Zum Inhalt springen

ADB:Wilhelm I. (Kurfürst von Hessen)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Wilhelm IX. Landgraf von Hessen-Kassel“ von Hermann von Petersdorff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 64–75, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wilhelm_I._(Kurf%C3%BCrst_von_Hessen)&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 05:27 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Wilhelm VIII.
Band 43 (1898), S. 64–75 (Quelle).
Wilhelm I. (Hessen-Kassel) bei Wikisource
Wilhelm I. (Hessen-Kassel) in der Wikipedia
Wilhelm I. in Wikidata
GND-Nummer 102285977
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|43|64|75|Wilhelm IX. Landgraf von Hessen-Kassel|Hermann von Petersdorff|ADB:Wilhelm I. (Kurfürst von Hessen)}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=102285977}}    

Wilhelm IX., Landgraf von Hessen-Kassel (als Kurfürst Wilhelm I.), geboren am 3. Juni 1743 zu Kassel, † am 27. Februar 1821 ebenda, ist eine der berüchtigtsten Fürstengestalten der deutschen Geschichte. Er war der Sohn des schwachen und prunkliebenden Landgrafen Friedrich’s II. und der schönen, edlen, willensstarken und hochgebildeten Maria von England, einer Tochter König Georg’s II. Dem väterlichen Einfluß wurde er sehr bald nach dem Uebertritt des damaligen Erbprinzen Friedrich zum Katholicismus durch seinen Großvater Landgraf Wilhelm VIII. entrückt, so daß seine Erziehung [65] noch mehr wie schon früher in die Hände seiner Mutter gelegt wurde. Landgräfin Maria hat ihren „Billy“ geliebt, wie nur je eine Mutter ihr Kind, und alles gethan, um ihm die bestmögliche Erziehung zu geben. „Mögest Du lieber sterben, ehe ich das Unglück habe, zu erfahren, daß Du ein verdorbenes Geschöpf geworden bist und unwürdig aller der Sorge und Mühe, die man sich mit Dir und für Dich macht“ – schrieb sie an ihn zum ersten Geburtstage, den er nicht mit ihr verbrachte. „For my dear, dear, dear, charming angel Billy“ und ähnlich lauteten die Aufschriften, die sie ihren Briefen an ihn gab. Solche Liebe blieb von W. nicht unerwidert. Mit Sorgfalt wählte Maria die Lehrer ihres Sohnes aus. Gern lenkte sie dabei ihre Wahl auf französische Schweizer. Von diesen hat den meisten und besten Einfluß Severy auf W. geübt. Aber auch der Hesse Ledderhose wirkte günstig auf den Prinzen ein, weniger der pedantische und etwas heuchlerische Wittorf. Unter Wilhelm’s militärischen Gouverneuren ist der lebhafte General v. Keyserlingk, ein trefflicher Menschenkenner, hervorzuheben. Mit Wittorf ging W. Ende 1754 bis September 1756 zum Besuch der Universität nach Göttingen, wo er besonders Geschichte trieb, daher auch wohl Pütter gehört hat. Maria begleitete ihn, auch wenn sie fern von ihm weilte, unablässig mit Rathschlägen und Winken. Schmerzlich empfand die seit 1755 von ihrem Gatten geschiedene Frau jede Entfernung von dem Sohne und kaum konnte sie den Augenblick abwarten, wo sie wieder mit ihrem Liebling zusammentraf. So schrieb sie ihm einmal: „Liebe, liebe Seele, mache Dich bereit, eile Dich! Heute um Mittag werde ich bei Euch sein! Ich bin ganz von Sinnen vor Freude!“ Doch sollte sie bald dauernd von ihm getrennt werden, da Landgraf Wilhelm VIII. wegen des heranziehenden Krieges eine Entfernung der Söhne des Erbprinzen für geboten hielt. W. wurde mit seinen Brüdern im October 1756 an den nahe verwandten Hof in Kopenhagen geschickt. Eine treffliche Instruction, von dem tüchtigen Geheimen Regierungsrathe Hein nach dem Muster der von den preußischen Königen gegebenen Erziehungsanweisungen entworfen und für die besonderen hessischen Verhältnisse zurechtgemodelt, wurde den Erziehern mitgegeben. An dem dänischen Hofe, wo W. während der Dauer des siebenjährigen Krieges blieb, begann sich der Charakter des Prinzen zu entwickeln. Er gewann dort Sinn für das Soldatenthum. Zugleich erwachte in ihm ein hohes Gefühl von seiner Fürstenwürde, ganz im Gegensatz zu Severy’s Lehren. Schon bewies er auch eine auffällige Unliebenswürdigkeit, die bei einer gewissen Steifheit noch unangenehmer wirkte. Unermüdlich suchte die Mutter auch jetzt noch auf ihn einzuwirken. Im Laufe der Zeit hat sie ihm gegen tausend Briefe geschrieben, die erhalten sind und ein rührendes Denkmal mütterlicher Liebe bilden. Mit Befremden bemerkte sie bei ihm Mangel an Freigebigkeit. Den schwersten Kampf hatte sie gegen seine Leidenschaftlichkeit zu führen. Gegen seinen Vater, den sie mit Grund verachtete, erfüllte sie ihn unwillkürlich mit Abneigung. Als Landgraf Wilhelm VIII. starb (1760), übernahm sie für den nunmehrigen Erbprinzen W. die Verwaltung der Grafschaft Hanau-Münzenberg, die laut der Assecurationsacte von Hessen-Kassel für die Dauer der Regierung Landgraf Friedrich’s II. abgetrennt war, um dem Thronfolger die Unabhängigkeit von dem katholischen Vater zu sichern. Nach dem Friedensschluß ging W. (April 1763) einige Monate nach Hanau, um sich von der Mutter in die Verwaltung einführen zu lassen. Am 12. September 1764 vermählte er sich zu Kopenhagen mit der ihm seit seiner frühesten Jugend zur Gattin bestimmten Prinzessin Caroline von Dänemark, der Tochter Friedrich’s V., um mit ihr am 22. October in Hanau einzuziehen und hier selbst die Regierung zu übernehmen.

[66] Das 21jährige Regiment, das er in Hanau geführt hat, ist nicht ohne Vorzüge gewesen. Er bewies einen großen Thätigkeitsdrang, zeigte sich praktisch, äußerst ordnungsliebend und pünktlich, schuf eine Reihe wohlthätiger Anstalten, so das Waisenhaus zu Hanau, stiftete am 20. Juli 1772 nach französischem Muster die Hanauische Akademie der Zeichenkunst, um die dortige Goldschmiedeindustrie, die berühmten Hanauer Emailarbeiten zu fördern, und erfreute sich lebhaft an dem Aufblühen dieser Bildungsstätte, einer der ersten ihrer Art in Deutschland, aus der bald einige hervorragende Talente hervorgehen sollten. Ferner hielt er auf prompte Rechtspflege. Besonderen Ruf bekam der von ihm gepflegte Hanauische Wegebau. Kurz, er zeigte offenbares Verwaltungstalent. Auch verbesserte er die Anlage des Hanauer Gesundbrunnens, der von ihm den Namen Wilhelmsbad empfing. Doch begann sich hier bereits seine unsinnige Baulust zu regen. Noch gefährlicher wurde es für ihn, als an ihn die Versuchung herantrat, durch Stellung eines Hülfscorps zur Bekämpfung der amerikanischen Aufständischen Schätze zu sammeln. Dem Beispiel seines Vaters folgend, nur noch weniger die Würde des Fürsten wahrend, weil die einmal in ihm geweckte Habgier keine Grenzen kannte, schloß er am 5. Februar 1776 mit Großbritannien einen Vertrag ab, in dem er für diese Macht im kleinen Hanau ein Regiment von 668 Mann anwarb und es ihr für die Dauer des amerikanischen Krieges überließ. Für jeden Mann wurden 30 Kronen Werbegeld und die englische Löhnung ausgesetzt, für jeden Todten und für je drei Verwundete ebenfalls 30 Kronen, sodann eine doppelte Subsidie von 25 050 Kronen jährlich, eventuell noch ein Jahr nach der Rückkehr der Truppen. Dieser im modernen Lichte sich als schmählicher Menschenhandel erweisende Vertrag war nur möglich bei der damals weithin bei den Fürsten herrschenden Begriffsverwirrung, in der sich dieser Act thatsächlich als ein regelrechtes Schutz- und Trutzbündniß darstellte, und wurde begünstigt theils durch den Abenteuerdrang manches Edelmanns, theils durch die alte Kriegslust des hessischen Stammes. Freilich entwich auch mancher Kantonpflichtige, und die Hanauer Werber hatten einen besonders schlechten Ruf. Immerhin muß die schnöde Gewinnsucht Wilhelm’s abstoßend wirken, zumal da er dem englischen Bevollmächtigten in einer Weise seine Hülfe aufdrängte, daß dieser sich seiner scheinbaren Liebenswürdigkeit kaum erwehren konnte und mit schlecht verhehlter Moquanterie über diese Würdelosigkeit nach Hause schrieb. Schon am 25. April wurde ein zweiter Vertrag ähnlichen Inhaltes abgeschlossen, nicht ohne daß W. dabei lange gefeilscht hätte. Ein dritter erfolgte am 10. Februar 1777. Der Agent Wilhelm’s bei diesen Geschäften wurde Mayer Amschel Rothschild, der mit den Blutgeldern in der unerhörtesten Weise an der Londoner Börse speculirte und damit den festesten Grund zu seinem Welthause legte. Dabei stellte W. es noch als eine Gnade hin, daß er den Eltern und Ehefrauen der Verkauften die Steuern erließ. Landgräfin Maria erlebte diesen Schacher ihres Sohnes nicht mehr. Sie war am 14. Januar 1772 gestorben. Auch blieb ihr der Kummer noch so gut wie erspart, zu sehen, wie die Sittenlosigkeit sich am Hofe des Sohnes breit machte. Bald nach dem Tode der edlen Frau aber erwachte der alte von Philipp dem Hochherzigen ererbte Fehler des Hauses Brabant mit aller Macht in W., der von stattlichem Wuchs und robuster Natur war. Neben seiner Gemahlin († 1820), von der er zwei Söhne (einer von ihnen starb früh) und zwei Töchter hatte, hielt er sich während seiner Regierung eine ganze Reihe von Maitressen, so das schöne Fräulein v. Schlotheim, die ihm von ihren Eltern gegen ihren Willen zugeführt wurde und von der er angeblich 22 Kinder hatte (sie wurden z. Th. unter dem Namen Hessenstein in den Grafenstand erhoben), ferner Rosa Lindenthal geb. Ritter, von der er 7 Kinder anerkannte (geadelt unter dem [67] Namen v. Haynau) und die Buisinne, von der drei Freiherren v. Heimrod stammen. Es kam vor, daß W. bei der Geburt eines seiner zahlreichen unehelichen Sprossen den Preis des Scheffel Salzes um einen Kreuzer erhöhte. Fast noch schlimmer als diese Maitressenwirthschaft war das in deren Gefolge stehende Günstlingswesen. So wurde nachmals der Vertraute der Lindenthal, Buderus v. Carlshausen, ein Schullehrerssohn, übel berüchtigt.

Als W. nach dem Tode Friedrich’s II. (31. October 1785) die Regierung über ganz Hessen antrat, setzte er sich sogleich in grellen Widerspruch zu seinem Vater, dank der Abneigung, die ihm die Mutter gegen jenen eingeflößt hatte, dank aber auch seiner Abneigung gegen französisches Wesen und nicht zuletzt dank seiner Sparsamkeit. Vor allem gab er dem Hofhalte einen einfacheren Anstrich. Er ließ die kostspielige Oper und das Ballet eingehen, verringerte die Hofcapelle, schaffte das Lotteriespiel ab, ebenso die Folter, auch verminderte er den Truppenbestand, Maßregeln, die meist durchaus gutzuheißen waren. Er erließ seinen Unterthanen das beim Regierungsantritt übliche Geschenk von 100 000 Thlr. Eine Schuld der Landschaft an der Diemel von 76 000 Thlr. schlug er nieder. Der Wegebau wurde auf „Hanauischen Fuß gesetzt“. Durch das Hufenedict suchte er eine gleichmäßige Vertheilung des bäuerlichen Grundbesitzes zu organisiren. Durch Vererbpachtung von Meiereien und Vorwerken verminderte er vielfach die Frondienste. Lebhaft begünstigte er das Fabrikwesen, hierin wol Friedrich dem Großen nacheifernd. Dagegen hob er das nicht sehr lebensfähige wissenschaftliche Institut des Carolinums zu Kassel auf, dessen beste Kräfte der Residenz bereits vorher den Rücken gekehrt hatten. Bedenklich war es, daß W. den Juden gestattete, auf dem platten Lande zu leben. Seiner ungestümen Baulust ließ er jetzt völlig die Zügel schießen. Er verwandelte den Weißenstein bei Kassel zur Wilhelmshöhe. Die dortigen Schloßanlagen wurden 1798 vollendet. Sehr bald mußte er als Landgraf der auswärtigen Politik seine Aufmerksamkeit zuwenden. Den Fürstenbundsplänen Friedrich’s des Großen stand er, beeinflußt vom Markgrafen Karl Friedrich von Baden, günstig gegenüber, obwol man ihn kaiserlicherseits von Preußen durch Inaussichtstellung der Kurwürde abwendig zu machen suchte. Der preußische Minister Graf Hertzberg verhielt sich indes auch nicht ablehnend gegen die auf den Kurhut zielenden Wünsche Wilhelm’s. W. trat allen drei Artikeln des Fürstenbundes, auch dem geheimsten, bei, am 30. November 1785, 30. Januar und 18. Februar 1786. Kurze Zeit danach ließ er sich jedoch (zu Anfang des Jahres 1787) von seinem Ehrgeiz zu einem schweren Fehler verleiten, der dem eben abgeschlossenen Bündniß ins Gesicht schlug, indem er aus Anlaß des Todes des Grafen Philipp Ernst von Lippe-Bückeburg (13. Februar 1787) den lippischen Antheil der Grafschaft Schaumburg besetzte unter dem Vorgeben, daß ihm dies Gebiet zustehe, da der Verstorbene aus unebenbürtiger Ehe entstamme. Es war ein offenbarer Rechtsbruch, denn schon 1754 hatte das Reichshofgericht gegentheilig entschieden. Durch das Dazwischentreten König Friedrich Wilhelm’s II. von Preußen als der Vormacht im Fürstenbunde wurde W. veranlaßt, seine Truppen wieder zurückzuziehen und seine nichtigen Ansprüche fallen zu lassen. In der Folge gab er sich mehr und mehr seinen militärischen Liebhabereien hin. Er schuf sich eine wohldisciplinirte, im Verhältniß zu der Größe seines Staates, der etwa 400 000 Einwohner zählte, recht ansehnliche Truppe, die 14 000–20 000 Mann stark war, und rief verschiedene militärische Bildungsanstalten ins Leben. Unleugbar schwebte ihm bei dieser Thätigkeit als Vorbild das fridericianische Staatswesen vor, wie überhaupt die hessische Regierung seit langem von Preußen stark beeinflußt wurde. Im bairischen Erbfolgekriege (1778) hatte W. als General in Friedrich’s des Großen Diensten das preußische Heer auch in der Nähe kennen [68] gelernt. Bei dieser Heerespflege verband sich ein öder Corporalsgeist, der sich vielfach in den nutzlosesten Kleinigkeiten verlor, allmählich mit einer Art militärischen Größenwahnes. Der kleine hessische Fürst gedachte sich durch die Erwerbung der Kurwürde äußeren Glanz zu geben. Länger als anderthalb Jahrzehnte hat dieser ehrgeizige Gedanke sein Thun und Treiben erfüllt. Darum zum Theil lenkte er 1788 und 1789 durch die in gewissem Sinne nicht unnützlichen militärischen Uebungslager bei Wabern und Wilhelmsthal die Augen der militärischen Welt auf Hessen. Darum übernahm er es nach dem Tode Josef’s II. durch das Lager bei Bergen Frankfurt a. M. und die Krönung Leopold’s II. gegen einen Ueberfall von französischer Seite zu sichern. Darum gewährte er, der im September 1787 bereits wieder einen gewinnreichen Subsidienvertrag mit England auf vier Jahre geschlossen hatte (er erhielt ohne die Einkleidungsentschädigung 675 000 Kronthaler jährlich) und bereits der „Bankier der Fürsten“ genannt wurde, dem verschuldeten Kurfürsten von Mainz ein Darlehen von 100 000 Thlr. Darum bestach er preußische Beamte, worunter auch der Graf Görtz war. Darum gab er die glänzendsten Feste im Lager, bei denen Kaiser Leopold II. selbst erschien und ihm durch leere Phrasen Hoffnungen machte. Aber das böse Kurcollegium lehnte den Antrag Wilhelm’s auf Bewilligung der Kurwürde trotz alledem ab. Als Graf Görtz nun vorschlug, kleinere Reichsstände mit Geld zu gewinnen, wobei Elias Seligmann zu Mannheim und Mayer Amschel gute Dienste zu leisten gedachten, da wurde W. doch ängstlich wegen seines Geldbeutels und er zupfte einstweilen zurück. Bei der Wahl des Kaisers Franz erneute er den Versuch, stieß aber wiederholt auf hartnäckigen Widerspruch Oesterreichs, so daß er um so mehr Anlehnung an Preußen suchte. Bei Beginn des Revolutionskrieges glaubte er wiederum die Lage in seinem Interesse verwerthen zu können, indem er sein militärisches Gewicht in die Wagschale warf. Der Ruf eines der entschiedensten Feinde der Revolution ging ihm schon voran. So recht im Geiste des Subalternofficiers hatte er im September 1791 seinen Obersten den geheimen Befehl ertheilt, bei der geringsten Regung im Lande rücksichtslos und andauernd niederzuknallen, bis vollkommene Ruhe hergestellt wäre. Ein Reichsgesetz gegen revolutionäre Bewegungen verbat er sich in souveränem Selbstgefühl. Er würde das Nöthige schon selbst veranlassen. Bei der sonst herrschenden Schlaffheit wirkte dieser Ton ganz erfrischend, und man könnte versucht sein es patriotisch zu finden, daß W. 8000 Mann zu dem Feldzuge im J. 1792 stellte, wie ihn denn auch Oesterreich und Preußen vor dem Reiche belobten, wenn nicht der Pferdefuß lächerlichen Ehrgeizes und schmutziger Habsucht aus den von ihm gestellten Bedingungen: Kurwürde, ev. Oberbefehl und Verpflegung der hessischen Truppen durch Preußen, hervorgeblickt hätte. Immerhin wurde ihm am 31. Juli 1792 billige Geldentschädigung zugesichert und Aussicht auf die Kur gemacht. Gegen seinen siegreichen Mitbewerber um den Oberbefehl, den Herzog von Braunschweig aber scheint er von jener Zeit her einen Stachel im Herzen behalten zu haben. Wenigstens maß er ihm 1807 ganz unmotivirt die ganze Schuld an seiner Depossedirung bei. Als Custine seinen Vorstoß auf die Mainlinie unternahm, kehrte W. eiligst aus der Champagne heim, um sein bedrohtes Land zu retten. Nur dem Eingreifen des Freiherrn Karl vom Stein war es zuzuschreiben, daß er nicht kopflos die Sache der Verbündeten im Stiche ließ. Bei der letzten glorreichen Waffenthat der Hessen-Kasseler unter roth-weißen Fahnen, der Erstürmung Frankfurts am 2. December 1792, war W. nicht zugegen. Mehr pecuniärer Vortheil als ihm im Bunde mit den deutschen Mächten zu theil geworden war, winkte ihm im nächsten Jahre, als sich Gelegenheit zu einem neuen Subsidienvertrage mit England bot. [69] Der Vertrag wurde am 10. April 1793 für drei Jahre abgeschlossen. Für den Reiter erhielt er 80, für den Infanteristen 30 Kronen Handgeld; außerdem empfing er jährlich 225 000 Kronen. Dafür stellte er 8000 Mann, zu denen später laut Vertrag vom 23. August 1793 weitere 4000 unter denselben Bedingungen traten, um in den Niederlanden gegen die Sansculotten verwandt zu werden. Während sich im Schoße der badischen Regierung bereits Widerspruch gegen diese „berüchtigten Truppenverkäufe“ regte, machte sich W. nicht das geringste Gewissen daraus; diesmal stand die Verwendung der tapferen Hessen wenigstens noch in einem losen Zusammenhange mit dem Schutze des Vaterlandes. Dem daheimgebliebenen Landgrafen bot sich unterdes eine andere Gelegenheit, unter der Maske des Patriotismus für seine Großmachtstellung zu arbeiten. Wieder war es Baden, das ihn in patriotische Bahnen lenkte, besonders der badische Minister v. Edelsheim zusammen mit dem nassau-weilburgischen Geheimrath v. Botzheim, die zum Schutze gegen die französische Gefahr die Bildung eines Fürstenvereins anregten. Dabei tauchte der Gedanke an ein Bundesheer und eine Reichsanleihe von 30 Millionen, sowie an systematische Flugschriftenverbreitung zur Bekämpfung der jakobinischen Lehren auf. In diesem Sinne fanden im September und October 1794 Conferenzen zu Wilhelmsbad bei Hanau statt. Der Preuße Hardenberg, der das Werden dieser großen Dinge aus der Nähe beobachtete, erkannte gleich, daß der Fürstenverein nicht lebensfähig sein würde. Für W. war es condicio sine qua non, daß ihm der Oberbefehl über die Bundesarmee übertragen werde, sowie daß man ihm die Kur zugestehe. Als jedoch Preußen, nachdem seine Pläne wegen Verpflegung seiner Truppen durch die bedrohten Reichskreise, insbesondere auch infolge der lauen Unterstützung Wilhelm’s gescheitert waren, seinen Baseler Sonderfrieden abgeschlossen hatte (5. April 1795), sah sich W. in eine gewisse Zwangslage gesetzt unter Vermittlung des befreundeten Preußens dessen Beispiel zu folgen und ebenfalls zu Basel mit Frankreich Frieden zu schließen (28. August 1795). Damit war der Wilhelmsbader Fürstenverein, der überhaupt nicht viel Anklang gefunden hatte, in sich zusammengefallen. Infolge des Friedens kamen Hessens linksrheinische Besitzungen an Frankreich. Dafür trat Hessen in ein näheres Verhältniß zu Preußen und erhielt die Aussicht auf reichlichste Entschädigung beim allgemeinen Frieden. Der enge Freundschaftsbund mit Preußen fand seinen Ausdruck u. a. darin, daß Wilhelm’s einziger Sohn sich mit der Tochter König Friedrich Wilhelm’s II. von Preußen verheirathete und W. selbst in demselben Jahre zum preußischen Feldmarschall ernannt wurde. Am 13. Juli 1797 schloß er mit Preußen die Pyrmonter Convention, in der sich Preußen verpflichtete, ihm die Kurwürde zu verschaffen und nähere Vereinbarungen getroffen wurden über die Entschädigungsobjecte, welche beide Staaten im Reichsfrieden mit Frankreich beanspruchen wollten (Hessen sollte Paderborn erhalten). Um die Kur zu erlangen, war W. jedes Mittel recht, und so schickte er im December 1797 seinen Gesandten Waitz v. Eschen nach Paris, um mit Talleyrand deswegen zu verhandeln, ein Verfahren, das Preußen auf das schärfste zu tadeln sich veranlaßt sah. Seitdem kannte man in Frankreich Wilhelm’s Ehrgeiz, den für sich auszubeuten man nicht unterließ. Ende 1798 bot man ihm an, unter französischem Schutze sich an die Spitze eines süddeutschen Fürstenbundes zu stellen. W. scheint jedoch zu hohe Forderungen gestellt zu haben, denn Talleyrand ließ den Gedanken bald fallen, mißmuthig über „die Beschränktheit und den Geiz“ Wilhelm’s (Schreiben an den französischen Geschäftsträger in München 17. III. 1799 und an Sieyès 19. III. 1799). Trotz der Erkältung in den Beziehungen zu Frankreich ließ es sich W. aber nicht verdrießen, nach dem Lüneviller Frieden alles zu thun, um bei Gelegenheit der allgemeinen Auseinandersetzung möglichst viel herauszuschlagen. [70] Es hieß, daß er die Summe von zwei Millionen bereit hielt pour l’employer dès que la pomme serait assez mûre. Wirklich wurde ihm in der Pariser Convention vom 3. Juni 1802 die Kurwürde zugestanden und im Reichsdeputationshauptschluß (25. Februar 1803) fielen ihm die in seinem Gebiete liegenden ehemaligen mainzischen Aemter als Entschädigung für die Niedergrafschaft zu, 5 für 3/4 Quadratmeilen. W. war damit nicht zufrieden, besonders da der Darmstädter Vetter verhältnißmäßig mehr eingeheimst hatte. Die Proclamation der Kurwürde seitens des Reiches konnte W. nicht abwarten, sondern nahm sie am 15. Mai 1803 selbständig an unter Feierlichkeiten, bei denen ein geradezu unerhörter Pomp entfaltet wurde. Der Freudentaumel, in dem sich in jenen Tagen sein ganzes Ländchen befand, war großentheils wirklich echt. Unter den obwaltenden Verhältnissen war die Kurwürde inzwischen eine leere Formel geworden. Drei Jahre später sollte sie überhaupt ein Nonsens werden. W. jedoch hielt krampfhaft an dem langersehnten Titel wie an einem unschätzbaren Gute fest. Weiter konnte nichtiger Formelkram nicht getrieben werden. Bei der Gesinnung Wilhelm’s war es begreiflich, wenn er einer Begegnung mit dem Emporkömmling Napoleon gern aus dem Wege ging, und als sie sich im September 1804 in Mainz verwirklichen sollte, war es ihm jedenfalls höchst willkommen, daß ihn ein Podagraanfall in Kassel fesselte. Das französische Ansinnen einer Anleihe von vier Millionen Thlr. zur Schonung Hannovers und zum Unterhalt der Franzosen daselbst lehnte W. in der schroffsten Form ab, unter fortgesetzter Beobachtung der strengsten Neutralität, ein Verhalten, das vom hessischen Standpunkte noch unglücklicher war als vom preußischen. Das Anerbieten Napoleon’s, mit Frankreich eine Allianz abzuschließen, lehnte er am 24. Juni 1806 zur Zufriedenheit Preußens ab. Doch folgte er nicht dem Rathe Waitz v. Eschen’s, sich mit Preußen und Sachsen zu verbinden. Auch der Rheinbundacte beizutreten nahm er nach längerem Schwanken Abstand, hauptsächlich weil Napoleon ihm nicht das Land der Darmstädter Vettern schenken wollte. Damals ließ Napoleon zum ersten Male zornige Worte gegen diesen „falschen Geizhals“ fallen. W. suchte jetzt seinen Vortheil bei Preußen in der Verfolgung des Planes eines norddeutschen Bundes, der ihm großen Länderzuwachs bringen sollte. Als er aber merkte, daß Friedrich Wilhelm III. nur in geringem Maaße zu Mediatisirungen geneigt war, ließ sein Eifer sehr bald nach und auch dies Project fiel unter den Tisch. Vielleicht hätte man ihn durch eine reichliche Geldbewilligung gewinnen können. Beim Herannahen der Entscheidung schwankte der arme Kurfürst in der fürchterlichsten Unentschiedenheit, ob er sich dem geliebten Preußen oder dem gefürchteten Napoleon anschließen sollte, doch blieb er neutral und Blücher mußte mit seiner Division aus Hessen umkehren. Er hat durch dies Verhalten die ganze militärische Lage Preußens auf das schwerste geschädigt. Noch zwei Tage nach Jena machte der geängstete Mann mobil und gab damit Napoleon den Vorwand, ihn zu entthronen und Kurhessen von der Landkarte zu streichen, um es nicht als Feind im Rücken zu haben. Vor den von Süden und Norden einrückenden französischen Truppen floh W. am 1. November 1806 mitsammt den werthvollsten Kunstschätzen seiner herrlichen Kasseler Galerie nach Schleswig, wo er ansehnliche Besitzungen hatte. Viele seiner Kostbarkeiten geriethen, weil man aus Geiz die Rettung nicht in der nöthigen Weise beschleunigte, in feindliche Hände. Seine Gelder rettete W. mit Hülfe seines Cabinetsraths F. U. Kopp, seines Freundes Rothschild und durch die Entschlossenheit des Hauptmanns Mensing.

In Schleswig begriff W. selbst, daß er das Talent gehabt hatte, es auf allen Seiten zu verderben. Von Schloß Luisenlund richtete er jetzt demüthige Schreiben an Napoleon, jedoch ohne Erfolg. Natürlich hatte Mayer Amschel’s [71] Anerbieten (Schreiben an W. 15. XII. 1806) ihm vermöge seiner Beziehungen zum Fürstprimas Dalberg und zu den napoleonischen Generalen und Ministern zu helfen, ebensowenig praktischen Nutzen. W. schämte sich nicht, im Heimathlande seiner Gemahlin mit der Schlotheim zu leben. Wol nur einem sanften Drucke der empörten dänischen Verwandten nachgebend, verließ er Schleswig bald. Im treuen Hessenlande aber begann es sich währenddessen allenthalben für ihn zu regen. Der bekannteste der verschiedenen Aufstandsversuche ist der des Obersten Dörnberg im Frühjahr 1809. Alle Erhebungen brachen zu früh aus und wurden mehr oder minder blutig im Keime erstickt. Ergreifend war der Ausgang des letzten vom Professor Sternberg und dem alten Obersten Emmerich im Juni 1809 zu Marburg unternommenen Versuches der Erhebung für den angestammten Landesherrn. Während der westfälischen Herrschaft starb eine beträchtliche Anzahl treuer Männer den Tod durch Hinrichtung, vielfach mit dem Rufe: „Es lebe der Kurfürst“ auf den sterbenden Lippen. Mancher litt für W. Gefängnißqualen, viele entkamen den Häschern Jerome’s nur mit genauer Noth und unter den größten Strapazen. Dem geretteten Dörnberg bot W. 200 Thlr. als Lohn für sein heroisches Unternehmen an, die natürlich mit Entrüstung abgelehnt wurden. W. hatte von Anfang an Dörnberg’s Versuch für aussichtslos gehalten und ihn nicht dazu ermuntert. Unter diesem Gesichtspunkt, ausnahmsweise nicht unter dem des Geizes, ist es zu verstehen, wenn er ihm eine Anweisung auf 30 000 Thlr. als Beihülfe ausgestellt hatte, „zahlbar für den Fall, daß das Unternehmen gelänge“. Sein schließliches Verhalten gegen Dörnberg trug aber denn doch dazu bei, ihm noch mehr die Gunst auch bei solchen zu verscherzen, auf deren Wohlwollen er noch am meisten rechnen durfte, so bei Preußen, das bereits Wilhelm’s Haltung 1806 begreiflicherweise tief verstimmt hatte und dem der Kurfürst noch mehr Anlaß zur Unzufriedenheit dadurch gegeben hatte, daß er der befreundeten Macht in ihrer Geldnoth nicht mit seinen reichen Mitteln durch Ermöglichung einer auf die preußischen Domänen zu fundirenden Anleihe zu Hülfe kam. Auch Unterhandlungen des Gouverneurs von Schlesien, Graf Götzen, wegen einer Anleihe zur Organisirung einer Erhebung dieser Provinz scheiterten (1808) an dem Geiz Wilhelm’s. König Friedrich Wilhelm dagegen hatte sich sowohl bei den Tilsiter Verhandlungen als auch noch im J. 1808 beim Zaren Alexander kräftig für den Kurfürsten verwendet, freilich ohne viel erreichen zu können. Im April 1807 hatte W. sich in Husum bereit erklärt, Geld zum Unterhalt eines stattlichen Befreiungscorps herzugeben, auch schon einen General zum Führer der Truppe bestimmt. Doch scheiterten die damaligen Projecte an den in London, von wo aus die Sache betrieben wurde, sich erhebenden Schwierigkeiten. Die Hände im Spiel hat W. auch bei den Werbungen zum Marburger Aufstande im Juni 1809 gehabt. Er wollte dadurch seinen militärischen Operationen von Böhmen her vorarbeiten. Am 20. März 1809 hatte er nämlich mit Erzherzog Karl zu Prag, wo er seit Juli 1808 weilte, eine Militärconvention abgeschlossen, durch welche sich der österreichische Kaiser verpflichtete, seine Operationen so einzurichten, daß Hessen sobald als möglich vom Feinde befreit würde, während W. selbst 10–12 000 Mann aufzustellen versprach. W. suchte dabei durch österreichische Vermittlung englische Subsidien zu bekommen, „da seine eigenen Mittel beschränkter wären als man glaube“. Sein Unternehmen von Böhmen aus mußte schon deswegen auf das kläglichste scheitern, weil er selbst damals, wo es sich um die Wiedererlangung des Thrones handelte, in der schmutzigsten Weise mit den Geldmitteln kargte. Außerdem bewies er nicht die geringste Initiative und blieb den geworbenen Truppen, die niemals die beabsichtigte Zahl erreichten, möglichst lange fern. Erst nach der Schlacht bei Aspern wagte er es, Prag zu [72] verlassen, um indes bei der Aussichtslosigkeit der Sache bald wieder dahin zurückzukehren und dort im tiefsten Stillleben bis zum Jahre 1813 zu verharren, während unterdessen in seinem treuen Kassel Jerome sein lockeres Regiment führte, dem W. durch das von ihm begünstigte Maitressenwesen schon einigermaßen vorgearbeitet hatte. Gewissen Ideen, mit Hülfe auch des „unfähigen, kleinlichen, habsüchtigen Greises“, wie W. mehr wie einmal von Stein genannt wurde, die Deutschen der Rheinbundstaaten zu befreien, ihn vielleicht sogar an die Spitze des deutschen Centralverwaltungsraths zu stellen, widersetzte sich der Freiherr v. Stein mit allem Nachdrucke. W. fand dafür in Hans v. Gagern, der sich schon einmal bei Gelegenheit der Wilhelmsbader Conferenzen für ihn erwärmt hatte, nach 1813 aber auch ganz von ihm abfiel, einen willfährigen Förderer seiner Interessen. Seit der Prager Zeit hatte Stein den Kurfürsten so recht kennen gelernt. Besonders empört war er über die Behandlung Dörnberg’s. Noch später, als ihm W. am 28. Februar 1814 durch den Minister Schmerfeld in berechneter Speculation die Wahl hessischer Lehen freistellte, schlug Stein diese Ehrung aus, indem er mit seinem Spott lieber Dörnberg zu berücksichtigen bat, der „so vieles aufgeopfert, gewagt und gelitten hätte für seinen angestammten Fürsten“. Die Schlacht bei Leipzig machte Jerome’s Herrlichkeit ein Ende und am 21. November 1813 konnte W., jetzt siebzigjährig, mit Gemahlin seinen Einzug in der Residenz halten, wo ihn sein treues Volk überschwänglich begrüßte. Die Bürger spannten seine Pferde aus und zogen selbst den Wagen im Triumph durch die Straßen Kassels. Die Bevölkerung hing mit einer geradezu an Fanatismus grenzenden Liebe an ihrem Fürstenhause. Ein alter Bauer von der Schwalm rief damals, wie Dahlmann erzählt hat, auf die fragwürdigen Eigenschaften dieses Herrschers aufmerksam gemacht: „Und wenn er auch ein alter Esel ist, wir wollen ihn doch wieder haben.“ Durch Vertrag zu Frankfurt vom 2. December 1813 gelangte W. aus freier Gnade der Verbündeten wieder in den unverkürzten Besitz seiner Staaten, unter der Verpflichtung, 12 000 Mann Linientruppen und 12 000 Mann Landwehr zum weiteren Kampfe gegen Napoleon zu stellen, sowie die seit 1798 nicht mehr versammelten Landstände wieder einzuberufen. In geschmackloser Nachahmung der Stiftung des „Eisernen Kreuzes“ durch König Friedrich Wilhelm III. von Preußen stiftete er für seine Katten den Orden vom „Eisernen Helm“. Nach dem ersten Pariser Frieden beurlaubte er aus Sparsamkeit vertragswidrigerweise den größten Theil seiner Truppen, so daß durch Preußen und Sachsen die Execution über sein Land verhängt wurde. Ganz und gar nicht war er damit einverstanden, daß die deutsche Kaiserwürde nicht wieder hergestellt wurde, weil sein Kurhut dadurch ein Anachronismus wurde. Doch bequemte er sich am Ende dazu, mit den andern Mächten zusammen die Bundesacte zu unterzeichnen (9. Juni 1815).

Stark war die Ernüchterung, die sich des biederen Hessenvolkes nach Herstellung des Friedens bemächtigen sollte. An W. waren die verflossenen sieben Jahre spurlos vorübergegangen. Er betrachtete die westfälische Zeit nicht als gewesen und sprach allenfalls nur von „seinem Verwalter Jerome“. Er befahl, daß Officiere und Beamte sämmtlich mit dem Range, den sie schon 1806 bekleidet hatten, wieder eintreten sollten, ohne Rücksicht darauf, ob sie inzwischen auf Grund ihrer anderweitig erprobten Tüchtigkeit von Hauptleuten zu Generalen, von Accessisten zu Geheimräthen befördert worden waren, oder er ließ sie gänzlich ohne Anstellung (Beispiele der General Ochs und Jakob Grimm). Die Truppen mußten wieder die sonst überall längst gefallenen gepuderten Zöpfe anlegen, wie W. dies auch schon zur allgemeinen Heiterkeit 1809 bei seinen Truppen in Böhmen angeordnet hatte. Die Volljährigkeit, die in der westfälischen Zeit mit dem 21. Jahre für erreicht betrachtet wurde, wurde wieder [73] auf das 25. Lebensjahr gestellt. Noch schlimmer war, daß W. die unter Jerome’s Herrschaft vollzogenen Domänenverkäufe für null und nichtig erklärte, was eine unglaubliche Rechtsverwirrung hervorrief. Wenn dem wenigstens entsprochen hätte, daß W. die neuen Erwerbungen Jerome’s an Domanialbesitz herausgab. Aber daran dachte der schlaue Kurfürst nicht. Die westfälische Staatsschuld wurde für nichtig erklärt. Die althessische Schuld aber erkannte W. nicht in vollem Umfange, sondern nur zu einem Drittel an, in seltsamem Gegensatze zu der Gewissenhaftigkeit des Königs von Preußen, der nicht nur die volle alte Schuld anerkannte, sondern den Gläubigern auch noch die Zinsen nachzahlen ließ. Ebensowenig stellte W. die Patrimonialgerichte wieder her, weil er seiner Ritterschaft mißtraute. Ferner schmälerte W. die Gehälter seiner Beamten in der unerhörtesten Weise. Es gab Generale mit Rittmeistersgehalt. Der preußische Bundestagsgesandte, der die Dinge noch in mildem Lichte betrachtete, berichtete nach Hause, daß W. monatlich 36 000 Thlr. an Gehältern spare. Die zahlreichen Verabschiedeten, Witwen und Waisen verfielen einem geradezu elenden Loose. W. betrog die verdientesten Officiere um ihre Pension, so den Oheim des Präsidenten Motz, einen im Dienste ergrauten General. Das Heer wurde bald auf 1500 Mann vermindert (das Bataillon auf 80 Mann), während das Land die Steuern für 20 000 aufbringen mußte. Die Pferde der Artillerie wurden aus Sparsamkeitsrücksichten zu den großen Bauten verwendet. Sogar an dem Vermögen der aufgehobenen Universität Rinteln vergriff W. sich. Dagegen war er bereit, gegen Zahlung von 100 000 Thlr. der von ihm schon oft geförderten Judenschaft einige durch den Code Napoleon gewährte Rechte zu bestätigen. So lohnte W. seinen Unterthanen ihre Treue. Die gute alte Zeit, die jetzt wieder auflebte, erschien den Hessen so in einem etwas sonderbaren Lichte. Selbst den Altmeister Goethe, der sich sonst nicht viel um die kleineren Zeitbegebenheiten kümmerte, machte diese beispiellose Gaunerei eines Fürsten stutzig. Sie entlockte ihm die bitteren Verse: „Der alte reiche Fürst blieb doch vom Zeitgeist weit, sehr weit! Wer sich aufs Geld versteht, versteht sich auf die Zeit, sehr auf die Zeit!“ Jedoch heischte die vorwärtsdrängende Zeit ihr Recht. W. mußte sein Versprechen einlösen und den Landtag einberufen. Am 27. December 1814 hatte er eine Verordnung wegen der Neueinrichtung desselben erlassen und war deswegen von E. M. Arndt laut gepriesen worden. Im März 1815 traten die Landstände zusammen. Außer Prälaten, Rittern und Städten waren zum ersten Mal auch die Bauern vertreten, ein Zugeständniß, das den „Nestor der deutschen Fürsten“ mit dem Nimbus der Volksthümlichkeit umgab, das sich aber nur aus seinem Mißtrauen gegen seine Ritterschaft erklärt. Das erste was W. that war, daß er den „Status“, eine Forderung von vier Millionen vorlegte als Entschädigung für angeblich ausgelegte Summen. Die Maßlosigkeit dieser Forderung war so offenbar, daß der Landtag energischen Widerspruch dagegen erhob und allmählich die Herabsetzung der Summe auf ein Zehntel durchsetzte. Zugleich verlangten die Stände eine Abrechnung über die Lage des Staatshaushalts und der Kriegskasse. Dazu vermochte den Kurfürsten aber keine Macht der Erde zu bewegen. So bekam das Land nicht einmal zu wissen, wie groß der Schatz war, den der Landesvater mit dem Blute seiner Hessen aufgespeichert hatte. Im Februar 1816 legte W. die versprochene Verfassung vor, weigerte sich aber, sie, wie es nur billig war, unter die Bürgschaft von zwei deutschen Mächten zu stellen. Ein abermaliger Verständigungsversuch seitens der Landesvertretung wegen des Staatsvermögens blieb ebenso vergeblich wie der erste. Wilhelm’s Commissar, Johannes Hassenpflug, trieb die Dinge zum Bruch. Die Stände wurden, ohne daß das Verfassungswerk zu stande gekommen war, nach Hause geschickt. Zwei Officiere, [74] die eine Besserung der pecuniären Lage ihrer Kameraden zu vermitteln gesucht hatten, wurden augenblicklich cassirt und auf den Spangenberg geschickt. Nur als das gesammte Officiercorps infolgedessen den Abschied zu nehmen gesonnen war, hielt W. es für gerathen einzulenken und die Verurtheilten zu begnadigen. Aehnlich wie im Heere entfremdeten sich ihm überall im Lande die Herzen, so auch bei den Bauern. Die Bauern an der Diemel erklärten: „Wir hätten gar nicht gesprochen, wenn’s zu tragen wäre, aber es ist zu arg und es thut uns leid, daß unser guter Landesfürst bei den Leuten im Lande an Liebe verliert, weil er bösen Rathgebern das Haus nicht verbietet. Darum bitten wir unsere Deputirten, daß sie frei die Wahrheit sagen und nicht hinter dem Berge halten.“ Das neu erworbene Großherzogthum Fulda erfuhr auch bald die Wohlthaten des neuen Regiments, indem W. auch dort die Gehälter der Beamten herabsetzte. Die Karlsbader Beschlüsse (1819) waren ganz nach seinem Herzen. Für den Fall, daß jemand sich in seinen „Staaten“ an der burschenschaftlichen Bewegung betheiligen sollte, erklärte er ihn des Namens eines Hessen für unwürdig. In der Frage des Zollvereins nahm er aus Souveränetätsdünkel eine durchaus oppositionelle Haltung gegen Preußen ein und lähmte dadurch nicht nur das Werk der nationalen Einigung, sondern fügte hierdurch dem eigenen Lande den größten Schaden zu. Eine der wenigen anerkennenswerthen Maßregeln war die Grundlegung zu einem brauchbaren Strafgesetzbuch für Hessen (1817). Auffällig war die Begünstigung, die er dem Freimaurerorden angedeihen ließ. Der Großmachtskitzel lebte in dem alten „Siebenschläfer“, wie man ihn allgemein nannte, ungeschwächt fort. Am 3. Mai 1815 nahm er den Titel königliche Hoheit an. Er träumte davon, sich zu einem „Könige der Katten“ zu machen. Am 27. Juni 1820 ließ er den Grund zu der im Stile eines mächtigen Kaiserschlosses geplanten Kattenburg legen, die niemals vollendet werden sollte. Denn am 27. Februar 1821 überraschte den 77jährigen Mann der Tod und sein Nachfolger war vernünftig genug, den excentrischen Bauplan Wilhelm’s nicht auszuführen. Auf der Löwenburg, einem andern abenteuerlichen Bauwerke des Kurfürsten, wurde er feierlich beigesetzt.

Das Bild des ersten hessischen Kurfürsten ist überaus unerfreulich. Einige gute Eigenschaften werden von den abstoßenden Zügen seines Wesens in den Schatten gestellt. Anfänglich sich zeigende Gaben sind in den entscheidenden Jahren in nichts zerflogen. Schlimmer hat wol selten ein Fürst mit dem Capital an Ansehen und Liebe gewirthschaftet, das seine Vorfahren seinem Hause in Jahrhunderten gesammelt hatten, als W. Es zeigte sich an ihm wieder, daß die von außen herangebrachte Erziehung, und mag sie noch so trefflich sein, wenig gegenüber den Naturanlagen vermag. Zugleich aber hat sich auch an W. die alte Wahrheit bestätigt, daß die Schrankenlosigkeit des absoluten Herrschers diesem selbst nur zu leicht verderblich wird. Fast alle die üblen Eigenschaften, die deutschen Fürsten in der Geschichte zur Unehre gereicht haben, finden sich in diesem hessischen Tyrannen vereinigt.

Erich Meyer, Zur Jugendgeschichte Wilhelm’s I., Kurfürsten von Hessen, in der Zeitschrift für hess. Geschichte und Landeskunde. N. F. 18. – Erich Meyer, Maria, Landgräfin von Hessen. Gotha 1894. – Chr. Rommel, Kurfürst Wilhelm I. von Hessen. Cassel 1822. – Chr. Rommel, Erinnerungen aus meinem Leben und aus meiner Zeit in Bülau’s geheimen Geschichten und räthselhaften Menschen, Bd. 5., 2. Aufl. Leipzig 1863. – (F. Cramer,) Zeitgenossen. Neue Reihe X. Leipzig 1822. – F. Kapp, Der Soldatenhandel deutscher Fürsten nach Amerika. 2. Aufl. Berlin 1874. – (G. W. Beck) Ueber Wilhelm IX., Landgrafen zu Hessen, und dessen sechs erste Regierungsjahre. 1792. – Ranke, Die deutschen Mächte und der Fürstenbund. – Ranke, Hardenberg’s Denkwürdigkeiten. – R. v. Ditfurth, Die Hessen [75] in den Feldzügen von 1793, 1794 und 1795. Cassel 1839. – M. v. Ditfurth, Die Hessen in den Feldzügen in der Champagne, am Maine und Rheine 1792, 1793 und 1794. – R. Waitz v. Eschen, Die Verhandlungen, welche der Errichtung der hessischen Kurwürde vorausgingen. Kassel 1880. – Strippelmann, Beiträge zur Geschichte Hessen-Cassels 1791–1806. Marburg 1877. – Erdmannsdörffer u. Obser, Politische Korrespondenz Karl Friedrich’s von Baden 1783–1806. Bd. 1–4. Heidelberg 1888–1896. – P. Bailleu, Preußen und Frankreich von 1795–1807. I u. II. Leipzig 1881, 1887. – P. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807 u. 1808. Leipzig 1881. – G. H. Pertz, Leben Stein’s. I–V. – Goecke-Ilgen, Königreich Westfalen. Düsseldorf 1888. – Varges, Der Marburger Aufstand von 1809 in der Tägl. Rundschau, Unterhaltungsbeilage 1889, 3. u. 5. November. – Treitschke, Deutsche Geschichte, I u. III. – Wippermann, Kurhessen seit dem Freiheitskriege. Cassel 1850. – C. v. Stamford, Geschichte von Hessen. Cassel 1886. – H. Brunner, General Lagrange als Gouverneur von Hessen-Kassel. Kassel 1897. – A. Stern, Gesch. Europa’s s. d. Vertr. v. 1815. 1. Bd. Berlin 1894. – A. D. Biographie Bd. 42 S. 159 f.
Eine die Persönlichkeit dieses kleindeutschen Sultans völlig erläuternde und erschöpfend behandelnde Arbeit fehlt noch durchaus. Abgesehen von dem unerquicklichen persönlichen Material würde sie doch auch schätzenswerthe Beiträge zur Beurtheilung kleinstaatlicher Politik liefern können. Die Verwaltungspolitik des Kurfürsten ist noch gar nicht erforscht und sie ist sicherlich ein Hauptschlüssel zum Verständniß seiner anfänglichen Beliebtheit in Hessen.