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ADB:Vesalius, Andreas

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Artikel „Vesalius, Andreas“ von Moritz Roth in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 639–648, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vesalius,_Andreas&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 06:49 Uhr UTC)
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Vesalius: Andreas V. Bruxellensis, der Begründer der menschlichen Anatomie wurde geboren zu Brüssel im J. 1514 oder 1515. Die Familie Vesal’s hieß ursprünglich Witing und war zu Wesel im Cleveschen ansässig gewesen; später siedelte sie nach Nymwegen über und nannte sich mit Bezug auf ihre Heimath Wesalius. Generationen hindurch war Medicin und Mathematik in der Familie geschätzt und gepflegt. Vesal’s Vater, Andreas, versah das Amt eines Leibapothekers bei Kaiser Karl V. In Andreas dem Sohne erwachte frühe das Interesse für Anatomie. V. erinnert sich aus der Zeit, wo er mit Hülfe von Rindsblasen schwimmen lernte oder die Blase etwa unter Absingen von Zauberliedchen zu allerlei Spiel vorbereitete, daß er mehrfach die fasrige Beschaffenheit dieses Organes wahrgenommen habe. Er empfing seine Schulbildung zu Löwen im Paedagogium Castri. Hier wurden zwar die alten Sprachen trefflich gelehrt, Naturwissenschaften aber in mittelalterlich scholastischer Weise vorgetragen. Schon damals war V. fest entschlossen Anatomie zu lernen. Als er die Anfänge der Dialektik trieb, das heißt im Alter von ungefähr vierzehn Jahren suchte er in den scholastischen Schriften eines Albertus Magnus und Michael Scotus Aufschluß. Und noch als Knabe entdeckte er den einzig richtigen Weg zur Anatomie, indem er mit eigener Hand zu zergliedern begann. Er zerlegte, wie Theodor Zwinger berichtet, Mäuse, Maulwürfe, Ratten, zuweilen auch Hunde und Katzen. Nicht die Schule, nicht die Mitschüler, von denen einige bedeutende Männer wurden, gaben ihm hiezu Anleitung oder auch nur Anregung; bei V. entschied die Wißbegierde, der überwältigende Drang nach Erforschung der Natur.

Der mangelhafte Betrieb der Naturwissenschaften auf dem Gymnasium zu Löwen steht keineswegs vereinzelt da, sondern entspricht dem Zustande der Naturwissenschaften und Medicin auf den damaligen Universitäten. Etwas von Anschauungsunterricht war auf den bedeutendern Universitäten allerdings vorhanden; den Studirenden der Medicin bot man beim Vortrag der Anatomie den Anblick der menschlichen Leiche. In dieser Hinsicht hatte Italien den entscheidenden Schritt getan. Von Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen war ein Gesetz erlassen worden (1240), das Aerzte und Chirurgen beider Sicilien zur Erlernung der Section menschlicher Leichen auf der Schule verpflichtete. Seit Anfang des 14. Jahrhunderts wurde in Bologna, bald auch in Padua, Montpellier, später in Paris, Wien und an anderen Orten, bei Gelegenheit der Schulanatomie oder öffentlichen Anatomie der menschliche Körper zergliedert. Freilich geschah die Zergliederung meist jährlich nur einmal, wurde in sehr kurzer Zeit und höchst unvollständig ausgeführt, war gebunden an das scholastische Lehrbuch des Mundinus; den Vortrag hielt der Medicus oder Physicus, der selbst nie ein Messer zur Hand nahm, während der Chirurgus oder Barbier unter Leitung des Physicus das Schneiden besorgte: Keiner von Beiden war seiner Aufgabe gewachsen. Die Zeit verging unter spitzfindigen Disputationen; ausgesprochenermaßen diente die Section nicht zur Darstellung der menschlichen Natur, sondern zur Bestätigung der Angaben Mundin’s. Der gänzlich verkehrten Unterrichtsmethode entsprachen die wissenschaftlichen Ergebnisse der Anatomen. Man kann dies aus den Schriften des berühmten Berengar von Carpi (1521, 1522), der mit Unrecht als Vorläufer Vesal’s oder gar als Reformator der Anatomie bezeichnet wird, mit voller Sicherheit nachweisen. Nicht nur schreibt er ein barbarisches Latein, sondern ist in der Hauptsache Compilator und Dialektiker; die Anatomie Galen’s [640] gilt ihm wie dem ganzen Mittelalter und allen Aerzten vor V. als unfehlbar; wenn er dennoch Angriffe auf Galen erhebt, so sind sie entweder bloßer Schein, oder wo er wirklich einmal von ihm abweicht, so hilft er sich mit irgend einem scholastischen Dogma aus der Schwierigkeit, z. B mit der Veränderlichkeit des Menschengeschlechts, einem Satze, der an sich genügte, um das Interesse für Anatomie in der Wurzel zu vernichten. Mit Berengar’s Texte stimmen seine naturwidrigen Abbildungen zusammen; Text und Bilder sind ungenau, lückenhaft, widersprechend. Berengar’s Versuch musste scheitern, da sein anatomisches Arbeiten mangelhaft war. Keine seiner Beobachtungen verdient diesen Namen, keine ist vollständig und bringt den Gegenstand zur Klarheit. Berengar wußte Nichts gründlich; aus Vorurtheil und Aberglauben ist er nicht herausgekommen. Vor V. hat Niemand, weder Berengar noch ein Anderer Anatomie wirklich studiert, Niemand aus einer reinlichen Beobachtung die Unzulänglichkeit der Galenischen Anatomie gefolgert. Keiner hat geahnt, noch viel weniger gewußt, daß Galen nicht menschliche Anatomie trieb. So gab es auch vor V. keinen Fortschritt; Wissenschaft und Unterricht waren unfruchtbar, todt.

V. wollte Arzt werden und reiste zu diesem Zwecke um das Jahr 1533 nach Paris, wo dank der Einwirkung des Humanismus der medicinische Unterricht nicht mehr nach arabischen und barbarischen Autoren, sondern nach den Schriften der classischen Aerzte, vor allem nach Hippokrates und Galenus ertheilt wurde. Der berühmteste Vertreter der modernen Richtung war Jakob Sylvius, zu dessen Füßen die Jugend aus ganz Europa saß. Neben ihm lehrte Johann Guinterius. Beiden Männern schloß sich V. auf das engste an. Jakob Sylvius, ein trefflicher Lateiner und Grieche, war geschätzt wegen seiner methodischen Darstellung, die sich in zwei- oder dreijährigen Cursen über die gesammte Medicin erstreckte und weil er in den Vorlesungen anatomische Präparate und officinelle Pflanzen vorzeigte. Daneben blieb er aber doch in mittelalterlicher Verworrenheit befangen. Er erklärte ausdrücklich Galen’s Anatomie für unfehlbar, dessen Werk De usu partium für göttlich, einen Fortschritt des Wissens über Galen hinaus für unmöglich. Und was es mit Sylvius’ Anatomie und Demonstrationen auf sich hatte, darüber ertheilte späterhin V. Winke. Niemals machte Sylvius, sagt V. im J. 1546, auf Widersprüche oder Unrichtigkeiten Galen’s aufmerksam, doch brachte er zuweilen Organe eines Hundes in die Vorlesung mit. Hiebei bewiesen wir Schüler solchen Eifer, daß ihn der Lehrer mehr als einmal nach der Vorlesung zu fühlen bekam. So zeigten wir ihm beispielsweise einst die Klappen der Lungenarterie und der Aorta, die er Tags zuvor nicht hatte finden können. Des andern Lehrers, Jo. Guinterius’ Anatomie beleuchtet Vesal’s Scherz, daß er ihn nie mit dem Messer habe umgehen sehen als bei Tische. Dies die Coryphäen der Pariser Facultät. Man nehme dazu den jammervollen Zustand, in welchem sich die öffentliche Zergliederung zu Paris befand. Sie dauerte nach Vesal’s Zeugniß nicht volle drei Tage und bot dem Zuschauer nichts außer einigen von Barbieren oberflächlich gezeigten Eingeweiden und den schändlich mißhandelten Bauchmuskeln. Keinen andern Muskel, keinen einzigen Knochen, noch viel weniger die Nerven, Venen, Arterien bekam V. bei solcher Gelegenheit zu Gesichte.

So war V. zur Erlernung der Anatomie ganz auf sich selbst beschränkt. Durchdrungen von deren Nothwendigkeit für die Medicin, begeistert durch das Vorbild der Ahnen und all der Männer, die an der Herstellung der classischen Medicin arbeiteten, faßt er den Entschluß, sich der Anatomie anzunehmen. Er gelobt sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Kräften und Mitteln der erstorbenen Anatomie aufzuhelfen. Er will sie von den Todten erwecken und sie besser machen als sie jemals bei den Alten war oder doch soweit fördern, daß [641] man dereinst seine Zergliederungskunst ohne Scheu der classischen an die Seite stellen und sagen dürfte: Nichts sei so verfallen gewesen und mit Einem Male so vollendet aufgebaut worden als Anatomie. Aber niemals hätte ich meine Absicht verwirklichen können, schreibt er, wenn ich zu Paris nicht selbst Hand ans Werk gelegt hätte. Er schritt weiter auf dem schon zu Löwen betretenen Weg, zergliederte zahlreiche Hunde und studirte vom menschlichen Körper was er reichlich haben konnte, die Knochen. Stundenlang verweilte er auf dem Friedhofe S. Innocents, wo Haufen von Gebeinen lagen und besuchte zu demselben Zwecke den Richtplatz von Montfaucon. Es fiel ihm bereits in Paris auf, daß er, entgegen Galen’s Angabe, keinen einzigen Unterkiefer in zwei Hälften getheilt fand. Schon die dritte Anatomie, bei welcher er anwesend war, mußte er auf Wunsch der Commilitonen und Lehrer ausführen. Und als er die Anatomie das zweite Mal vollzog, blieben die Barbiere bei Seite; V. legte genauer als bisher die Eingeweide dar und zeigte sogar die Muskeln des Armes. Bereits damals focht er auf Grund einer Thatsache (wegen des Verhaltens der Vena azygos) die Galenische Anatomie an. Er entdeckte ferner den Ursprung der Arteria spermaticae und war an den von Jo. Guinterius 1536 herausgegebenen Institutiones Anatomicae so stark beteiligt, daß man annehmen darf, alles in diesem Büchlein Brauchbare sei sein Werk. Unter dem Namen Guinterius beschließt V. die dreihundertjährige Vorgeschichte der menschlichen Anatomie und überschreitet sie, indem er auf Grund von Beobachtungen an der Gelenischen Unfehlbarkeit rüttelt.

Seinem Studium in Paris setze im J. 1536 der dritte französisch-deutsche Krieg Karl’s V. ein Ende. Er kehrte nach Löwen zurück, holte dort mit Hülfe eines Freundes, des nachmaligen Mathematikers Reinerus Gemma Frisius ein menschliches Beingerüst vom Galgen und setzte es zusammen; er hielt auch eine Zergliederung ab, indem er zugleich secirte und interpretirte, begann somit schon als Student mit der Reform des anatomischen Unterrichtes. Um dieselbe Zeit führte er das neunte Buch des Almansor von Rhazes, einen beliebten und viel commentirten Abriß der speciellen Pathologie und Therapie aus barbarischer Version in lesbare Form über; die verderbten und dunklen Arzneinamen suchte er so gut als möglich durch die ursprünglichen Kunstausdrücke zu ersetzen. Text, kurze Rand- und Zwischenbemerkungen zeigen, wie genau V. in classischer Litteratur und Materia medica Bescheid weiß. Das kleine Werk erschien 1537 („Paraprasis in nonum librum Rhazae … de singularum corporis partium affectuum curatione, autore Andrea Wesalio Bruxellensi Medicinae candidato“, Lovanii 1537).

Im gleichen Jahr wandte sich V. nach Venedig, besuchte daselbst mit Lehrern und Aerzten Kranke und machte Beobachtungen über den Erfolg eines neuen Heilmittels, der Chynawurzel. Dem Vorurtheile der Zeit zum Trotz übte er niedere Chirurgie mit eigener Hand aus, setzte Blutegel, ließ zur Ader. Dann siedelte er nach Padua über und begann daselbst am 6. December 1537, nachdem Tags zuvor der Schlußact seiner Doctorprüfung stattgefunden hatte, als Professor der Chirurgie mit der Verrichtung einer Schulanatomie.

Als Professor in Padua hob er sofort den anatomischen Unterricht, er erklärte, demonstrirte, zergliederte in eigener Person. Mit nie dagewesenem Eifer suchte er genügendes und passendes Leichenmaterial zu gewinnen; seinen Zuhörern legte er jeweilen an einer oder an zwei Leichen die Anatomie möglichst vollständig und wahrheitsgetreu dar. Mundin’s Buch war verbannt, an seiner Statt wurde Galenus de ossibus vorgelesen oder zusammengefaßt, den unvermeidlichen Disputationen verlieh V. eine feste anatomische Grundlage. (Zwei [642] Mal, wahrscheinlich in den Jahren 1539 und 1540 wurde er von Padua nach Bologna berufen um die öffentliche Zergliederung vorzunehmen.) Für seine Schüler errichtete er ein menschliches Skelett, lieferte er eine vermehrte und berichtigte Ausgabe von Guinterius’ Institutionen („Institutionum anatomicarum … Libri quatuor per Jo. Guinterium … Ab Andrea Wesalio Bruxellensi auctiores et emendatiores redditi“, Venetiis 1538) und gab die Tabulae anatomicae heraus (Venetiis 1538), Vorläufer der Tafeln vom Jahre 1543: drei Blätter derselben, Ansichten des neu erbauten Skeletts hat Jo. Stephan von Kalkar, ein Schüler Tizian’s, gezeichnet, drei weitere mit Darstellungen von Eingeweiden und Gefäßen rühren von V. selbst her. Der kleine Atlas enthält viele Irrthümer der alten Anatomie: die Leber besitzt fünf Lappen, der Uterus Blasenform und weitabstehende Hörner, das Steißbein ist schwanzartig verlängert. Aber manche Einzelheiten weichen von Galen ab; zum ersten Male finden wir hier das Gefäßsystem vollständig dargestellt; nicht das traditionelle, durch Weichtheile verunstaltete, sondern das gereinigte Knochengerüst ist wiedergegeben; den Gelenken wird eine bisher nicht dagewesene Sorgfalt gewidmet. Tabulae anatomicae und Institutiones anatomicae sind wichtige Jugendarbeiten. Sie zeigen den rasch fortschreitenden, von Galen sich mehr und mehr ablösenden Forscher.

Bald nachher veröffentlichte V. eine Abhandlung vom Aderlaß („Epistola, docens venam axillarem dextri cubiti in dolore laterali secandam,“ Basileae 1539). Sie ist für Aerzte bestimmt, will die Wichtigkeit der Anatomie für die Medicin darthun und das Ansehen Galen’s bei den Aerzten erschüttern. Bei der Würdigung der Schrift ist im Auge zu behalten, daß der Blutkreislauf noch unbekannt und der Aderlaßstreit ein Handel um Autoritäten war. Absolut genommen ist Vesal’s Schrift wie die gesammte einschlägige Litteratur werthlos und veraltet, doch gibt er hier zum ersten Mal eine ziemlich getreue Beschreibung der Vena aygos und legt mit der Abhandlung eine bemerkenswerte Probe stilistischer Gewandtheit ab.

Schon im J. 1538 trug sich V. mit dem Gedanken einer völligen Erneuerung der Anatomie; am 1. Januar 1539 war der Weg zur Gewinnung der Figuren festgestellt und zwei Tafeln lagen vollendet vor. Wenn man bedenkt, wie spärlich er mit Leichen versehen war, erwägt, daß er in Padua von 1537–1542, d. h. bis zur Beendigung des großen anatomischen Werkes im ganzen sechs weibliche Körper untersucht hat, daß er die Leichen zuweilen wochenlang im Schlafzimmer beherbergte, so ist es in hohem Maaße interessant zu verfolgen, wie er das Gebotene auszunutzen, zu ergänzen, wie er das Verschiedenste seinem Zweck dienstbar zu machen wußte. Bei den schauerlichsten Hinrichtungen (Viertheilungen) drängt er sich dicht heran in der Hoffnung, über das Verhalten der Herzbeutelflüssigkeit Gewißheit zu bekommen. Manches beobachtet er am lebenden Menschen, an sich selbst, an Zuhörern, Freunden. Mit großer Mühe verschafft er sich Zutritt bei Gebärenden, V. ist der erste, welcher den Geburtsact wissenschaftlich betrachtet hat. Er übt Anatomie am lebenden und todten Thier, sieht den Handwerkern zu und verwendet seine Einsicht für anatomische Arbeit und Wissenschaft. Vom Schlächter urtheilt er, der Arzt könnte hier mehr lernen, als bei dem herkömmlichen Treiben der öffentlichen Zergliederung. Seine einfache, dauerhafte und schöne Heftung des Skelettes hatte er den Schüsselflickern abgelernt. Er zieht alle Gebiete des Lebens und die Anatomie selbst herbei um sein Fach damit zu erläutern. Den großen Rückgratschultermuskel stellt er mit den Kapuzen der Franciscaner, Jakobiten und Benedictiner zusammen, den Plexus brachialis mit den Schnüren des Cardinalshutes, die linksseitigen venösen Herzklappen mit einer Bischofsmütze, vergleicht die Form des Zwerchfells einem [643] Rochen mit halbirt gedachtem Schwanze, die seitlichen Anhänge des Uterus mit den Flügeln einer Fledermaus, die Fortsätze der Aderhaut mit den Wimpern des Augenlides. Vesal’s Gleichnisse sind derart treffend, daß sie zu gutem Theil in der heutigen Terminologie fortleben. V. nahm sein in Paris gethanes Gelübde ernsthaft; mit allen verfügbaren Mitteln, mit Hand und Kopf, mit Leib und Seele bemächtigte er sich der Anatomie. So wuchs sein dürftiges Material ins Unbegrenzte, gewann seine Darstellung ihre unnachahmliche Frische und Plastik.

Wird sich V. zur Freiheit durcharbeiten? Von Anfang an, sobald er mit menschlicher Anatomie beschäftigt erscheint, hält er muthig Thatsachen aufrecht, welche in der unfehlbaren Anatomie Galen’s fehlen oder fehlerhaft dargestellt sind. In Italien mehrten sich die neuen von Galen abweichenden Beobachtungen und bestärken ihn in seiner Haltung. Indeß war Galen damit noch lange nicht beseitigt. Mit einer für uns unbegreiflichen Wucht drückte Autoritätsglaube auf die Aerzte, auf alle Wissenschaft. V. selbst war von aufrichtiger Hochachtung für Galen erfüllt; hatte er doch bei seinen anatomischen Studien keinen bessern, keinen andern Berather als die Schriften Galen’s. Und Galen bietet nicht nicht bloß nackte Anatomie, sondern manche methodologischen Andeutungen, die V. sich zu Nutze machte. Allein V. überragt seinen Vorgänger unendlich an Eifer, Fleiß, an genauem und umfassendem Studium; er verfügt zudem über Dinge, welche Galen gänzlich unbekannt sind: V. zeichnet oder läßt zeichnen und schreibt während der Zergliederung das bemerkenswerthe auf, gleich in die Werke Galen’s hinein. Indem er abwechselnd mit Messer, Stift und Feder arbeitet und den Autor an der Leiche prüft, sichert er die Beobachtung, über er die Beschreibung, gelangt er zu Wissen und Kritik. Etwas ähnliches, wie die Forschung Vesal’s findet sich im ganzen Alterthum nicht; weder Galen noch Aristoteles, sondern V. ist der Begründer der anatomischen Methode. Besonders eine Art seiner Forschung zeigte sich erfolgreich, indem sie eine Reihe von Widersprüchen zwischen eigenen Wahrnehmungen und Angaben Galen’s löste, die vergleichend anatomische Untersuchung. V. pflegte, wenn er das von Galen Beschriebene beim Menschen nicht fand oder anders fand, die Sache an Thieren zu prüfen, meistens an Hunden, weil solche immer zu haben waren. Beim Hunde trafen häufig die Galenischen Angaben zu, aber V. gewann doch einen Fingerzeig, was Galen hatte sagen wollen. Dazu kam seine Betheiligung an der lateinischen Gesammtausgabe des Galenus, welche 1541 in Venedig, 1542 in Basel erschien (Galeni omnia opera …, Venetiis 1541; Operum Galeni Tomus primus …, Basileae 1542). V. hat darin die zwei Schriften über Zergliederung der Gefäße und Nerven und das große Fragment de anatomicis administrationibus übernommen.

Die neubelebte Zergliederung, der fleißige Vortrag und die Wiederherstellung der Bücher Galen’s brachte V. nach eigenem Zeugnisse zur vollen Klarheit. Im J. 1540 weiß V., daß Galen niemals eine menschliche Leiche secirt hat, vielmehr im wesentlichen die Anatomie des Affen lehrt. Nur durch angestrengteste Arbeit, reiches anatomisches Wissen und sorgfältige Lectüre Galen’s hat diese scheinbar auf der Hand liegende Wahrheit ermittelt werden können.

Es versteht sich von selbst, daß nach der Durchschauung Galen’s die öffentliche Anatomie Vesal’s einen wesentlich anderen Charakter annahm. Bisher hatte er sich der Galenischen Lehre gefügt. Noch bei der Anatomie von 1539 hatte er nicht gewagt an Galen’s Osteologie etwas zu tadeln. Nun mußte überall die Wahrheit herausgesagt, die Tradition widerlegt werden. Selbstüberwindung, Muth und Zurückhaltung gehörten dazu, um die eigene Sache gegen Galen zu [644] führen. V. ermahnt jeden, keinem Buche, auch nicht dem ältesten, zu glauben, was die Zergliederung nicht einmal und mehrmals erwiesen habe; er bittet alle Erregung bei Seite zu lassen und mit ruhigem Blute das Präparat zu prüfen; im Laufe der öffentlichen Anatomie macht er auf weit mehr als zweihundert Irrthümer Galen’s aufmerksam. Allem nach haben die zwei letzten Anatomieen in Padua einen sehr stürmischen Verlauf genommen. Der Unterricht gewann dabei seine wahre Gestalt: V. trug vor und vertheidigte eigenes Wissen. Er sprach frei, ohne Bücher, was ihn das Buch des menschlichen Körpers lehrte.

Im J. 1540 begann er mit dem Niederschreiben seines anatomischen Hauptwerkes und legte die letzte Hand daran am 1. August 1542; am 13. August beendigte er den kurzen Auszug, die Epitome. Beide Werke schickte er von Venedig aus sammt den Holzstöcken nach Basel an den Verleger Joh. Oporinus. Er hatte in Padua Urlaub genommen. Zu Anfang des Jahres 1543 befindet er sich in Basel, wo er den Druck überwacht, nebenbei die Zergliederung einer Leiche ausführt. Noch heute existiren in Basel die (erweislich echten) Ueberreste des von V. aus jener Leiche gewonnenen und errichteten Skelettes; es ist das älteste historisch beglaubigte Anatomiepräparat der Welt. Seine beiden Werke, die Fabrica und die Epitome erschienen im Juni desselben Jahres („De Humani Corporis Fabrica Libri Septem“ und „Suorum de Hum. Corporis Fabrica Librorum Epitome“, Basil. 1543).

Ueber die Fabrica, das für menschliche Anatomie bahnbrechend gewordene Werk und über die Epitome müssen hier wenige Andeutungen genügen. Erfüllt von dem wunderbaren Bau des menschlichen Körpers und überzeugt von der Nothwendigkeit der Anatomie für den Arzt, den Naturforscher, den denkenden Menschen beabsichtigt V. mit der Darstellung seiner dunklen und schwierigen Wissenschaft ein gemeinnütziges Werk zu verrichten. In der Fabrica, einem Foliobande von ungefähr siebenhundert Seiten, bestrebt er sich die Anatomie, oder, wie er sich mehrfach ausdrückt, die Geschichte des menschlichen Körpers wahr und vollständig wiederzugeben. Das Buch enthält die ausführliche Beschreibung, die Kritik der Litteratur, mehr als dreihundert Abbildungen und die anatomische Technik. Während die Fabrica für Fachleute bestimmt ist, will V. mit der Epitome dem Anfänger einen vorläufigen Begriff der Anatomie beibringen. (für das Bedürfniß des Laien wurde mit einer deutschen Ausgabe der Epitome gesorgt: „Von des menschen Cörpers Anatomey … durch D. Albanum Torinum verdolmetscht“, Basel 1543). Hier liefert V. einen kurzen rein dogmatischen Text, in der Anordnung bindet er sich nicht wie in der Fabrica an den Gang der Section, sondern befolgt eine freie anatomisch-physiologische Systematik. Auch dieser Schrift sind zahlreiche Figuren beigegeben. Das wissenschaftliche Werk, die Fabrica, ist eine staunenswerthe Leistung um so mehr, als V. sie im Alter von nicht 28 Jahren vollendete, ausgezeichnet durch klare erschöpfende Beschreibung, durch objective Kritik der Litteratur, vor allem Galen’s. Hier wird zum ersten Male scharf zwischen dem Bau des Menschen und der Thiere unterschieden und der Anfang gemacht mit vergleichender Anatomie. Auch für Physiologie ist darin Vieles geschehen. Unschätzbar ist die Fabrica als Vorbild wissenschaftlicher Methode. An ihr konnten die oberflächlichen Zeitgenossen, konnte die Nachwelt lernen, wie man es angreifen muß, um etwas tüchtiges zu leisten. Ueber die künstlerische Bedeutung der zwei anatomischen Bildwerke nur so viel, daß die blattgroßen Muskel- und Knochenmänner innige Beziehungen zu einander erkennen lassen, aus dem Bilde des nackten Mannes der Epitome mit Hülfe des Contrastes und einiger neuer Motive entwickelt sind und eine doppelte Symbolik des Todes darstellen: der Epitomecyklus trauert über die Vergänglichkeit des Domicilium animae, des Mikrokosmus, der Fabricacyclus [645] baut auf die Ewigkeit des Geistes. Die Behauptung, daß die Figuren von Tizian herrühren, läßt sich nicht beweisen; dagegen liegt kein Grund vor, an der Mitarbeit des schon erwähnten Joh. Stephan von Kalkar zu zweifeln; die Idee und Entwicklung der Todessymbolik rührt unzweifelhaft von V. selbst her; er spricht darin sein Glaubensbekenntnis aus.

Von Basel kehrte V., nachdem er wie es scheint noch einen Besuch in den Niederlanden gemacht, gegen Ende des Jahres 1543 nach Padua zurück. Vesal’s zweiter, kurz dauernder Aufenthalt in Italien bildet das Nachspiel zur ersten fünfjährigen Periode und war der Vertheidigung und abermaligen Darlegung seiner Anatomie gewidmet. V. führte zunächst in Padua die öffentliche Zergliederung an zwei Leichen aus, wandte sich dann in den ersten Monaten des Jahres 1544 nach Pisa, wohin er einen Ruf erhalten hatte. Unterwegs in Bologna betheiligte er sich an einer eben im Gang befindlichen Schulanatomie, vollzog endlich in Pisa eine vollständige Anatomie. Einen durch den Herzog Cosimo von Medici ihm angebotenen Lehrstuhl der Medicin schlug er aus; er war bereits als Leibarzt an den Hof Kaiser Karl’s V. berufen. Die Zeit ungestörten Arbeitens und des Umganges mit hochstrebenden Männern hatte ihren Abschluß erreicht. Gegenüber der Fülle von Herrlichem das ihm in Italien zu theil geworden war, verschwanden vor Vesal’s Blick einzelne Aeußerungen feindseliger Gesinnung. Italien blieb die schönste Erinnerung seines Lebens; selbst die bittern Erfahrungen späterer Jahre vermochten nicht seine Dankbarkeit gegen dieses Land wankend zu machen. Italien galt ihm als die wahre Amme der Geister.

Eben traf er Anstalten Italien zu verlassen und an den Hof überzusiedeln, als ihm unerwartete schlimme Nachrichten zukamen. Gewisse Aerzte hatten beim Kaiser und andern hohen Herren über sein Werk und alle neue Wissenschaft ein vernichtendes Urtheil gefällt. Sie bezeichneten V. als unfähig zur ärztlichen Praxis, da er bloßer Chirurge, kein rechter Arzt sei und von Medicin nichts verstehe. Wenige Jahre zuvor waren die Tabulae anatomicae vom Kaiser und seiner Umgebung sehr günstig aufgenommen worden; hervorragende Aerzte hatten V. bis vor kurzem unterstützt und gefördert. Es müssen schreckliche Verleumdungen gewesen sein, die jetzt über ihn umgingen. V., körperlich nicht ganz gesund, warf in einer Anwandlung von Verzweifelung und den Abmahnungen der Freunde zum Trotz einen Theil seiner wissenschaftlichen Sammlungen ins Feuer, einen dicken Band Annotationen zur Galenischen Anatomie, das Handexemplar des Galen, die sorgfältige Paraphrase des ganzen Almansor, die Receptformeln.

Die Frage, warum V. die Laufbahn des Anatomen mit einer Stellung bei Hofe vertauschte, beantwortet sich dadurch, daß er von Anfang an Arzt werden wollte. Schon in der Paraphrase des IX. Buches des Rhazes (1537) betont er den Endzweck des medicinischen Studiums, das Heilen. Keinen Augenblick hatte er die praktischen Fächer außer Acht gelassen; alle seine Veröffentlichungen waren in der Absicht geschehen, die darniederliegende Medicin auf die eine oder andere Weise zu fördern. Die Fabrica, so sparsam sie Pathologisches einmischt, ist gleichwohl mit steter Rücksicht auf die praktischen Bedürfnisse geschrieben. Vesal’s Anatomie stellt das Glied eines größeren Ganzen dar; nachdem er sein Gelübde erfüllt, die Anatomie lebendig gemacht, wendet er sich der eigentlichen Aufgabe des Arztes, dem Heilen zu. Die Medicin erscheint ihm als hochheilige Kunst. Die Gründung der Anatomie betrachtet er als eine Vorarbeit, eine Jugendarbeit; der höhern Idee widmet er sein Mannesalter und sucht sie, aller Hindernisse ungeachtet, zu verwirklichen. Um sein Wissen und Können auf diesem Gebiete ganz zu übersehen, müßte man sein großes pathologisch-anatomisches Werk besitzen, woran er viele Jahre eifrig gesammelt hat, das aber verloren gegangen [646] ist. Nur so viel läßt sich aus den übrigen Schriften entnehmen, daß er von praktischer Medicin mehr wußte als irgend ein Zeitgenosse, vielleicht mehr als die meisten Aerzte des 18. Jahrhunderts.

Im dreißigsten Lebensjahre wurde V. kaiserl. Arzt; bald folgte er im Range unmittelbar auf den viel ältern ersten Leibarzt Cornelius Baersdorp. Als solcher hatte er die Verpflichtung Karl V. auf Reisen und im Kriege zu begleiten. Wir finden ihn im 4. französischen Kriege vor Saint-Dizier und Vitry (Juli 1544); damals pflegte er Verwundete und führte chirurgische Operationen aus. Im Kriege ließ er sich die Ausübung der Chirurgie nicht ganz untersagen. Als kaiserlichem Medicus nämlich war ihm bloß die Behandlung innerer Krankheiten gestattet. Es bildete einen Gegenstand seines Kummers, daß er sich wegen des allgemeinen Vorurtheils der Chirurgie, die er als das beste der Medicin schätzte, für gewöhnlich zu enthalten genöthigt war. Im J. 1546 begleitete V. den Kaiser auf der Reise zum Reichstag nach Regensburg, mußte aber unterwegs in Nymwegen zurückbleiben, um den schwer erkrankten venetianischen Gesandten Bernardo Ravagero zu pflegen. Erst nach Monaten konnte er seinem Kaiser nachfolgen und schrieb während des Reichstages eine Abhandlung, deren erster Theil über ein kürzlich aufgekommenes Heilmittel, die Chynawurzel handelt, während der zweite Theil eine gegen Jacob Sylvius und andre Neider gerichtete Zusammenfassung seiner Kritik Galen’s enthält („A Vesalii … Epistola, rationem modumque propinandi radicis Chynae decocti … pertractans: et praeter alia quaedam, epistolae cuiusdam ad Jacobum Sylvium sententiam recensens, veritatis ac potissimum humanae fabricae studiosis perutilem …“, Basileae 1546). Ende Februar 1547 weilt V. mit dem Kaiser in Ulm, unternimmt einen Abstecher nach Basel, kehrt von da nach Nürnberg zum Kaiser zurück, folgt ihm auf die Augsburger Reichstage von 1547/48 und 1550/51, begleitet ihn nach Innsbruck und (1552) auf der Flucht nach Villach.

1552 erschien der größere Theil der zweiten Ausgabe der Fabrica, während der kleinere Rest des Werkes erst 1555 an die Oeffentlichkeit gelangte („A. Vesalii … de Humani corporis fabrica libri septem“, Basil. 1555). V. wendet sich darin mehrmals gegen neue heftige Angriffe des Galenisch gesinnten Sylvius und gegen Leonhard Fuchs in Tübingen, einen der vielen Plünderer und Verstümmler seiner Anatomie. Am Texte gewahrt man unzählige bis auf die Interpunction sich erstreckende Aenderungen. Manche Wiederholungen sind gestrichen; da und dort wurde besser geordnet, Andres schärfer hervorgehoben und neu hinzugefügt. V. hat an Muth und Selbständigkeit gewonnen und bevorzugt noch mehr als früher Thatsachen vor Autoritäten und Hypothesen. Das ganze Werk erscheint sachlicher, gemessener, ernster, die jugendliche Frische der ersten Ausgabe hat es großenteils eingebüßt. Der prachtvolle zweite Druck der Fabrica stellt den classischen V. dar, mit welchem Zeitgenossen und Nachfolger fast ausschließlich rechnen. Die Ausgabe von 1543 gerieth darüber in fast völlige Vergessenheit.

V. stand um jene Zeit in höchstem Ansehen. Längst hatte er das Vertrauen seines kaiserl. Herrn gewonnen (‚so oft es dem Kaiser schlimmer geht‘, sagt ein Gewährsmann im J. 1547, ‚pflegt er sich an V. zu wenden‘); das Volk traute ihm übernatürliche Fähigkeiten zu. So soll er einem Grafen von Beuren fast genau die Todesstunde vorausgesagt haben (1548) und sei ‚dadurch by etlichen zu ungnaden und in bösen argwon komen‘. 1555 wurde er nach Augsburg zu dem Patricier Leonhard Welser berufen, der seit einem Ritte an sehr heftigen Schmerzen litt. Bei der Untersuchung entdeckte V. in der Gegend der Rückenwirbelsäule eine pulsirende Geschwulst, die er sogleich für ein Aneurysma der Aorta und für unheilbar erklärte. Zwei Jahre später bestätigten die Augsburger Aerzte durch die Section seine Diagnose. Er ist der Erste unter den Neuern gewesen, der eine [647] deutliche Vorstellung vom Bau des spontanen Aneurysma besaß und der Erste, der ein inneres Aneurysma am Lebenden erkannte. Jene Diagnose blieb weit über ein Jahrhundert einzig in ihrer Art. – Infolge seiner einflußreichen Stellung wurde bei ihm nicht nur ärztliche Hülfe, sondern Beistand und Vermittlung in sehr verschiedenen Angelegenheiten gesucht. So gelangte der Basler Buchdrucker Joh. Herwagen an den ‚zweiten Aesculap‘, damit er ihm zu einem Druckerprivilegium und einem Brudersohne zum Titel eines kaiserlichen Notars verhelfe.

Als Karl V. im J. 1556 die Regierung niederlegte um sich nach dem Kloster San Yuste zurückzuziehen, trat V. in den Dienst Philipp’s II., blieb zunächst noch in Brüssel, wo er sich ein Haus gebaut hatte, ging alsdann im J. 1559 mit seinem König nach Spanien. In Madrid war er Arzt des niederländischen Hofstaates. So wenig Gunst er bei den spanischen Aerzten genoß, so groß war sein Ruhm bei den Laien; nach glaubwürdiger Quelle ist durch seinen Rath der Infant Don Carlos von den gefährlichen Folgen einer Kopfverletzung befreit worden. Ein sehr merkwürdiges aus dem Jahre 1562 datirtes Consilium Vesal’s beweist, daß er auch in Spanien Chirurgie übte, mit eigener Hand die Brusthöhle bei traumatischem Empyem eröffnete. Während seines Aufenthaltes in Spanien, wo die Medicin noch ganz in mittelalterlichem Zustande verharrte, wo V. nicht einmal bequem einen Schädel erlangen konnte, erlebte er eine große unverhoffte Freude, das Erscheinen einer tüchtigen anatomischen Schrift des Paduanischen Professors Gabriel Falloppio (Gabr. Falloppii Medici Mutinensis Observationes Anatomicae, Venet. 1561). Alles was auf anatomischem Gebiete seit Vesal’s Auftreten geschehen war, besaß fast ausnahmslos compilatorischen Charakter, war von kritiklosen Anhängern der neuen Lehre und noch häufiger von offenen oder geheimen Gegnern derselben ausgegangen. Selbst Realdus Columbus, ein früherer Schüler Vesal’s, hatte sein in mancher Hinsicht tüchtiges Werk durch Eigenruhm, prahlerisches Wesen, durch Bosheit und Undank gegen V. verdorben. Falloppio’s Schrift ist die erste, welche mit Vesalischer Methode überaus fleißig und sorgfältig gearbeitet ist und eine Masse thatsächlichen Materiales zur Anatomie Vesal’s beibringt. Der Verfasser spricht von V. in Ausdrücken der höchsten Achtung, nennt ihn Fürsten der Anatomen, ein Naturwunder, den Göttlichen; er gesteht, nur mit Vesal’s Hülfe vorwärts gekommen zu sein. Freilich schwächt er seine Lobsprüche dadurch ab, daß er Berengar von Carpi als den unzweifelhaften Reformator der Anatomie bezeichnet, die alsdann V. vervollkommnet habe.

Begierig, alles Andere bei Seite setzend, durchlief V. Falloppio’s Buch, frohbewegt darüber, daß wahre Forschung Wurzel geschlagen und gerade in Padua, der Stätte seines früheren Wirkens, Wurzel geschlagen hatte. Er fühlt sich veranlaßt auf das Buch in Form eines freundschaftlichen Briefes zu antworten und will den Brief als Ergänzung oder Anhang zur Fabrica betrachtet wissen („A. Vesalii Anatomicarum Gabr. Falloppii Observationum Examen“, Venet. 1564). Die Schrift erschien durch zufällige Verspätung erst nach Falloppio’s Tod (auch V. sah den Druck nicht mehr). Es war ein gewagtes Unternehmen vom Studirzimmer aus Falloppio zu kritisiren. Unleugbar verging sich V. gegen die eigene Methode, die zur Prüfung der Autoren am menschlichen Körper verpflichtet. Indem er sich auf sein Wissen verließ, unterschätzte er gleichzeitig den Gegner. So mußte seine Kritik nothwendig irrthümlich werden. Kann er sich doch trotz vielen Worten nicht völlig zum Aufgeben des siebenten Augenmuskels entschließen. Er verwirft unbesehen die tiefen von Falloppio entdeckten Penisarterien, sogar die Klitoris und ihre Homologie mit dem Penis. Andrerseits mischt Falloppio Unrichtiges ein, und hier beharrt V. mit Recht auf seine frühern Erfahrungen. Auch bietet V. neue Beobachtungen, über foetale Verknöcherung, über das knöcherne [648] Gehörorgan, den foetalen Kreislauf. Nimmt man dazu die Unerschöpflichkeit seiner Gleichnisse, die Schärfe des Urtheils und die fließende Sprache, so erkennt man, daß V. im Grunde derselbe geblieben ist; man darf glauben, daß einzig der zweijährige Aufenthalt in Spanien, die zweijährige Enthaltung vom anatomischen Messer ihn straucheln ließ.

Im Frühling des Jahres 1564 befindet sich V. in Venedig und macht einen Besuch im Buchladen des Fancesco Sanese. Letztrer sagt aus, daß V. damals im Begriffe war, eine Reise nach Jerusalem zu unternehmen. Von jener Reise ist V. nicht zurückgekehrt. Die Meldung seines Todes gelangte gegen Ende des Jahres nach Brüssel. Pilger berichteten seiner Wittwe, daß er auf der Heimreise von Jerusalem in einer griechischen Stadt einem Katarrh erlegen sei. Alsbald entstanden weitläufige Erzählungen über Vesal’s Jerusalemfahrt und Ende, in denen Wahrheit und Dichtung auf unentwirrbare Weise verflochten ist. Keine darunter stammt von einem Augenzeugen. Niemand unter den Berichterstattern hat Vesal’s letzte Reise mitgemacht. Von den vielen Einzelheiten scheint am ehesten glaublich, daß sein Tod auf Zante erfolgt sei; alles Weitere ist zweifelhaft oder irrthümlich. Das Wichtigste, das Motiv der Jerusalemreise, ist und bleibt unaufgeklärt.

Der Nachweis, wie die Nachwelt an Vesal’s Anatomie zehrte, sich an ihr im 18. Jahrhundert aufrichtete, wie endlich mit Beginn des 19. Jahrhunderts entsprechend den Absichten Vesal’s der ärztliche Stand geeinigt und die Medicin auf anatomische Grundlage gestellt wurde, bietet für den Freund medicinischer Geschichte hohes Interesse, gehört aber nicht in den Rahmen einer kurzgefaßten Biographie.

Obige Mittheilungen sind entnommen der ausführlichen kritischen Untersuchung von M. Roth, Andreas Vesalius Bruxellensis. Mit dreißig Tafeln. Berlin 1892.