachte, als wolle das Haus einstürzen sammt dem Berge, der es trug. Der Horizont brannte von Blitzen, die meilenweit durch das schwarze Gewölk zuckten. Es heulte um die Waldecke – der Kampf der Gegenwinde begann.
„Wie sich’s bei dem Sturme wohl drüben in der Einsiedelei hausen mag?“ warf Lois hin.
„Wie bist Du doch heute!“ sagte Jana und blickte besorgt nach dem Bruder. „Komm’ – ich möchte mit Dir über etwas reden, das mir sehr am Herzen liegt. Es hätte früher geschehen sollen, aber ich kann mir schon denken, wie Du mir rathen wirst, und weil es mir schwer fällt, dem Rat dann zu folgen, und es doch wird sein müssen – darum verschob ich’s immer. Jetzt ist es aber die höchste Zeit, denn man kommt so leicht nicht dazu, unter vier Augen zu sprechen, wenn die Andern da sind. Deshalb hab’ ich eigentlich heut die Maxi fortgeschickt.“
Lois setzte sich seiner Schwester ganz nahe.
„Nun?“ fragte er gespannt, ohne sie dabei anzusehen.
„Es ist wegen der Maxi. Schau, ich wollt’ es Dir nicht Wort haben, Du hast aber ganz Recht: das Kind hat nirgend Rast und Ruh’, und ich mache mir Gedanken darüber, ob es gut ist, sie länger hier zu lassen. Launisch und ungestüm ist sie ja immer gewesen, so wie jetzt aber nie. Es mag ihr allzu einsam vorkommen – so allein mit mir das ganze Jahr. Was hat sie auch viel zu thun? Bei ihren Kränzen und Blumen läßt sie’s an Eifer nicht fehlen, verdient sich auch manchen Gulden dabei; die alte Thresl, der wir den Verkauf lassen, rühmt immer, wie Jedes nur ein Kränzel von der Maxi haben will. Aber gerade das Stillesitzen ist nichts für sie, und kein Wunder, wenn sie jeden Vorwand benutzt, um sich davon zu machen. Weißt Du, es war vielleicht doch gefehlt, daß ich ihr alles beibrachte, was ich selber gelernt hab’; ist wenig genug, lauter Zusammengestoppeltes – ich meinte aber ihr damit das einsame Leben abwechselnder zu machen und hab’ sie vielleicht nur unzufrieden damit gemacht. So dacht’ ich denn, ob es nicht geratener wäre, die gnädige Frau zu bitten, daß sie das Kind mitnimmt und zum Dienst für sich verwendet; sie muß ja doch in dem herrschaftlichen Hause Jemand der Art haben. Dann hab’ ich aber auch wieder Bedenken; ich weiß wenig genug von der Welt draußen, kenne sie eigentlich nur aus den Geschichten, die in Büchern stehen, aber die Maxi ist jetzt achtzehn Jahr alt, und sie ist so schön, daß alle Leute sie darum berufen. Das könnte ihr Gefahren bringen, wenn ich sie fortgebe. Nun sprich, was meinst Du?“
Lois zuckte die Achseln.
„Welchen Rath verlangst Du? Geistlichen oder weltlichen? Darauf wird es ankommen,“ sagte er mit einer Schärfe, die seine Schwester befremdete.
„Ich verlange den Rath meines lieben Bruders, der uns kennt,“ erwiderte sie sanft.
„Dann laß sie, wo sie ist! Was wird aus Dir werden, wenn Du auch noch Dein Letztes fortgiebst? Daran hast Du natürlich bei der ganzen Frage nicht gedacht, wie gewöhnlich – die Andern, das ist Dein Dogma. Willst Du nun gar todteinsam hier sitzen bleiben in dem alten Gemäuer und auch dann noch in Heiterkeit auf die vier oder sechs Wochen warten, wo Du Mensch unter Menschen, Deines Gleichen sein darfst? Unsinn! Laß das Mädchen hier – sag’ ich. Sie soll sich zusammennehmen, wie das Jeder muß; zwischen Fremde taugt sie ganz und gar nicht hinein, und – was Du zuletzt sagtest, Dein Bedenken, wiegt tausendmal schwerer, als ihre Langeweile.“
„Du meinst?“ rief Jana ganz glückselig. „O, wenn ihr damit kein Unrecht geschieht, so bleibt sie da. Wenn Du mir nur ein wenig helfen möchtest, Lois; ich hatte so viel von Deinem Einfluß, von der Zeit erwartet, wo sie die geistliche Autorität bei Dir erkennen würde, – auf die Art, wie Du mit ihr umgehst, [619] bringt man sie aber zu nichts. Du bist immer herb – da steift sie sich, statt nachzugeben, und es ist ja sonst auch gar nicht Deine Art. Wie gern hattest Du sie, so lange sie klein war!“
„Was giebt es?“ rief Lois statt zu antworten und horchte gespannt auf Stimmen, die unten im Hause vernehmlich wurden Zugleich drang der Laut ferner Glocken schwach durch die geschlossenen Fenster. Eilige Schritte liefen treppauf; das Hausmädchen stürzte athemlos herein und stammelte:
„Der Alpbach kommt.“
„Herrgott!“ rief Lois erblassend. „Ist’s wahr?“
„Gerad’ ist der Knecht mit dem Wasserfaß heraufgefahren, der sagt’s. Drunten ist schon alle Welt unterwegs nach Lahnegg und dem Mühlthal – es soll arg sein.“
Jana stützte sich zitternd an den Tisch.
„Maxi – die Mutter –“ kein weiteres Wort kam aus der zusammengeschnürten Kehle.
Lois hatte sich schon den Hut aus den Kopf gedrückt.
„Ich schicke Nachricht,“ sagte er mit hastigem Händedruck.
„Den Knecht nehme ich mit. Bleib’ Du mit der Magd ruhig hier. Ich bitte Dich. Vielleicht bring’ oder schicke ich Dir bald Einquartierung, die Deiner bedarf. An Ort und Stelle können Weiber vorerst nichts helfen.“
Er war hinaus. Jana lief zum Treppenfenster, das nach der Landstraße ging. Nach so kurzer Zeit, daß sie nicht begriff, wie er inzwischen den Berg hinabgekommen, sah sie ihren Bruder mit wehender Soutane, den Hut in der Hand, davon eilen und dann, wie vom Winde vorwärts getrieben, ihren Augen entschwinden. Von allen Seiten her liefen Leute über die Felder der gleichen Richtung zu, ohne Regen und Sturm zu beachten. Es donnerte nicht mehr, durch die Luft ging es aber wie gespenstisches Stöhnen und Klagen, das mitunter zu wildem Getöse anschwoll, um endlich hohl und dumpf an den Felswänden zu ersterben. Die Glocken aller Kirchtürme der Thalbuchten wimmerten gleich bangen Hülferufen.
Lois fand sich in seinem Vordringen alle Augenblicke durch Leute aufgehalten, die Wagen und laut blökendes Vieh über den Weg trieben. Einzelne Anrufe, die er nur halb verstand, drangen erschreckend an sein betäubtes Ohr; scharfer Erdgeruch durchdrang die Luft. Dann erblickte sein Auge die schaurige Zerstörung, die er im Geiste vorhergesehen, in Wirklichkeit: Lawinengleich war der Wildbach vom Hochthale niedergetost, erst durch steile Felswände in enger Rinne festgeklemmt, dann in wütender Freiheitsgier seine Ufer überfluthend, Furchen wühlend, Erdhaufen türmend, Steine und Felsblöcke unaufhaltsam mit sich reißend.
Als Lois zwischen verheerten Feldern seinem Vaterhause zustrebte, sah er das ziemlich hochliegende Gebäude zwar unversehrt, die Mühle war aber zertrümmert – wo sie gestanden, hatte das Unwetter eine tiefe Schlucht aufgewühlt, die gleichsam ein Becken für die Gefälle bildete. Hoch schäumend brauste dort der Gischt, nicht schimmernd weiß, wie sonst. Das von all dem Schutt, den Erdklumpen, die es mit sich niedergerissen, in eine mißfarbige, breiartige Masse verwandelte Wasser wälzte sich schwerfällig und dennoch gewaltsam vorwärts und spielte Fangball mit Trümmern und riesigen Felsstücken, die es gleich Sandkörnern in die Höhe schleuderte. Trüber Dampf stieg daraus auf, hing darüber, als wären unterirdische Dämonen losgelassen und hätten den Brodem mit sich gebracht, in dem allein ihnen zu atmen möglich. Weinreben sammt ihrem Spalier, in der Mitte geborstene Bäume, Kreuze von den Gräbern des Friedhofes, Bauhölzer und Stroh – all das schoß wild durch einander. Zwei der Stege waren spurlos verschwunden; der dritte, entlegenste stand noch, da er nur einen zum Betrieb der Lahnegger Mühlen abgeleiteten Arm des Baches überdachte, dessen Hauptströmung sich mehr zur Linken fortgewühlt.
Lois erschrak, als er durch den Regenschleier, der auf fünfzig Schritte weit kaum etwas unterscheiden ließ, eine menschliche Gestalt auf dieser schwanken, durch jede nächste Secunde bedrohten Brücke zu erkennen glaubte. Unmöglich war es, sich von hier aus der Stelle direct zu nähern; es bedurfte dazu eines zeitraubenden Umweges. Vergebens blickte er nach dem Knecht aus, den er von der Moosburg mitgenommen, der aber weit hinter ihm zurückgeblieben war. An Thür und Fenster des Hauses zeigte sich keine Seele. Wollte er retten und helfen wo es zunächst Not that so galt es keine Zeit zu verlieren. Den Hebungen und Senkungen des Thalbodens folgend, den er so genau kannte, eilte er, einen belaubten Hügel zu gewinnen, der fast parallel mit dem Stege stand. Und von diesem Hügel aus unterschied er Formen und Züge der von rettungslosem Untergange bedrohten Gestalt, unterschied Maxi’s dunklen Kopf, ihre Arme, die das Geländer umklammert hielten.
Sie mußte betäubt oder ganz erschöpft sein; kein Laut, kein Hülferuf ging von ihr aus. Lois preßte die Lippen fest auf einander. Mit dem scharfen Blick eines Kindes der Gebirge überflog er das Terrain. Die von hier aus erwartete Verbindung mit dem Stege war zerstört; auch dieser sonst nur hinfädelnde Arm des Alpbaches weit über sein enges Bett getreten. Der fest eingerammte Pflock, welcher das diesseitige Ende des Brettes trug, stand unter Wasser, und bis die andere Seite gewonnen war, konnte es zu spät sein. Lois’ Augen glühten; er lief plötzlich den Hügel hinab, kniete, vorn übergebeugt, auf die Gefahr hin, vom Wasser fortgespült zu werden, in Schlamm und Kies des schmalen Bodenstreifens nieder und erfaßte mit seinen nervigen Händen eine heranschwimmende Stange.
Nun erst, als er sich ausrichtete, rief er in starkem Ton: „Maxi!“ Er sah, wie sie zusammenfuhr und sich jäh umwandte. „Laß das Geländer nicht los! Rege Dich nicht!“ rief er ihr zu und schritt, den Grund mit der Stange prüfend, festen Fußes durch das ihm bis über. die Schultern reichende schäumende Wasser dem Steg entgegen.
Sie regte sich nicht. Den Kopf zurückgeworfen, stand sie wie eine Säule, die leuchtenden Augen fest auf Lois geheftet, der sich nach wenigen Minuten kräftig zu ihr emporschwang.
„Du!“ athmete sie nur und warf beide Arme um ihn. Er hob sie wie ein Kind aus seinen linken Arm und ging, die Stange in der Rechten, scharf aufmerkend, dem anderen Ende des Steges zu. Zwei, drei Schritte – da fühlte er das Brett unter feinen Füßen schwanken und krachen.
„Heiliger Gott!“ Der Seufzer ging mehr gedacht als gesprochen über seine Lippen; zugleich klang es wie Frohlocken in sein Ohr: „Mit Dir!“ Ein Kuß glühte auf seinem Munde. Da barst das Brett. Er umklammerte es im Sinken, auch Maxi erfaßte es instinctiv mit einem ihrer Arme, während der andere fest um Lois’ Hals geschlungen blieb. So schwammen sie einher, mit rasender Eile vom tiefer gehenden Wasser getragen, stets in Gefahr von einen Wirbel erfaßt, von einem entwurzelt dahinschießenden Baumstamme zerschmettert zu werden – Beide willig und bereit zum Sterben, Lois vielleicht mehr noch als das Mädchen, dessen Arm seinen Nacken umschlung, dessen Kuß noch auf seinen Lippen brannte.
Der Tod will aber selten die, welche ihn willkommen heißen. Nicht der entfesselten Hauptströmung zu – rettendem Ufer entlang trieb das leichte Brett, das seine Bürde nicht hatte tragen wollen und sie nun doch dem Leben entgegen trug. Der Strand wimmelte weiter hin von Menschen, und von einer kleinen vorspringenden Landzunge aus zog ein Wurfhaken, an dem ein Seil befestigt war, die Gefährdeten glücklich an das Land.
Maxi hatte nicht einen Moment das Bewußtsein verloren, und als sich Beide, von teilnehmenden Leuten umdrängt in ein nahes Wirtshaus bargen, um vor Allem trockene Kleider zu erhalten da sagte Maxi: „Gelt, Lois, nachher gehen wir zur Mutter. Sie ist daheim, und es ist ihr nichts geschehen aber der Schreck! Wir müssen gleich hin.“
Lois nickte stumm. Ehe er die Scheune betrat, gab er einem Buben den Auftrag, sogleich nach der Moosburg zu laufen und dort auszurichten, sie wären Alle geborgen.
Eine kurze Weile nachher traten die kaum Geretteten den verabredeten Weg an. Lois hatte keine Ruhe; es drängte ihn zu seiner Mutter, welche, nach schwerer Krankheit kaum in der Genesung, so großen Schrecken schwerlich ohne Schaden ertragen haben mochte. Maxi stand auch schon bereit, als er aus dem Wirthshause heraustrat. Sie hatte ein weißes Tuch über ihr zum Trocknen aufgelöstes Haar geworfen; die Hülle bedeckte nur den Scheitel, die blauschwarzen Strähne aber hingen schwer bis zu den Knieen nieder. Das Wirthstöchterchen hatte ihr einen Anzug gegeben. Lois trug die Sonntagskleider des Knechtes; so machten sich Beide auf den Weg.
Der grausige Wassersturz hatte kaum eine Stunde Dauer gehabt. Wohl brausten und zischten die Gewässer noch, in der Luft war es aber still geworden. Man schweigt zu keiner Zeit tiefer, als wenn man sich unermeßlich viel zu sagen hätte. So gingen Lois und Maxi stumm hinter einander auf dem schmalen hochgelegenen Pfade durch die vom Sturme beschädigter Felder. Etwa [620] in der Hälfte des zurückzulegenden Weges sah Lois die Maxi, welche vor ihm herging, plötzlich schwanken und fing die Sinkende auf. Ihre Augen hatten sich geschlossen; ihr Gesicht war so farblos, daß er erschrak. Voll Sorge sah er sich nach einem Rastorte um und trug die beinahe reglose Bürde nach einer Bank, welche etwa zwanzig Schritte von hier unter einem Nußbaume stand. Dort ließ er sie sanft nieder. Sie öffnete einen Moment die Augen, um sie gleich wieder zu schließen. Doch zeigte die Art, wie ihr Kopf sich gegen den Stamm lehnte, daß sie nicht ohne Bewußtsein war.
Lois’ Blick hing wie gebannt an ihrem Gesichte. Wie schön sie war, wie verführerisch schön! In dieser Regungslosigkeit trat das reizende Ebenmaß der kleinen Gestalt noch fesselnder hervor als in der wilden Grazie ihrer Beweglichkeit.
Nun regte sie sich plötzlich und schlug die großen Augen weit auf; Lois fuhr zusammen. Sie sah aber nicht nach ihm – sie blickte nach oben.
„Schau!“ sagte sie und berührte leicht seinen Arm. Er folgte ihrem Blicke. Ein doppelter Regenbogen stand farbig auf dunklem Wolkenhintergrunde, hoch über allem Graus des schauerlich verwüstete Thales. Maxi wandte ihre Augen langsam auf Lois. „So kamst Du,“ sagte sie leise, „und tratest vor den Tod.“
Ein Gedanke, der während des ganzen Weges in Lois gerungen hatte, zu Worte zu kommen, kam jetzt plötzlich zum Ausdruck.
„Wie ging es zu, daß Du dort warst?“ fragte Lois mit kaum unterdrückter Heftigkeit. „Warum bliebst Du nicht im Hause?“
Sie wurde dunkelroth und antwortete nicht.
„Ich will das wissen,“ sagte er in starkem Tone und preßte die Hand auf ihren Arm. „Es war ja Tollheit!“
Maxi sah ihn an.
„Willst es wissen?“ fragte sie zurück. „Nun,“ fuhr sie nach kurzem Bedenken in jenem trotzigen Tone fort, der so leicht bei ihr zu wecken war, „nun, ich blieb dort, weit es mir recht war, zu sterben, und weil dann Keiner erfahren hätte, daß es mir recht gewesen wäre.“
„Sterben –“ wiederholte er dumpf.
„Willst auch wissen warum?“ fragte sie wieder. „Weil Du fortgehst, Lois – darum, und auch, weil ich glaubte, Du könntest mich nicht leiden –“
Er drückte plötzlich seine Hand auf ihre Lippen; diese Lippen brannten aber gegen die Hand, die sie schweigen machen wollte, und im nächsten Momente umschlangen des Mädchens beide Arme seinen Nacken.
„Es ist ja Alles nicht wahr,“ stammelte sie in sein Ohr. „Du hast mich ja gern – seit vorhin weiß ich’s; als wir zu sterben meinten, hab’ ich Dich geküßt, und Du hast mich wieder geküßt. Lois, Lois, Du hast mich ja gern.“
Lois, der seit Jahren zurückgedrängten Leidenschaft nicht mehr mächtig, preßte das Mädchen stürmisch an sich; sein Mund glühte nun wirklich auf dem ihren, und abgebrochene Laute heißer Zärtlichkeit trafen ihr dürstendes Ohr. Sie schmiegte sich dicht, ganz dicht an seine Brust, zitternd vom Kopf bis zu den Füßen. Wie lange sie dort beisammen saßen, Haupt an Haupt und Herz an Herz, sie wußten es nicht – die Welt war vergessen und der Himmel auch.
Es war Maxi’s Verhängniß, den Zauber selbst zu brechen. Sie warf plötzlich den Kopf zurück; ihr leises Lachen weckte in Lois, was ihm von Besinnung noch übrig geblieben, und als sie frohlockend, wenn auch ebenso leise, rief: „Du gehörst mir!“ da sprang er, wie von elektrischem Schlage berührt, auf seine Füße.
„Nie!“
„Du gehörst mir,“ wiederholte sie zuversichtlich. „Meinst Du, jetzt ließe ich Dich noch? Meinst Du, jetzt könntest Du noch ein Pfarrer werden? Du hast mich geküßt“
„Gott steh’ mir bei!“ murmelte der junge Mann mit abgewendetem Gesicht.
„Der Xaver Lederer vom Bühelhofe war auch lange im Seminar,“ fuhr Maxi unbeirrt fort, „und ist nachher doch Lehrer geworden, als er sich den Fuß gebrochen hatte und davon lahm wurde. Der hat auch schon die ersten Weihen gehabt, wie Du, und hat trotzdem Lehrer werden und nachher heirathen dürfen. Das kann man also thun.“
„Das kann man thun,“ sagte Lois tonlos.
In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der Maxi’s drängende Rede mit einem Male durchschnitt. Sie blickte ängstlich auf ihn, während er mit tiefgesenktem Kopfe weitersprach, als würden seine Gedanken zu Worten, ohne daß er es nur wüßte.
„Drei Jahre lang hab’ ich gestritten – umsonst, umsonst!“ Er faßte Maxi’s beide Hände und heftete seinen düsteren Blick auf sie. „Ja, gestritten! Ich weiß ja längst, wie es mit uns steht, bin darum in den letzten zwei Jahren nicht heimgekommen trotz allem Bitten der Mutter. Da muß sie todkrank werden und nach mir verlangen, da muß mich der Bischof selbst herschicken, wider die Regel, da muß gar der Alpbach stürzen, damit wir ganz elend werden alle Zwei.“
„Elend?“ wiederholte Maxi, „o nein, glückselig.“
„Priester werden ist das Höchste. Aber Du magst Recht haben, daß ich kein Pfarrer mehr sein kann, seit ich Dich küßte.“
Er versank in stummes Britten.
Maxi glitt auf ihre Kniee, erfaßte seine niederhängende Hand und preßte sie zwischen ihre beiden kleinen Hände, während sie mit athemloser Inbrunst sprach:
„Bedenke, Lois, ich hab’ vom Leben nichts mehr wissen wollen, weil ich’s nicht aushalten kann ohne Dich! Was wird aus mir, wenn Du mich jetzt verstoßen willst? Lieber Lois – da muß ich ja doch sterben. Ich weiß, Du kannst mein Wildsein nicht leiden, aber sage nur, wie Du mich haben möchtest! Ich will folgsam sein in Allem. Nur verstoße mich jetzt nicht mehr!“
Ihre Augen flehten unwiderstehlicher als ihr Mund. Ein schwacher Seufzer rang sich aus Lois’ Brust.
„Sei stille!“ sagte er in sanftem, traurigem Ton. „Ich will thun, was Du begehrst, aber auch Du mußt Dein Wort halten und folgsam sein. Vor Allem fordere ich, daß Du schweigst – gegen jede menschliche Seele, ohne Ausnahme. Ein heiliger Beruf läßt sich nicht so leicht abstreifen, wie die Soutane.“
Er brach ab – das Wort erinnerte ihn daran, daß er schon jetzt keine Soutane trug; es berührte ihn seltsam, daß er das geistliche Gewand heute zweimal abgelegt hatte. Mit der Blitzesschnelle, mit welcher Gedanken eilen, ging die ganze Kette dieser Nachmittagsstunden an seinem Geiste vorüber – Jana’s Worte über Maxi, Alles. An wen hatte er seine Seele verkauft? Ein dunkler Blick traf das Mädchen, das ihm in strahlender Befriedigung gegenüber stand.
„Wie konntest Du meine kranke Mutter in ihrer Angst und Noth verlassen?“ fragte er schroff.
„Du weißt warum. Und die Gundel ist ja bei ihr.“
„Die Magd – das nennst Du Liebe?“
Sie antwortete nicht; aus den großen vorwurfsvollen Augen fielen helle Tropfen.
„Komm’!“ sagte Lois auf einmal erweicht, „wir dürfen nicht länger säumen. Du versprichst mir also, Dich zusammenzunehmen. Nicht meine Mutter, nicht Jana dürfen erfahre, was ich Dir heut versprochen habe – erst muß ich mit meinen Oberen im Reinen sein. Wirst Du im Stande sein, Dich zu beherrschen?“
Maxi warf die vollen Lippen auf:
„Traust Du mir gar nichts zu?“
Ein halbes Lächeln zuckte, gleich erlöschend, um seinen ernsten Mund.
„An Deinem Schweigen, Maxi, hängt mein Reden – das bedenke!“ sagte er dann in schwerem Tone.
Und schweigend wanderten die so unerwartet, so seltsam Verbundenen dem schon sichtbaren Vaterhause des zum Abfall entschlossenen Priesters zu.
Der Abend war schon weit vorgerückt, als der Extrapostwagen mit den erwarteten Reisenden am Thore der Moosburg hielt. Siegmund und Fügen hatten, Frau von Riedegg’s Weisung gemäß, deren Eintreffen in der Festungsstadt erwartet, von welcher Lahnegg nicht weit entlegen war, und der heftige Ausbruch des Gewitters veranlaßt die kleine Gesellschaft, nachdem sie vollzählig geworden, dasselbe erst vorübergehen zu lassen, ehe sie ihre Fahrt fortsetzte. Was Genoveva und Siegmund entging, weil sie ganz und gar nur mit einander beschäftigt waren, fiel Fügen gleich im ersten Moment auf: daß Jana’s Empfang heute nicht weniger herzlich, aber offenbar weniger freudig war als sonst.
Bald erfuhr er, was heute Nachmittag vorgegangen. Jana’s große Angst um Maxi und die Mutter war nun zwar beschwichtigt, [622] aber doch nicht völlig gehoben; denn das Mädchen machte ihr Sorge. Maxi war spät und fiebernd heimgekehrt, und Jana hatte sie zu Bette gebracht, voll Besorgniß um sie wie um die Mutter, die den Schreck zwar momentan leidlich überstanden hatte, deren angegriffene Gesundheit aber schwer dadurch erschüttert sein mochte.
Während Fügen tröstlich zu ihr sprach und ihr zuredete, nach so viel Aufregung doch nun auch die Ruhe zu suchen, saß Genoveva mit ihrem Sohn am Fenster des Eßzimmers, ihrem alten Lieblingsplatze. Die kleine Mahlzeit, welche Jana vorbereitet hatte, war eingenommen worden; über dem Eßtische hing, wie von jeher, die Lampe, aber dort, wo Mutter und Sohn beisammen saßen, drang ihr Licht nicht hin; sie saßen im schwachen Zwielicht der Sterne, welche nun den frei gewordenen Himmel bedeckten. Von Jahr zu Jahr empfing Siegmund von seiner Mutter den gleichen Eindruck: daß sie herrlicher, unvergleichlicher sei als je zuvor. Sobald sie bei ihm weilte, verschwand ihm Alles; was nicht sie war, verlor Farbe und Nähe; er fühlte sich unwiderstehlich von ihr angezogen; ihre dunklen Augen, die nur für ihn den Ausdruck stolzer Ruhe in den der Zärtlichkeit veränderten, trafen sein innerstes Herz und öffneten es weit. Als sie heute Nachmittag in das kleine, dürftige Gasthofzimmer getreten war, schien ihm dieses plötzlich in einen vornehmen Raum verwandelt; seiner Mutter bloße Erscheinung beherrschte jede Sphäre. Und wie sie ihm nun hier gegenüber saß, den edlen Kopf leicht zu ihm vorgeneigt, und mit der leisen melodischen Stimme nach seinem Leben und Sein fragte, da strömte ihm alles, was zu sagen er sich so schwer gedacht, wie von selbst aus der entfesselten Seele. Alles, was er durchgekämpft, was er aufgab und begehrte, kam ihm zu neuem, tieferem Bewußtsein. Alle Schwere war gleichsam aus ihm hinweggezaubert; nur Hoffnung, Liebe und Freude beschwingten sein Gemüth.
Und Genoveva? Sie trank die Seele des Einzigen, den sie auf Erden liebte, wie nur die Kraftvollen zu lieben im Stande sind, dürstend in sich, und wenn auch ihr Entscheiden über alles, was er in ihren Willen legte, bis morgen verschoben blieb - Genoveva entschied seit langen Jahren nie unter dem Eindruck des Augenblickes – so fühlte Siegmund doch, daß sie ihm nicht entgegen war. – –
[637] Für Mutter und Sohn folgten nun köstliche Tage. Bloßes Beisammensein ist für die Liebe, welchen Charakter sie auch trage, schon die höchste Glückseligkeit, was Siegmund aber besonders das Herz leicht und froh machte, war die Wahrnehmung , daß seine Mutter nunmehr begann, den Schleier, der bisher auf allen ihren Lebensbedingungen gelegen, für ihn allmählich zu lüften. So empfing er denn aus ihrem Munde nicht nur eine Aufklärung über die Stellung, welche Genoveva in den letzten Jahren im Clairmont’schen Hause eingenommen, sondern auch Mittheilungen über eine Wendung, die für sein und seiner Mutter Leben von der größten Wichtigkeit war: Frau von Clairmont war gestorben; nach jahrelangem Kränkeln hatte sie endlich die Ruhe gefunden, die ihr zeitlebens nicht beschieden gewesen. Clairmont, ein Lebemann, stets daran gewöhnt, sich inmitten reicher äußerer Formen zu bewegen, hatte bei dem andauernde Leiden seiner Gattin einer Persönlichkeit bedurft, welche fähig war, an Stelle der Kranken das Haus zu repräsentiren und die ihn ermüdende Leidende zu beschwichtigen. In Genoveva war ihm geworden, was er gesucht, und sie selbst hatte es sich durch Uebernahme dieser Stellung zur Aufgabe gemacht, einerseits ihrem Sohne die nöthigen pecuniären Mittel zu schaffen, andererseits aber Frau von Clairmont eine freundschaftliche Stütze zu sein. Nun hatten sich die müden Augen der kranken Frau geschlossen. Herr von Clairmont hatte seiner Verwandten eine nahezu fürstliche Jahressumme als persönliches Einkommen gewährt und sich erboten, ihren Sohn zum künftigen Erben seiner ganzen Habe zu bestimmen, wenn Genoveva einwillige, sein Haus ferner zu führen. So war Mutter und Sohn mit einem Schlage eine sorgenlose Zukunft eröffnet worden.
Siegmund sah seine Mutter nicht im Banne einer demüthigenden Lage, wie er gewähnt hatte sie zu finden. O nein – vornehm und ruhig, wie sie ihm all das mitgeteilt, mußte ihre Stellung sein.
So flohen die Tage den glücklich Vereinten froh dahin. Inzwischen war Antwort auf die Briefe eingelaufen welche Siegmund an den Oberst Friesack und Max gerichtet hatte, und zugleich auf ein Schreibe Fügen’s, in welchem er im Auftrage Genoveva’s das durch ein schon verjährtes Ungefähr veranlaßte Fehlen von Personalpapieren berührt hatte, wofür als Ersatz nur der in Genoveva’s Besitz befindliche Kaufvertrag der Moosburg, welcher auf den Namen Riedegg lautete, als Identitätsbeleg angeboten werden konnte. Des Obersten Antwort lautete durchaus befriedigend, und er stellte Siegmund den Eintritt als Avantageur in sein Regiment frei, sobald dieser es wünsche. Max schrieb in hellem Jubel. Fügen theilte die zufriedene Stimmung, welche der Brief des Obersten hervorgerufen nur zuweilen; denn kein Mensch, auch der Beste nicht, verwindet es leicht und schnell, sich da, wo er mit voller Hingabe geliebt, nicht nur äußerlich, sondern innerlich als fortan überflüssig zu empfinden. Es schmerzte ihn, daß Genoveva’s Einwilligung in Siegmund’s Berufswechsel ohne jeden Rückblick auf das kostbare Aufgegebene stattfand, und ein gewisses Gefühl des Gekränktseins gab ihm Siegmund gegenüber eine Zurückhaltung, einen fremderen Ton. In solcher Stimmung, welche Fügen mehr und mehr von den beiden Menschen entfernte, die er so herzlich liebte, suchte und fand er bei Jana Trost, obgleich er auch an dieser die gewohnte Heiterkeit, das ihm so wohlthuende innere Genügen vermißte.
Es mochten etwa acht Tage des auf sechs Wochen geplanten Zusammenlebens vergangen sein, als Fügen eines Abends, nachdem er Jana vergebens überall gesucht hatte, diese im Musikzimmer in Thränen fand. Sein theilnehmendes Fragen löste ihr das Herz, und sie schüttete ihm ihre heimliche, täglich wachsende Sorge um Maxi aus: Das Mädchen sei vom Tage des Alpbachsturzes an wie im Fieber und müsse sich irgend einen Schaden zugezogen haben. Krank sei sie sicher, sehr krank; nicht nur das Fieber deute darauf hin – ihr ganzes verändertes Wesen spreche dafür, und wer sie genauer beobachte, könne gar nicht verkennen, wie schlimm es um sie stehe. Dazu sei sie unstät und hastig geworden wie nie zuvor; ihr ganzes Wesen habe etwas Fieberisches, Unruhiges, und das mit anzusehen, presse ihr, der Jana, schier das Herz vor Weh aus dem Leibe. Ach, wenn sie nur helfen könnte, daß das Mädchen ihr gesunde und wieder die Alte werde, aber damit sei es nichts; sie sei der Maxi gegenüber ohnmächtig; sie habe aus das Mädchen jeden Einfluß verloren; denn trotz Bittens und Befehlens daheim zu bleiben, verschwinde sie Tag für Tag in unbewachtem Augenblicke und laufe trotz ihres Hustens und Fieberns in die Mühle hinab, um sich nach der Kranken umzusehen.
„Niemand vermag mehr ’was über die Maxi,“ schloß Jana ihre Herzensergießung, „nicht ich und mein Bruder ebenso wenig. Denn daß sie sich, wenn sie drunten ist, jedesmal mit Lois zankt, merke ich alle Tage. Und obgleich Der davon abgerathen, bin ich doch jetzt der Ueberzeugung, daß es am besten ist, ich gebe die Maxi der gnädigen Frau mit. So wie sie sich jetzt anläßt, kann [638] ich ihr nichts Gutes mehr thun – ach! sie hat von jeher nur ihrem eigenen Sinne folgen mögen.“
„Sie haben Recht, liebe Jana,“ stimmte Fügen zu, „da Sie selbst davon reden, will ich Ihnen nur ganz offenherzig gestehen daß mir des Mädchens Art gar nicht gefällt. Es wird ihr sicher gut thun, unter fremde Leute zu kommen, wo sie merken wird, was dabei herauskommt, allen Launen nachzugeben. Führen Sie also getrost Ihren Vorsatz aus! Aber Sie, Jana?“
Ihr trotz der entflohenen Jugend immer noch lieblicher Kopf neigte sich tiefer.
„Es wird schon gehen –“ sagte sie.
Fügen ergriff ihre Hand, die im Begriff war, die nassen Augen zu trocknen.
„Liebe, theure Jana, ich trage schon seit manchem Jahr einen Wunsch mit mir herum. Lassen Sie ihn mich endlich aussprechen! Wir werden nächstens alle Beide allein sein: der Siegmund geht unter die Soldaten und die Maxi hinaus in die weite Welt. Da wird es uns recht einsam werden, und das könnte so anders, so gut sein, wenn Sie sich entschließen möchten, als meine liebe Hausfrau zu mir zu ziehen –“
Jana wollte ihn unterbrechen, aber eine Bewegung seiner Hand drängte bittend ihr Wort zurück, indem er fortfuhr:
„Wir haben ja schon einmal, vor manchem Jahr, von Aehnlichem gesprochen, und damals – Sie meinen am Ende, diese Thorheit säße noch in irgend einem Winkel meines Kopfes oder Herzens? O nein, Jana, das müßten Sie eigentlich selbst ganz genau wissen. So oft ich herkam, saß mir die Frage auf den Lippen, die ich eben an Sie stellte, aber ich weiß nicht, in Ihrer ganzen Art lag immer etwas, das mich nicht damit hervorkommen ließ. Jetzt aber, scheint mir, wäre die rechte Zeit da. Wer braucht Sie hier noch? Und ich brauchte Sie gar nöthig – das kann ich Ihnen versichern“
Nun rollten die zurückgehaltenen Tropfen in rascher Folge aus Jana’s lieben Augen nieder. Nur ein trauriges Kopfschütteln gab zuerst Antwort; endlich rang sich das Wort hervor:
„Es ist nicht möglich – o, fragen Sie mich nicht warum, aber glauben Sie mir: es ist niemals möglich – nie!“
Er blickte sie unter den buschigen Brauen hervor fast zürnend an, als er aber ihre stehend gegen die Brust gedrückten Hände sah und ihren angstvollen Augen begegnete, murmelte er nur ein paar undeutliche Worte in sich hinein und setzte sich mit raschem Abwenden an den Flügel, dessen stürmische Accorde noch hallten, als Jana schon das Zimmer verlassen hatte.
Der Rückfall, den die Müllerin erlitten, war heftig aufgetreten, aber nur von kurzer Dauer gewesen; schon saß sie wieder im alten Großvaterstuhle, und der Doctor hatte heut erklärt, er brauchte nun nicht mehr zu kommen. Trotzdem war der Blick, mit dem Lois sie betrachtete, nicht ohne Sorge. Seit dem Ableben des Vaters war die Mutter sehr verfallen, ob nur aus Leid, oder weil es sie zu viel anstrengte dem Anwesen nun allein vorzustehen, ließ sich kaum sagen. Während er neben der Schlummernden saß und dem nachsann, gingen ihm viele Gedanken durch den Kopf – sie spannen sich bis zu dem Nachmittage auf der Moosburg zurück, wo er seiner Schwester Jana zum ersten Male seine heiße Sehnsucht bekannt, Priester zu werden, und sie ihn so eindringlich daran mahnte, was er für sich und die Seinen aufgab, wenn er bei diesem Wunsche beharren wollte. „Aufgab!“ Sein Kopf senkte sich und die Gedanken flossen in einander, bis er von nichts mehr wußte als von schneidendem Weh. Die Mutter schlug die Augen auf und sah mit unbehaglichem Ausdruck um sich.
„Bist da, Lois?“ fragte sie dann mit ihrer schwachen Stimme, „sonst Keines? Mir hat gerad’ geträumt, die Maxi wär’ wieder da.“
Lois stand auf, um der Mutter den Trunk zu holen, der ihr noch verordnet war.
„Heute kommt sie nicht – sei ruhig!“
„Was hat sie mit Dir, Lois?“ fragte die Kranke. „Mir gefällt das nicht – meinetwegen kommt sie nicht alle Tage daher – und schau nur, da ist sie doch wieder.“
Er folgte dem unzufriedenen Blicke der Mutter durch das Fenster und sah in der That Maxi über den neu aufgerichteten Steg auf das Haus zu kommen Seine Stirn faltete sich; er stand rasch auf.
„Sie soll Dich nicht belästigen, Mutter; ich schicke sie heim,“ sagte er fest und hatte das Zimmer verlassen, ehe sie antworten konnte.
„Die Mutter möchte allein bleiben,“ sagte er draußen auf dem Stege zu dem Mädchen, „sie ist besser, muß aber Ruhe haben. Ich begleite Dich zurück. Heut wollte ich ohnehin hinauf zu Euch, um Ade zu sagen; denn morgen, spätestens übermorgen muß ich fort.“
„Fort?“ fragte Maxi erschrocken – „jetzt schon? Und das sagst Du so obenhin, als wär Dir’s einerlei – als wär Dir’s recht?“
Er sah sie fest an.
„Es ist mir recht, Maxi,“ sagte er traurig. „Der Boden brennt mir unter den Füßen, und Du weißt, wer schuld daran ist.“
Sie warf die Lippen auf und wurde dunkelroth.
„Schiltst Du wieder? Wenn Du mich lieb hättest, so wärst Du froh, wenn ich zu Dir komme – Zwei, die einander lieb haben, halten es nicht aus, so hüben und drüben zu bleiben statt zusammen zu kommen, wenn’s doch sein kann. Mich hält die ganze Welt nicht auf.“
„Leider nicht,“ sagte Lois, und sein eben noch trauriger Ton ward streng. „Nichts hält Dich auf Tag für Tag zu brechen, was Du mir versprochen hast. Du weißt, wie viel mir daran liegt, daß Keiner erfährt, was wir im Sinne haben, bis ich losgelöst bin von Dem, was mich bindet. Und doch magst Du meinem Gebot und allem Wohlanstand zum Trotz Deinen Willen nicht eine Woche lang bändigen. Schon sind meiner Mutter die Augen aufgegangen. Ich weiß mir keinen Rath als zu gehen, obwohl ich hier noch recht nöthig wäre.“
„Und wann kommst Du wieder?“ sagte Maxi mit unterdrückter Heftigkeit.
„Es ist mir unmöglich, Dir das heute schon zu sagen. Ich muß mit dem Bischof selbst sprechen, und dazu findet sich nicht immer Zeit und Gelegenheit. Ueberlasse das mir! Schweige indessen! Wenn ich mit Allem breche, was mir theuer und heilig ist, so darf ich wohl von Dir fordern, daß Du das Einzige übst, was an Dir ist – Geduld.“
„Geduld!“ brach Maxi aus, und ihre zürnenden Augen flammten. „Nein! Die hab’ ich nicht; die üb’ ich nicht. Wärst Du Einer, der sein Mädchen lieb hat, dann predigtest Du mir nicht fortwährend, dann wär’ ich Dir recht so, wie ich bin, und Du freutest Dich, daß ich nicht so zahm warten und entbehren mag. Was geht mich Deine Mutter an sammt den Andern allen was liegt daran, wenn sie merken, wie wir zusammen stehen? Aber ich merke das selbst nicht mehr bei Dir, Du kümmerst Dich beständig um die Andern, an mir aber ist Dir nichts gelegen! Geh – geh – und bleib’ ganz und gar in Deinem Seminar, bei alledem, was Dir so theuer und heilig ist, wie Du eben sagtest – wir taugen nicht zusammen – geh mir, geh!“
Lois wurde todtenblaß und blickte stumm in ihr flammendes, trotziges Gesicht. Ihm war, als löste sich ein Theil seines innersten Lebens von ihm ab und sänke kalt und todt in ihm nieder. Einen Augenblick rang er nach Worten; dann, als er seiner Stimme Herr geworben, klang sie fremd und seltsam ruhig.
„Du hast es ausgesprochen Maxi; wir taugen nicht für einander. Was Du sagtest, soll geschehen ich kehre zurück an den Platz, dem ich nie hätte abtrünnig werden dürfen weder in Gedanken noch in Worten und Werken“
Maxi fuhr zusammen.
„Lois!“ rief sie wie halb erstickt; „Dein Gelübde gehört mir!“
„Du selbst hast mich eben des Versprechens entbunden, das ich Dir gab,“ erwiderte er, „Du mußt fühlen, mußt wissen, daß es mehr ist, als augenblickliches Zürnen, was Dich so sprechen ließ. Ach, uns trennt Anderes, als nur das Seminar, Maxi; unsere Seelen sind sich fremd, und darum würden wir einander elend machen. So lange ich denken kann, verstehe ich kein Leben ohne Pflicht, und die kennst Du nicht.“
Sie preßte die kleinen Zähne auf einander.
„Du wirst mich lehren – –?“ murmelte sie.
„Dich lehren?“ gab er ihr zurück. „Ja, könnte ich das! Aber was Du nicht lerntest im Zusammenleben mit meiner Jana, [639] nicht durch meine Bitten, das lehrt Dich Keiner mehr. Du forderst, und würdest ewig fordern, was ich nicht geben kann, willst neben Dir selbst nichts in meiner Seele dulden, weder Gott noch Menschen O Maxi, Du hast es gesagt: wir Beide taugen nicht zu einander. Das bleibt. Laß uns in Frieden scheiden, nachdem wir ohne Frieden beisammen gewesen! Gott wird mir beistehen; unwerth, wie ich bin, gab ich mich ihm von Neuem – gieb Du Dich unserer Jana! Sie hilft Dir wohl gesund werden und verschmerzen, was nie hätte anfangen dürfen. Ich will für Dich beten, so lang ich lebe – und so leb’ wohl!“
Er wollte gehen, aber Maxi deutete plötzlich mit stürmischer Geberde auf den Steg, welchen Beide noch nicht verlassen hatten, und dann auf das nahe schäumende Gefälle. Lois hatte sie verstanden. Seine blassen eingefallenen Wangen rötheten sich.
„Thust Du das,“ sagte er in einem Tone, der sie erzittern ließ, „dann hab’ ich keinen Gedanken mehr für Dich in Zeit und Ewigkeit.“
Er wandte sich und ging langsam dem Hause zu. Ein leichter Windhauch bewegte sein unbedecktes Haar und seine dunkle Soutane; dann bückte sich die hohe Gestalt, um unter der Thür zu verschwinden.
Maxi stand einen Moment regungslos; nun aber warf sie den schönen Kopf zurück und heftete einen heißen Blick von Trotz auf das Haus; sie machte eine jähe Handbewegung, als ließe sie etwas in das schäumende Wasser niederfallen und ging dann im Sturmschritt vorwärts, ohne umzuschauen.
Als sie auf der Moosburg eintraf, war ihr Haar feucht vom Abendthau; ihre Hände glühten. Gegen ihre Gewohnheit widerstrebte sie nicht Jana’s dringendem Zurede, sich sogleich zu Bette zu legen, fügte sich überhaupt von diesem Abend an gleichgültig jeder Forderung, die an sie gestellt wurde.
Diese Apathie, der sich andauernde Fieber gesellten, ängstigte Jana noch mehr, als des Mädchens rastlose Erregung zuvor, und die Abreise ihres Bruders, den sie nicht mehr gesprochen, fiel der armen Pflegerin gleichsam schwer auf’s Herz.
Jede Kirchenfeier gestaltet sich in Tirol zum Volksfest. Der Primiztag eines Kindes der Gemeinde wird von dieser als eigener Ehrentag betrachtet und mit allem nur erdenklichen Pomp gefeiert. Heute – Wochen waren inzwischen in’s Land gegangen – beging man in Lahnegg aber ein besonderes Fest: Lois feierte seine Primiz; für ihn, den einzigen Sohn aus der Mühle, wo seit Generationen ein angesehenes Geschlecht hauste, galt dieser Brauch als besonders wesentlich, und das ganze Dorf befand sich schon am Vorabend des Festes in Bewegung. Noch war die Sonne des nächsten Morgens nicht über die Berge gestiegen, als Sonntagsglocken den Festtag einläutete. Lebhaftes Böllergeknall schloß sich ihnen an – kein Tiroler Fest ohne Schießen.
Eine Stunde später begann sich allerwärts frisches Leben zu regen. Hier und dort wurde fliegende Verkaufsstellen aufgeschlagen; weiß-blaues Steingeschirr, Melonen und Trauben, Muschelwaaren ans Venedig lockten in zierlicher Anordnung zum Einkauf. Thresl, die alte Kränzeverkäuferin, hatte das wackelige Tischchen, das ihre leichte Waare trug, unter den Nußbaum gestellt, der nahe der Kirche auf einem Hügel steht, und ihre künstlichen Kranzgewinde erschienen wie ein Zubehör des laubumkränzten Portals.
Immer lebendiger wogte es aus den Gassen; selbst die Walddörfer sandten ihre Vertreter zu Thale. Mann, Weib und Kind erschienen im Festschmuck, und selbst das älteste Weiblein hatte sich eine rothe Nelke hinter das Ohr gesteckt. Es gab ein frisches Bild, als die vereinigten Musikcapellen der nachbarlichen Ortschaften ihren wohleingeübten Marsch anstimmten, als sie dann, hinter sich die Schützengilde, auf den Sammelplatz zogen und die Gruppen des Gefolges sich ordneten.
Böllerschüsse krachten vom nahen Waldwege nieder; dann erhoben die schönen Glocken ihre mächtige Stimme und läuteten fort und fort, während der Festzug sich in Bewegung setzte, die Hauptstraße entlang, in weitem Bogen über Felder und Wiesen, bis er der in der Mitte des Dorfes gelegenen Kirche zustrebte.
Im Rahmen des schönen Thales bot der von goldgestickten Purpurfahnen überflatterte Zug ein lebens- und weihevolles Bild, dessen Hauptgruppe sich besonders malerisch hervorhob.
Inmitten der Vicare und Patres des nachbarlichen Klosters, denen das Musikcorps voranzog, schritt Lois und unmittelbar vor ihm die kleine „geistliche Braut“ mit unschuldigen Engelsmanieren, als wüßte sie, daß sie das Ideal, die Kirche selbst, versinnlichen sollte. Lois’ Gesicht leuchtete in Verklärung, während er hochaufgerichtet seinen Ehrenweg ging, der ihn zu den Stufen des Altars seiner Heimathkirche führte, in welcher ihm dereinst, als ein Anderer die gleiche Feier beging, der erste heiße Wunsch geistlichen Lebens aufgestiegen war, dessen Erreichen er sich „so fest vorgenommen hatte, wie man sich vornimmt, in den Himmel zu kommen“. Nun stand er am Ziele.
Das Mysterium, welches zu begehen ihm heute zum ersten Male oblag, war vollzogen. Wieder erhoben die Glocken ihre feierlichen Stimmen, und Lois sprach aus erschüttertem Herzen, mit vergeistigtem Ausdrucke der seinen Zügen den Segen über die Gemeinde, welche ihn hatte aufwachsen sehen, über seine Mutter, welche vor seligen Thränen das geliebteste ihrer Kinder nicht mehr sah.
Wenige Minuten nachher strömte der Zug aus der Kirche. Fügen, welcher mit Genoveva und Siegmund der Feier im Chor beigewohnt hatte, war von heimlicher Sorge um Jana, welche die kranke Maxi nur ungern verlassen, um die mühsamen Schritte ihrer noch leidenden Mutter zu stützen. Fügen fand ihr Aussehen so angegriffen, daß er sie nicht aus den Augen verlieren mochte, schnell hinabeilte und zwischen der Volksmenge neben dem Zuge herschritt. Auf einmal sah er Jana den Arm ihrer Mutter loslassen. Ihr schreckensbleiches Gesicht war bestürzt seitwärts gewendet. Dort auf dem Hügel, an welchem sich der Zug eben vorüberwand, unter dem Nußbaume stand hinter dem Verkaufstische der alten Kränzelfrau nicht diese, sondern Maxi. Ihre Wangen, ihre Augen glühten. Sie trug ihre gewohnte, halb städtische, halb ländliche Kleidung; ein grüngoldener Kranz mit weißen Blüthen war auf ihr Haar gedrückt, dessen Zustand ein Zeugniß fieberischer Achtlosigkeit gab; es war nur theilweise aufgenestelt, und eine der schweren dunklen Flechten hing lose über die wogende Brust. Die weitgeöffneten Augen waren mit so intensiver Macht auf Lois geheftet, daß sie wohl Gewalt haben mochte, die seinen an sich zu ziehen Wenigstens sah Fügen, als er der Richtung ihres Blickes folgte, den des jungen Priesters einen Moment auf der Erscheinung des Mädchens haften. Einen Moment nur – dann schritt er hochaufgerichtet vorüber.
Zugleich vernahm Fügen einen leisen, gebrochenen Laut; er wandte sich um und fing die inzwischen herbeigeeilte Jana halbohnmächtig in seinen Armen auf; er trug sie mehr als er sie führte aus dem einen Augenblick sich stauenden Gewühle. Unfähig zu sprechen, deutete sie nach dem Hügel, wo Maxi, nun aschfahl geworden, immer noch stand und dem Zuge nachstarrte.
Als die Morgenglocken den nächsten Sonntag einläuteten stand inmitten eines Parterrezimmers der Moosburg ein offener Sarg. Die junge Gestalt, welche darin ruhte; schien zu schlummern. Einen Kranz weißer Astern im dunklen aufgelösten Haare, ein Sträußchen frischer Feldblumen zwischen den gefalteten Händen – so lag sie friedlich in dem engen Schrein
Der Lufthauch, welcher durch das geöffnete Fenster eindrang und die Kerzen zu Häupten der Bahre dann und wann aufflackern ließ, war das Einzige, was sich hier regte, und doch athmete eine Menschenbrust in diesem todtenstillen Raume. So leise war aber der Hauch, so unbeweglich die Lebende, welche unverwandt auf das stumme Kind niederblickte, daß sie mehr einem Bilde glich, als einer Athmenden. Alles, was von Leben in Jana war, lag in ihren Augen.
Plötzlich schrak sie zusammen. Schritte und Stimmen, gedämpft und doch deutlich, wurden draußen vernehmlich. Jana beugte sich mit rascher, fast scheuer Bewegung und berührt die geschlossenen Lider der heißgeliebten Todten mit ihren Lippen. Beide Hände fest gegen die Brust gedrückt, ging sie dann mit gesenkten [640] Augen der Thür zu. Auf der Schwelle trat ihr Richard Fügen entgegen.
„Es ist Zeit, liebe Jana,“ sagte er benommen.
„Ich weiß.“
Sie ging mit stillem Neigen des Kopfes an den Männern und Frauen vorüber, die den Flur anfüllten, und stieg die Treppe hinauf. Fügen folgte ihr schweigend. Es wollte ihm fast das Herz brechen, sie so gelassen und doch den unaussprechlichen Gram in ihren Augen zu sehen. Als sie oben ihr Tuch umwarf, und sich zum schwersten Gange zu rüsten, nahm er sie mit einem Male in die Arme, wie ein Vater sein Kind. Ihre Stirn ruhte an seiner Brust, und die Fluth bisher versagter Thränen brach unaufhaltsam hervor.
„Jana, liebe Jana,“ stammelte der heftig ergriffene Mann. „Ich weiß ja nun Alles; Frau von Riedegg hat mir’s vertraut – Du hast Dein Liebstes verloren, Dein Kind, Leid und Freud’ Deiner armen Jugend.“
Jana richtete sich auf und sah ihn an.
„Verloren,“ sagte sie man. „Aber ich gönn’ ihr die Ruhe. Sie ist wohl aufgehoben. Ich gönn’ es, gönn’ es ihr.“
Drunten ertönten Hammerschläge. Die Hand, welche Fügen noch in der seinen hielt, wurde eiskalt. Genoveva erschien an der Thür und gab schweigend ein Zeichen
Eine Stunde später bewegte sich aus der noch im grünen Festschmuck der Primiz-Feier prangenden Lahnegger Kirche ein Trauerzug nach der Südseite des Friedhofes. Sechs junge Mädchen, dieselben Kränze im Haar, mit denen sie sich zu jenem Feste geschmückt, trugen den auf schwarzverhangener Bahre ruhenden Sarg, und ein bekränztes Kind, dessen beide Händchen mühsam einen farbigen Riesenstrauß umschlossen, ging an der Spitze des Zuges. Ihm folgten zwei Mädchen, den Jungfrauenkranz zwischen sich auf rothem Kissen; ein Schleier, wie ihn Bräute tragen, knüpfte sich um das Myrthengeflecht und bauschte sich im Winde. Alle, die sich jüngst dem priesterlichen Festzuge angereiht, gaben Maxi heute die letzte Ehre; denn das schöne Kind, welches plötzlich hinweggeweht worden, wie ein Halm auf dem Felde, war weit und breit bekannt und Alle hatten es lieb gehabt. Viele Blicke richteten sich auf die vornehme Frau, unter deren Obhut das Mädchen aufgewachsen, die heute als Leidtragende, Jana zur Seite, in Trauergewändern dem Sarge folgte.
Es war ein sonnenheller Tag. Frische Astern schmückten alle Gräber, und über den nahen tannendunklen Hügeln ragten die Gipfel der Alpen leuchtend und frei. Der Klang des Glockengeläutes schaute weit hinaus in die blaue Luft, während der neu geweihte Priester seines Amtes am offenen Grabe wartete. Kein Zug in Lois’ Gesicht verrieth, was in ihm vorging, als er die Ruhestätte der Todten einweihte, deren Leben um ihn gebrochen war. Als die Schollen niederrollten, begegneten seine Augen den Augen Jana’s. Da überlief ihn ein Zittern. Der Blick seiner Schwester verrieth ihm, daß sie wußte, was diesem jungen Herzen den Todesstoß gegeben.
Die Geschichte verzeichnete inzwischen das inhaltschwere Kriegsjahr 1866. Tiefe Verstimmung der Armee, tiefe Trauer in allen Provinzen des österreichischen Vaterlandes blieben als Bodensatz der Ereignisse jenes verhängnißvollen Sommers zurück. Die Truppentheile bezogen, aus Italien oder von den böhmischen Schlachtfeldern heimgekehrt, nach und nach ihre alten Garnisonsorte oder wurden neuen zugetheilt, und schließlich begann Jeder sich im Alltagsleben wieder einzurichten.
Oberst Friesack’s Regiment war seit September nach S. zurückbeordert, aber die Batterie, welcher Siegmund zugehörte, erwartete noch Ablösung von ihrem Standorte in Südtirol, wo sie zu den Truppenteilen zählte, welche zur Besetzung des von den Italienern geräumten Gebietes commandirt worden. Es war Siegmund nicht unlieb, daß ihm auf diese Weise Zeit gelassen wurde, sich zu einem inneren Gleichmaße zu stimmen, das ihm in jüngster Zeit abhanden gekommen war. Abgesehen von dem Ernst, welcher ihm aus den Eindrücken seiner kurzen Kriegsfahrt zurückgeblieben, verstimmte ihn ganz Persönliches: Die letzten Briefe, welche er mit seiner Mutter getauscht, hatten ihm nicht wohl gethan; zum ersten Male vermochte er sich weder in ihre Aeußerungen noch in ihre Beschlüsse zu finden; denn sein lebhaftes Bedürfniß, sie so bald wie möglich wiederzusehen seine Bitte, ihn hier aufzusuchen, um die Frist einer Trennung abzukürzen welche diesmal länger als ein Jahr gewährt hatte, traf auf bestimmte Ablehnung, und dieses kränkte und befremdete ihn um so mehr, als Genoveva ihren Besuch nicht nur versagte, sondern sogar das seit Jahren feststehende Zusammentreffen auf der Moosburg auch für diesen Herbst aufhob, wie sie das schon im vorigen gethan. Was sollte das bedeuten? Und weshalb gab sie nicht wenigstens bestimmte Gründe für dieses Versagen an, unter dem sie doch nicht weniger leiden mußte als er? Das war schwer zu begreifen, schwer zu überwinden.
Der junge Officier fühlte sich unter solchen Verhältnissen zu geselligem Verkehre gar nicht aufgelegt, begrub sich während seiner dienstfreien Stunden in allerlei Fachstudien, führte ein Tagebuch, das er während des Feldzuges begonnen, nun weiter aus und hätte nichts dagegen gehabt, das isolirte Leben, welches er jetzt führte, noch ein paar Monate länger fortzusetzen. Doch war die Zeit seines Commandos dem Abschlusse nahe. Um diese Zeit erhielt er einen Brief von Max Friesack aus S.
„Also Friede!“ schrieb Max, „schade darum, wenn ich auch nicht leugnen will, daß mir die Fleischtöpfe meiner Mama wohl behagen. In der That, es lebt sich gar nicht übel hier im alten Neste, und mir fehlt nur Einer –: Du fehlst mir. Aber dem Uebel wird bald abgeholfen werden; denn der Vater sagte mir gestern, Dein Batteriechef solle nächstens hierher zurückcommandirt werden. Dann fangen wir das alte gute Leben wieder an – oder nein, nicht das alte – wir sind inzwischen ein Paar ganz andere Kerls geworden. Gestern Abend besuchte ich Fügen’s; sie behielten mich zum Nachtessen, und ich muß sagen, Eure Jana, wie Ihr sie nennt (spaßiger Taufname!), gefällt mir ausnehmend gut. Die Frau ist doch gar nicht jung, aber man meint ein Fräulein vor sich zu haben, statt einer ehrsamen Hausfrau. Sie faßt Alles so eigen an, so sanft, Sachen wie Menschen – ihr zerbricht sicherlich nie etwas unter der Hand. Und Dein Herr Vormund ist als Hausvater förmlich jugendlich geworden – einen Humor hat er Dir, sage ich, daß man seine Freude daran haben muß. Es war ein herziger Abend, und sie freuen sich auf Dich, wie auf einen – Sack von Geld. Nimm mir den Vergleich nicht übel! Ich mache Dir damit das größte Compliment; denn Geld – Du weißt ja, ich habe immer keins und bin trotz seiner Treulosigkeit doch sein guter Freund. Wer sich aber nächst den Fügen’s und meiner Wenigkeit gleichfalls sehr auf Dich freut, oder wenigstens sehr neugierig auf Dich ist, würdest Du schwerlich errathen und wirst Dich wundern, wenn ich Dir melde, daß es keine geringere Person ist, als Frau Generalin von Seeon, Excellenz, die stolzere Hälfte unseres neuen Commandanten. Wie das zugeht? Erinnerst Du Dich noch unseres Spazierganges am Concert- und Absolvententage und wie uns da ein lustiges kleines Mädchen fast in die Arme lief – bergab? Da hobst sie auf, als sie am Boden lag, und die gestrenge Mama sah Dich nachher an, als wollte sie Dein Signalement aufnehmen. Die sind’s. Ich kannte alle Zweie gleich wieder, als ich ihnen vorgestellt wurde. Die kleine Margareta ist freilich in diesen drei Jahren gewaltig in die Höhe geschossen aber die Augen, weißt Du, mit der besonderen Farbe und dem hübschen Lachen im Blick, die sind noch die nämlichen. Ein herziges Kind so von sechszehn, siebenzehn Jahren, mit der es sich prächtig plaudert; denn sie hat einfache, natürliche Manieren – trotz der vornehmen Frau Mama. Als ich sie an damals erinnerte (nur um mein gutes Gedächtniß für ihre schönen Augen in richtiges Licht zu setzen), wurde sie freilich roth, lachte aber und gestand ihre Identität wie ihr Ungeschick zu. Obgleich die Frau Generalin gerade mit meinem Vater sprach, muß sie ihre Ohren doch auch bei uns gehabt haben – sehr überflüssiger Weise; denn sie wendete sich um und fragte zu meinem Erstaunen nach Dir, das heißt nach dem andern jungen Mann, der damals bei mir gewesen wäre’, und sah mich dabei ebenso scharf und gespannt an, wie sie Dich damals in Person angeschaut. Natürlich nannte ich gehorsamst Deinen Namen und Charakter, und mein Vater fiel mir in’s Wort und lobte Dich über den Schellenkönig hinaus. Während ich nun mit der Kleinen weiter plauderte, hörte ich meinerseits den Andern zu und wunderte mich, wie genau die hohe Dame meinen Vater nach Dir ausfragte. Als sie Alles heraus hatte, was es irgend über Dich zu berichten giebt, sagte sie in sehr gnädigem Ton, daß sie [641] sich freuen würde, einen so begabten jungen Mann – ich citire – persönlich kennen zu lernen, und forderte mich dann geradezu auf, ihr meinen Freund recht bald nach dessen Rückkehr in die Garnison vorzustellen. Nun mache Deine Sachen gut, damit auch auf mich ein Wiederschein der Dir zugedachten Gunst fällt! O, ich käme gern öfters in dieses Haus.
Genug geschwatzt! Zwei Bogen – womit willst Du diese unerhörte Leistung abverdienen? Es ist Zeit, daß Du kommst; Briefe zu schreiben, ist das schwerste Stück Arbeit, wenn man, wie ich, bei diesem Geschäft immer Mühe hat, Anfang und Ende zu finden.Ottilie, Gräfin Seeon, hatte sich, seit sie uns als jugendliche Comtesse Riedegg aus den Augen schwand, in den vornehmen Lebensformen ihres Standes bewegt. Ihr Großvater selbst hatte sie in die große Welt eingeführt.
Das Wiederauftreten dieses seiner Zeit so hervorragenden, seit Jahrzehnten in Einsamkeit vergrabene Magnaten erregte Aufsehen; er ward von Seite des Hofes wie der Gesellschaft mit Auszeichnung empfangen, und diese Auszeichnung übertrug sich auch auf das schöne Mädchen, seine einzige Erbin.
Ottilie sah sich umworben, gefeiert, beneidet, und ihre kühle, etwas hochfahrende Art, diese Huldigungen anzunehmen, steigerte nur den Eifer Derer, welche nach ihrer Hand strebten – ein vermögensloser Officier aus altem Hause, Major Seeon, welcher den Jahren nach ihr Vater sein konnte, führte sie heim. Die Haltung, mit welcher Major Graf Seeon von seinem Glücke Besitz nahm, bewies jedoch, daß er solcher Auszeichnung werth sei; seine gediegene Persönlichkeit erschien überall an ihrem richtigen Platze und erwarb sich die Liebe Aller; nur mit seinem Schwiegervater, dem Grafen Riedegg, harmonirte der Major wenig, und die Jahre änderten nichts an dieser Kühle der gegenseitigen Beziehungen. Daß Ottiliens einziges Kind ein Mädchen war, bestärkte noch Graf Raimund’s Gleichgültigkeit. Mehr als je auf sich selbst zurückgezogen grollend gegen Menschen und Schicksal, den öffentlichen Ereignissen gegenüber völlig theilnahmlos, verzehrte der Greis in tiefster Einsamkeit sein Dasein, für dessen Ziele ihm dereinst die Erde kaum weit genug erschienen war.
Ottilie war glücklich, wenn dieses Wort auf leidenschaftsloses Zufriedensein Anwendung finden darf. Seit dem gewaltsamen Tode ihres über Alles geliebten Vaters, des einzigen Menschen, der ihr junges Herz erwärmt hatte, waren die Elemente des Stolzes, der Kälte, welche in ihr lagen, vorherrschender geworden, aber was [671] auch das Leben aus dem Menschen macht, in jedem schlummert ein Theil seiner eigenen frühen Jugend, gleichsam deren Seele, ihr besserer Theil, welcher nur auf den Moment wartet, um zu erwachen.
Die Wärme, welche Ottilie dereinst für ihren Vater empfunden, gehörte jetzt ihrem Kinde. Es war eine von Strenge durchwobene Liebe. Trotz mancher Beschränkung genoß aber Margarita die glückseligsten Kinderjahre. Gleich einem Sonnenstrahl glitt die holde Kleine durch das Vaterhaus, stets in beflügeltem Schritte, immer bereit zum Lieben und Freuen, als wären ihre Füßchen nur geschaffen, einher zu tänzeln, ihre weichen Arme nur da, um sich nach Jemand auszustrecken Der Ton freundschaftlicher Einigkeit zwischen den Eltern, der vornehme, aber nicht luxuriöse Zuschnitt des häuslichen wie gesellschaftlichen Lebens, die sorgsam ausgewählte Persönlichkeiten des intimeren Umgangs – Alles, was diese frische Menschenknospe umgab, trug einen harmonischen Charakter
Inzwischen war Graf Seeon zum General avancirt und wurde als Commandant nach S. versetzt. Für die Generalin knüpfte sich bald ein persönliches Interesse an diese Garnisonstadt. Die flüchtige Begegnung Siegmund’s vor drei Jahren war ihrem Gedächtnisse nach und nach entschwunden, obgleich die auffallende Aehnlichkeit des jungen Mannes mit ihrem verstorbenen Vater sie damals nicht wenig frappirt und ihre Gedanken zu alten Zeiten und Fragen zurückgeführt hatte. Als nun aber Lieutenant Friesack ihr gegenüber diese Begegnung berührte, stieg die merkwürdige Aehnlichkeit auf’s Neue und so fragwürdig in ihrem Gedächtnisse auf, daß sie nicht zögern mochte, Näheres über den jungen Mann zu erforschen. Was sie erfuhr, ließ ihr kaum einen Zweifel, daß es sich um keinen Anderen handelte, als um Den, dessen Existenz lange Zeit hindurch ihre Gedanken beschäftigt hatte. Wie aus weiter Ferne und doch so unvergessen schmerzlich erwachte in ihrem Ohre das geheimnißvolle, ihr nie entschleierte Wort des sterbenden Vaters: „Du hast einen Bruder.“
Oberst Friesack hatte ihr gesagt, Siegmund Riedegg’s Herkunft sei einigermaßen dunkel – „keinerlei Papiere seien vorhanden“. Dies bestärkte Ottilie in der Ueberzeugung, daß sie in der Voraussetzung nicht irre, der junge Officier müsse ihr Halbbruder sein.
So ward ihr der Moment, in welchem ihr Max Friesack seinen in die Garnison zurückgekehrten Freund vorstellte, zu einem hochbedeutsamen; sie fand in feinen Zügen, in dem edelgeschnittenen Auge, dem weichen blonden Haar ihren Vater wieder – freilich war diese Aehnlichkeit damals, als sie ihn zuerst sah, im Augenblick flüchtiger Begegnung, wo momentanes Schwanken den energischen Charakter des Gesichtes gleichsam aufhob, rascher erkennbar als heute, wo das anders geartete Naturell ihm bereits seine volle Signatur aufgeprägt hatte. Je öfter Ottilie mit dem jungen Officier zusammentraf, desto unverkennbarer drängte sich ihr jene Aehnlichkeit auf, welche die Natur so geheimnißvoll weiter spinnt – geheimnißvoll! denn oft wiederholt sie eine Bewegung, einen Klang der Stimme, einen raschen Blick sogar da, wo die Zusammengehörigen einander nie gekannt.
Die Beachtung, welche eine so hochgestellte Frau ihm gönnte, setzte Siegmund um so mehr in Erstaunen, als er auf die darauf bezüglichen Aeußerungen seines stets zur Übertreibung geneigten Freundes gar kein Gewicht gelegt hatte. Aber es konnte ihm selbst so wenig entgehen, als es Anderen entging, daß Generalin Seeon ihn auszeichnete, und obgleich dies in der Ottilie eigenen maßvollen Weise geschah, ward ihre sichtliche Bevorzugung eines noch so jungen bürgerlichen Officiers um so mehr bemerkt, als ihr der Ruf größter Exclusivität vorausgegangen war. Dieses Bemerken kam seiner Aufnahme in den geselligen Kreisen zugute. Siegmund’s natürliche Zurückhaltung, welche weit davon entfernt war, je anspruchsvoll zu sein, erhielt das einmal angeregte Interesse wach. Stolz ist nicht, wer es möchte, zurückhaltend ebensowenig; diese Eigenschaften gehören dem Einzelnen zu wie die Farbe seiner Augen, und drücken ihrem Eigner ein vornehmes Gepräge auf; wer sich nicht ausgiebt, bleibt überdies stets interessant.
Wöchentlich einmal, an jedem Donnerstage, fand sich im Salon des Commandanten ein intimer Kreis zusammen. Der eigentliche Inhalt dieser Zusammenkünfte war gute Hausmusik, aber auch die Nichtmusikalischen fanden ihre volle Rechnung während der Plauderstunden vor und bei Tische, da erst nach dem Souper musicirt zu werden pflegte. Gräfin Seeon hatte diese Abende hauptsächlich im Hinblick auf Margarita eingerichtet, welche sie in diesem Winter noch nicht in die große Gesellschaft einzuführen und doch auch nicht mehr auf die Schulstube und den kleinen Familienkreis allein zu beschränken wünschte. Das junge Mädchen, bei dessen Erziehung jede Anlage berücksichtigt worden war, besaß eine sympathische, wohlgeschulte Stimme, spielte auch mit seelenvollem Vortrag Clavier. Hätte die Generalin eines Vorwandes bedurft, um Siegmund häufig bei sich zu sehen, so war ein solcher durch seine hervorragende musikalische Ausbildung geboten.
Es gestaltete sich wie von selbst, daß dem Lieutenant Riedegg die Leitung dieses Theiles der Donnerstagabende zufiel, und seine Beziehungen zum Musikdirector Fügen erleichterten manche Zusammenstellung von Ensembles. Die jungen Leute spielten vierhändig; Siegmund begleitete Margarita’s Gesang und gerieth auf die natürlichste Weise den Damen Seeon gegenüber in die Stellung, ihnen auch außer dem Hause durch kleine Dienstleistungen gefällig zu sein, sie begleiten zu dürfen, wenn der General daran verhindert war, kurz, ihnen häufig zur Seite zu bleiben. Graf Seeon sanctionirte die Auszeichnung, welche seine Frau dem jungen Officier zu Theil werden ließ, indem auch er ihm sein persönliches Interesse zuwandte.
Ottilie hatte ihrem Gatten schon vor Jahren alles mitgetheilt, was sich auf die Sterbestunde ihres Vaters bezog, und hielt nur kurze Zeit mit der Entdeckung zurück, die sie neuerdings gemacht. Der nun eingeweihte General beobachtete Siegmund scharf und war bald ebenso überzeugt, wie seine Frau, daß der junge Mann ganz ahnungslos über die Beziehung sei, welche ihn mit der Familie verband. Er richtete sein Augenmerk auf Siegmund’s militärische Tüchtigkeit und erfuhr mit Vergnügen sowohl durch dessen Regimentscommandeur wie durch manches gesprächsweise Examen, das er mit ihm vornahm, welchen eisernen Fleiß Siegmund seiner wissenschaftlichen Fachausbildung zuwendete.
Graf Seeon freute sich des begabten, strebsamen Officiers, der durch manche am Arbeitstisch verlebte Nachtstunde die Zeit einzubringen wußte, welche er dem Frauendienst gewidmet, und war entschlossen, das Seine dazu zu thun, um diesen ihm, wie er sich scherzend gegen seine Frau äußerte, au natural Verschwägerten nach Möglichkeit zu fördern, sobald sich dazu Zeit und passende Gelegenheit ergeben würde.
Der naiven Grazie Margarita’s gegenüber, die aus der Gewohnheit des Glücklichseins entsprang und eben darum wärmte wie die Sommersonne, ward sich Siegmund erst bewußt, wie fern seine eigene Kindheit und Jugend von solcher Helle geblieben und daß immer irgend ein Schatten auf seinen Weg gefallen sei. Spät war ihm das Bewußtsein aufgegangen, wie düster doch seine geliebte Mutter während seiner Kinderjahre dahin gelebt, wenn ihre Zärtlichkeit auch ihn selbst nichts hatte vermissen lassen, als vielleicht ein Licht, welches er nur deshalb nicht entbehrte, weil er es nicht kannte. Und dann die Trennung, die anfangs herben Schuljahre, die eigenen Seelenkämpfe, endlich der Krieg – immer ein ernster, ein hemmender Zug, woraus sein Wesen allmählich diese Beimischung von Schwere erhalten, welche ihm unmöglich machte, ohne Prüfung zu ergreifen und zu genießen, was die Stunde bot. Die beschwingte Natur Margarita’s erhob ihn aber gleichsam mit sich in eine leichtere Sphäre, in eine Sonnennähe, wo es sich ganz von selbst verstand, daß dort nur Himmelblau und Wärme zu finden sei. Es war vor Allem dieses Kindes Herzensgüte, was ihn anzog; ihre unschuldigen Augen trübten sich nur, wenn sie von Mangel oder Kummer hörte, und sie ruhte dann nicht, bis sie ausfindig gemacht, womit Trost und Hülfe wenigstes zu versuchen sei; ihr Vater pflegte sie damit zu necken, daß sie schon als kleines Kind stets erblaßt wäre, wenn ihre Puppe unvorsichtig gestoßen ward.
Margarita verkehrte in harmlosester Zutraulichkeit mit dem junge Hausfreunde, der stets zur Stelle war, wenn etwas Schönes in Aussicht stand, und der ihr nach und nach mit ihrer geliebten Musik in Eins verwuchs. Trotz ihrer reizenden Natürlichkeit bestand eine kleine Nuance zwischen dem Ton, welchen sie ihm oder Anderen, z. B. Max Friesack gegenüber anschlug. Obgleich dieser gutherzige Mensch, der mit rührender Liebe an dem ihm geistig überlegenen Siegmund hing, meinte, dem Freunde Alles zu gönnen, was zwischen Himmel und Erde zu erreichen war, fing er nun doch an, sich innerlich mit einigem Neid herumzuschlagen; denn er hatte sich in kürzester Frist bis über die Ohren in Margarita verliebt und hätte seinen kleinen Finger darum gegeben, wäre ihm vergönnt gewesen, so oft um sie zu sein, wie sein glücklicherer Freund. Dennoch war er nicht eifersüchtig auf ihn. So oft Max [672] die Beiden zusammen sah, überzeugte er sich auf’s Neue, daß Siegmund seinen eigenen, noch sehr geheimen Hoffnungen gewiß nicht im Wege stand; denn eigentlich war es doch nur das gemeinschaftliche Musiciren, das Siegmund mit Margarita verband. Saß sie zu vierhändigem Spiel neben ihm am Flügel oder sang sie zu seiner Begleitung eines der schwermütigen Lieder, die sie seltsamer Weise am meisten liebte, dann war freilich die tanzende Elfe aus einmal wie vertauscht und das liebliche Gesicht glich dem einer Muse. Dann trat ein fremder, geheimnisvoller Zug um die braunen Augen, den feinen Mund. Kaum aber war das Notenblatt niedergelegt, so sah Max voll Befriedigung, wie schnell Margarita zur Gruppe der jungen Welt zurückflog und wie häufig sein Freund sich neben die Generalin setzte, um sich mit ihr in allerlei Gespräch zu vertiefen.
Siegmund fühlte sich in der That von der Mutter fast ebenso sehr angezogen wie von der Tochter. Die tactvolle, gütige Weise, mit der Ottilie ihre persönliche Theilnahme für ihn durchblicken ließ, hatten ihm manche offene Aeußerung über sein bisheriges Leben und Sein abgewonnen. Sie legte so viel Interesse für seinen Entwickelungsgang, seine Kindheits- und ersten Jugendjahre an den Tag, daß seine angeborene Scheu, über sich selbst zu sprechen, davor wich. Außerdem fand er in dieser Frau etwas seinem eigenen Wesen Verwandtes; ihre unbestechlich rechtschaffene Gesinnung, ihr Bedürfniß der Wahrheit und Klarheit stimmten mit seiner Lebensanschauung überein.
Gewöhnt, seiner Mutter von Allem, was ihn anging, Mittheilung zu machen hatte er ihr in seinen Briefen wiederholt von dieser neuen, ihm so erfreulichen Beziehung gesprochen; er war aber nicht wenig befremdet, diesen Punkt in ihren Antworten stets mit einer gewissen Consequenz übergangen zu sehen. Ueberhaupt bot ihm die Correspondenz mit ihr nicht mehr den früheren Genuß voller Befriedigung. Unstät wie ihr Leben, das sie beständig in der weiten Welt umherführte, erschien ihm auch die Stimmung, welche aus ihren immer seltener gewordenen Mittheilungen sprach. Seine Briefe gelangten nur auf dem Umwege über Paris an sie, und zwar durch einen Banquier, der Herrn von Clairmont’s Geschäfte führte und die Anweisungen an Siegmund übermittelte.
Diese Umständlichkeiten verstimmten ihn und trugen dazu bei, seine Lust an einem Briefwechsel zu dämpfen, der eigentlich kaum mehr eine solche Bezeichnung verdiente. Siegmund empfand die Unzulänglichkeit solcher Verbindung mit seiner theuern Mutter schmerzlich, ohne sich darüber zu äußern, nicht einmal gegen Fügen, dessen Hausgenosse er auch dann geblieben, als der Meister sich Jana nach neuem Werben zur Hausfrau gewonnen hatte.
Es konnte nichts Behaglicheres geben, als die Häuslichkeit des Fügenschen Ehepaares. Der glückliche Gatte war wie verjüngt, Jana vielleicht noch etwas stiller geworden als früher. Herzenskundige mochten in ihrem Gesicht den leisen Zug erkennen, welchen großes Herzeleid unverwischbar einprägt, aber ihre liebreichen Augen, ihr ruhiges Lächeln sprachen von Trost, sogar von Glück. Das Ehepaar lebte zurückgezogen aber nicht vereinsamt; denn Befreundete gingen gern in ihrem Hause aus und ein, wo man die Wirthe stets daheim traf und die Gäste so herzlich empfangen wurden. Hier fühlte sich Siegmund durchaus heimisch. Je mehr Gemeinschaftliches aber diese drei Menschen verband, um so bewußter ward Jedem von ihnen die unsichtbare und doch so fühlbare Veränderung, welche in ihrem Verhältnisse zu Genoveva eingetreten war. Frau von Riedegg hatte neuerdings keinen Brief aus dem Fügen’schen Hanse mehr anders als durch Grüße beantwortet, die Siegmund bestellt. Dieser verweilte nicht gern bei Gesprächen, die seine Mutter betrafen, und so hielten auch die Gatten ihre Fragen und die unbestimmte Unruhe zurück, welche sie unter vier Augen gegen einander äußerten. War Fügen hierin discret, so fiel es Siegmund dagegen auf, wie eingehend er sich nach den Beziehungen des jungen Officiers zu der Seeon’schen Familie erkundigte. Für den in die näheren Verhältnisse eingeweihten Capellmeister war es ja längst kein Geheimniß mehr, daß Gräfin Seeon jene Tochter erster Ehe sei, deren Genoveva erwähnt hatte, als sie ihm die Geschichte ihres bestrittenen Rechtes erzählte. Die hochstehende, im Aussterben begriffene Familie Riedegg im Auge zu behalten war nicht schwierig; Fügen hatte also längst erfahren mit wem sich diese Halbschwester seines Mündels vermählt hatte, und auch Genoveva war durch den Freund von Allem unterrichtet. Als General Seeon jetzt nach S. versetzt worden und Siegmund’s Rückkehr in Aussicht stand, schrieb er ihr auch dies, ohne einen Augenblick zu zögern. Ihre Antwort hierauf war der letzte Brief, den Fügen von ihr erhalten; er beschränkte sich aus die kurze Weisung: den Dingen ihren Lauf zu lassen und das bisherige Schweigen Siegmund gegenüber streng zu bewahren. Gut und schön, soweit das ihn und Genoveva betraf! Wie stand es nun aber mit dieser Gräfin Seeon? Wußte sie, die damals noch ein Kind gewesen, von ihres Halbbruders Existenz, von den Ansprüchen, welche dessen Mutter erhoben? Weshalb sie ihn in ihr Haus gezogen, was aus alledem werden sollte, vermochte Fügen nicht zu überschauen und ließ es sich nicht wenig im Kopfe herumgehen. Siegmund, der unter all diesen Wissenden stand und doch von nichts wußte, empfand nach und nach eine Rückwirkung dieser ganz besonderen Lage. Mehr als einmal ward er durch einen Blick, eine Miene, eine flüchtige Frage betroffen, die ihn Verborgenes, ihn Angehendes ahnen ließ, und geriet nach und nach in ein Grübeln, das er umsonst zu verscheuchen strebte. Ein Bedürfniß glücklich zu sein, sich des schönen Lebens, seiner reichen Jugendtage zu freuen, wehrte instinctiv alles Störende ab und behielt vollends den Sieg, wenn Margarita ihm nahe war. Bei ihr gab es nichts Verhülltes; sie brauchte ihn nur anzusehen oder mit dem freien, frischen Lächeln ein Wort an ihn zu richten – und Alles in ihm wurde licht und klar.
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Als Margarita Seeon am 20. März die Augen aufschlug, war sie siebenzehn Jahre alt geworden. Das Geburtstagskind blinzelte den Tag an, der zum unverhangenen Blumenfenster hereinströmte, lachte plötzlich vor sich hin und huschte aus dem Bette. Die erste Morgentoilette junger Mädchen wird gewöhnlich flink abgethan, heute nahm sich Margarita aber Zeit. Nebenan im Erkerzimmer, das noch zu ihrem eigenen Bereich gehörte, gingen Schritte aus und ein; das weckte ihr eine Stimmung, wie die eines Kindes am Weihnachtsabend; sie summte eine Melodie, während sie das kastanienbraune Haar in zwei dicke Zöpfe flocht und aufnestelte. Inzwischen war bereits ein funkelneues Negligé von weißem Wollenstoff mit lichtblauen Aufschlägen entdeckt worden. Wie kam das nur herein? Gestern Abend beim Schlafengehen war nicht die Spur davon vorhanden. Sie schlüpfte in das weiche Gewand, welches sich der fein aufgebauten Gestalt kleidsam anschmiegte, eilte dann zum Fenster und ließ so viel Morgensonne und kühle Morgenluft herein, als da wollte. Heute konnte es gar nicht frisch und hell genug sein.
Drunten lag der Garten, an Wiesenland grenzend, das ein heller Bach durchfloß. Schon waren einige warme Tage über das Land gegangen, noch hatte aber die Sonne der schlummernden Erde keinen grünen Keim entlockt. Die Erlen am Saume des Baches entfalteten aber schon ihre dunkelrothen Kätzchen. Im Garten war in aller Frühe der Springbrunnen von seiner Winterhülle befreit worden, und nun warf er seinen Tropfenbüschel der Sonne zu, welche ihn wie in voller Neuheit blitzen ließ. Hoch in der blauen Luft jubelte die Lerche.
Margarita drückte ihre kleinen Hände in einander und sagte ganz leise:
„O Gott, wie geht es mir doch so gut!“ Das war heute ihr Morgengebet; es flog der Lerche nach, gerade in das Himmelblau hinein. Nun begann das Mädchen lieblich zu singen: Schumann’s Lied vom Sonnenschein.
Ein leiser Finger klopfte an ihre Thür.
„Fertig?“
„Gewiß, Mama!“
Das Kind flog an der Mutter Hals. Ottilie ließ den Sturm von Liebkosungen ungehemmt über sich ergehen; der Reiz dieses Jugendübermuthes, all das Freie, Schöne, Gute, das ihr aus den glücklichen Augen ihres Kindes entgegenleuchtete, berührte sie warm. Sie betrachtete ihre Tochter, als sei diese erst über Nacht erblüht, und bei diesem Mutterblick färbte das leicht bewegliche Blut die zarten Wangen tiefer. Margarita glitt mit einer ihrer vogelleichten Bewegungen auf die Kniee und küßte feurig der Mutter Hand.
„Auf!“ sagte die Gräfin und strich leicht über die glänzenden Flechten; „der Geburtstagstisch wartet. Willst Du nicht schauen, was Dir bescheert ist?“
Das junge Mädchen blickte zögernd nach der Thür:
„Papa?“
„Hat Dienst und kann erst gegen Mittag zurück sein; er wollte nicht, daß Dein Tischchen so spät erst gedeckt würde. Komm nur!“
Sie zog des Mädchens Arm in den ihren und führte sie nach dem Erker des zierlich ausgestatteten Mädchenzimmers. Breite Palmenblätter, leichte Akazienzweige nickten über den Tisch hin, den ein dicker Kranz umgab. Margarita’s Augen blitzten in heller [690] Freude beim Anblick einer Fülle von Liebesgaben; sie meinte, nie so reichlich beschenkt worden zu sein.
Das meinte sie bei jedem Anlasse gleicher Art; denn bei der Innigkeit ihres Wesens fühlte sie sich schon dann beglückt, wenn es für etwas zu danken gab, wenn der Quell von Freude frei ausströmen durfte. Den reichen Gaben der Eltern hatten sich allerlei Sendungen von Verwandten und Freundinnen zugesellt – eine ganze Schatzkammer, deren Reichthum sich gar nicht auf einmal übersehen ließ. Zwischen Stoffen und Büchern, Schmucksachen und Briefen lag auch ein Notenheft mit tiefblauer Decke, welche Margarita’s Initialen in geschmackvoller Ausführung trug. Sie schlag neugierig den Deckel zurück und ward schnell roth.
stand in schöner Fracturschrift auf dem ersten Blatte.
Sie hob das Heft ein klein wenig in die Höhe und tippte mit dem Finger auf ihren Namen:
„Gesehen, Mama?“
„Natürlich,“ sagte die Gräfin gelassen. „Lieutenant Riedegg bat mich um Erlaubniß, Dir seine Composition auf den Flügel legen zu dürfen. Ich ersuchte ihn aber, mir das Heft zuzustellen; vielleicht findest Du im Laufe des Tages Zeit, die Sachen durchzunehmen, und kannst die Artigkeit vergelten, indem Du heute Abend eine der Nummern vorträgst.“
„Margarita Seeon zugeeignet,“ murmelte das junge Mädchen entzückt, Ottilie sah ihre Tochter einen Augenblick aufmerksam an.
„Du wirst Dich hoffentlich nicht für einen musikalischen Stern halten, weil Dir musikalisches gewidmet worden?“ fragte sie mit kühlgewordenem Lächeln. „Auf solche Aufmerksamkeiten junger Leute, denen Zutritt im Hause vergönnt wird, ist überhaupt kein Gewicht zu legen; dergleichen gehört zum guten Ton. Lieutenant Riedegg hat Tact und wählte deshalb gerade die Form, welche seine Stellung zu uns bezeichnet.“
Die zartgeschweiften Lider des jungen Mädchens senkten sich. Weder in den Worten noch im Tone der Mutter lag Unfreundliches, aber dennoch war ihr Entzücken auf einmal wie ausgelöscht. Sie trat unwillkürlich vom Tisch zurück und folgte, ohne etwas zu erwidern, der Gräfin hinab in das Speisezimmer, wo sie die respectvollen Glückwünsche des Dienstpersonals etwas zerstreut in Empfang nahm. Ottilie schien auf diesen Stimmungswechsel gar nicht zu achten und besprach während des Frühstückes einige Vorbereitungen für den Abend, wobei Margarita ihre Munterkeit schnell zurückgewann.
Die Geburtstagsfeier sollte sich mit einer Art von Abschiedsfest vereinigen, da mit diesem Abende die winterlichen Donnerstage ihren Abschluß fanden und der General eine größere Reise vorhatte. Des Familienfestes wegen sollte heute der Kreis der Gäste erweitert, vor Tische ein wenig musicirt, nach dem Essen getanzt werden. Margarita freute sich namentlich auf diesen letzten Theil des Programms. Wer sie nur gehen sah, mußte begreifen, wie gern sie tanzte; denn diese Bewegung war für sie ein lebendig geworbener Rhythmus. Ihre feine Gestalt blieb den ganzen Tag über in einer Art von Tanzschritt, dem es an begleitender Melodie nicht fehlte – treppauf, treppab flog das Geburtstagskind, leise singend, überall schmückend, sie selbst der beste Schmuck für das feiertägige Haus.
„Wissen Sie, was ich möchte?“ sagte Margarita zu Lieutenant Riedegg, als der Contretanz sich auflöste, bei dem er ihr Partner gewesen.
„Nun?“
„Ich möchte für mein Leben gern einmal den C-dur-Walzer von Schubert tanzen können, den wir vierhändig spielen. Den giebt es aber wohl gar nicht für zwei Hände, und der gute Mann, der heut bei uns aufspielt, brächte ihn keinenfalls heraus. Schade!“
Siegmund lächelte zu ihr nieder. Ihr bei Tage wie von schwachem Goldschimmer überhauchter Teint hatte bei Licht eine Perlenfarbe, deren Schmelz durch einen kostbarer Schmuck, den sie an Hals und Armen trug, heute noch gehoben wurde. Die feinen Löckchen bewegten sich leicht auf ihrer etwas gewölbten Stirn, und unter den schmalen sehr dunklen Brauen ruhten die schöngeschnittenen Augen mit dem goldig braunen Stern im bläulichen Weiß Das weiche Oval des Gesichts, der thaufrische Mund waren so kindlich.
„Möchte jeder Ihrer Wünsche so leicht in Erfüllung gehen wie dieser!“ sagte er herzlich und sah sich um. „Max, auf einen Augenblick!“
Lieutenant Friesack nahm sich kaum Zeit, der Tänzerin, die er eben zurückführte, eine Abschiedsverbeugung zu machen. „Sie befehlen?“
Die Frage ward zwar nicht an den Rufer, sondern an Margarita gerichtet, wurde aber von Siegmund beantwortet:
„Comtesse Seeon wünscht den nächsten Walzer mit Dir zu tanzen.“
Das junge Mädchen sah etwas erstaunt aus; Max verbeugte sich mit strahlendem Gesicht, während Siegmund an Beiden vorüber zu dem in eine tiefe Nische des Saales gerückten Flügel ging, welchen der für heute engagirte Spieler eben verlassen hatte; er setzte sich an denselben und intonirte den eben bezeichneten Walzer.
Da glitt sie vorüber, vom besten Tänzer geführt, wie losgelöst von der Erde, so ganz Jugend und Freude, daß es genügte ihr nachzuschauen, um jede Sorge zu vergessen Siegmund wünschte jedoch keinen Augenblick mit seinem Freunde zu tauschen; hier am Flügel, während er die Melodie spielte, die ihren unschuldigen Wunsch befriedigte, während ihr süßes Gesicht vor Freude leuchtete, fühlte er sich ihr näher als Max, dessen Arm ihre leichte Gestalt umschlang. Auch blieb sein Lohn nicht aus. Er hatte kaum den letzten Accord angeschlagen und seinen Platz noch nicht verlassen, als Margareta unerwartet neben ihm stand und ihm lieblich die Hand entgegenbot:
„Viel, viel Dank!“
„Da kämen wir aus dem Bedanken heute gar nicht heraus,“ scherzte er und erhob sich, „mein Gehorsam bedeutete ja meinen Dank – Sie wissen wofür.“
„O!“ erwiderte sie schnell. „Das, offen gesagt, das hat Mama mich geheißen. Ich that es nicht einmal gern; wär’ es nach meinem Sinne gegangen, so hätte ich keines von Ihren Liedern vor all den fremden Leuten zuerst gespielt. Die übrigen sollen Sie auch nur zu hören bekommen, wenn wir wieder einmal ungestört zusammen musiciren. Ich habe Ihnen noch nicht einmal so recht sagen können, wie froh es mich macht, daß so Köstliches mir gehört! Froh und sehr stolz.“
Ein rasches Wort drängte sich auf Siegmund’s Lippen; der unbefangene Blick, welcher seinem Auge begegnete, ließ ihn aber verschweigen – was verschweigen? Kaum war er sich darüber klar; er empfand nur, daß dieser freie Blick nicht damit übereinstimmte. Und schon sprach sie neckisch weiter:
„Weil Ihr Geschenk mich unter allen Angebinden am meisten freute, trage ich heut seine Farbe! Das haben Sie wohl gar nicht bemerkt? Mama meinte, ich solle Rosen tragen, ich kämpfte aber muthig für mein Blau. Gentianen freilich hatte ich nicht, Kornblumen tragen aber wenigstens die gleiche Uniform. Uebrigens war es recht schelmisch von Ihnen, den Fußfall einer kleinen Dame vor zwei jungen Herren auf solche Weise zu verewigen. Ich sehe ohnehin ja kein Blaublümelein, ohne so roth zu werben, wie es blau ist.“
Der letzte Satz dieser Scherzworte ging nicht mehr so fröhlich von den Lippen wie ihr Anfang; denn während Margarita vom Rothwerden sprach, tauchte sich ihr Gesicht, wie ihr seiner Hals in tiefe Gluth, und die Wimpern senkten sich vor dem stillen Blick, der auf ihr ruhte.
„Der Tag, an dem ich Ihnen zuerst begegnete, Comtesse, traf mit einer Wendung meines Geschicks zusammen“ sagte Siegmund leise. „Sie ließen mir eine Ihrer Blüthen zurück; ich bewahre sie noch; denn sie hat mir Glück gebracht. Deshalb nannte ich diese Lieder ohne Worte ,Genzianen’.“
Er hatte das ganz einfach hingesprochen, ohne nur zu wissen mit welcher Innigkeit. Ein scheuer, tiefer, warmer Blick flog zu ihm auf, um sich rasch wieder zu verhüllen. Sein Herz begann heftig zu schlagen; ein plötzliches Gefühl von Freude wuchs in ihm auf und sprang als übermütiges Scherzwort von den Lippen, die eben noch so verborgenen Dinge verrieten
„Sie kämpfen für unser Blau!“ sagte er in ganz verändertem Tone. „Und so tapfer kämpften Sie, daß Sie sogar eine Generalin besiegten! Mit welchen Waffen aber? Darf ich fragen?“
[691] Der beinahe furchtsame Zug, von dem ihr Lächeln verdrängt worden, wich sogleich; sie hob den Arm und zeigte ihr kostbares Armband:
„Mit diesen! Urgroßpapas Türkisenschmuck stimmte so gut zu meinen Kornblumen, und weil er ein Geburtstagsgeschenk ist, durfte ich ihn heute tragen.“
„Ihr Urgroßpapa?“ fragte Siegmund erstaunt.
„Mein Urgroßpapa. Sie brauchen sich nicht zu wundern, wenn ich Ihnen von dem noch nichts erzählt habe; denn ich kenne ihn kaum. Er schickt mir immer schöne Sachen; dann muß ich Briefe schreiben, auf die er nie antwortet. Er ist schon ganz, ganz alt und mag sich nicht lieb haben lassen; sonst müßte er doch Verlangen nach meiner Mama haben, die seine einzige Enkelin ist. Jeder Besuch genirt ihn; deshalb waren wir nicht mehr in Riedegg, seit ich ganz klein gewesen bin.“
„In Riedegg?“ wiederholte Siegmund.
„Nun ja, das Stammschloß von Mamas Familie.“
„Die Frau Gräfin hieß – wie ich?“
„Das wissen Sie nicht?“ fragte Margarita erstaunt. „Aber davon war ja schon die Rede, noch ehe Sie hierher kamen. Es ist blos eine Namensvetterschaft, sagt Mama; wir sind gar nicht mit einander verwandt. Unsere Riedeggs stammen von drüben, jenseits des Brenner; Graf Riedegg, mein Urgroßpapa, ist der Letzte seines Geschlechtes.“
„Hältst Du hier heraldische Vorträge, statt Dich um die Fräuleins zu bekümmern, welche Deine Gäste sind?“ fragte Gräfin Seeon, die herangetreten war, ohne von den beiden in ihr Gespräch Vertieften bemerkt worden zu sein. „Lieutenant Riedegg wird Dich Deiner Pflicht als Wirthin nicht länger entziehen wollen.“
Sie streifte Siegmund mit eisigem Blick, während Margarita erschrocken hinwegschlüpfte. Zum ersten Male war er diesem Ausdruck beleidigenden Hochmuths begegnet, welcher der Gräfin so vielfach zum Vorwurf gemacht wurde, gegen den er sie so oft vertheidigt hatte. Von Gedanken der verschiedensten Art bestürmt, war er in diesem Moment weder willig noch fähig, auf den indirecten Vorwurf, der ihm gemacht worden, etwas zu erwidern; auch blieb ihm dazu keine Zeit; denn die Generalin trat in den Saal zurück, ehe er sich noch zu einer schweigenden Verbeugung bewegt hatte. So blieb er neben dem Flügel stehen, während ein herbes Empfinden erkältend auf seine eben noch so sprühende Stimmung fiel.
Es mochte nicht ganz passend gewesen sein, dachte er bei sich, daß er mit der Tochter des Hauses hier so lange gesprochen – gerade die Gunst näheren Verkehrs, die ihm zu Theil geworden, hätte sein Tactgefühl schärfen und ihm sagen müssen, daß die Art, wie Margarita ihn aufgesucht, wie er sich mit ihr in einem abgesonderten Raume in längeres Gespräch vertieft hatte, den Fremderen unter den Anwesenden auffallen und der Gräfin unlieb sein konnte.
War diese Unüberlegtheit aber hinreichend, um ihn, der gutes Recht hatte, sich dem Hause als näher stehend zu betrachten, mit Blick und Worten abzustrafen? Oder hatte die Gräfin ihn und ihre Tochter beobachtet und vielleicht am Inhalte ihres Gespräches Anstoß genommen? Er besann sich auf die letzten zwischen Margarita und ihm gewechselten Sätze, welche die Gräfin mit angehört haben konnte. Während er darin nichts fand, was ihm plötzliche Ungnade zuziehen durfte, frappirte ihn Das, was er eben vernommen hatte, von Neuem. Diese Namensgleichheit war ihm überhaupt merkwürdig, doch fiel ihm weit mehr auf, daß derselben in monatelangem Verkehre nie gedacht worden, sei es auch nur als Motiv eines Scherzes. Dies schien ihm mehr zu bedeuten als bloßen Zufall, da mußte eine Absicht zu Grunde liegen. Gar nicht verwandt – hatte Margarita gesagt – natürlich nicht! Er wußte sich von bürgerlicher Herkunft.
Das Hinzutreten des Clavierspielers störte ihn aus der unerquicklichen Träumerei auf; ein neuer Tanz begann. Siegmund war engagirt; er mußte seine Tänzerin holen, sich zusammennehmen. Bald darauf ging die Gesellschaft aus einander, ohne daß er Gelegenheit suchte und fand, sich den Damen des Hauses anders zu nähern, als durch eine Abschiedsverbeugung. Graf Seeon, der als artiger Hauswirth jeden Einzelnen an der Thür mit liebenswürdigem Worte entließ bot ihm heute freundlich die Hand, wie immer.
Den getroffenen Arrangements und der ziemlich frühen Stunde entsprechend, zu der sich die Gesellschaft zusammen gefunden, war es kaum Mitternacht, als dieselbe aus einander ging. Die jüngeren Männer fanden es zu früh, um sich nach Hause zu begeben; und ein Vorschlag, noch ein Stündchen im Casino zu verplaudern, traf animirteste Zustimmung. Siegmund, der einsilbig neben den Anderen herging, entschuldigte sich mit Kopfschmerz und kehrte in seine Wohnung zurück. Er wußte selbst nicht, wie ihm war; eine Schwermut, aber zugleich etwas wie ein Freuen war über ihn gekommen; beide Empfindungen verschmolzen sich und schufen ihm die wunderlichste Stimmung. Zunächst wußte er nur, daß er allein sein wollte.
Er fand seine Zimmer erhellt; Jana, die allen Eigentümlichkeiten ihres Mannes Rechnung trug, hatte auch dessen alte Liebhaberei adoptirt, bei Nachhausekommen Licht vorzufinden. Ob der junge Hausgenosse spät oder früh sein Zimmer betrat, stets brannte dort eine Lampe. Diese Aufmerksamkeit, welche ihm sonst ziemlich überflüssig vorkam, that ihm heute wohl. Er machte es sich bequem, ging dann in seinem traulichen, geräumigen Zimmer umher, streifte mit den Augen an all den Bildern und kleinen Besitztümern vorbei, die jedem Raume etwas so Heimathliches aufprägen, und wurde ruhiger. Als er sich in den Sessel vor seinem Arbeitstische warf, fiel sein Blick auf einige lose Notenblätter – das Concept der Lieder, welche er Margarita gewidmet und gestern mit der Copie verglichen halte.
Er saß eine Weile, ohne sich zu regen, die Arme gekreuzt, den Kopf zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen. Was in ihm vorging, war so neu und so süß. Ein Mädchenbild glitt an ihm vorüber; er wußte auf einmal, daß er liebte. Ob er wieder geliebt werde – danach fragte er sich nicht. Sie war ein Kind. Da sah er aber das furchtsame Lächeln wieder, den scheuen raschen Blick, wie in dem Momente, als er ihr vom Bewahren der Blume gesprochen, und zugleich stand die Mutter neben ihr mit der Rüge in Wort und Blick.
Das brach den Zauber, und die Gedanken fingen wieder an weiter zu spinnen, was vorher abgerissen worden; sie spannen verworrene Gewebe um den Mittelpunkt eines Namens. Viele Namen giebt es von gleichem Klang, deren Geschlechter nichts mit einander gemein haben, der seine aber war ein seltener Name mit adeligem Klang. Alles Einzelne, was ihm aufgefallen, ohne daß er es zu deuten gewußt, reihte sich an einander, alles Seltsame, Fragwürdige, das ihm während der letzten Monate zu denken gegeben. Die wiederholten Fragen der Gräfin über seine Mutter, eine Anzahl von Kleinigkeiten, die ihn selbst betrafen und über die er sich stets gewundert hatte, daß sie beachtet wurden, der Vorzug sogar, den Seeons ihm seither gegönnt – Alles weckte in ihm die Ueberzeugung eines Zusammenhanges dieser gleichen Namen. Wie wenig wußte er noch heute von seiner eigenen Abstammung, wie wenig von der Person seines Vaters! Nie war von einem Verwandten desselben die Rede gewesen – er konnte doch nicht vereinzelt in der Welt gestanden haben. Weil er sich der Mutter Unlust, seine Fragen über den schon Verstorbenen zu beantworten, als Trauer ausgelegt, hatte er davon abgelassen. Jetzt reute ihn das. Zu wem gehörte er? Fremde hatten eintreten müssen, da es die Leitung seiner Erziehung galt, da es galt Bürgschaft für seine Identität zu leisten, als bei seinem Eintritt in das Regiment kein Nachweis über seine Geburt vorgelegt werden konnte. Zum ersten Male durchzuckte ihn ein Gedanke, eine Angst, die ihn erschauern ließ.
Es war ihm, als sollte er ersticken; er sprang aus und bewegte die Arme, wie man im Schlafe thut, wenn sich der Alp um die Kehle legt. Dann ergriff er plötzlich die Lampe und trat vor sein Bett, über dem seiner Mutter Bild hing. Sie hatte es ihm geschenkt, als Beide das letzte Mal beisammen gewesen. Das schöne stolze Gesicht schien zu leben; die unerforschlichen Augen blickten ihn ruhig an. Langsam kehrte das Blut in seine Wangen zurück, und als er hinweg trat, war sein Schritt fest; die Hand, welche die Lampe niederstellte und sein Schreibzeug heranschob, zitterte aber noch und verriet ihr Beben in den Zeilen, die er nun auf ein Briefblatt warf.
Heute komme ich zu Dir, um Fragen an Dich zu richten, an denen meine Ruhe hängt. Ich schrieb Dir von meinen Beziehungen zur Familie des Grafen Seeon; Du erwidertest nichts hierauf. War das Zufall oder Absicht? Weißt Du, daß Gräfin Ottilie Seeon eine geborene Gräfin Riedegg ist? Sind unsere Familien verwandt?
[692] Sobald ich Deine Antwort habe, sage ich Dir mehr. Heut bitte ich nur um Wahrheit. Du weißt, ich bin kein Knabe mehr, dem man verhüllt, was ihn angeht. Zürne nicht, daß ich mich auf diese Zeilen beschränke, und beruhige bald
Er überlas den in fliegender Eile niedergeschriebenen Brief langsam, Wort für Wort, gab dem Couvert die gewohnte Pariser Adresse und versiegelte dasselbe. Dann warf er den Mantel um und trug den Brief auf die Post, damit er vom Frühzug befördert würde. Als er ihn in den Briefkasten gleiten ließ, schlug es eben zwei Uhr Morgens.
Die Nacht war kühl und bewölkt; über den dunklen Massen der Häuser, die alle gleich stumm und lichtlos dastanden, hob sich die Citadelle kaum in schwachen Umrissen vom Himmel ab. Mit dem Gefühl großer Müdigkeit kehrte Siegmund in sein Zimmer zurück.
Der Anfang des April war in diesem Jahre besonders mild und schön. Alle Welt war unterwegs, die vorzeitig warmen und jedenfalls kurz zugemessener Tage zu genießen
Das schöne Wetter gab Oberst Friesack den Gedanken ein, seinen Bekanntenkreis zu einem Ausfluge nach dem unfern gelegenen weitberühmten Gebirgssee anzuregen. Dieser Vorschlag hätte raschen Anklang gefunden. Sechs offene, größtenteils mit Damen besetzte Wagen rollten an einem ganz im Sonnenschein gebadeten Morgen durch die freie Thalöffnung dem Ziel entgegen Eine Cavalcade von Officieren umgab die Wagen oder folgte ihnen.
Unter ihnen war Einer, dem diese Landpartie sehr erwünscht kam: Siegmund. Er sehnte sich nach einer Begegnung mit den Damen Seeon, welche er seit dem Geburtstagsabend nur flüchtig wiedergesehen, ohne doch zu der Annahme berechtigt zu sein, daß man ihn absichtlich fern gehalten hätte. Als nun aber Tag um Tag verging, ohne daß er zu Seeons citirt wurde, sagte er sich doch, daß so lange Pausen seines Verkehrs mit den Damen sonst nicht vorgekommen, und verfiel um so mehr der eigentümlichen Nervosität, welches vergebliches Warten erzeugt, als auch noch kein Lebenszeichen von seiner Mutter eingetroffen war. Mit besonderer Schärfe empfand er wieder die Hemmung directen Verkehrs mit ihr; der letzte ihrer Briefe war aus Ancona datirt, während er nach Paris hatte adressiren müssen; Gott mochte wissen, wie lange es dauern konnte, bis Antwort in seine Hände kam.
Heute sollte sich wenigstens ergeben, ob die neuliche Kälte der Gräfin Seeon gegen ihn mehr war als momentane üble Laune. Sie fuhr mit ihrer Schwägerin und dem Ehepaar Friesack in ihrem Landauer, welchem der von Margarita und zwei jungen Freundinnen besetzte Jagdwagen des Generals vorausrollte. Siegmund benutzte die erste Gelegenheit, zur Begrüßung der Generalin heranzureiten, und fand sich mit derselben Freundlichkeit empfangen, die ihn Monate lang beglückt hatte. Sie stellte ihn ihrer Schwägerin sogar in auszeichnender Weise vor, und er ward sich in diesem Moment lebhaft bewußt, wie hoch ihm die Gunst dieser Frau galt. Nicht als Mutter des Mädchens, das er liebte; – es war ein ganz persönlicher, starker, sympathischer Zug, der ihn mit ihrem Wesen und Sein verband, ihr Urtheil über ihn zu einem Werth erhob, der ihm unschätzbar schien. Während er im Gespräch mit den Insassen des Wagens längere Zeit neben dessen Schlage ritt, erhob sich seine Stimmung unter dem Strahl von Wohlwollen, der aus den festblickenden blauen Augen der Gräfin auf ihn fiel; keine Spur von Schwere blieb zurück.
Es giebt glückliche Stunden, wo es nicht einmal eines besonderen Einflusses bedarf, um plötzlich alle Nebel zu verscheuchen, Jugend und Sonnenglanz unaufhaltsam vordringen zu lassen. Die Heiterkeit des klarblauen Morgens, das Flimmern der Luft, der reizvolle Weg, welcher nun durch waldige engbegrenzte Auen führte, zwischen deren knospenden Laubgänger verstohlene Quellchen zu Tage rieselten – hundert Spuren des Frühlings spiegelten sich in frohen Augen, angeregten Worten und Geberden. Volles Jugendgefühl überkam Siegmund; er fühlte sich elastisch, wie springend im Geiste, abgelöst von allen Zweifeln und Fragen. Margarita’s blauer Schleier wehte vor ihm her; zuweilen wandte sie den Kopf nach dem Wagen der Mutter zurück, und dann sah er einen Moment ihr entzückendes Gesicht. Als das Ufer des von riesigen Felswänden umthürmten Sees erreicht war und die ganze Gesellschaft von Wagen und Rossen niederstieg, da gab es ein allgemeines Begrüßen; während der Oberst und sein Sohn als Leiter der Partie dafür sorgten, ein Schiff auszuwählen, mischte sich die Gesellschaft, und jetzt näherte Siegmund sich Margarita. Als er sie ansprach, empfand er sofort eine leise Veränderung in ihrem Wesen, etwas Befangenes, Unfreies, doch fühlte er deutlich, daß darin kein Abwenden lag. Es schien nur, als sei ein neuer Zug in ihr Gesicht getreten, ein sinnender, träumerischer Zug, der besonders merklich ward, wenn die Lider ihren warmen Blick verhüllten.
Das Schiff war bald mit Ruderern bemannt und zur Abfahrt bereit, ein geräumiges, von hohem Baldachin zum Schutz gegen die Sonne überdachtes Fahrzeug, das die ganze Gesellschaft bequem aufnahm.
Die Fahrt dauerte lange. Es war feierlich still auf dem smaragdgrün schillernden See; nur ein einziges Boot begegnete den fröhlich Fahrenden; es glitt seeabwärts, nur von wenigen Personen besetzt; so dicht fuhr es vorüber, daß sich vom Schiffe aus die Züge der darin Sitzenden deutlich unterscheiden ließen.
„Wenn nun da drüben Einer wäre, und bei uns Eine, die eigentlich zusammengehörten,“ phantasirte eine junge Frau, „und Die führen hier so an einander vorbei, nachdem ihr Schicksal sie getrennt – wie müßte Denen jetzt zu Muthe sein?“
Die leichthin gesprochenen Worte trafen Siegmund mitten in das Herz hinein und löschten all seine Freude plötzlich aus. Er wendete unwillkürlich den Kopf und sah Margarita an, die schräg vor ihm saß; viel hätte er darum gegeben, jetzt ihren Augen zu begegnen; ihr Gesicht neigte sich aber dem Wasser zu, in dem ihre Hand spielte.
[706] Die Gesellschaft landete an einer kleinen Halbinsel, um Mittag
zu machen, und alle Register fröhlicher Stimmung wurden vor der
Tafelrunde aufgezogen; als man sich wieder einschiffte, und dem
letzten Ziele der Fahrt, dem äußersten See-Ufer, zuzurudern, war
sogar ein gewisser Uebermuth mit an Bord gegangen und ließ bald
die Aussicht auf freiere Bewegung, als sie dem Einzelnen während
der Seefahrt möglich war, sehr willkommen erscheinen, Schon begann
die Sonne sich abwärts zu neigen, als die Gesellschaft landete
und den Spaziergang über eine leicht ansteigende Landzunge unternahm
– in langer Reihe; denn der zwischen Felstrümmern über
nacktes Geröll führende schmale Weg gestattete höchstens paarweises
Gehen.
Die Herren ließen ihren Damen den Vortritt. Siegmund war Einer der Letzten. Langsam nachschlendernd, gewahrte er im spärlichen Grase eine Blume, die er pflückte. Sein scharfes Auge suchte nun Margarita. Zwischen den Felsblöcken, die über das Uferland ausgestreut lagen, erhob sich eine schöne Esche; dort stand sie, den linken Arm um den Stamm geschlungen, der Hut hing ihr am Arme; ihr lockiges Stirnhaar bewegte sich schimmernd im Winde. Etwas Leuchtendes und zugleich Edles sprach aus ihrem Gesichte wie immer, wenn sich Schönes ihr auftat. Siegmund zögerte einen Augenblick, trat aber dann rasch näher. Die Augenblicke waren kostbar; er wollte sich die Erinnerung gönnen, hier, an seiner Lieblingsstelle, neben ihr gewesen zu sein.
Beide tauschten nur einen Blick und schauten dann auf den – kleinen, wie Jaspis schimmernden See, dessen Dreieck von phantastisch getürmten Felsen eingeschlossen war. Rötliche, hoch aufragende Hörner im Hintergrunde, starre Wände, von denen allerwärts glitzernde Wasserfäden niederrieselten, zur Rechten und Linken. Das dazwischen ruhende Wasser. war so wundersam klar, daß selbst die seichtesten Stellen am Strande das Blau des Himmels, die feinen Ufermoose rein wiederspiegelten. Weltentfremdet und erhaben war das ganze Bild.
„Wie göttlich!“ sagte Margarita leise.
Siegmund sah in ihre warmen Augen.
„Dieser See ist mir besonders lieb, seit Jahren,“ sagte er. „Wollen Sie in Erinnerung behalten, daß ich Ihnen nahe sein durfte, als Sie zum ersten Male hierher kamen? Sehen Sie, was ich hier gefunden habe!“
Sie nahm die kaum erschlossene blaue Gentiane, die er ihr bot, und berührte damit ihre Lippen. Obgleich ihre Augen nicht auf Siegmund gerichtet waren empfand sie den Blitz, der in den seinen aufflammte, und wurde purpurrot, während sie die Blume an ihrem Mieder befestigte. Wie im Bedürfniß, ihr glühendes Gesicht abzuwenden schwang sie sich leicht auf den Felsblock, neben welchem sie stand, bog einen Ast der erst schwach belaubten Esche abwärts, brach einen kleinen Zweig und reichte ihn Siegmund, ohne ein Wort zu sprechen.
„Wissen Sie auch, was Sie mir da geben?“ fragte er und sah sie an. „Die Esche ist ein heiliger Baum. Schlangen gehen lieber durch das Feuer, als durch den Schatten einer Esche; darum schützt ein Eschenblatt vor allem Bösen. Gönnen Sie mir noch diesen zweiten Talisman?“
„Alles!“ sagte das junge Mädchen innig.
Siegmund war im Begriffe, lebhaft ihre Hand zu erfassen; da besann er sich auf alle die Menschen umher; zugleich durchzuckte ihn die Erinnerung an die Rüge, welche ihm zu Theil geworden, als er sich neulich ebenso wie jetzt mit Margarita isolirt hatte. Sein Blick überflog die Gruppen schnell und scharf. Die Generalin stand abgekehrt – das einzige aus ihn gerichtete Augenpaar gehörte Max Friesack. Er bot Margarita unwillkürlich die Hand um ihr von dem Steine niederzuhelfen, auf dem sie noch stand, und ließ dann diese liebe Hand sogleich los, ohne sich den leisesten Druck zu gestatten.
Die Gesellschaft war im Aufbruche begriffen, und das rasche Sinken der Sonne mahnte, daß es Zeit war, sich einzuschiffen. Oberst Friesack bot der Generalin seinen Arm; sie nahm ihn nicht an und bezeichnete mit den Wimpern ihre Schwägerin. Der Oberst setzte sich mit der alten Dame in Bewegung, während Ottilie ein paar Schritte seitwärts trat um einen Theil der Gesellschaft an sich vorbei passiren ließ. Siegmund befand sich jetzt in ihrer Nähe; sie richtete eine Bemerkung an ihn, die ihn an ihre Seite führte. Margarita war schon voraus. Als die Gräfin nun auch folgte, behielt sie den jungen Officier neben sich, allerlei Gleichgültiges berührend. Schon war das Schiff in Sicht und die Vordersten im Einsteigen begriffen, als Ottilie ihren Begleiter ersuchte, ihr den Shawl umzugeben, und zugleich, um die noch Folgenden nicht aufzuhalten von dem schmalen Wege ob in das angrenzende Feld trat.
Während er ihr den kleinen Dienst leistete, wandte sie ihm ihre festen blauen Augen zu und sagte ganz ohne Strenge, in gelassenem Tone:
„Lieber Riedegg, ich möchte Ihnen etwas zu bedenken geben. Wir legen Werth auf Ihren Verkehr mit uns, mein Mann und ich. Lassen Sie diesen Verkehr nicht durch Unüberlegtheiten zur Unmöglichkeit werden! Wir verstehen uns, nicht wahr?“
Eine schnelle Flamme blitzte ihr aus Siegmund’s Augen entgegen; die rasche, unwillkürliche Bewegung seiner Hand schien ebenso raschen Worten auf seinen Lippen voranzugehen, doch wurden solche, wenn gedacht, nicht ausgesprochen. Er wechselte die Farbe und antwortete nur durch schweigende Verbeugung. Auch schien die Gräfin keine andere Erwiderung erwartet zu haben; nach kaum merklichem Zögern legte sie die kurze Strecke bis zum Ufer zurück und stieg ein. Siegmund setzte sich neben den Steuermann. Hier durfte er schweigen. Während das Fahrzeug im beginnenden Dämmer des Abends heimwärts ruderte, unterschied sein scharfes Auge ein rotes Krenz, das von der Platte eines der Gebirgsriesen aufragte. Dies war die Stelle, wo der kleine Nachen heute früh an dem Schiffe vorüber gefahren war und die Phantasie einer Genossin der Fahrt den Schluß einer Novelle in die Luft gezeichnet: zwei Menschen, die zusammen gehören – geschieden werden – nach Jahren sich wieder begegnen, nahe und doch unerreichbar – wie müßte Denen wohl zu Muthe sein?
Es war tiefe Nacht, als Wagen und Reiter in S. eintrafen Auf dem Residenzplatze trennte man sich. Siegmund’s Weg führte ihn über den Strom, und als er sich verabschiedete, schloß Max sich ihm an. Dies war nichts Ungewöhnliches, obgleich Friesack’s in anderer Richtung wohnten; heute war die Begleitung des Freundes aber Siegmund unwillkommen; nachdem er sich so lange Zeit Gewalt angetan hatte, empfand er glühende Sehnsucht noch Einsamkeit. Doch schien auch Max in schweigsamer Stimmung, gegen seine Art, die gewöhnlich jede erlebte Anregung wortreich austönen ließ. Erst als Beide über die schon menschenleere Brücke kamen, sagte er dicht neben dem Freunde in gepreßtem Tone:
„Siegmund!“
Die eigentümliche Betonung seines Namens riß diesen aus seiner Zerstreuung.
„Was ist Dir?“ fragte er, als er nun im hellen Schein der Gaslaterne den Ausdruck von Max’ Gesicht wahrnahm.
[707] „Ich muß Dir etwas sagen. Denke nie an mich – ich gönne sie Dir.“
„Was gönnst Du mir?“
„Sie – Margarita! Ich sah Euch heute beisammen stehen; da wußte ich es auf einmal; gerade da schautest Du Dich nach mir um. Nachher bist Du nicht wieder in ihre Nähe gekommen, vielleicht nur, weil Du mir nicht wehe thun wolltest. Das darf aber nicht sein, und deshalb wollte ich Dir heute noch sagen, daß ich sie Dir gönne, gleich Allem.“
Da legte Siegmund die Hand auf seinen Arm.
„Einen Augenblick noch!“ sagte er; „Du irrst. Margarita Seeon kann niemals mein werden, Max; das ist es, was ich seit heute weiß. Gute Nacht!“
Die Freunde tauschten einen Händedruck; dann schieden sie.
„Auch das noch!“ dachte Siegmund. Nie hatte er des Freundes Huldigung für Margarita anders betrachtet, als wie vorübergehende Schwärmerei. Nun wußte er: auch dieser gute Mensch liebte und litt. Die eben vernommenen Worte trieben ihm das Blut in die Wangen, als er ihnen nachsann. Was Max für ganz selbstverständlich hielt: daß er bereit gewesen, eigenen Ansprüchen auf Liebesglück zu entsagen, nur um dem Freunde nicht wehe zu thun, wäre ihm, für den stets nur Alles oder Nichts galt, niemals in den Sinn gekommen. Und es überkam ihn mit schmerzlicher Bitterniß, wie fern er gerade heute jeder Gelegenheit stand, solchen Großmuth zu üben. Gräfin Seeon hatte deutlich gesprochen. Keine Illusion war hierüber möglich!
Und doch begriff er sie nur halb, begriff wohl ihre Meinung, nicht ihre Handlungsweise. Warum beharrte sie darauf, mit ihm zu verkehren, während sie offenbar seine nähere Beziehung zu Margarita durchschaute und nicht dulden wollte? Weshalb entfernte sie ihn dann nicht lieber ans ihrem intimeren Umgangskreise? Trotz der Güte, die sie ihm bisher erwiesen, war doch die Dauer, der Charakter des Verkehrs der hochgestellten Frau mit ihm, dem jungen, alleinstehenden Officier, nicht der Art, um demselben einen Werth für sie zu geben, den sie höher anschlug, als eine Herzensgefahr für ihre Tochter. Trotz der Schranke, die ihr Wort ihm heute unübersteiglich gezogen, trotz der Ueberzeugung, die sie hegen konnte, ihn fortan diese Schranke einhalten zu sehen, mußte diese kluge Frau wissen, daß solche Gefahr für ihr Kind bestand. Anderen Sinn konnte ihr Appell an ihn nicht haben. Es gab also etwas, das ihn wichtig genug für sie machte, um ihn nicht fallen lassen zu wollen. Wieder trat der furchtbare Gedanke vor ihn hin, den zu denken er stets als Sünde und Schmach empfand, und wuchs und wuchs. Es mußte so sein; er trug einen Namen, auf den er kein gesetzliches Recht hatte; die Gräfin wußte darum – wahrscheinlich hatte sein Vater ihr nahe gestanden, und der Antheil, den sie ihm gewährt, beruhte von Anfang an auf Mitleid.
Bei dieser Vorstellung bäumte sich die stolze junge Seele schmerzlich in ihm auf. Margarita’s Bild wich zurück; das bisher über Alles geliebte Bild seiner Mutter allein schwankte vor ihm her, aber kaum erkannte er es noch. Seine nagenden Zweifel entstellten die leuchtenden Züge.
Als Siegmund sein Zimmer betrat, traf sein erster Blick einen ans dem Tische liegenden Briefe. Jeder Blutstropfen drängte sich ihm zu Herzen; da war, was er Tag um Tag so fieberisch erwartet hatte. Er zögerte, das Siegel zu erbrechen; ihm war, als sei sein Wohl und Wehe hier eingeschlossen. Das Blatt, welches er endlich hervorzog, war nur auf einer Seile beschrieben.
Dein Brief gelangte erst heute in meine Hände. Du verlangst Alles zu erfuhren, was Dich angeht, und ich gestehe Dir dieses Recht zu, Dennoch erbitte ich zunächst noch Deine Geduld. Ich behielt mir eine Mitteilung, welche uns Beide betrifft, nur bis zu einem bestimmten Termin vor, der, wenn nicht Alles täuscht, jetzt nahe ist.
Gräfin Ottilie Seeon betreffend, antworte ich Dir: Ja die Familie dieser Frau ist uns nahe verwandt. Mir ward von deren Haupt einst unwürdig begegnet. Da Ottilie hieran nicht persönlich betheiligt war, untersagte ich Dir nicht einen Verkehr, der Dir jetzt erwünscht ist und für Deine Zukunft werthvoll sein kann. Welcher Grund auch Deine Fragen dictirte, halte Eines fest: ertrage Nichts von dieser Seite! Bald erhältst Du volle Aufklärung; dann, mein geliebter Sohn, sehen wir uns wieder. Darnach sehnt sich noch heißer als Du
Richte Deinen nächsten Brief nach Paris, poste restante!“
Siegmund versank in tiefes Sinnen, ohne nur zu merken wie Stunde nach Stunde verrann. Als der Tag graute, war sein Entschluß gefaßt, nach Paris zu reisen und seine Mutter Auge in Auge um sein Leben zu befragen.
Der von Lieutenant Riedegg zur Regelung einer Fanlilienangelegenheit nachgesuchte vierwöchentliche Urlaub war von seinem Regiments-Commandeur bewilligt worden. Mit der Gewißheit, seine Mutter nach wenigen Tagen zu sprechen, kehrte mehr Ruhe in Siegmund’s Gemüth zurück.
Der Reisepaß war ausgefertigt, der Koffer gepackt; Siegmund wollte mit dem Nachtzuge abreisen. Im Laufe des Nachmittags begab er sich nach der Commandantur, um den Damen Mittheilung zu machen und sich zu verabschieden. Der Gang fiel ihm nicht leicht, war aber unerläßlich.
Als er den Portier fragte, ob die Gräfin daheim sei, antwortete dieser zu seiner Ueberraschung:
„Excellenz ist mit dem Mittagszuge nach Riedegg abgereist, einer Erkrankung des alten Herrn Grafen wegen. Soll ich den Herrn Lieutenant bei der Frau Präsidentin melden? Comtesse Margarita ist auch zu Hause.“
Siegmund zögerte einen Moment; dann übergab er dem Manne seine Karte mit dem Bemerken er wolle unter solchen Umständen nicht stören. Im Begriffe zu gehen, besann er sich, ließ sich die Karte zurückstellen und nahm den Bleistift aus seinem Notizbuch, um ein p. p. c. beizufügen, Ehe er damit zu Stande gekommen war, öffnete sich die Thür des kleinen Parterresaales, in welchem sich die Damen am Tage aufzuhalten pflegten, und Margarita erschien auf der Schwelle.
Als sie den jungen Mann erblickte, flog ein rosiger Hauch über ihr Gesicht; sie machte eine Bewegung, auf ihn zuzugehen, blieb dann stehen, öffnete die eben hinter sich geschlossene Thür und forderte ihn durch eine leichte Handbewegung zum Eintritte auf. Er folgt, sprach aber nicht; eine herzklopfende Erregung überkam ihn, als er sich mit der Geliebten, die er hatte meiden wollen, so unerwartet allein sah. Beide standen sich einige Augenblicke wortverlegen gegenüber, bis das junge Mädchen plötzlich die Augen erhob und treuherzig sagte:
„Wie lieb, daß Sie kommen!“
„Ich fürchte nur zu stören.“
„O nein, ich bin so froh, Sie zu sprechen, auch der Tante, die gleich herunter kommen wird, ist Ihr Besuch gewiß recht angenehm. Sie ist etwas verstimmt; ich glaube, es ist ihr nicht besonders erwünscht, mit mir allein hier zu bleiben.“
„Ich hörte eben – Sie erhielten unerfreuliche Nachrichten?“-
„Heute in aller Frühe kam das Telegramm vom Arzt des Urgroßpapas, der recht krank zu sein scheint. und er ist schon so alt! Mama hat gleich an Papa telegraphirt; seine Antwort traf zum Glück noch ein, ehe der Mittagszug abging. Er will in Kufstein mit Mama zusammentreffen und dann reisen Beide weiter nach Riedegg. Tante Seeon versprach ihre Abreise aufzuschieben und bei mir zu bleiben, bis die Eltern zurückkommen Es thut mir so leid, daß ich nicht mit Mama reisen durfte. Nun erlebt sie vielleicht Trauriges, und ich bin nicht bei ihr.“
Die lieben Augen füllten sich mit Thränen. Siegmund ward von der weiblich zarten Empfindung, die aus ihren letzten Worten klang, von der Blässe, welche heute auf ihrem Gesichte lag, tief gerührt. Ihn überkam die Ahnung, wie schwer dieses innige Gemüth, das bisher nur Freuden kannte, an seinen ersten Schmerzen tragen, wie leicht ihr Lachen verstummen konnte. Und es schmerzte ihn, jetzt von ihr zu gehen. Aus dieser Empfindung heraus antwortete er:
„Und ich, Comtesse Margarita, werde spät erfahren, wie Sie diese trüben Tage des Alleinseins verleben; denn auch ich stehe im Begriff abzureisen. Nach einigen Stunden schon.“
„Sie gehen fort wohin?“
Unverhohlener Schreck lag in ihrem Tone.
[708] „Nach Paris; ich besuche meine Mutter.“
Die großen Tropfen, welche noch in des Mädchens Augen standen, glitten zwischen ihre Wimpern und rollten dann langsam. einzeln nieder. Sie blickte unverwandt in Siegmund’s blasses Gesicht und sagte sanft:
„Zu Ihrer Mutter – das ist schön; das wird sie freuen. Und wann kommen Sie wieder?“
Er antwortete nicht gleich; heißes Abschiedsweh quoll in ihm auf, und alle seine Sorgen und Zweifel, Alles, was ihn so unübersteiglich von ihr schied, über die weitesten Wege hinaus schied, die er je durchmessen, von denen er je zurückkehren konnte das volle, herzzerreißende Bewußtsein eines Getrenntseins, das für heute und morgen und für immer bestehen blieb, drängte sich in das Wort: „Ich weiß es nicht.“
Margarita verstand seine Meinung. Aus dem zugleich furchtsamen und dringenden Blick, den sie auf Siegmund heftete, sprach so unschuldige, bedingungslose Hingabe, daß er Alles Vergaß, nur nicht, daß die Geliebte vor ihm stand und er von ihr scheiden sollte. Ehe er sich besonnen hatte, lag ihre Hand in der seinen; er neigte den Kopf zu ihr hinab, und der warme Hauch seines Athems berührte ihre Stirnlöckchen, während er schnell und leise sagt: „Am besten wär’ es, ich käme gar nicht wieder.“
Er hob die kleine zitternde Hand an seine Lippen und preßte einen langen Kuß darauf. Dann, indem er sie plötzlich losließ, sagte er, heftig erröthend:
„Vergeben Sie. Jetzt habe ich mir wirklich das Recht verscherzt, dieses Haus wieder zu betreten. Ihre Mutter gab mir ein Gesetz – und ich brach es. Es war zu schwer, zu schwer.“
Die Hand, welche er eben freigelassen, berührte leise seinen Arm. Margarita’s feines Gesicht war durchgeistigt, wie er es nie gesehen, um die weichen Kinderlippen lag ein fester Zug. Wie nahe war sie seinem Herzen, als ihre Augenlider sich sanft erhoben, und die goldbraunen Sterne ihn so wunderbar anleuchteten!
„Ich bin treu,“ athmete sie kaum vernehmlich. Dann war sie hinaus.
[717]
Der Eindruck, welchen Paris auf Siegmund machte, war überwältigend. Diese glänzende, tausendfarbige Welt, die mannigfaltige, immerwährende, ungeheure Bewegung, diese imposanten Paläste und Boulevards, die wimmelnden Straßen mit all den reizvollen Einzelbildern berauschten sein Auge, während er vom Bahnhofe nach dem „Grand Hôtel“ fuhr, um in diesem Riesenpalaste vorläufig abzusteigen. Jede Reisemüdigkeit war verschwunden; nachdem er sich umgekleidet und sich über die einzuschlagende Richtung orientirt hatte, drängte es ihn vorwärts – hinaus.
Der Weg nach dem Bankhause Selettier, seinem nächsten Zielpunkte, ließ sich zu Fuße zurücklegen. Warmes goldenes Licht fiel über den schönen Boulevard des Capucines, umspielte die gewaltigen Stufen der Madelaine, in deren Nähe alle Blumen, welche die Gärten noch versagten, verschwenderisch ausgebreitet lagen. Siegmund eilte mit leichtem Tritt über das breite Trottoir der schönen Straßen, alle Sinne lebhaft beschäftigt, aber dennoch mitten unter dem überall sich zudrängenden, lächelnden Neuen nur von einem Gedanken beherrscht. Jeder schnelle Pulsschlag galt diesem einen Gedanken: Heute noch werde er seine Mutter wiedersehen, ihre Stimme hören, ihren Augen begegnen – davor trat jetzt Alles in den Hintergrund; nur diese Gewißheit fieberte in ihm.
Das Bankhaus lag vor ihm, ein Palast. In die Comptoirräume eingeführt, übergab Siegmund einem jungen Manne, der nach seinen Wünschen fragte, seine Karte mit dem Ersuchen, dieselbe dem Chef des Hauses zuzustellen, den er zu sprechen wünsche. Nach sehr kurzem Verzug öffnete sich ihm das Privatcabinet des Banquiers; dieser, ein noch junger Mann, erhob sich bei seinem Eintritte vom Schreibpulte und fragte in höflichster Weise, aber ohne zum Niedersitzen einzuladen, womit er dienen könne.
„Entschuldigen Sie die Störung!“ sagte Siegmund; „ich komme, mir die Pariser Adresse Mr. Alfred de Clairmont’s zu erbitten, dessen Geschäfte Ihr Haus führt und der gegenwärtig hier anwesend ist.“
Der Banquier zuckte die Achseln:
„Kein Irrthum, Monsieur? Ich möchte die Anwesenheit Monsieurs in Paris bezweifeln.“
„Frau von Riedegg, meine Mutter, die dem Hause ihres – unseres Verwandten vorsteht, gab mir kürzlich Nachricht von hier aus –“
Der Banquier ließ einen neugierigen Blick über die elegante Erscheinung des in Civil gekleideten jungen Mannes gleiten.
„Ah!“ sagte er – und dann: „Die Beziehungen sind nur geschäftlichen Charakters, wahrscheinlich kein Anlaß vorhanden, das Haus zu benachrichtigen. Erlauben Sie –“
Er stand auf, öffnete die Thür und rief einen der im Comptoir arbeitenden Herren herbei.
„Mr. Pinel, sehen Sie doch gefälligst das Datum der letzten Eintragung für Madame Geneviève Clairmont nach –“
„Riedegg,“ verbesserte Siegmund.
„Pardon, Monsieur! Die Zusendungen Madames werden nach Weisung auf den Namen Monsieurs gebucht.“
Siegmund’s frappirter Aufblick begegnete einer Miene, die ihn reizte. Nun kehrte der Comptoirist zurück.
„Ancona, 5. März, Madame Geneviève Clairmont, zwanzigtausend Franken.“
„Sie wissen von keinem Avertissement einer Rückkehr nach Paris, Mr. Pinel?“
Der junge Mann verneinte schweigend und zog sich zurück.
„Bedauere –“ sagte der Chef.
Das Wort hätte ebenso gut Adieu heißen können.
Siegmund empfahl sich. Verstimmt, unbefriedigt wanderte er auf dem Trottoir ohne Ziel und Richtung. Mehr noch als die erlittene Täuschung ging Anderes ihm im Kopfe herum. Weshalb streifte seine Mutter hier den Namen ab, den sie daheim trug? Hatte sie im Anschlusse an Clairmont diesen Namen seines Vaters überhaupt freiwillig aufgegeben? Die quälenden Zweifel regten sich neu; auch die offenbare Unlust des Banquiers, ihm Rede zu stehen, eine gewisse Geringschätzung, die nicht in dessen Worten, wohl aber in seinem Tone gelegen, als von Frau von Riedegg die Rede gewesen, wirkten nun auf seine Stimmung nach. Er überlegte, ob es zweckmäßiger sei, sich an die österreichische Botschaft oder an die Polizeipräfectur zu wenden, um das Domicil seiner Mutter zu erforschen. Jedenfalls schien es rathsam, sich im Gesandtschaftshôtel über die localen Verhältnisse zu orientiren. Sein Paß sicherte ihm dort jedes Entgegenkommen.
Während er ganz vertieft immer vorwärts, vorwärts ging, ohne weiteren Blick für das schöne Paris, das ihn zuvor so sehr bezaubert, rief eine Stimme ihn lebhaft an:
[718] „Riedegg?“
Er blickte erstaunt auf und sah dicht vor sich ein elegantes Cabriolet, dessen Insasse, ein österreichischer Genie-Officier in Uniform, bereits das Pferd angehalten hatte, dem Groom die Zügel zuwarf und hinabsprang. Siegmund erkannte einen jungen Cameraden, mit welchem er während der Feldzugszeit im gleichen Corps gestanden und häufig verkehrt hatte. Lieutenant Edler von Horn war ein Verwandter Friesack’s und schloß sich damals den beiden Freunden als gern gesehener Dritter an.
„Also Du bist es wirklich, Camerad! Bravo! Seit wann bist Du hier? Erst seit heute? Na, dann darf ich Dir keinen Proceß darüber machen, daß Du mich nicht aufgesucht hast.“
„Was auch nicht geschehen wäre; ich hatte keine Ahnung –“
„Du weißt also nicht, daß ich seit Neujahr als militärischer Attaché zur hiesigen Gesandtschaft commandirt bin? Neue Mode des Kaiserreiches, gar nicht übel für Den, der sie mitmachen darf! Uebrigens wärest Du mir keinenfalls entronnen; denn Du hättest Dich doch einmal im Botschaftshotel gezeigt. Hast nichts vor? Begleite mich! Ich bin im Begriff, nach Hause zu fahren und mit Freunden zu diniren. Du wirst gut speisen und charmante Leute kennen lernen. Einverstanden?“
Siegmund überlegte. Der erste Impuls, sich über den Zweck seines Hierseins zu äußern, ward durch die instinctive Unlust zurückgedrängt, mit Einem, der ihn kannte, von seinen ihm selbst so wenig klaren Privatangelegenheiten zu sprechen. Jedenfalls wollte er das erst noch bedenken. Da erwachte ihm ein plötzliches Besinnen, das nur durch die Schärfe- der erfahrenen Eindrücke zurückgedrängt worden: der letzte Brief seiner Mutter hatte ihn angewiesen, seine Antwort an sie Paris, poste restante zu richten. Das hob jede Schwierigkeit. Nachdem ihm nicht geglückt war, ihre Adresse sofort zu erfahren, war es das Einfachste, ihr die seinige durch zwei Zeilen zugehen zu lassen. Der Wunsch, zu überraschen, lag ohnedies schon hinter ihm.
„Nun, Zauderer?“ mahnte der Andere. „Hast Du keine Lust, oder sonst etwas in petto?“
„Nichts! Nur müßte ich zuvor auf der Centralpost ein Wort abgeben.“
„Ich bringe Dich zum Bureau! En avant!“
Siegmund stieg ein. Es war ihm nicht unwillkommen, die für heute unvermeidlichen Wartestunden auszufüllen, und als er dem Vorschlage des Cameraden zustimmte, nahm er sich vor, sich aller fruchtlosen Grübeleien so gut wie möglich zu entschlagen. Sein Gefährte war wie geschaffen dazu, ihm dies zu erleichtern; sein rascher, sprühender Geist rührte an hunderterlei Interessantes, dessen Stoff bald der Vergangenheit, bald der Gegenwart angehörte. In seiner echt süddeutschen Freude am „alten bekannten Gesicht“ ließ er Siegmund nicht mehr los. Nachdem dieser auf dem Postbureau zwei Zeilen geschrieben und zurückgelassen hatte, mußte er ihm nach dem Quai d’Orsay folgen, sich das reizend kokette Hotel der Botschaft zeigen lasten und in Horn’s nahe gelegener Wohnung mit ihm die Herren erwarten, welche ihn dort, nach Abrede, abzuholen kamen.
Bald fanden sich zwei Attachés der österreichischen Gesandtschaft und ein Officier der Garde du Corps ein; die jungen Leute fuhren nun nach dem Rocher de Cancale, um dort zu diniren. Es war zwischen sechs und sieben Uhr, die Sonne im Untergehen, alles Glänzende, Verführerische, Reizende der Straßen und Plätze von goldener Helligkeit überflutet, jede Thurmspitze erglühend. Lebhaft angeregt durch Alles, was er sah, gab sich Siegmund wirklich, wie er sich vorgenommen, ganz der Stunde hin. Sein feiner, energischer Geist erfaßte im Fluge jedes Thema, das während der Stunden des ziemlich verlängerten Diners berührt wurde, und die Courtoisie, mit der er von seinen Landsleuten und dem französischen Officier aufgenommen worden, nachdem ihn Lieutenant Horn in auszeichnender Weise vorgestellt, nahm den Ausdruck unverhohlenen Interesses an. Die Herren wetteiferten in Anerbietungen, ihn mit Paris, dem Pariser Leben bekannt zu machen. Es gab schließlich kaum ein allgemeines Thema, das unberührt geblieben wäre, und der wechselnde Gebrauch deutscher und französischer Sprache, wie er in Anwesenheit eines Franzosen nicht ausbleiben konnte, gab der Conversation noch mehr Pikantes. Geist und Sitten der Nationen kamen zur Sprache. Obgleich Siegmund sich mit der taktvollen Zurückhaltung eines hier Fremden äußerte und seine Bemerkungen meist als Fragen formulirte, ward seine Auffassung der Pariser Sitten, wie sie sich unter dem Kaiserreiche gerade in den Sechsziger Jahren gestaltet hatten, von dem französischen Officier lebhaft bekämpft. Dieser behauptete, daß die Sittlichkeit in allen großen Städten Europas so ziemlich auf gleichem Niveau stünde.
„Paris hat nur mehr Accent als Ihre deutschen Großstädte,“ schloß er; „deshalb drücken sich seine Humore lebhafter aus – im Uebrigen können Sie eben so gut vom Winde verlangen, daß er sich nicht rege, als Unverdorbenheit von einer Weltstadt.“
„Ich selbst bin ein Kleinstädter und spreche aus keiner Erfahrung,“ erwiderte Siegmund. „Doch interessire ich mich für alle Erscheinungen des modernen Culturlebens; gestatten Sie mir eine Frage: galt, was Sie eben sagten, den Individuen oder der Gesammtheit? In letzterem Falle glaube ich nicht, daß Sie Recht behalten. Ihr Land war mir von je besonders interessant; ich wünschte längst, hoffte bestimmt Paris zu besuchen, und las, erfuhr Manches über Pariser Leben. Davon blieb mir aber ein bestimmter Eindruck zurück: mir scheint, daß hier fatalistische Zerstörungen keimen, die bei uns ihres Gleichen nicht haben und in ihren Folgen verhängnißvoll werden müssen.“
„Zum Beispiel?“ fragte der Officier.
„Zum Beispiel das verderblichste aller Systeme, das Spionensystem oder auch die Masse von Spielhöllen, welche neuerdings hier wie Pilze aufschießen sollen.“
„Bah,“ warf der Officier ein – „dieses Wort, deutsch gesprochen, klingt schwarzroth wie die Hölle selbst und bezeichnet schließlich doch nur einen Zeitvertreib, den Viele sich erlauben können, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen, gegen das Ihre Homburger und Wiesbadener öffentlichen Banken weit schwerer in das Gewicht fallen.“
„Darum eben werden sie aufgehoben – Sie hörten sicher, daß sich dieses vorbereitet –“
„Soit! nun fragt es sich, was verdammen Sie so energisch? Wer diese Sitten haßt, kann durch Fernbleiben persönliche Censur dagegen üben. Spielhöllen! Was nennen Sie so? Man geht in diese Häuser, um überhaupt auszugehen, um hier und da ein ernsthaftes Spiel zu machen, ohne daß unsere Vorgesetzten uns im Club zuschauen. Mon Dieu! Diese Salons gehören oft Leuten aus ganz guten Familien, mit denen Jeder umgeht, so lange kein öffentlicher Eclat stattgefunden.“
„Und wenn nun ein solcher Eclat entsteht?“
Der Officier zuckte die Achseln.
„Dann verschwindet Monsieur oder Madame, um anderwärts wieder aufzutauchen.“
„Mir unbegreiflich, wie man sich entschließen mag, den Fuß über die Schwelle solcher. Leute zu setzen, die von der Infamie leben,“ warf Siegmund lebhaft ein.
„Wirklich, Herr Lieutenant, Sie sind zu rigorös,“ bemerkte einer der Attaches.
„Sie sollten sich das in der Nähe ansehen,“ meinte der französische Officier; „nur um Ihrer Strenge die Spitze abzubrechen. Ein Vorschlag, Messieurs! Wie war’ es, wenn wir nach dem Theater einen Abstecher zur Place Royale machte? Es handelt sich um einen Salon des eben besprochenen Schlages,“ wandte er sich zu Siegmund, „einen Salon, dem ein vollendeter Weltmann präsidirt und wo eine süperbe Frau die Honneurs macht.“
„Eine Dame?“ fragte Siegmund wegwerfend.
„Nur die Dame des Hauses. Eine Französin, der man aber einen Beinamen gegeben hat, welcher aus einer Ihrer Opern stammt. Wir nennen sie die Königin der Nacht. Nun, stimmen Sie zu? Man muß die Gelegenheit wahrnehmen, seine Vorurteile abzulegen“
„Von Vorurtheilen kann hier keine Rede sein,“ antwortete Siegmund etwas trocken; „mir sind dergleichen Existenzen in der Seele zuwider, was aber kein Grund ist, die Herren in Ihrem Programm zu stören. Ich bin für heute ganz der Ihre und schließe mich jeder Excursion an, welche Sie belieben.“
„Bravo!“ rief Horn. „Wir nehmen Dich beim Wort.“
Als die jungen Leute das Theater verließen und einen der dort stationirten Wagen anriefen, um nach der Place Royale zu fahren, war es einhalbzwölf Uhr. Waren auch die glänzenden [719] Magazine nun geschlossen, so blieb doch Parts durch seine zahllosen Gasflammen auch jetzt noch mit einem Gefunkel übersäet, das Siegmund’s ungewohntem Auge märchenhaft erschien. Seine Lebensgeister waren hochgespannt; das Interesse an all dem Neuen, das ihm bei jedem Aufblick entgegensprang, wuchs, je mehr er davon genoß, und neugierig sah er der letzten Scenerie entgegen, die sich ihm als Schlußtableau dieses bilder- und gestaltenreichen Abends aufthun, seine noch so beschränkte Weltkenntniß nach einer fremden Sphäre hin erweitern sollte.
Der Wagen hielt vor einem Gitter, das einen nur schwach erleuchteten, mit Bäumen besetzten Hof oder Vorgarten abzugrenzen schien; das Thor war unverschlossen. Als sie ausgestiegen und das innere Terrain betraten, vernahm Siegmund das gleichmäßige Plätschern eines Springbrunnens, das etwas so Einschläferndes hat, wenn man das Wasser nicht sieht.
Alles, was seinem Auge begegnete, widersprach den Schilderungen, die er von ähnlichen Etablissements kannte. Ein altes Haus, zwischen Hof und Garten gelegen, von stillem, vornehmem Eindrucke, alle Fenster der Parterreräume, einzelne der Beletage mild erleuchtet. Keine Blumen, nur eine dunkle Pflanzenpyramide in der weiten Halle, die als Entreé diente. Dort nahm ein Diener ohne Livree, mit grauem Haar, den Herren die Ueberzieher ab und öffnete, nach einem schnell recognoscirenden Blicke, ohne sie zu melden, die Thür zu einem langen Saal ebener Erde. Siegmund’s Falkenblick überflog neugierig den mit kostbarer, fast strenger Eleganz ausgeschmückten Raum. Tiefdunkles Getäfel mit Einfassungen von Silber, einige hohe Spiegel in gleichfalls silbernen Renaissancerahmen, mehrere alte Oelgemälde, ein prachtvoller Kamin von weißem Marmor, das Ameublement von Palisanderholz mit silbernen Inkrustationen. Kein Gas, nur Wachskerzen in großer Fülle an den Wänden, auf den Tischen vertheilt. Dunkle Sammetvorhänge mit silbernen Fransen besetzt verhüllten die Fenster und teilten den Saal von anstoßenden Räumen ab.
Eine halbrunde Ottomane, von Plauderern besetzt, ein runder Tisch davor, der einige Karaffen mit Wein trug, füllte die Ecke links am Eingange, während im tieferen Theile des Saales eine Anzahl von Spieltischen vertheilt war, die, alle besetzt, zum Theil von Zuschauern oder Wettenden zwei- und dreifach umringt wurden. Die Unterhaltung war keineswegs laut, schien aber animirt; Niemand nahm von den den Eintretenden Notiz.
„Voilà le Chevalier“ sagte der Officier vom Garde du Corps zu Siegmund, indem er mit den Wimpern einen eleganten, nicht mehr jungen Mann bezeichnete, der, die Karten in der Hand, mit dem Rücken gegen die Thür, an einem der Ecarté-Tische saß. „Er ist beschäftigt; wir wollen ihn nicht stören, sondern uns lieber gleich in den kleinen Salon begeben, damit ich Sie der Dame des Hauses vorstelle.“
„Ist das notwendig? Sonst lassen Sie mich lieber hier!“
„Unerläßlich,“ winkte der Franzose und bewegte sich vorwärts. Die Anderen folgten. Siegmund’s aufmerksame Augen erblickten, nachdem sich die Portieren geteilt, einen mäßig großen Salon, dessen anmutige Ausstattung den Eindruck gewählten Comforts machte.
Ganz in der Tiefe des Zimmers war eine Reihe von bequemen Fauteuils um einen großen Tisch gruppirt, momentan aber nicht besetzt. Die acht oder zehn Herren, welche sich in diesem Salon aufhielten, umgaben eine in der Nische eines Bogenfensters stehende Dame, welche durch das Gespräch ebenso in Anspruch genommen schien, wie es der Chevalier durch das Spiel war. Sie bemerkte die Eintretenden nicht sogleich. Als es geschah, waren dieselben bereits näher getreten. Die Gruppe, welche die Hausfrau umgab, teilte sich nun, eine hohe, in dunkle Seide gekleidete Frauengestalt trat einen Schritt vorwärts; sie blieb mitten in der Bewegung plötzlich stehen, wie eine schreitende Statue. Ihre großen dunklen Augen hafteten starr auf Siegmund – Mutter und Sohn standen sich gegenüber.
[735] Siegmund wich erschrocken zurück. Im Ausdruck der beiden schönen Gesichter, die einander wie entgeistert anblickten, lag etwas Furchtbares. Genoveva’s Züge wurden fahl; sie wendete ihren Kopf langsam von ihrem Sohne ab, ging mechanisch einer Thür im Hintergrund des Zimmers zu und verschwand.
Siegmund schwankte einen Moment wie trunken; seine Blicke begegneten Horn’s scannendem Auge; brennende Röthe bedeckte sein vorhin aschfahl geworbenes Gesicht; er ließ einen schnellen wilden Blick über die Gruppe hinirren, welche ihn wortlos umstand, hob dann plötzlich den Kopf und folgte seiner Mutter auf dem Fuße.
Er hatte nicht weit zu suchen. Genoveva stand unbeweglich mitten im anstoßenden schwach erleuchteten Cabinet. Als sie ihren Sohn erblickte, kam Leben in die starre Gestalt; sie streckte ihm, wie beschwörend, beide Hände entgegen. Siegmund trat hinweg, als fürchte er von diesen stehenden Händen berührt zu werden. Seine arbeitende Brust war noch immer keines Lautes fähig, aber um so gewaltsamer sprach die zusammengezogene Stirn. Genoveva ertrug nicht den Blick von Entsetzen in diesen Augen, die sie allezeit liebend angeschaut.
„Siegmund!“
Sein Name, mit einem Ton gerufen, den er von dieser Stimme nie gekannt, riß ihn aus der lähmenden Starrheit. Er trat dicht zu ihr heran.
„Hier finde ich meine Mutter,“ sagte er dumpf „In einem Spielhause.“ Das Wort drohte ihm die Kehle zusammen zu schnüren; er schauderte und schloß einen Moment die Augen. So sah er nicht, welche unaussprechliche Qual sich in Genovevas schöne, stolze Züge grub. Ihre ausgestreckten Hände sanken kalt und leblos [736] nieder. Plötzlich richtete sie sich mit leidenschaftlichem Ausdrucke hoch auf und rief fast befehlend:
„Mein Sohn!“
„Du hast keinen Sohn mehr,“ sagte er finster und trat hinweg. Dann wandte er sich, um nach der Möglichkeit zu spähen, dieses Haus zu verlassen, ohne noch einmal durch das Fegefeuer fremder Blicke zu gehen. Das kleine Zimmer hatte keinen eigenen Ausgang. Ein leises Geräusch, wie aus weiter Ferne kommend, wie eine dumpfe Erinnerung an etwas schon Gewußtes, berührte sein Ohr. Es fiel ihm ein, daß es das Plätschern des Springbrunnens war. Sein Blick flog nach dem offenen Fenster.
Im nächsten Momente hatte er sich hinausgeschwungen, mit wenigen Schritten den Hof durchmessen und sich in eines der Cabriolets geworfen die vor dem Gitter hielten. – –
Das Gefühl, fliehen zu müssen welches Siegmund nach seinem Hôtel zurückgeführt, stachelte ihn ebenso unbarmherzig in dessen vier Wänden. „Fort, nur fort!“ war sein einziger. bewußter Gedanke, alles Andere ein wildes Chaos. Doch wohin? Als diese Frage vor ihm aufsprang, nahm sein Elend plötzlich Gestalt an: er sah sein Leben wie mit einem scharfen Schnitt in zwei Stücke zertrennt. Was es gewesen, war dahin, unwiderruflich zerstört. Wohin konnte er wohl gehen? An den Ort, von dem er gekommen, zurück in seinen Beruf? Unmöglich! Was ihm über Allem stand, seine persönliche Ehre war beschimpft. Er warf beide Hände vor sein brennendes Gesicht, und ein Stöhnen brach aus der gequälten Brust. Doch gab er sich keinem Brüten hin; er wollte ja fort; ihm graute vor dem Anbruch des Tages, vor der Möglichkeit, von seiner Mutter, von Horn, hier gesucht und gefunden zu werden. Entschlossen das Hôtel sofort zu verlassen und den nächsten Bahnzug zu benutzen, der aus Paris hinwegführte, gleichviel nach welcher Richtung, warf er hastig Einiges, was er diesen Mittag herausgenommen, in den Koffer zurück. Die Nacht mußte weit vorgerückt sein; er sah nach seiner Uhr. Da ging es ihm auf einmal wie ein Nebel über die Augen, daß er die Zahlen nicht mehr unterschied. Diese Uhr, ein Kleinod ihrer Art, war ein Geschenk seiner Mutter, das ihn sehr erfreut hatte. Nun faßte ihn ein Grauen davor. Alles, Alles was er besaß, der verhältnißmäßige Luxus, in welchem er seit Jahren hingelebt, um den die Cameraden ihn manchmal beneidet hatten, Alles entstammte einem Sumpfe. Es überlief ihn, als hätte er sich im Dunklen von einer eklen Speise genährt und sähe nun im neuen Lichte des Tages, wovon er genossen. Nie, niemals konnte er Einem von Denen, mit welchen er schöne, stolze Jahre zusammen verlebt, vor die Augen treten – unter der Erde hätte er sich verbergen mögen. Und weshalb nicht das? Wozu die Bürde eines Lebens weiter tragen, das ihm keine Güter mehr zeigte, an dem Alles ihn anwiderte? Aber auch in der Vorstellung des Aufhörens fand er keinen Trost. Das war keine Lösung; die Schande blieb haften Wüßte er nur erst, wohin jetzt! Da fiel ihm die Moosburg ein, und der Gedanke war wie ein Lufthauch für einen Erstickenden. Dorthin wollte er gehen; dieser Fleck Erde war sein, sein einziger unbesudelter Besitz. Am Tage, als er mündig geworden, hatte Genoveva ihrem Sohne den Kaufact der Burg als Eigenthum übergeben. An diesem Erbe seines Vaters klebte keine schmähliche Erinnerung; denn dort lag und stand heute noch Alles wie in seiner Kinderzeit, in der Zeit, als die Hände seiner Mutter noch rein gewesen.
Im blassen Zwielicht des ersten Morgengrauens fuhr er nach demselben Bahnhof, aus dem er gestern mit Befürchtungen eingetroffen war, die ihn sehr gequält. Was lag ihm heute daran, ob schon sein erster Athemzug mit Schande zusammengehangen oder nicht? Es hatte das nichts mehr zu bedeuten. Er legte die wechsenden Stationen seiner Reise zurück, ohne in seiner Stumpfheit darauf zu achten wie Orte und Tageszeiten vorübergingen.
Als er in Lahnegg eintraf, war der Abend schon herein gebrochen Er beauftragte den Postilion sein Gepäck auf der Post einzustellen und ging im Schutze der Dunkelheit unerkannt seinem Hause zu. Es kostete einige Mühe, dessen Hüter herauszuklopfen, welche bereits zu Bette gegangen waren. Seit Jana’s Verheirathung war Klas, der frühere Knecht, zur Aufsicht über die Moosburg bestellt worden. Er und sein Weib staunten nicht wenig, als sie gewahr wurden, es sei „der junge Herr“, welcher so spät und ungemeldet Einlaß begehrte. Sein verstörtes Aussehen fiel selbst diesen Leuten auf, aber sie unterstanden sich nicht, ihn zu fragen, ob die anderen Herrschaften nachkämen. Die Zimmer waren in guter Ordnung. Rasch besorgte die Frau das für die Nacht Nothwendigste und ließ Siegmund dann allein.
Hier in diesem trauten alterthümlichen Zimmer, das für den Knaben eingerichtet worden, seit er nicht mehr in dem seiner Mutter schlief, hier sprengte unbändiger Schmerz die Starrheit, welche den Unglücklichen bisher nahezu versteinerte. Schluchzend wie ein Kind, warf er sich über das Bett hin, dessen Kissen die Hand seiner Mutter so oft geglättet, wo er noch als reifender Knabe oft ihren Gute-Nacht-Kuß empfangen hatte. Jede Stunde dieser Nacht füllte sich ihm mit Bitternissen des Todes.
Am nächsten Morgen äußerte er sich gegen Klas darüber, daß er einige Zeit hier verweilen würde, sich nicht wohl befände und deshalb für etwa anfragende Besucher nicht zu sprechen sei. Dann setzte er in vorschriftsmäßiger Form ein Gesuch um Verabschiedung als Officier auf, couvertirte und sandte Klas damit nach Lahnegg, um das Schreiben heute noch der Post zu übergeben. momentan lag eine gewisse Erleichterung für ihn darin, etwas Nöthiges, Dringliches gethan zu haben. Nun gab es aber nichts mehr zu thun.
Als er gegen Abend neben dem offenen Mittelfenster des Terrassenzimmers saß und die Augen auf den goldig beglänzten Strom geheftet hielt, öffnete sich die Thür, und Lois trat ein. Siegmund, der das Klopfen überhört hatte, fuhr zusammen, ging aber ohne Zögern dem Caplan entgegen, dessen ruhige Stimme von der Schwelle her sagte:
„Für mich wird die Ordre, Niemand herein zu lassen, doch wohl nicht gelten?“
Die Freunde boten einander die Hand und sahen sich schweigend an. Selbst in dieser Stunde ward Siegmund durch die Veränderung betroffen, welche seit seinem letzten Hiersein mit Lois vorgegangen. Er war hager geworden, sein Gesicht eingefallen; die Augen lagen noch tiefer, waren noch tiefblickender geworden, als früher. Tiefe forschenden Augen hafteten ernst auf Siegmund, als er sagte:
„Klas meint, Du wärst vorerst krank, und wirklich, Du siehst elend ans.“
„Das Compliment muß ich Dir zurückgeben“ antwortete Siegmund; „mir fehlt übrigens nichts. Erzähle mir, wie es hier mit Euch Allen steht! Wir haben uns lange nicht gesehen, und ich weiß gar nichts mehr von Land und Leuten. Da war es wohl Zeit, sich einmal selbst umzuschauen.“
Er sprach das hastig hin, mit abgewendetem Gesicht, rückte einen Stuhl herbei und warf sich wie ein Todtmüder, der nicht länger zu stehen vermag, auf den Sitz am Fenster.
„Siegmund,“ sagte Lois, die Hand auf seiner Schulter. „Dir ist etwas geschehen. Denke daran, wie wir mit einander groß geworden, und wenn ich Dir auch nicht helfen kann, laß mich es mit Dir tragen!“ .
Ein Schauer lief über Siegmund hin.
„Ja wohl,“ nickte er, „etwas geschehen!“
Er hielt inne. Das Fremde, Starre, was Lois im ersten Moment an ihm erschreckt hatte, schnitt jedes Fragen und Drängen ab. Tiefe Sorge ergriff den jungen Priester; er legte still den Arm um ihn und sagte in sanftem Tone:
„Sigi!“
Dieser Kindheitsklang, das Liebeswort frühester Jahre, erschütterte das arme Herz tiefer, als jedes Zusprechen vermocht hätte. Er stützte die Stirn an des Jugendfreundes Schulter.
„Ich kann es Keinem sagen – Keinem!“
„Keinem Andern vielleicht, keinem Fremden. Dem Priester, Sigi, kannst Du Dein Herz entladen. Das Wort erlöst und heilt. Ich flehe Dich an, vertraue mir!“
Er schüttelte den Kopf. Die Schande seiner Mutter zu enthüllen – diesem, der sie gekannt und geliebt – Alles in ihm sträubte sich dagegen. Und doch war ihm die Nähe, das stille Wesen des Freundes wie Balsam. Und die stumme Qual der jüngsten Tage und Nächte rang nach Befreiung.
Minuten waren vergangen – da sagte Siegmund mit gebrochener Stimme:
„Du wirst es nicht fassen, aber sagen will ich es Dir. Denke, es sei eine Beichte, und verschließe es wie auf Deinen Eid!“
Und nun kam sie hervor, die jammervolle Geschichte, stockend erst und abgebrochen in wachsender Bitterkeit, alles Erlebte, Erlittene, vom ersten Zweifel an bis zum schaurigen Ende.
[738] Lois hörte dem Unseligen in tiefer Betroffenheit zu. Als die schmerzliche Beichte zu Ende war, sagte er lebhafter, als in seiner Weise lag:
„Dir muß ich ja glauben – jeden Anderen hätte ich schändlicher Verleumdung geziehen. Vergiß aber nicht, daß Du ihr keine Zeit gelassen, sich zu rechtfertigen! Deine Mutter, die wir Alle kennen so lange Jahre, die edle, auserlesene Frau – unmöglich, unmöglich!“
„Das ist es ja,“ athmete Siegmund schwer hervor. „Die Lüge ist es, die lange, lange, ungeheure Lüge. Jedes Verbrechen hat seine Grenze – die Lüge hat keine. Und sie hat mich belogen Jahr um Jahr, hat mich zur Ehre angefeuert und inzwischen ihre und meine Ehre gebrandmarkt. Wir haben nichts mehr mit einander gemein.“
„Dennoch mußt Du sie anhören, sobald sie es fordert,“ sagte der junge Priester ernst. „Das ist Jeder dem Andern schuldig, und der Sohn ist es seiner Mutter dreifach schuldig. Wie es geschah, daß eine Frau wie diese so tief sinken konnte, ist mir nicht begreiflich, das aber weiß ich: Liebe zu Dir ist eine ihrer Triebfedern gewesen.“
„Liebe –“ wiederholte Siegmund mit unendlicher Bitterkeit.
„Ich sage nicht, daß Du ihr Dank schuldest, weil sie Dich durch schnöde Mittel bereicherte; mit der Schuld läßt sich nicht unterhandeln, gegen den Schuldigen muß man aber Erbarmen üben. Die Mutter, welche uns im Schooße getragen und tausendfache Liebe erwiesen, dürfen wir nicht aus unserem Leben streichen, weil sie fehlte, und sei es noch so Schweres, das sie beging. Dein Gemüth ist jetzt zu tief erschüttert – aber Du wirst einsehen, was Noth thut. Wenn Scham und Verzweiflung, so vor Dir gestanden zu haben, Deine Mutter verstummen lassen, dann ist es an Dir, nun ihr Erklärung über die Lage zu fordern, in der Du sie getroffen.“
„Nie!“ rief Siegmund in starkem Ton. „Jeder Schritt ihr entgegen wäre ein Compromiß mit Schande und Verbrechen. Wir sind von einander geschieden, als wäre es durch den Tod.“
„Siegmund,“ sagte Lois mit namenlos traurigem Blick, „glaubst Du denn, der Tod trennte? O, ich spreche jetzt nicht zu Dir als Priester, der Dir Wiedersehen und Ewigkeit in Erinnerung bringen will, ich spreche als ein armer Menschensohn, der an sich erfahren hat, was Leben und Tod bedeuten.“
„Du?“
„Ich verstehe Dich wohl, Du denkst, ich hätte gar Weniges erfahren, was mir ein Verständniß für Deine Schmerzen gäbe. Aber Du irrst. Willst Du, so sage ich Dir, was Niemand weiß als mein Gewissen und Eine, deren Tod ich verschuldet habe.“
Siegmund sah betroffen auf.
„Ihr saht es Alle nicht,“ fuhr Lois fort, „was zwischen mir und Maxi vorging. Sie war noch halb ein Kind, als sie sich schon meiner Gedanken bemächtigt hatte, und doch wollte ich Priester werden. So ging ich ihr aus dem Wege, kam nicht mehr in den Ferien nach Hause und dachte den Feind in mir bezwungen zu haben. Du weißt, der Mutter Krankheit rief mich heim; da fing es wieder an und schlimmer. Beim Alpbachsturz, als wir Beide zu sterben meinten, kam es zu Worte, und ich ließ mich zum Versprechen hinreißen, meinen priesterlichen Beruf um ihretwillen aufzugeben. Nun folgte harte Zeit; denn ich wußte gut, daß mich nur die heißen Sinne zu ihr rissen, und verzehrte mich in Reue um meinen Beruf – fürchtete mich vor dem Leben mit ihr, die so anders geartet war und sich von Keinem bändigen ließ. Wir hatten häufig Streit; sie versprach mir zu gehorchen und that es nicht, und einmal, als ich ihr deshalb Vorwürfe machte, warf sie mir mein Versprechen vor die Füße und hieß mich zurückgehen in mein Seminar. Sie that das in rascher Aufwallung, in kindischer Weise; dennoch faßte ich sie beim Worte und löste mich von ihr ab. Ich glaubte Recht zu thun oder redete mir das wenigstens ein, weil wir doch nie zusammen glücklich geworden wären und weil ich als Priester Hohes zu wirken meinte. Und so verhärtete ich mich, als ich erfuhr, sie sei krank, und meinte immer noch das Rechte gethan zu haben. Du weißt, wie sie gestorben ist, Siegmund. Seitdem ist sie neben mir und wird da bleiben, bis ich selbst meine Augen schließe. Und so bin ich schuld geworden, daß ein junges Leben zu Grunde ging, an dem gerade ich bestimmt war ein Priesteramt zu üben. Mit solchem Bewußtsein geht es sich schwer durch Tage und Nächte, Siegmund. Dein Schicksal ist ein anderes: Du bist rein von Schuld, aber ich beschwöre Dich: sei nicht hart, wie ich es gewesen! Durchschneide nicht, woran Du unzerreißbar gebunden bleibst, bedenke, daß die Gestalt Deiner Mutter einst so neben Dir hergehen könnte, wie Maxi neben mir! Erbarme Dich der Schuldigen, hilf ihr, sich wieder aufzurichten, ringe den Stolz nieder, der sich in Dir empört gegen Deine eigene Pflicht als Mensch und als Sohn!“
Siegmund sprang auf; sein ganzer Körper bebte. Den dringenden Augen des Mahners auszuweichen, trat er hinweg, blieb dann aber stehen und sagte düster:
„Gegen Schatten kann man sich wehren. Weshalb bleibst Du hier?“
„Wo ich an einem Grabe vorbei muß, so oft ich mein geistliches Amt in der Kirche verrichte, meinst Du? Ich bleibe, weil meine Mutter langsam hinstirbt und ich ihre Augen zudrücken will. Nachher denke ich allerdings zu gehen, hinaus in unsere Berge – zu den Armen und Elenden.“
„Pfarrer im Hochgebirge?“ fragte Siegmund. „Ich hörte oft, das sei ein Märtyreramt. Nun gut! Ich denke in meiner Art zu thun wie Du – nur erwarte sonst nichts von mir! Dir ziemt es, Versöhnung und Vergebung zu empfehlen, aber hier kannst Du mir nicht folgen, der Priester nicht dem Offcier. Lois, sie hat mich selbst dazu erzogen, das Gemeine zu verabscheuen. Das wäscht kein Gott und kein Mensch hinweg – laß es ruhen!“
Während der nächsten Tage brach der Frühling mit Macht in das Thal, welches über und über in Blüthen stand. Die Leute der Gegend, die „den jungen Herrn“ sahen, meinten zwar Alle, er müsse recht krank gewesen sein, weil er gar so verfallen ausschaue, das würde sich aber bald wieder geben. Er ginge ja fleißig spazieren mit dem Herrn Caplan, und wenn man an der Moosburg vorüber käme, höre man ihn Clavier spielen nach Herzenslust. Siegmund brachte wirklich einen guten Theil des Tages am Flügel zu, war überhaupt unablässig beschäftigt – am Schreibtische oder mit Büchern. Tief in die Nacht hinein schimmerte noch das Fenster seines Zimmers. Kam ein verspäteter Wanderer zu Fuß oder Roß das Thal entlang, so mochte sich dieser wohl des friedlichen Scheines freuen, ohne zu ahnen, welche unaussprechliche Qualen sich dort in Einsamkeit ausbluteten. Die stolze junge Seele wollte ihre Wunden Keinen sehen lassen, nicht einmal den Freund, der von ihnen wußte.
Gegen Abend, wenn der Caplan frei war, kam Siegmund hinab, ihn abzuholen; dann wanderten Beide weit hinaus, thaleinwärts, waldauswärts und sprachen über alles Mögliche, was ihre Studien, was Welt und Menschen in ihnen angeregt hatten, nur nicht von Dem, was ihnen am Herzen zehrte. Oft kehrten sie erst bei eingebrochener Nacht zurück, wenn das Dunkel schon den rauschenden Inn bedeckte und die Funken der Schmiedehämmer farbiger sprühen ließ. Beiden ward die Bürde, die sie trugen, gleichsam gelüftet, während sie beisammen waren.
Als Siegmund eines Abends nach solcher Wanderung heimkehrte, sah er zu seiner Verwunderung schon von Weitem die Wohnzimmer der Moosburg erleuchtet. Klas empfing ihn vor der Thür mit der Meldung, Herr Fügen sei angekommen.
Siegmund’s Stirn verdunkelte sich; es war ihm äußerst unlieb, Fügen hier zu sehen, während er sich noch nicht hatte überwinden können, ihm Nachricht zu geben. Es fuhr ihm durch den Kopf, dieser könnte durch Max Friesack oder den Oberst selbst von seinem Abschiedsgesuche gehört haben und käme nun, ihn deshalb zu examiniren. So trat er mit kaum beherrschter Verstimmung ein und erkannte bei seinem ersten Blick auf den alten Freund, daß auch dieser ziemlich finster drein schaute. Ohne ihn erst zu Worte kommen zu lassen, bot Siegmund ihm die Hand und sagte in hastigem, gezwungenem Ton:
„Willkommen auf der Moosburg lieber Meister! Das ist unverhofft – fast vermuthe ich, daß eine von Max colportirte Sensationsnachricht Sie hierher geführt.“
„Nicht eben das,“ erwiderte Fügen etwas trocken. „Es hätte sich wohl zu Hause abwarten lassen, bis solche Novelle direct an mich gelangen würde. Daß Du hier bist, habe ich allerdings durch Max erfahren, was mich herführt, ist aber ein Auftrag Deiner Mutter.“
[739] Siegmund fuhr zusammen. Erst jetzt, wo das volle Licht der Lampe aufs ihn fiel, gewahrte Fügen, wie elend und verfallen er aussah. Alle Empfindlichkeit war im Nu verweht.
„Siegmund,“ sagte er in ganz verändertem Ton, „was hat das Alles zu bedeuten? Du sagst uns, daß Du nach Paris zur Mutter reisen wolltest; kaum bist Du einige Tage fort, so erfahre ich, daß Du von hier aus plötzlich Deinen Abschied eingegeben, und erhalte fast zu gleicher Zeit einen Brief Deiner Mutter mit einer Einlage, die ich Dir zugehen lassen sollte, falls ich wisse, wo Du Dich aufhältst. Frei heraus: es hat mich verdrossen, daß ich von Fremden zuerst erfahren mußte, welchen abfallenden Entschluß Du gefaßt hast; ich hätte Dich nicht aufgesucht, führte mich nicht ein zweiter Auftrag Deiner Mutter nach der Moosburg. Ich will mich nicht in Deine Angelegenheiten drängen, aber ich darf Dich daran erinnern, wie ich für Dich gesonnen bin.“
Des jungen Mannes Augen wurzelten am Boden.
„Was schreibt Ihnen meine Mutter?“ fragte er düster.
„Das kannst Du erfahren, nachdem Du ihren an Dich selbst gerichteten Brief gelesen. Hier!“
Er nahm ein verschlossenes Couvert aus seiner Brusttasche und reichte es Siegmund hin, dessen Hand sich so zögernd ausstreckte, daß der Brief zur Erde glitt. Siegmund hob den Brief nun auf, aber legte ihn uneröffnet auf den Tisch. Ohne weitere Bemerkung nahm der Capellmeister ein brennendes Handlämpchen vom Seitentische und ging, die Thür hinter sich offen lassend, in das anstoßende Zimmer. Siegmund, der ihm mechanisch nachblickte, sah dort das Schreibpult seiner Mutter, dessen Schlüssel sie stets bei sich führte, geöffnet und einige Häufchen Briefe und Papiere auf dessen Platte geordnet, womit Fügen sich nun beschäftigte.
Siegmund schaute ihm einige Augenblicke mit stumpfer Verwunderung zu; dann wandte er den Blick wieder auf den vor ihm liegenden Brief. Bei der bloßen Vorstellung, was er enthalten möge: Worte der Rechtfertigung, der Erklärung, erfaßte ihn Grauen und Ekel. Da klang plötzlich, wie von fern her, Alles das an sein inneres Ohr, was Lois so eindringlich von ihm gefordert. Er preßte die Lippen auf einander und öffnete das Couvert. Das herausfallende Blättchen enthielt nur wenige Zeilen:
Du verdammst mich, und ich werde Dich niemals wiedersehen. Ich bereue nicht, daß ich Dich mehr geliebt habe, als mein Glück und meine Ehre.
Deine eigene Ehre beruhst auf Dir selbst. Lebe wohl!
Deine Mutter Genoveva.“
[746] Als Fügen sein Geschäft beendet hatte und in das Eßzimmer zurückkehrte, fand er Siegmund, den Kopf in beide Hände vergraben, über den Tisch gebeugt, vor dem er saß. Bei dem Geräusch der zugehenden Thür richtete er sich jählings auf. Sein Gesicht war von Thränen überströmt, den ersten, welche ihm seit all diesen Tagen und Nächten vergönnt worden.
„Meister,“ sagte er mit halb gebrochener Stimme, „Sie, fragten mich vorhin etwas, und ich glaube, auch Sie machten mir Vorwürfe. Ich habe Niemand getäuscht – ich war in Paris, und dort fand ich meine Mutter als Theilhaberin einer Spielhölle, von jungen Leuten, meinen Cameraden, als solche gekannt. Ich sah sie dort; sie war keines einzigen armen Wortes mächtig, und ich sagte mich von jeder Gemeinschaft mit ihr los.“
Fügen stand wie erstarrt, und ehe er noch eine Silbe hervorgebracht, fuhr Siegmund fort:
„Sie hat Andere geplündert oder doch plündern helfen, um mich auszustatten, und ich – ich habe von diesem Raube gelebt.“
„Das glaub’ ich Dir nicht,“ brach Fügen los.
Siegmund schob ihm das Briefblatt hin.
„Lesen Sie! sie versucht nicht einmal sich zu rechtfertigen –“
Fügen riß das Blatt an sich; ihm wurde kalt, als er las, was sie von ihrer und des Sohnes Ehre geschrieben.
[747] „Und wenn – und wenn,“ keuchte er hervor, „so hat sie Alles nur um Dich gethan.“
„Wie muß sie mich doch verachtet haben, daß ihr das Geld wichtiger für mich erschien als die Ehre –“
„Du weißt nicht, was Du sprichst,“ rief Fügen; „jetzt muß Alles heraus, wenn sie es mir auch tausendmal verboten hat. Begreif’ es, wer kann, daß sie sich erniedrigen durfte, aber es ist geschehen, um Dich zu erheben. Du bist der rechtmäßige Enkel des jüngst verstorbenen Grafen Riedegg auf Riedegg, und dieser Graf Riedegg hat die rechtskräftigen Beweise für die geheim geschlossene Ehe Deiner Eltern böswillig unterschlagen. Jetzt erst, nach seinem Tode, kann Dein Recht mit Hoffnung auf Erfolg erstritten werden. Deine Mutter ist bereits in Wien. Ich kam hierher, um abzuholen und ihr nachzusenden, was sie an hinterlassenen Papieren Deines Vaters verwahrt hielt. Leider ist nur Weniges darunter von Bedeutung. Deshalb bedarf es großer Mittel, den Anspruch durchzusetzen dem sich die Seeon’s schwerlich ohne Weiteres fügen werden. Nun weißt Du, was Deine Mutter that. In den Staub hat sie sich geworfen, damit Du über sie hinweg den Platz erringst, der Dir zusteht.“
Siegmund blieb sprachlos, während die einander überstürzenden Worte auf ihn eindrangen. Nun flammte er auf:
„Und das Alles habt Ihr mir bis heute vorenthalten? Zu wissen, wer ich bin, das war mein Recht, und ich hätte es wie ein Mann vertreten, statt auf schmähliche Art Jahre lang darauf zu denken, wie sich aus einem Hinterhalte hervorbrechen ließe. Mein Recht war, vor diesen alten Mann, der meinen Eltern so Schweres angethan, selbst hinzutreten und ihm Auge im Auge abzuringen, was mein ist. Und jetzt, jetzt, wo er todt ist, keine Gerechtigkeit, keine Vergeltung ihn mehr erreichen kann, sollen um meinetwillen, sollen mit Hülfe des Raubes die wehrlosen Frauen beraubt werden. O der Schmach!“
Fügen stand betreten. Zum ersten Male kam ihm das Bewußtsein, daß mit dem langen Verhehlen an Siegmund’s Menschenrechte gesündigt worden sei. Da berührte ihn des jungen Mannes eiskalte Hand.
„Der alte Graf Riedegg hatte nur einen Sohn,“ sagte er mit zuckender Lippe. „Gräfin Ottilie Seeon ist also die Tochter meines Vaters. Ist dies Alles auch ihr bekannt?“ Neue Angst lag in den Augen, die an Fügen’s Lippen hingen. „Ich glaube nicht,“ sagte dieser.
Siegmund schwieg brütend. Die klaren blauen Augen Ottilien’s, seiner Schwester, blickten frei in seine Gedanken hinein. Margarita! Es ging wie Nebel über ihn hin; er richtete rasch den Kopf empor und sagte nach tiefem Athemzuge:
„Wenn Sie meiner Mutter schreiben, so erklären Sie ihr in meinem Namen, daß ich persönlich nie darein willigen werde, das Erbtheil der Tochter meines Vaters zu verkürzen.“
„Und sonst hast Du mir nichts an Deine Mutter aufzutragen?“ fragte Fügen mit eindringendem Blick „Wie die Sachen stehen, bin ich entschlossen, die Papiere selbst an Ort und Stelle zu bringen; ich reise noch heute Nacht. Giebst Du mir Antwort mit auf ihren Brief oder – begleitest Du mich vielleicht selbst?“
Ein namenlos gequälter Ausdruck prägte sich in Siegmund’s Züge; mit einem Male legte er beide Hände auf Fügen’s Schultern:
„Können Sie sich eine Vorstellung davon machen, sie vor mir erröthen zu sehen? Ich kann es, kann es nicht! Wir haben einander zu sehr geliebt; sie war mir zu herrlich – käme sie mir unversehens über den Weg, ich müßte mein Gesicht verbergen und flüchten bis an’s Ende der Welt, ehe ich erlebte, daß meine Mutter die Augen vor ihrem Sohne niederschlagen müßte. Sie weiß das selbst; deshalb gehen Sie, wenn Sie müssen, und sagen Sie nichts, als was ich Ihnen auftrug!“
Schweigend wandte sich Fügen ab, schnürte die Papiere zusammen, schloß den Schreibtisch und ergriff seinen Hut.
„Ade,“ sagte er knapp; „ich gehe nach Lahnegg; will ich heute noch weiter, so ist keine Zeit zu verlieren. Nein, keine Begleitung! Wir haben mehr als genug geredet. Nun sehe Jeder zu, wie er mit dem fertig wird, was er Neues erfahren!“
Sein sonst so freundliche’s Gesicht trug einen Ausdruck von Grimm und Kummer zugleich, der Siegmund traf.
„Ich kann nicht anders,“ sagte er dumpf.
Fügen nickte nur und verließ dann Zimmer und Haus.
Das war eine harte Reise für den treuen Mann. Die Stimmung, in welcher er sie zurücklegte, glich der eines Menschen, welcher von fernher an ein schweres Krankenlager gerufen worden und nicht weiß, ob er sein Geliebtes noch lebend trifft oder todt. Wie würde er Genoveva treffen? Die Frau, an der er so lange, so heiß gehangen, als an der einzigen Liebesleidenschaft seines Lebens, die ihm, trotz äußerlicher Empfindung, bis zum heutigen Tage hoch und einzig gestanden, Keinem vergleichbar. War es möglich, daß dieses Bild auch ihm in Nacht erlöschen könnte, wie dem Unglücklichen, von dem er kam? An Siegmund dachte er mit gemischter Empfindung; etwas in ihm gab dem jungen Manne Recht, und doch grollte er ihm wegen so starren Abwendens von der Mutter. Fehler, große Fehler waren begangen worden, aber ach, wäre es nur dies! Je mehr er Allem nachgrübelte, desto unbarmherziger gestaltete sich ihm, was er eben noch als unmöglich verworfen zur Gewißheit. Sein einziger zerbrechlicher Trost war die innerliche Unmöglichkeit; denn in ihm rief fortwährend eine Stimme: Sie – Genoveva? Nein, nein!
Er war am Ziele. Eine Stunde nachher stand er unerwartet vor Genoveva, die durch sein persönliches Eintreffen kaum überrascht schien. Um so betroffener, ja wahrhaft entsetzt ward Fügen bei ihrem Anblicke. Nur anderthalb Jahre waren vergangen, seit er sie zuletzt erblickt. Welche Verwüstungen halte diese Zeit angerichtet! Noch war sie schön, vielleicht schöner, als sie je gewesen; denn – die Marmorfarbe und Regungslosigkeit ihres Gesichts stimmte mit dem classischen Schnitte desselben überein. Nur war es nicht die Schönheit eines athmenden, lebenden Weibes. Ein bläulicher Ton umgab die eingesunkenen fast unirdisch lodernden Augen. Das außerordentliche Ebenmaß ihrer Gestalt ließ deren Hagerkeit nicht hervortreten, als – der Freund aber die Hand erfaßte, welche sich ihm entgegenstreckte, überlief es ihn; die schlanken Finger waren bis zum Aeußersten abgezehrt. Erbarmen mit ihr drängte alle widerstreitenden Gefühle zurück; dennoch hatte sie in dem Auge, das sie genau kannte, gleich im ersten Moment einen Blick gesehen, der ihr genug verrieth. Fast ausdruckslos und nicht im Tone einer Frage sagte sie nun:
„Sie haben Siegmund gesprochen.“
„Ja.“
Er suchte ein Wort, es der knappen Silbe beizufügen, fand aber keines. Sie bewegte leise den Kopf und sagte dann mit durchdringendem Blicke auf ihn:
„Und kommen doch zu mir?“
Fügen hielt es nicht mehr aus.
„Theure, arme Freundin!“ rief er außer sich. „Ja, ich komme, um Ihret- und Siegmund’s willen; auch um meinetwillen mußte ich Sie sehen. Erklären Sie nur alles! Es muß doch anders sein, als Siegmund es – nun ich bei Ihnen bin, weiß ich gewiß, es muß anders sein.“
„Setzen Sie sich!“ sagte Genoveva mit herbem Lächeln. „Ich habe Ihnen schon einmal eine Geschichte erzählt – den Anfang; so ist es in der Ordnung, daß Sie nun auch das Ende hören. Beides stimmt zusammen – es ist wie ein Ritornell.“
Sie wartete, bis er sich neben sie in die Ecke des Divans geworfen und dann sagte sie:
„Was Sie zuerst wissen möchten, ist doch wohl der Zusammenhang meiner Person mit dem Orte, wo mein Sohn mich traf? Meinten Sie das mit Ihrer Behauptung, etwas müsse anders sein, so irren Sie. Weshalb wundern Sie sich? Das Leben wiederholt mitunter seine spöttischen oder tragischen Combinationen. Erinnern Sie sich nicht mehr, wie das meine begann? Nun, der alte Mann hat Recht behalten: die Tochter des Spielers, des Abenteurers blieb im Cirkel – zwischen Spielern und Abenteurern“
Fügen schüttelte heftig den Kopf.
„Ich fasse es nicht,“ rief er zürnend, „nie werd’ ich es fassen, wie und warum Ihnen so Unhandliches möglich geworden.“
„Unglaublich?“ fragte Genoveva kalt. „Nicht mehr und nicht weniger unglaublich als die ganze Komödie des Lebens. Sie, dem ich meine Geschichte erzählt, sollten doch besser begreifen können wohin solche Anfänge führen. Den Namen, den mir die Geburt gab, beschimpfte mein Vater; der zweite, den mir die Liebe gab, ward vom Vater meines Kindes feige verleugnet. Als ich mein Recht forderte, nahm verbrecherische Gewalt es mir und bot mir [748] dafür Schmach und Hohn. Die Gesetze konnten mir nicht helfen. – ‚Geld, schaffe Geld!‘ sagte der Advocat. ‚Geld und Zeit haben schon manches gewonnen, was verloren schien. Dann arbeitete ich und darbte – was so in Jahren erworben ward, blieb ein Tropfen im Meer. Ich riß mich von meinem Einzigen, meinem Liebsten los, um in Ehren mehr zu gewinnen. Jahre hindurch hielt ich aus bei der mürrischen Kranken, und ward mir während dieser Jahre das Treiben im Hause verdächtig, was ging es mich an! Sie starb, und ich blieb. Mein Feind war so alt, und es galt nur noch kurze Zeit. Da sah ich denn freilich bald klar genug, was um mich her vorging. Was lag daran – ich blieb.“
„Das durften Sie nicht,“ rief Fügen.
„Wer seinem Schicksal nicht entrinnen kann, ergiebt sich,“ sagte sie herb. „Kommt immer das Gleiche, so spürt man eine Nemesis – was nützt es da sich zu wehren? sein Ruf war lange hin, ehe ich Gewißheit hatte; Cavaliere aus aller Herren Ländern hatten mich in diesem Hause schalten und walten sehen – die Zukunft neben Siegmund war hin; die seinige wenigstens sollte gewonnen werden. Und am Ende – was gingen mich diese Menschen an! Clairmont’s Salon trug kein Schild, aber wer dorthin kam, wußte, wohin er ging. Verächtlich war mir das ganze Gelichter; über sie hinweg sah ich mein Ziel.“
Ihr Auge brannte in dämonischer Gluth. Plötzlich erhob sich eine Stunde aus alter Zeit vor Fügen’s Seele. Er sah das Musikzimmer der Moosburg, sah die dunkelschöne Gestalt nach dem Wandschranke schreiten, dem sie die Zeugen ihres kurzen Glücks, ihre Lieder, entnahm – dann wandte sie mit dem gleichen dämonischen Ausdruck den Kopf nach ihm, um auf seine Frage nach ihrem höchsten Wunsch das Wort zu erwidern: „Reichthum!“ In der Nacht, welche diesem Abend folgte, war er selbst sich der heißen Leidenschaft für sie bewußt geworden – das Dunkle, Flammende in ihr, das ihr mächtiger Wille seitdem stets so fest in Banden gehalten, jahraus, jahrein, übte heute eine andere Wirkung auf ihn als damals.
„Genoveva,“ sagte er tiefernst, „Sie haben sich schwer versündigt an sich selbst und an ihm, für den Sie gethan, was man um Keinen darf – um Keinen!“
Sie erhob sich mit einer jähen Bewegung.
„Tausende von Frauen haben ihr Leben, ihren Begriff von Tugend, ihre Ehre für Männer hingeworfen, die keines Athemzuges werth waren,“ rief sie leidenschaftlich, „nur weil sie liebten! Siegmund gilt mir mehr als dem Weibe der Mann – er ist mir Ersatz für alle Unbill, die bisher mein Theil gewesen. Aber der Tag der Entscheidung ist nahe, und bis dahin sollen Kraft und Wille ausdauern.“
Wie im Widerspruch mit diesen Worten schwankte sie plötzlich und sank keuchend zurück. Fügen sprang erschrocken auf; er glaubte ihren erstickten Athem mit jedem nächsten Moment dem Erlöschen nahe; ihre eisig kalten Hände krampften sich; ein bläulicher Ton überzog das zuckende Gesicht. Doch schlug sie nach wenigen Minuten die Augen auf.
„Es ist nichts –“
Ihre Hand fest gegen das Herz gepreßt, blieb sie noch eine kurze Weile zurückgelehnt und begann in Pausen weiter zu sprechen.
„Nichts – nur die lange Angst – was ich auch that, Siegmund fern zu halten – ich sah meine Verdammung drohen Tag und Nacht. – Und wollte doch nichts, als ihn nur einmal wiedersehen – nachdem sein Recht gewonnen – unter vier Augen – dann sterben in Verborgenheit. – Es sollte nicht sein.“
„Ihn wiedersehen sollen und müssen Sie,“ rief Fügen tieferregt, „Ich kehre sofort um und erkläre ihm –“
„Es giebt nichts zu erklären,“ sagte, sie dumpf, „Meinen Sie, ich wüßte nicht, was ich gethan? Ein Mord kann verziehen werden, Untreue, Meineid – Alles, nur das Niedrige nicht.
Dächte Siegmund anders, so wäre er nicht mein Sohn. Ihn gäb ich hin, seine Liebe; damit erkaufe ich ihm seinen Namen – das wußte ich und hab’ es dennoch gewollt. Was könnte uns wieder zusammenführen?“
Sie brach ab.
„Geben Sie mir Ihr Wort, Fügen,“ sagte sie nach einer Pause, die er nicht unterbrach, „daß Sie meinem Sohne weder schreiben noch ihn aufsuchen! Ich will mir nichts von ihm verzeihen lassen. Stören Sie nicht den Lauf der Dinge! – Sie brachten mir –?“
Zögernd und widerwillig legte Fügen seine Hand in ihre Rechte. Es ging ihm gegen die Natur, zu versprechen, daß er nicht versuchen wolle, den Riß zwischen Mutter und Sohn zu heilen. Doch sagte er vorerst nichts und beantwortete nur ihre ablenkende Frage: „Alles was ich fand. Obgleich Sie mich autorisirt hatten eine Durchsicht vorzunehmen, hielt ich es für das Beste, alles Vorhandene zusammenzupacken.“
„Gut! Ich erwarte im Laufe des heutigen Tages der Besuch meines Anwaltes. Ein erster Schritt ist bereits gethan. Brenner hat an Gräfin Seeon nach Riedegg geschrieben, die Thatsachen klar dargelegt und gütliche Vereinbarung empfohlen. Auch kam schon Antwort.“
„Nun?“ rief Fügen gespannt.
„Statt des erwarteten Protestes richtete die Gräfin eine Aufforderung an Brenner, sich zum Zweck persönlicher Rücksprache nach Riedegg zu begeben. Dieser wartet nur das Eintreffen der Papiere ab, die Sie bringen, um der Einladung Folge zu leisten. Führt die Unterhandlung nicht zum Ziel, so wird Brenner nach Lahnegg reisen, um unseren Zeugen zu gewinnen – man sagt ja, Alles habe seinen Preis. Jetzt vermag ich das lang Versagte zu erkaufen.“
„Wenn Entscheidung so nahe, muß ich es einrichten, bis dahin bleiben zu können,“ sagte Fügen. „seine Reise hierher war nicht vorbereitet – erst als ich Siegmund auf der Moosburg traf –“
„Dort also? Wie geht es ihm? leidet er – schwer?“
„Schwer!“ bekräftigte Fügen „Und deshalb dürfen Sie mir nicht verbieten –“
Sie drückte energisch seinen Arm und sah ihn gebieterisch an.
„Sie schweigen – das bleibt mein Wille.“
„Ich habe schon gesprochen,“ polterte er heraus, „es wäre ja doch die reine Unnatur gewesen, ihn unwissend zu lassen, nach Allem was vorgegangen.“
„Er weiß – und – Sie haben keinen Auftrag?“
„Doch!“ erwiderte Fügen. „Er trug mir auf, zu erklären, daß er nie darein willigen würde, das Erbtheil der Seeons zu verkürzen.“
„Als ob es sich darum handelte!“ rief Genoveva. „Es gilt das Recht, seinen Namen zu tragen.“
„Gnädige Frau, vergessen wir Eines nicht, was uns gar leicht geschieht, den Kindern gegenüber, die wir groß gezogen! Die Zeit kommt einmal, wo sie selbstständiges Leben fordern und freies Urtheil. Wir hätten mit Siegmund jetzt leichteren Stand, wenn das früher bedacht worden wäre. Ich mache es mir nicht zum Vorwurf, ihm die Wahrheit gesagt zu haben, und wenn er zürnt, weil er sie so spät erfahren, und wenn er meint, er hätte das Recht gehabt, seine Angelegenheiten selbst zu vertreten, so kann ich ihm darin nicht Unrecht geben.“
Genoveva antwortete nichts.
Erst als Fügen nach langer, lastender Pause aufstand und seinen Hut nahm, sagte sie, als hätte er eben seine letzten Worte gesprochen, in kaltem Tone:
„Gut! Was mein Sohn thun oder lassen mag, ist seine Sache. Die meine ist, daß zu Ende geführt wird, was ich begann.“
[770]
Der inkrustirte Schrank im Königinzimmer des Schlosses Riedegg stand offen und war zum Theil seines Inhaltes an Schriften und Pergamenten entleert. Ottilie saß mit ihrem Manne vor demselben runden Tische, vor welchem sie gestanden, als sie vor langen Jahren vergebens die Erlaubniß zu ertrotzen suchte, ihren Vater ohne Zeugen wiedersehen zu dürfen. Viel war seitdem erlebt, erfahren und vergessen worden; die beiden Gestalten, um welche es sich damals gehandelt, standen aber so leibhaftig vor ihrem Geiste, als ruhten sie nicht im Schooße der Erde. Graf Seeon blätterte noch in den auf dem Tische umhergestreuten Schriften. Ottilie lehnte unbeschäftigt im hohen Sessel, ihre Augen auf eine geöffnete Brieftasche gerichtet, in der ein paar Briefe von Frauenhand und ein seidenfeines Löckchen obenauf lagen.
„Nie hat mich etwas so beunruhigt wie diese Angelegenheit,“ sagte sie und erhob die klaren Augen. „Ich gäbe viel darum, den Schlüssel zu ihrer Lösung zu finden.“
„Findet er sich,“ entgegnete der Graf, „so dürftest Du allerdings viel zu geben haben. Wie ich Dich kenne, Ottilie, ist es unnöthig, Dich vor Uebereilungen zu warnen, Vorsicht ist jedoch geboten. Dein Großvater war ein gewaltthätiger Mann, des Actes einer Unterschlagung halte ich ihn aber nicht für fähig.“
„Weil Du selbst nie solcher That fähig wärest,“ sagte Ottilie mit einer Herzlichkeit, die ihr gut stand. „Ich bin so sicher nicht über das, was geschehen. Erinnere Dich der Fragen, welche ich in Deinem Beisein an Großpapa gerichtet, und seiner Antwort darauf! Er bezeichnete die Frau, mit welcher mein Vater sein letztes Lebensjahr zugebracht, als eine ihm zuvor schon bekannte Abenteurerin zweifelhaftester Abkunft, eine Protestantin, die seinen Beistand nur abgewiesen, damit sie nicht behindert würde, das Kind in ihrem Ketzerglauben zu erziehen, eine Frau, die übrigens in relativem Wohlstande zurückgeblieben sei. Was wir selbst über Siegmund’s Mutter erfuhren, widerspricht solcher verächtlichen Schilderung. Der allgemein geachtete Capellmeister, welcher sie seit vielen Jahren kennt, bezeichnet sie als eine vornehme Persönlichkeit – und ferner; keine Abenteurerin erzieht einen Sohn wie diesen jungen Riedegg. Auch ich traue Keinem unseres Geschlechtes hinterlistiges Verbrechen zu, doch halte ich für möglich, daß Großpapa eine geheime Ehe wie diese als nicht gültig betrachtete und sich deshalb für berechtigt hielt, aus eigener Machtvollkommenheit zu vernichten, was an darauf bezüglichen Documenten in seine Gewalt gerieth. Wäre das aber geschehen, Hans, welche schreiende Ungerechtlgkeit hätten die Wehrlosen so viele Jahre hindurch erlitten! Ich finde keine Ruhe, bis diese Sache aufgeklärt ist, und danke Dir, daß Du mir gestattest, in meinem Sinne zu handeln.“
Während die Gatten beschäftigt waren, die Schriften an ihren Platz zurückzulegen, meldete ein Diener die Anfahrt des Herrn Anwalt Brenner, der seine Aufwartung zu machen wünschte. Graf Seeon befahl, den Gast herein zu führen.
Wenige Minuten später stand der juristische Vertreter Genoveva’s dem gräflich Seeon’schen Ehepaare gegenüber – ein Mann von discreter Haltung, aber geistfrischen Zügen.
„Gestatten Sie,“ sagte er nach einer kurzen gegenseitigen Vorstellung, „daß ich vor Allem einen schwerwiegenden Irrthum berichtige, der nach allem Vorhergegangenen wohl Entschuldigung verdient. Meine Clientin hatte jeden Grund anzunehmen, daß die Zeugnisse der Trauung und Taufe, von denen sie bestimmt wußte, daß Graf Meinhard sie bei seiner Abreise von der Moosburg mit sich genommen, zur Zeit seines baldigen Todes hier auf Schloß Riedegg zurückgeblieben sein müßten. Dem war nicht so. Ich befinde mich heute in der glücklichen Lage, diese Documente vorlegen und den Herrschaften zur eigenen Prüfung übergeben zu können.“
Er entnahm seinem Portefeuille zwei gestempelte Bogen und reichte dieselben dem Grafen.
„Nur eine kurze Darlegung,“ fuhr er fort, „bitte ich mir zu erlauben. Unter den nachgelassenen Schriften des Grafen Meinhard fand sich die Adresse des Bürgermeisters von B., eines Ihnen kaum bekannten Landstädtchens, welche mir nicht aufgefallen sein würde, wären derselben nicht einige Chiffern beigefügt gewesen. Da nichts unberücksichtigt bleiben darf, wo man mit Unaufgeklärtem zu thun hat, schrieb ich diesem Herrn, um zu erfahren, in welcher Beziehung er zu Graf Meinhard gestanden und wann er diesen zuletzt gesprochen. Die Antwort, daß Beide Universitätsgenossen gewesen und der Bürgermeister mit dem Grafen im Juni 1844, also kurz vor dessen Ende, zusammengetroffen, erschien wichtig genug, mich zu veranlassen, auf der Reise hierher dort vorzusprechen. Die Fährte erwies sich als werthvoll. Der Graf hat, ehe er damals nach Riedegg kam, der Obhut dieses alten Studienfreundes ein versiegeltes Päckchen anvertraut, [771] ohne über dessen Inhalt anderes zu äußern, als daß es Wichtiges enthalte und nur ihm persönlich oder auf Vorzeigen der darauf vermerkten Chiffern ausgehändigt werden dürfe. Der Bürgermeister, ein pedantisch gewissenhafter Mann, erfuhr zwar durch die Zeitungen den bald darauf eingetretenen Todesfall, behielt aber in seiner vorsichtigen, accuraten Weise das Depot unter Verschluß. Angesichts der in meiner Hand bestrichen Chiffern machte er indessen keine Schwierigkeit, es mir zuzustellen Kraft der mir von Gräfin Genoveva Riedegg ausgestellten Vollmacht eröffnete ich das Päckchen. Der Inhalt liegt in Ihren Händen.“
Noch unter dem Eindrucke der gewichtigen Mittheilung nahm Ottilie die vor ihr liegende Brieftasche ihres Vaters, blätterte darin und bezeichnete den beiden Herren eine dort eingeschriebene Zeile. Die eben genannte Adresse und die Chiffern waren hier gleichfalls vermerkt.
„Mein Mann kennt meine Ansichten,“ sagte sie, „ich überlasse ihm, sich über die Lage zu äußern, in der wir und meines Vaters Hinterlassene uns befinden.“
„Angesichts dieser Zeugnisse und persönlich gewonnener Anschauungen sind wir bereit, die Rechte anzuerkennen, welche Sie, Herr Anwalt, vertreten,“ sagte nunmehr Graf Seeon. „Theilen Sie dies der Wittwe meines Schwiegervaters gütigst mit! Wir werden uns mit deren uns bekanntem Sohne persönlich verständigen Mit Genugtuung hebe ich hervor, daß der Großvater meiner Frau diesem Dilemma vorwurfsfrei gegenüber stand. Wir haben den Beweis in Händen, daß ihm die bewußten Papiere niemals vorgelegt wurden. Das herbe Loos, welches Graf Meinhard’s zweite Frau und sein Sohn erlitten, fällt somit auf ein unglückseliges Geschick zurück. Sie, Herr Anwalt, geben uns hoffentlich die Ehre, auf Riedegg Nachtquartier zu nehmen.“
Der Anwalt entschuldigte sein Ablehnen der gebotenen Gastfreundschaft mit der Notwendigkeit baldiger Rückkehr in seine Kanzlei. Der Wagen, welcher ihn von Brixen hierher gebracht, stand noch angespannt – er benutzte ihn sofort zur Rückreise. –
Das Ehepaar Seeon blieb unter lebhaften Gesprächen noch bis tief in die Nacht hinein wach. Der Graf betonte die Nothwendigkeit, sich Genoveva gegenüber, deren früheres Leben man nicht kannte, zunächst reservirt zu verhalten, stimmte aber dem Wunsche seiner Frau, Siegmund mit Herzlichkeit entgegenzukommen, gern zu. Heute erwähnte Ottilie auch zum ersten Male der Neigung zwischen Margarita und Siegmund, derer Wachsen sie beobachtet und zu dämpfen unternommen; der Eindruck, den diese seltsame Wendung der Dinge auf ihr Kind machen würde, beschäftigte die Eltern in nicht geringem Maße.
Margarita weilte noch unter dem Schutze der Tante in S. Ihren Briefen fehlte die ihr eigene Frische; sie sprachen eine fast schwermütige Sehnsucht nach den Eltern aus. Nun wollten diese auch mit der Rückkehr nicht zögern; denn momentan hielt sie nichts mehr aus Riedegg fest. So wurde also der Aufbruch für den folgenden Morgen bestimmt und ausgeführt.
In S. angekommen, erfuhr Ottilie, daß Siegmund abwesend sei und daß er um seinen Abschied nachgesucht habe, und wenige Tage darauf traf die Antwort Genovevas auf den ritterlichen Brief ein, den Graf Seeon noch von Riedegg aus an sie geschrieben und den seine Frau mit unterzeichnet hatte. Er enthielt nur wenige an Ottilie gerichtete Zeilen:
Die würdige Weise, mit welcher Sie und Ihr Gemahl sich bereit erklären, mir und meinem Sohne gerecht zu werden, verpflichtet mich Ihnen zu Dank. Ich war es meinem verstorbenen Gatten schuldig, an die Stelle zu treten, welche er uns eingeräumt, aber was mich betrifft, so werde ich mein Recht nicht in Anspruch nehmen; denn ich bin krank und auf Zurückgezogenheit angewiesen. Mein Sohn hat mir die Erklärung zugehen lassen, daß er niemals darein willigen würde, das Erbe seines Vaters anzutreten, und ein zwischen uns bestehender Conflict verbietet mir jede Meinungsäußerung gegen ihn. Ihnen, seiner Halbschwester, sei es überlassen, ob Sie ihn in diesem Paukte umstimmen wollen und können.
Diese Zeilen, welche Graf Seeon’s lebhaftes Interesse weckten, erschütterten Ottilie sehr. Sie schrieb noch in derselben Stunde an Siegmund, dessen Verweilen auf der Moosburg sie inzwischen durch Friesack’s erfahren, und sie schrieb bewegter: als sie es sonst zu thun pflegte:
„Mein junger Freund! So will ich Sie heute nennen, Siegmund; denn so kennen wir uns. Noch ist uns Beiden wohl die Vorstellung zu neu, uns als Kinder des gleichen Vaters zu denken. Im Namen dieses Vaters, den von uns Beiden nur ich kannte und liebte, reiche ich Ihnen über die Hand und sage: Sei mir willkommen! Ich ehre das Zartgefühl, welches Sie in diesem Moment fern hält. Menschliches Recht steht aber noch über seinem Empfinden – wir gehören fortan zusammen, und ich wünsche, Ihnen dies Auge in Auge zu sagen. Wir erwarten Sie hier, und bald, mein Mann und ich.
Erst nachdem dieser Brief abgesendet, theilte Ottilie ihrer Tochter Alles mit, was sich auf die merkwürdigen Erlebnisse dieser letzten Wochen bezog. Die Besorgniß, das Kind, welches so blaß und still, so ganz verändert umherging, allzu sehr zu erregen, hatte die Eltern vorerst über Begebenheiten schweigen lassen, die bei der gegen Siegmund aufgetauchten Verstimmung eine unerfreuliche Wendung zu nehmen drohten. Nun, wo der junge Verwandte mit jedem nächsten Tage erwartet werden konnte und in reinem Lichte dastand, mußte die Tochter des Hauses erfahren, was dieses Haus so nahe anging, und zur Verwunderung der Mutter nahm Margarita die Kunde durchaus nicht als etwas Außerordentliches auf.
Man wartete mehrere Tage lang auf das Eintreffen Siegmund’s, aber vergebens; denn statt seiner kam ein Brief. Als der Bote ihn brachte, saß Margarita mit ihren Eltern am Frühstückstisch. „Von Siegmund!“ sagte Ottilie und übersah, während sie das Couvert öffnete, daß ihres Kindes Wangen so weiß wurden, wie ihr Morgenkleid.
Die Stirn der Gräfin bewölkte sich, während sie las. Als sie zu Ende war, reichte sie ihrem Manne schweigend den Brief hinüber.
„Bitte!“ sagte Margarita ganz leise.
Graf Seeon warf einen Blick auf sie; dann begann er, ohne das Blatt vorher durchflogen zu haben, laut vorzulesen:
„Haben Sie tiefen Dank für jedes Wort Ihres Briefes, verehrteste Frau! Ihnen nahe zu stehen, die ich liebe und verehre, ist mir ein theures Recht. Aber zu Ihnen kommen kann ich nicht. Erlassen Sie es mir mit ausdrücklichen Worten zu sagen, warum ich es nicht kann! Es besteht ein Verhängniß, dem ich unterworfen bleibe, schuldlos, doch mit betroffen. Der stolze Name unseres Vaters hebt den, der ihn trägt, an eine Stelle, wo er von Vielen gesehen wird, ich aber muß im Schatten stehen Es gab eine Zeit, wo es mir nicht genügend erschien, als Glied eines großen Ganzen zu wirken. Heut erscheint mir gerade Das als mein einziger Lebenszweck, als eine Aufgabe, in deren Lösung ein schwer Betroffener sich ausheilen kann: Meine Absicht ist, mich zur Musik zurückzuwenden und ihr treu zu dienen mit Allem, was ich bin und habe.
Kann es Ihr Rechtsgefühl beruhigen, mir eine bescheidene Rente zu bestimmen, die mich vor Sorgen und Zufällen schützt, so finden Sie mich willig – im Uebrigen gönnen Sie mir, was ich bedarf, wenn ich weiter leben soll: Verborgenheit! Segen über Ihr Haus!
„Was ist da vorgefallen?“ fragte der Graf ernst, als er zum Schlosse gekommen. „Obgleich noch sehr jung, ist Riedegg doch kein Phantast. Ihn muß Schweres betroffen haben, ich bin aber kein Freund von Rätseln, noch viel weniger von unnatürlicher Resignation“
„Der Brief seiner Mutter sprach von einem Conflict zwischen ihr und ihm,“ erwiderte Ottilie nachdenklich. „Diese neue Wendung stellt uns vor ein Rätsel.“
Margarita war leise aufgestanden, knieete vor ihrer Mutter nieder und stützte beide Arme auf deren Schooß.
„Liebe Mama,“ bat sie innig, „wir müssen zu ihm. Ihr seht ja doch, wie unglücklich er ist.“ Sie stockte einen Augenblick und sties dann errötend und in abgebrochenen Sätzen hervor, was sie innerlich bewegte: „Ich muß Euch Alles sagen: Er hat – [772] mich lieb – o, ich habe das immer gewußt. Als er Abschied nahm, sagte er es mir selbst, nicht mit deutlichen Worten, aber ich verstand seine Meinung, und auch, daß Du, Mama – daß Du ihm verboten hast – sich mir zu nähern. Verzeih’ – daß ich – ihm sagte – ich, ich wäre treu!“
Sie barg ihren Kopf. Niemand sprach ein Wort, während Ottiliens Hand aufs den braunen Flechten des Kindes ruhte.
„Vielleicht wäre so das Beste gefunden,“ sagte Graf Seeon aus tiefem Nachdenken heraus. „Ueberlegen wir!“
[786]
Siegmund, auf den die Gedanken so Vieler gerichtet waren,
hatte inzwischen schwere Tage verlebt. Wenn der Mensch sich dazu
verurteilt sieht mit dem zu brechen, was sein Leben ausmachte, so
gilt es ein anderes Ufer zu gewinnen und dort mit dem Rest
seiner Habe Hütten zu bauen. Bis dies erreicht ist, gilt es aber
den Kampf mit der Brandung. Noch ward der Unselige auf
und nieder geschleudert; das feste Land lag ihm noch fern. Alles,
was ihm theuer gewesen, war ihm entrissen; Alles, was ihn berührte,
reizte eine Wunde.
Er konnte sich nicht entschließen, die Moosburg zu verlassen, und doch trat ihm hier auf Schritt und Tritt die unvergeßliche Vergangenheit schmerzlich entgegen. Ihn quälte das Drängen seines Freundes Max, dessen ersten Brief er mit der strengen Bitte beantwortet, ihn sich selbst zu überlassen, weil er ihn bereits von dem Pariser Vorgang unterrichtet glaubte. Voll Scham und Scheu dachte er an Ottilie Seeon, gegen welche, trotz seines Protestes, vielleicht jetzt eben in seinem Namen vorgegangen wurde, und ach! an – Margarita.
Der einzige Mensch, dessen Nähe ihm wohl that, war Lois. Der stille Blick des jungen Priesters beruhigte momentan seine nagenden Qualen. Die sanfte, schonende Ruhe, mit welcher der Caplan seinen Pflichten nachkam, war Siegmund tröstlich, und dennoch hatte er sich bisher nicht entschließen mögen, ihm mitzutheilen, was er von Fügen erfahren; er fürchtete, Lois damit eine Waffe zu geben wider die Entschlüsse, an denen er festhielt.
Dann kamen die Briefe. Zuerst ein geschäftlich gehaltenes Exposé des Unternommenen und Erreichten, von Copien der Documente begleitet, welches der Anwalt seiner Mutter. ihm zusandte. Dann Ottiliens herzliche Zeilen.
Hatte Siegmund gemeint, schon alles Weh der Erde erschöpft zu haben, so traf ihn nun ein neuer Schmerz mit furchtbarer Gewalt: welches beneidenswerthe Loos wäre jetzt sein und seiner Mutter Theil gewesen, wenn Diese nicht zur Frevlerin geworden – und was sie auf so unreinem Wege vergeblich angestrebt, das hatte die heilige Hand des Schicksals durch einfachen Fingerzeig schnell erreicht; Alles war da: ein stolzer Name, Glück und Ehre, aber es war eine grausame Fügung, daß es für Den, welchen es zumeist hatte beglücke könne, unerreichbar war – ewig unerreichbar!
Siegmund schloß sich in seinem Zimmer ein; es war ihm nicht möglich, auch nur Lois zu sehen; jetzt erst ward ihm bewußt, daß dieser nur deshalb seinem schärfsten Schmerz den Stachel geschwächt, weil er wie ein lebendiger Gedanke einstiger Versöhnung neben ihm gegangen. In der herben Stimmung dieser Stunden wollte er sich weniger als je daran erinnern lassen, daß Vergeben und Milde möglich sei.
So gingen einige Tage hin. Siegmund saß eines Nachmittags auf der Terrasse, wohin der warme Maitag ihn gelockt, und versuchte seine Gedanken an ein Buch zu fesseln. Um ihn herrschte tiefste Stille. Der Knecht und sein Weib waren drunten auf der Wiese; nicht das leiseste Lüftchen bewegte sich. Da vernahm der junge Mann hinter sich ein schwaches Rauschen. Er wendete mechanisch den Kopf und sprang mit einem unwillkürlichen Ausrufe der Ueberraschung von seinem Sitze auf. Gräfin Seeon und Margarita standen vor ihm.
„Briefe führten uns nicht zusammen,“ sagte Ottilie mit ihrer klaren Stimme. „Darum kommen wir selbst.“
„Sie Sie hier – bei mir!“ stammelte Siegmund außer sich. „Gräfin! – – Sie hätte das nicht gethan, wenn Sie wüßten –“
[787] „Wir wissen Alles, was Sie uns sagen oder verschweigen könnten, Siegmund. Capellmeister Fügen, der kürzlich Ihre Mutter gesehen, war von ihr beauftragt, uns von jedem auf Sie Beide bezüglichen Vorgang in Kenntniß zu setzen. Dies bestimmte mich, die Antwort auf Ihren mir unverständlich gewordenen Brief nicht zu verzögern.“ Sie bot ihm beide Hände und sagte warm: „Du siehst mich mit unseres Vaters Augen an, Siegmund. Willkommen, mein Bruder!“
Er neigte sich sprachlos über die schwesterliche Hand, die er an seine Lippen, seine Augen preßte. Ottilie zog ihn an ihre Brust und küßte ihn herzlich.
Nun erst suchten seine Augen Margarita, die etwas zurück stand. Beide tauschten einen langen Blick. Ihr Begrüßen blieb aber stumm.
Ich fasse noch immer nicht –“ sagte Siegmund wie aus einem Traum heraus.
„Setzen wir uns!“ schlug Ottilie vor und nahm Platz. „Es giebt viel zu besprechen, vor Allem einen, den wesentlichsten Punkt.“ Sie hielt einen Moment inne und fuhr dann in festerem Tolle fort: „Ich verstehe sehr gut, welche Stimmung Deinen Brief dictirt hat, lieber Siegmund. Du hast aber außer Acht gelassen daß es sich in dieser Angelegenheit nicht um Deine persönliche Ansicht allein handelt. Es würde meinem Manne und mir nicht ziemen, ein Zurücktreten gelten zu lassen, wie Du es planst. Wir sind weder gewillt, noch berechtigt, Dir in Betreff Deiner Zukunft Vorschriften zu machen, gegenwärtig ist es aber notwendig und unumgänglich, die Thatsachen frei und öffentlich festzustellen. Seeon und ich waren nie gewöhnt, etwas, das unser Haus betraf, zu verbergen, und nehmen unser eigenes Recht in Anspruch, wenn wir auch jetzt in diesem Sinne handeln. Mein Mann, der unserem Rechtsbeistand bereits Aufträge zur Feststellung der materiellen Punkte gegeben hat, ersucht Dich, uns nach S. zurück zu begleiten.“
Siegmund erröthete heftig.
„Unmöglich!“
„Es ist notwendig,“ sagte Ottilie. „Daß es Dir schwer fällt, Deine Person, Dein Geschick gegenwärtig der Oeffentlichkeit auszusetzen, ist begreiflich, muß aber überwunden werden. Dein Ehrgefühl hat den schwersten Schritt bereits gethan: Du hast Dich von – Frau Genoveva geschieden. Um so weniger kannst Du für das, was ohne Dein Wissen geschah, verantwortlich gemacht werden. Du darfst den Kopf hoch tragen; denn kein Makel haftet an Deiner persönlichen Ehre. Laß mich zu Ende kommen!“ sagte sie, als er im Begriffe war, sie zu unterbrechen. „Als Beweis dafür, wie wir mit Dir stehen, aller Welt gegenüber, hat mein Mann gestattet, daß ich Dich hier aufsuchte und Deine Gastfreundschaft in Anspruch nehme. Als Beweis dafür, wie ich persönlich von Dir denke, und daß ich Dich fortan als unzertrennlich von uns betrachte, gestattete ich meiner Tochter, mich zu begleiten.“
Siegmund erhob lebhaft den gesenkten Kopf.
„Lassen Sie mir Zeit, so viel Unverhofftes zu bewältigen!“ sagte er nach schwerem Athemzuge. „Ich empfinde Alles – die Großmuth – das Opfer – ja, ja, auch die Notwendigkeit im Sinne Graf Seeon’s. Ich erkenne, was ich Ihnen schuldig bin – aber – ich habe viel gelitten – gönnen Sie mir Zeit!“
Minuten vergingen in einem Schweigen, das Allen natürlich war. Dann knüpften sich an ein hingeworfenes Wort der Gräfin einige abgerissene Bemerkungen über Naheliegendes, Aeußerliches. Siegmund besann sich darauf, einige Anordnungen zu treffen und ging, seine Leute zu rufen. Während eine ländliche Mahlzeit auf der Terrasse servirt wurde, suchten die gespannten Geister den Ton zu finden, der ihrem Verkehr sonst eigen gewesen. Das „Du“ seiner Halbschwester zu erwidern, war Siegmund noch unmöglich. Auch gelang es ihm nicht, mit Margarita in gewohnter. Weise zu sprechen. Alles war, statt näher zu rücken, so fremd geworden. Die Geliebte so verändert, so schweigsam und scheu.
Ein glorreicher Sonnenuntergang tauchte Thal, Fluß und Gebirge in wunderbare Farben. Margarita war aufgestanden und an die Brüstung getreten, und die Gräfin sprach den Wunsch aus, das Haus zu sehen; Siegmund führte sie durch die bewohnbaren Räume. Vor dem Zimmer, das für ihre Nachtruhe bestimmt ward, entließ sie ihn mit dem Bemerken, sich bald wieder auf der Terrasse einfinden zu wollen.
Nachdenklich kehrte Siegmund dorthin zurück. Wie seltsam gestalteten sich die Dinge! Aber die auf ihm lastende Schwere fühlte er dennoch nicht weichen.
Margarita stand noch auf dem vorigen Platze, und als sie seine Schritte vernahm, wendete sie den Kopf und wurde sehr blaß – sie waren allein. Stumm standen Beide neben einander, stumm aus Ueberfülle dessen, was sie sich zu sagen hatten.
„Hier, wo es so schön ist, wohnten Sie also früher, als Kind?“ unterbrach Margarita das herzklopfende Schweigen. „Das muß eine glückliche Zeit gewesen sein!“
„Es war eine glückliche Zeit,“ sagte Siegmund schwer.
„Und hierher kamen Sie dann immer im Herbste, um Ihre Mutter zu treffen?“ fuhr sie bebend fort.
Er fuhr zusammen und sah sie vorwurfsvoll an.
„Vergeben Sie mir!“ atmete sie, „aber ich muß mit Ihnen davon sprechen, muß Sie bitten –“ .
Er schüttelte heftig den Kopf aber sie ließ sich nicht beirren. Ihre lieben Augen standen voll Thränen, als sie mit den beiden Händchen seine abwehrende Hand erfaßte.
„Sie dürfen Ihrer Mutter nicht böse sein; ich verstehe das nicht, und mir ist bange vor Ihnen, wenn ich das glauben soll. O Siegmund! Was auch meine Mutter thun möchte, ich müßte sie doch immer lieb haben, und wären alle anderen Menschen ihr böse – dann noch viel mehr! Ich habe nicht zugehört, wenn der Herr Capellmeister erzählte, die Eltern sprachen aber nachher darüber, und Mama lobte es, daß Sie sich von Ihrer Mutter getrennt hätten und nie mehr mit ihr zusammen kommen wollten. Wie viel habe ich schon darum geweint!“
Sie sah das qualvolle Kämpfen im Gesicht des Geliebten, dessen kalte Hand in der ihrigen zuckte, und schmiegte ihr blasses Gesicht an seine Schulter. Dann sagte sie ganz leise:
„Siegmund, Sie haben mir erzählt, wie voll Liebe Ihre Mutter zu Ihnen, wie sie Ihnen über Alles teuer war –- das kann doch nicht auslöschen, weil sie etwas Unrechtes that? Sie jammert mich – wie muß sie warten, daß Sie kommen, und so viele Tage schon, und immer umsonst! Können Sie das ertragen? Ich könnte es um keinen Preis. Man muß ja doch treu sein.“
Er zitterte vom Kopfe bis zu den Füßen. Plötzlich schloß er das junge Mädchen einen Moment an sich, ließ sie dann los und bedeckte mit beiden Händen seine Augen, aus denen heiße, erlösende Tropfen fielen. Sein längst erschüttertes, lang widerstrebendes Herz schmolz dahin vor den schlichten Worten des liebreichen Kindes. – – –
Spät Abends, als Mutter und Tochter zur Ruhe waren, stieg Siegmund noch zu Thale und wanderte nach Lahnegg. Als er sich von Lois trennte, in dessen Behausung er eine Stunde zugebracht, schlossen sich die Beiden fest an’s Herz, wie Menschen, die einander nie verlieren können, wenn sie sich auch nicht wiedersehen sollten. Erhabene Freude leuchtete aus dem meist so stillen Auge des jungen Priesters.
Am folgenden Morgen verließ der Schloßherr die Moosburg zugleich mit seinen Damen und kehrte mit ihnen nach S. zurück. Ottilie war nicht auf ihr Verlangen zurückgekommen, dessen Erfüllung sie als selbstverständlich hinnahm, aber es entging ihr nicht, daß seit gestern Abend eine Veränderung mit Siegmund vorgegangen war. Sein Blick war freier, seine Stirn heller geworden obgleich tiefer Ernst ihn beherrschte. Mit innerer Genugthuung sagte sich Ottilie, wie richtig der immerhin gewagte Schritt dieser halb erzwungenen mündlichen Besprechung sich doch erwiesen, und wie zufrieden ihr Mann sein würde, dem feste Gestaltung und Ruhe in jedem Lebensverhältniß Bedürfnis war. Um so weniger war sie auf einen neuen Conflict gefaßt.
Siegmund’s Aeußerung, daß er sich von hier nach Wien begeben wolle, um sich mit seiner Mutter auszusprechen, fiel wie ein Funke in die freundschaftlichen Erörterungen zwischen ihm und dem Ehepaar Seeon, welche bald nach dem Eintreffen der kleinen Reisegesellschaft zur Sprache kamen. Der Graf und die Gräfin bekämpften lebhaft die Absicht dieser Reise, deren Endpunkt eine Versöhnung sein mußte. Ihre eigene Auffassung, ihre Pläne und Absichten waren auf die Voraussetzung gebaut, daß ein für allemal jeder Zusammenhang Siegmund’s mit dieser compromittirten Frau abgebrochen sein müsse. Namentlich bestand Ottilie darauf. So bereit sie zu jeder Gerechtigkeit, zu jedem Entgegenkommen gewesen, so starr hielt sie an dieser Forderung fest, die ihr Grundsätze und Anschauungen geboten.
[788] Siegmund’s Beharren, seine plötzliche Umstimmung in einem so wesentlichen Punkte, erschienen ihr unbegreiflich, machten sie fast an seiner Männlichkeit irre. Das Einzige, womit sie ihn hier entschuldigte, war seine Jugend. Und da sie den Schritt, welchen er vorhatte, als verderblich für ihn betrachtete, zögerte sie nicht ein mächtiges Argument wirken zu lassen: sie deutete Siegmund an, daß Margarita’s Hand ihm zugedacht sei, diese Hand aber nicht in die seinige gelegt werden könnte, wenn er mit der andern seine Mutter festhielt.
Siegmund ward aber von einer Macht beherrscht, gewaltiger als jedes Drohen oder Verheißen: seit Margarita’s liebe Hand die Bitterkeit fortgeschoben, die wie ein Riegel vor der Liebe lag, strömte sein altes, heißes, unaussprechliches Gefühl für die Mutter über jede Klippe hinweg. Galt es auch auf das schönste Glück zu verzichten, galt es den Verzicht auf Margarita’s Hand, so konnte ihn das nicht beirren; ihr Herz hatte ihn ja auf den Weg geleitet, auf welchem es ihn jetzt vorwärts trieb; dieses unschuldige, liebevolle Herz konnte ihm nur dann ohne Bangen gehören, wenn er that, was es ihn thun geheißen. Als ihr Bundesgenosse stand neben ihr Lois.
Verstimmt entließen Seeon’s den jungen Verwandten, als er sich aus ihrem Hause nach seiner Wohnung begab, um sich zu seiner Reise zu rüsten. Er sehnte sich nach Rücksprache mit Fügen, von dem er seit dessen kurzem Verweilen auf der Moosburg nichts mehr direct gehört, der inzwischen seine Mutter gesehen und ihm ihre Adresse mittheilen konnte. Bei dem ersten Worte, das er dem Meister über seine Absicht äußerte, fiel Dieser ihm mit einem kräftigen: „Gottlob!“ um den Hals. Nun erst erfuhr Siegmund im Zusammenhange, was den Seeon’s in Einzelnheiten und ungenügend bekannt geworden, erfuhr die volle Geschichte seiner Eltern, die Geschichte aller Leiden und Entbehrungen Genoveva’s aus dem Munde eines Mannes, der wiedergab, was er von ihr selbst erfahren.
„Und kein Wort zu mir!“ rief Siegmund mit leidenschaftlichem Vorwurf.
„Weil sie es mir verboten hat!“ erwiderte Fügen. „Wort und Handschlag forderte sie mir ab, durch keine Silbe Dir etwas abzuzwingen, was nicht aus Dir selbst kam. Und denk’ doch nur daran, wie Du mich aufgenommen hast, als ich Dir zuerst sagte, was Du ihr schuldig. Aber ich will nur der Wahrheit die Ehre geben: ich hab’ Dir’s zugetraut, Junge, daß Dein eigenes gesundes Herz den Rückweg schon finden würde, ohne Dreinreden. Was hätt’ es auch sonst helfen sollen! Nur um Eines war mir angst – ob Dir Zeit dazu bliebe.“
„Zeit?“ wiederholte Siegmund betroffen.
Fügen wendete das Gesicht ab.
„Du reisest ja nun,“ sagte er, „Du wirst schon sehen. Geh’ mit Gott! Dürft’ ich, so käm’ ich gern mit. Ich wollte ihr die Jana schicken, damit sie nicht so allein ist, und meine Frau sehnt und grämt sich nach ihr, aber sie will Keines um sich – glaub’s schon. Jetzt kommt, was sie braucht.“
„Sie ist krank?!“
„Nicht gerade! Aber leidend! Du wirst ihr Arzt sein.“
Die Unruhe, welche Siegmund ergriffen hatte, wuchs zu unbestimmten Bangen. Ihm war, als dürfe er. keine Minute verlieren. Wie Glockengeläute tönten unaufhörlich Lois’ Worte in seinem Ohre: „Bedenke, daß Deiner Mutter Gestalt einst neben Dir hergehen könnte, wie Maxi neben mir geht!“
Als er eben im Begriffe war, den Wagen zu besteigen, brachte ein Diener. des Seeon’schen Hauses ein kleines Paket mit seiner Adresse. Es enthielt Noten, die er Margarita früher geliehen. Zwischen den Heften lag ein weißes Blatt, und als er es aufschlug, fand er eine sorgfältig getrocknete, in unverändert tiefem Blau leuchtende Genziane.
Genoveva saß, die Füße auf einem Kissen, den Kopf gegen die hohe Lehne ihres Sessels gestützt, in einem Hochpaterrezimmer, dessen geöffnete Fenster die Aussicht auf Gärten boten. Sie war allein. Gleichgültig hatte sie Fügen’s Drängen nachgegeben, den unruhigen Gasthof mit einer Privatwohnung zu vertauschen, welche er für sie aussuchte und in welche er sie brachte, ehe er Wien verlassen hatte. Nun ließ sie die Stunden kommen und gehen, ganz wehrlos, im Zustande äußerster Erschöpfung, in der man nichts mehr begehrt, weder Glück noch Tod. Ihre glanzlosen großen Augen waren nach dem Fenster gerichtet, zu dem maienhaftes Duften hereinströmte. Leiser Windhauch ging durch die lichtgrünen Blätter einer nahestehenden Akazie, aus deren luftigem Gezweige eben jetzt ein Vogel aufflog. Genoveva’s Blick folgte seinem himmelwärts gerichteten Fluge:
Wohin?
Ihre Gedanken wollten sich um diese Frage spinnen, so nahe ewig dem Geiste wie die Frage: warum? doch ließ sie müde davon ab. In ihr war es still, wie um sie her – sie hatte Alles losgelassen, sogar den Schmerz. Was sie gehofft, was sie gefürchtet, war erfüllt; nun galt es nur noch auf Eines zu warten, das ihr leise und sicher immer näher schlich, ohne daß sie nöthig hatte, einen Schritt entgegenzuthun.
Die Sonne funkelte herein – das blendete sie. Ihre Augen sanken leise zu und hoben sich nicht gleich, als sie nach einer Weile Schritte im Zimmer vernahm. So wenig sie derselben achtete, ließ sie doch ein instinctives Bewußtsein, daß nicht ihre Dienerin nahe sei, zwischen den Wimpern hervorblicken. Jäh richtete sie sich auf. Der vor ihr stand – war ihr Sohn.
Nur einen Augenblick stand er vor ihr. Im nächsten schon lag er ihr zu Füßen, beide Arme um die Zusammenbrechende geschlungen. Ein kurzer Wehelaut traf sein Ohr, wie ein Seufzer des Todes; er hielt eine Leblose in seinen Armen. Halb gelähmt vor Schreck, rieb er ihre eiskalten Hände, rief nach Beistand, ohne doch zu wagen, sich einen Moment von ihr zu entfernen. Er ward nicht gehört; die Dienerin, deren momentaner Abwesenheit zufolge er unbehindert eingetreten war, hatte sich noch nicht wieder eingefunden. In Todesangst lauschte er an der Brust seiner Mutter auf den Schlag ihres Herzens – es schien stille zu - stehen. Als er sich aufrichtete, hatte Genoveva die Augen geöffnet. Sie schien außer Stande, zu sprechen, ihn traf aber der alte Blick unsäglicher Liebe. Schluchzend, wie ein Kind, bedeckte er ihre Hände mit Küssen. Inmitten seines Jammers, sie so zu finden, so krank, so abgezehrt, durchjauchzte ihn ein übermächtiges Glücksgefühl: sie waren beisammen – jede Fiber in ihm flog ihr entgegen; Welt und Menschen, jedes Urtheil, jeder Vorwurf war zerstoben; die einzige Schuld, welche er empfand, war seine eigene, das einzige Wort, welches er stammelte: „Vergieb!“
Genoveva bebte zusammen.
„Mein Sohn,“ sagte sie leise, „Du willst nicht, daß Deine Mutter dieses Wort spricht, das gesprochen werden mußte. Ich danke Dir. Dich zu sehen, bevor ich sterbe, hoffte ich nicht“
„Sterben!“
„Ruhen, Siegmund, ausruhen vom Irrthum von allem Falschen. Was ein Frevel bessern wollte, ward nur verschlimmert; was ich blind übersah, gewann mühelos unser Recht. Und ich hätte das schwerlich übersehen, wäre ich nicht so schnell bereit gewesen, zu verdammen. Alle, die ich beschuldigt, sind rein geblieben, aber die Schuldige ward ich. Dein Großvater hat uns nicht wissentlich betrogen; Dein Vater hat uns nicht verleugnet.“ Ein unbeschreibliches Lächeln gab den zerstörten Zügen all ihren einstigen Reiz zurück. „Sein letztes Wort auf Erden, Siegmund, galt Dir.“
„Ich weiß.“
„Um seinetwillen versprich mir, sein Erbe nicht zurückzuweisen!“
„Dieses Versprechen gab ich bereits meiner Schwester.“
Genoveva’s Kopf sank zurück.
„Ihr seid einig?“
Siegmund zögerte einen Moment; dann sagte er mit fester Stimme: „Ja“
Sie schlug ihren Arm um des Sohnes Hals und zog seinen Kopf neben sich nieder.
„Fügen glaubt, Du liebst Margarita Seeon – liebt sie Dich?“ fragte sie kaum verständlich.
„Ja!“
Er wollte mehr sagen, aber der bald stockende, bald wilde Schlag ihres Herzens beängstigte ihn namenlos. So hing er denn schweigend an ihren Augen, die in wunderbarem Glanze aufstrahlten; plötzlich ging ein Schatten darüber hin. Er versuchte seinen Arm zurückzuziehen – Beistand herbeizurufen schien so dringend Noth, aber Genoveva ließ ihn nicht von sich; ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter, und wie ein Hauch wehte es an sein Ohr:
„Ich habe Dich über Alles geliebt.“
Es war ihr letzter Hauch.