ADB:Sturm, Jakob (Straßburger Staatsmann)
[6] von Reichspfandschaften in Offenburg seitens Rudolf’s von Habsburg gründete. Der Beiname von Sturmeck, welchem wir zuerst 1388 (nicht 1395, wie Kindler v. Knobloch, Das goldene Buch von Straßburg, S. 366, schreibt) bei dem Rathsmitgliede Johannes Sturm begegnen, wurde nicht von allen Angehörigen der Familie geführt. Er ist augenscheinlich von der gleichlautenden, schon 1314 vorkommenden Bezeichnung für eine Stelle am alten Fischerthor in Straßburg abgeleitet, in dessen Nähe der erwähnte Johannes eine Mühle besaß (Straßb. Stadtarchiv), und sollte wol als Unterscheidungsmerkmal für einen bestimmten Zweig der Familie dienen. Jedenfalls finden sich das ganze 15. Jahrhundert hindurch Abkömmlinge des Geschlechts, die sich wie früher einfach Sturm nennen, und im 16. Jahrhundert verschwindet der Beiname fast ganz. Unser Jakob St. hat sich niemals selbst von Sturmeck genannt und auch von seinen Zeitgenossen ist ihm, soviel mir bekannt, der Beiname nur einmal, und zwar in den Freiburger Universitätsacten, beigelegt worden. Die Grabschrift enthält ihn bezeichnender Weise ebenso wenig wie die Schrift, welche Johannes St. dem Andenken des Verstorbenen widmete. Wenn es trotzdem in späteren Geschichtswerken und Biographieen allgemein üblich wurde, von Jakob Sturm von Sturmeck zu sprechen, so war an diesem Versehen wol der Umstand schuld, daß ein späterer, den gleichen Vornamen führender Sprößling des Geschlechts, der seiner Vaterstadt ebenfalls nicht unerhebliche Dienste leistete, sich seit 1620 ostentativ von Sturmeck schrieb, vielleicht auf Grund eines neuen kaiserlichen Adelsbriefs. Von da an bis zum Aussterben der Familie 1640 scheint der Beiname als ein wesentliches Merkmal des Adels gegolten zu haben, was früher nicht der Fall war.
Sturm: Jakob St., Straßburgs größter Staatsmann und einer der hervorragendsten Förderer und Leiter der deutschen Reformation, entstammte einem angesehenen Patriciergeschlecht, das sich seit Mitte des 13. Jahrhunderts in Straßburg nachweisen läßt und seine Adelsansprüche vornehmlich auf die VerleihungJakob St. wurde am 10. August 1489 in Straßburg geboren und wuchs unter sehr glücklichen Verhältnissen auf. Sein Vater Martin, welcher der Politik ziemlich fern stand, war ein großer Freund der eben damals in Straßburg sich lebhaft regenden humanistischen und moralisirenden Bestrebungen und verkehrte gerne mit den Hauptvertretern derselben, Geiler von Kaisersberg und Wimpfeling. Jakob’s Mutter Odilia war eine Enkelin (nicht Tochter!) des trefflichen, um Straßburg hochverdienten Ammeisters Peter Schott, der bis 1504 lebte, also bei der Erziehung seines Urenkels noch mitsprechen konnte. Entscheidend für die geistige und sittliche Entwicklung Jakob’s wurde aber der Umgang mit Wimpfeling, der frühzeitig eine herzliche Zuneigung für den aufgeweckten und fleißigen Knaben faßte. Sein Plan war, ihn für den geistlichen Stand zu gewinnen und zum Muster eines sittenstrengen, classisch geschulten Theologen heranzubilden, der gleich ihm selbst durch Lehre und Beispiel zur Hebung der Moral und zur Verbreitung humanistischer Bildung beitragen sollte. In diesem Sinne wußte es Wimpfeling durchzusetzen, daß der junge St. statt in eine nach alter scholastischer Methode unterrichtende Klosterschule an die Universität Heidelberg geschickt wurde, wo sich bereits ein etwas frischeres geistiges Leben zu regen begann. So finden wir denn den eben Zwölfjährigen seit dem Herbst 1501 an der pfälzischen Hochschule eifrig mit dem Studium der Logik und lateinischen Grammatik beschäftigt, ohne sich zunächst einer besonderen Fachwissenschaft zuzuwenden; doch muß er schon damals einige Neigung zur Jurisprudenz verrathen haben, denn Wimpfeling, der kurz zuvor von Heidelberg nach Straßburg übersiedelt war, sah sich veranlaßt, ihn in Briefen und Widmungen wiederholt auf die inneren Vorzüge der philosophischen und theologischen Studien gegenüber den juristischen hinzuweisen. Schon im Juni 1503 wurde St. Baccalaureus artium. Im folgenden Jahre kehrte er auf Wunsch des Vaters, der infolge des bairischen Erbfolgekriegs eine Belagerung Heidelbergs fürchtete, nach Straßburg zurück und sollte nun auf Rath einiger geistlicher [7] Verwandten die Kölner Hochschule besuchen. Indessen Wimpfeling widersprach und erreichte, daß sein Liebling an die Universität Freiburg geschickt wurde. Am 27. Juni 1504 daselbst immatriculirt, wurde er bereits im Januar 1505 zum Magister artium ernannt und begann alsbald selbst Vorlesungen über Ethik des Aristoteles etc. zu halten. Ein Jahr später ist er sogar schon unter den Examinatoren für Baccalaurei. Gleichzeitig ließ er sich jetzt in die theologische Facultät aufnehmen und im Mai 1507 hielt er vor derselben eine lateinische Predigt. Bald aber entsagte er den ihm von Wimpfeling so dringend ans Herz gelegten geistlichen Studien. Vermuthlich drängte sich ihm schon damals die Ueberzeugung auf, daß Wimpfeling’s und Geiler’s rastlose Bemühungen um Besserung und Vertiefung des religiösen Lebens im Rahmen des alten Kirchenwesens aussichtslose seien. Ueber die folgenden Entwicklungsjahre des Jünglings wissen wir leider sehr wenig. Es wird behauptet, er habe sich noch in Freiburg unter dem berühmten Ulrich Zasius mit Rechtswissenschaft abgegeben und diese Studien in Löwen und Paris fortgesetzt; allein weder für das eine noch für das andere haben wir zuverlässige Anhaltspunkte. Nur soviel steht fest, daß er im J. 1523 Licentiatus juris war (Brief im Stuttgarter Staatsarchiv).
Obwol es für ihn als Angehörigen einer der ersten Patricierfamilien nahe gelegen hätte, sich der Politik zu widmen und in den öffentlichen Dienst seiner Vaterstadt zu treten, so hat er mit diesem Entschluß doch lange gezögert, hauptsächlich wol aus Vorliebe für die schöngeistigen und wissenschaftlichen Bestrebungen des Humanismus. Wenn auch von litterarischen Erzeugnissen, ja selbst von wissenschaftlichen Correspondenzen Sturm’s sehr wenig bekannt ist, so ist doch sicher, daß er mit den Vorkämpfern der classischen Bildung, mit Männern wie Wimpfeling, Brant, Erasmus, Beatus Rhenanus u. a. in vertrautem Verkehr gestanden hat und von ihnen trotz seiner Jugend ganz besonders geschätzt worden ist. Als Geiler 1510 in Straßburg sein Leben beschloß, gehörte St. zu dem engeren Freundeskreise, der sich am Sterbebette des großen Sittenpredigers sammelte, und als Wimpfeling in demselben Jahre Schwierigkeiten hatte, seine Diatriba de proba puerorum institutione zum Druck zu bringen, weil sie einige scharfe polemische Stellen enthielt, wandte er sich an Brant und St. mit der Bitte, diese Stellen auszumerzen. Ferner wissen wir, daß St. zu den eifrigsten Mitgliedern der Sodalitas litterarum in Straßburg gehörte, welche sich die Förderung der humanistischen Ziele und die Pflege freundschaftlicher Beziehungen unter den Gelehrten angelegen sein ließ. Erasmus, der die Gesellschaft 1514 auf der Durchreise besucht hatte, bat in einem Briefe an Wimpfeling, vor allem dem „unvergleichlichen Jüngling“ Jakob St. seine Grüße auszurichten, dessen Sittenreinheit, Ernst, Gelehrsamkeit und Bescheidenheit er mit warmen Worten preist. Auch später, als beide Männer durch die Verschiedenheit der religiösen Anschauungen einander etwas entfremdet wurden, bewahrte Erasmus für St. eine außergewöhnliche Hochachtung. Auch Beatus Rhenanus rühmte ihn schon 1518 als „nobilium istius urbis literatissimus et literatorum nobilissimus“.
Daß St. das kühne Austreten Luther’s gegen die römische Kirche von Anfang an mit innerlicher Genugthuung und Sympathie beobachtet hat, ist nach seinem ganzen Entwicklungsgang und nach seiner späteren Haltung sehr wahrscheinlich. Unmittelbare Zeugnisse über seine Auffassung der ersten entscheidenden Schritte des Wittenberger Reformators liegen uns allerdings bis jetzt nicht vor. Möglich, daß ihn die eigenartige Vertrauensstellung, welche er damals im Dienste eines Kirchenfürsten bekleidete, davon abgehalten hat, sich gleich von vorne herein offen für Luther zu erklären. Er war nämlich seit 1517, vielleicht auch schon früher, Bibliothekar und Secretär des Pfalzgrafen Heinrich, Dompropstes [8] von Straßburg: eine gewiß nicht uninteressante Thatsache, die bisher von allen Biographen übersehen worden ist. Pfalzgraf Heinrich, ein jüngerer Bruder des Kurfürsten Ludwig von der Pfalz, war einer der eifrigsten und erfolgreichsten Pfründenjäger seiner Zeit. Er erlangte nach einander die Propstei Aachen, die Dompropstei in Straßburg, die fürstliche Propstei Ellwangen und schließlich die Bischofsstühle von Worms, Utrecht und Freising. In Straßburg zeigte er Sinn für die Wirksamkeit der Humanisten, von denen Wimpfeling zeitweise bei ihm wohnte, und lernte so auch den fast gleichalterigen St. kennen und schützen. Der junge Gelehrte trat in seinen Dienst und ließ sich bald nicht nur für wissenschaftliche, sondern auch für diplomatische Missionen verwenden. So erfährt man, daß St. 1517 auf mehrere Monate in Geschäften des Pfalzgrafen nach Aachen reiste (Erasmi opera III, 1619) und 1521 finden wir ihn bei einer Gesandtschaft Heinrich’s nach Ellwangen, um das dortige Capitel bei dem um den Besitz der reichen Propstei ausgebrochenen Streit seinem Herrn geneigt zu machen (Giesel in Württemb. Vierteljahrsh. VII, 173). Was er dabei von dem weltlichen Gebahren der geistlichen Herren und von den Zuständen in den Stiftern kennen lernte, konnte seine Ueberzeugung von der Nothwendigkeit durchgreifender kirchlicher Reformen nur bestärken; damit ging es Hand in Hand, daß sich das Verhältniß zu dem streng römisch gesinnten Pfalzgrafen allmählich lockerte. Indessen äußerte St. noch 1522 in einem Gutachten zur Verbesserung der Heidelberger Universität, daß ihm die Geschäfte seines Fürsten kaum Zeit für „bessere Studien“ ließen, und erst seit 1524 scheinen seine Beziehungen zu Heinrich völlig gelöst. Die Uebersiedelung des letzteren nach Ellwangen und später nach Worms gab vermuthlich den äußeren Anstoß zur Trennung.
Bis hierher hatte der Straßburger Magistrat gegenüber der mächtigen reformatorischen Bewegung, welche immer weitere Kreise der Bürgerschaft ergriff, eine vorsichtig zurückhaltende, beschwichtigende Stellung eingenommen. Nun gewannen aber die entschiedenen Anhänger des Evangeliums auch in den regierenden Körperschaften der Stadt die Oberhand und unter ihnen erlangte St., der 1524 zum Mitgliede des großen Raths gewählt wurde, durch seine geistige Ueberlegenheit, seine Rednergabe und sein diplomatisches Geschick bald einen bestimmenden Einfluß. Die Reformation wurde jetzt mit ruhiger Entschiedenheit in Angriff genommen und durchgeführt, wobei es der Magistrat namentlich vorzüglich verstand, die Wiedertäufer, Schwärmer und andere revolutionäre Secten niederzuhalten, ohne zu drakonischen Maßregeln, wie es anderwärts vielfach geschah, seine Zuflucht zu nehmen. Die verständnißvollste und thatkräftigste Unterstützung seiner Bestrebungen fand St. bei dem Theologen Martin Bucer; aber auch sonst stand ihm eine Reihe tüchtiger Berather und Mitarbeiter zur Seite. Den alternden Wimpfeling freilich erfüllte der Abfall seines Lieblingsschülers von der römischen Kirche mit tiefer Betrübniß. Und doch hatte St. in gewisser Weise recht, als er seinem Lehrer die denkwürdigen Worte zurief: „Bin ich ein Ketzer, so habt ihr mich dazu gemacht.“ Denn von Wimpfeling und seinen Gesinnungsgenossen hatte er in der That nicht bloß gelernt, die Hebung der geistigen und sittlichen Zustände als die vornehmste Aufgabe seiner Zeit zu betrachten, sondern er hatte zugleich aus ihrem erfolglosen Ringen nach diesem Ziele die Lehre gezogen, daß auf dem Boden des alten Kirchenwesens, den jene nie zu verlassen gewagt hatten, die erstrebte Besserung nicht zu erreichen sei, und deshalb warf er, dem Beispiele Luther’s folgend, das römische Joch entschlossen von sich ab.
Schon ein Jahr nach seinem Eintritt in den Rath wurde St. zum Mitglied des Fünfzehner-Collegiums gewählt, welches die Verfassung und Verwaltung der Stadt zu überwachen hatte; außerdem vertrat er 1525 als Abgeordneter [9] Straßburgs einen Theil der Reichsstädte im kaiserlichen Reichsregiment. In dieser Eigenschaft wurde ihm die schwierige Aufgabe zu theil, in Gemeinschaft mit einem Beisitzer des Kammergerichts die aufrührerischen Bauern im Neckarthal zur Ruhe zu verweisen. Während seine Bemühungen dort an der Ungunst der Verhältnisse scheiterten, gelang es ihm als Gesandten seiner Vaterstadt wenige Monate später zwischen den Aufständischen im Breisgau und dem Markgrafen von Baden einen Vergleich zustande zu bringen. Ueberhaupt irren wir wol nicht, wenn wir die weise Vermittlungspolitik, welche Straßburg während des ganzen Bauernkriegs einhielt, wesentlich auf seine Rechnung setzen. Der Zauber seiner Persönlichkeit und die Macht seiner Rede machten auch auf einem Städtetag zu Speier im September desselben Jahres einen solchen Eindruck, daß man ihn zu Erzherzog Ferdinand senden wollte, um denselben für die religiösen Reformen günstig zu stimmen; die Botschaft scheint jedoch nicht zur Ausführung gelangt zu sein. Bald nachher (1526) berief das Vertrauen seiner Mitbürger St. in das Dreizehner-Collegium. Damit war er verfassungsmäßig auf Lebenszeit zu einem der leitenden Staatsmänner bestimmt; denn in den Händen der Dreizehner oder Kriegsverordneten lag damals die ganze Vertretung und Vertheidigung der städtischen Interessen nach außen, wennschon in allen wichtigen Fragen dem Rath, manchmal auch der Schöffenversammlung, die letzte Entscheidung vorbehalten war. In der Regel war der Geschäftsgang so, daß die bedeutsameren politischen Schriftstücke nach den Beschlüssen der XIII vom Stadtschreiber, Syndikus oder einem andern Kanzleibeamten aufgesetzt und dann dem Rath unterbreitet wurden, der sie fast immer anstandslos guthieß. Seit Sturm’s Wahl zum Dreizehner kam es aber auch häufig vor, daß wichtige Urkunden, Instructionen etc. direct nach seinen eigenen Entwürfen oder Correcturen ausgefertigt wurden. Von 1527 an bekleidete St. auch öfter das Amt eines der vier Stettmeister, die jedes Jahr neu gewählt wurden; indessen ist hierauf weniger Gewicht zu legen, weil die Stettmeister als solche wesentlich nur zu repräsentiren hatten.
Die zahlreich vorhandenen politischen Berichte Sturm’s zeichnen sich durch Klarheit und Knappheit der Ausdrucksweise vortheilhaft aus. Doch würde man aus ihnen und den wenigen privaten Briefen, die von St. bekannt sind, kaum ein deutliches, treffendes Bild seiner Eigenart und seiner Verdienste gewinnen, weil er selten aus seiner amtlichen Zurückhaltung heraustritt und in übergroßer Bescheidenheit immer nur das Nothdürftigste von seiner persönlichen Mitwirkung an den Dingen berichtet. So sind denn für seine Beurtheilung die gelegentlichen Mittheilungen Dritter von besonderer Wichtigkeit. Oft erfahren wir aus ihnen, daß er in die bedeutendsten Angelegenheiten entscheidend eingegriffen hat, während seine eigenen Briefe nicht die leiseste Andeutung darüber enthalten. Gleich auf dem ersten Reichstage, den St. im Auftrage seiner Stadt besuchte, zu Speier 1526, erregte er durch den Muth und die Beredtsamkeit, mit denen er Namens des Städtecollegiums den Antrag der geistlichen Fürsten auf Execution des Wormser Edicts gegen die Evangelischen bekämpfte, großes Aufsehen. Die Folge war, daß man ihn in den engeren Ausschuß wählte. Als Mitglied desselben hat er dann jedenfalls nicht wenig zur Herbeiführung des den Protestanten günstigen Reichsabschieds beigetragen. Auch gedachten ihn die Stände neben seinem früheren Gönner, dem Pfalzgrafen Heinrich, und einigen Anderen zum Kaiser zu schicken; indessen zerschlug sich dieses Project. Ferner nahm sich St. schon hier des viel umstrittenen Stimmrechts der Reichsstädte mit solcher Wärme und Entschiedenheit an, daß die Städteboten ihn fortan auf Versammlungen mit Vorliebe zum Sprecher wählten. Für das Ansehen, welches er sich in der kurzen Zeit seiner politischen Thätigkeit erworben hatte, ist die Thatsache bezeichnend, [10] daß im J. 1526 – vermuthlich in Straßburg selbst – eine Denkmünze auf ihn geschlagen wurde, die auf der einen Seite seinen Namen und sein Bildniß, auf der andern den Wahlspruch: „Victrix fortunae patientia“ zeigt.
In Speier war es auch, wo St. die ersten persönlichen Beziehungen zu dem jungen Landgrafen Philipp von Hessen anknüpfte, aus denen sich allmählich ein wahres Freundschaftsverhältniß entwickelte. Aufrichtige Begeisterung für die evangelische Sache brachte die beiden in ihrem Temperament so verschiedenen Naturen zusammen und hielt sie lange Jahre bei einander, bis das Hervortreten fremdartiger und selbstsüchtiger Interessen auf Seiten des Fürsten eine Trübung des Verhältnisses herbeiführte. Dem Protestantismus erwuchs aus dieser Verbindung reicher Gewinn; denn oft genug hat die Besonnenheit und Ruhe Sturm’s den jugendlichen Ungestüm des Landgrafen gezügelt und übereilte Streiche verhütet. Wenn sich St. anfangs zu dem Plane Philipp’s, die großen evangelischen Städte des Oberlandes, Nürnberg, Augsburg, Ulm, Straßburg, Frankfurt zu einem Bündniß mit den gleichgesinnten Fürsten zu bewegen, etwas kühl verhielt, so hatte dies seinen Grund darin, daß ihn zu jener Zeit noch der Gedanke beherrschte, womöglich zuerst die Städte unter sich zum Schutz des Glaubens fester zu vereinigen. Je mehr ihm dann aber bei der Abneigung oder wenigstens Unentschlossenheit der Nürnberger, Augsburger und Frankfurter die Aussichtslosigkeit eines solchen Städtebundes klar wurde, desto mehr befreundete er sich mit den Vorschlägen Hessens. Als im J. 1528 durch die Pack’schen Händel die Spannung zwischen den religiösen Parteien aufs äußerste stieg, lud Philipp den Straßburger zu sich ein, um mit ihm über Maßnahmen zur Verwirklichung des Bundes zu berathen; allein die Lauheit der andern Städte und der Eidgenossen, mit denen man ebenfalls unterhandelte, ließ es auch jetzt zu keinem Abschluß kommen. Trotzdem hatte Straßburg die Kühnheit, im Februar 1529 einen weiteren, entscheidenden Schritt auf dem Gebiete der religiösen Reform zu thun, indem es die Messe abschaffte. Infolge dessen wurde der Straßburger Abgeordnete zum Reichsregiment, Daniel Mieg, von den Sitzungen dieser Körperschaft ausgeschlossen. Alle Einwände, welche St., unterstützt von sämmtlichen Reichsstädten, gegen diese Maßregelung auf dem Speierer Reichstage 1529 erhob, blieben fruchtlos. Auch sonst hatte der wackere Vertreter Straßburgs bei dieser Versammlung, welche die den Evangelischen so günstigen Beschlüsse von 1526 über den Haufen warf, einen schweren Stand. So vermochte er nicht zu verhüten, daß die Mehrzahl der Reichsstädte, darunter selbst Augsburg und Frankfurt, den die religiösen „Neuerungen“ verdammenden Reichsabschied annahmen, während nur 14 sich dem Protest der lutherischen Fürsten anschlossen. Obwol nun eine engere Verbindung sämmtlicher protestirender Stände unumgänglich geboten schien und auch von St. nachdrücklich betrieben wurde, drohte sie doch an der Engherzigkeit Sachsens zu scheitern, das sich nicht entschließen konnte, mit den „zwinglischen“ Städten gemeinsame Sache zu machen. Damit gewann der bis dahin rein theologische Hader über die Abendmahlslehre plötzlich eine höchst unheilvolle politische Bedeutung. St., der dies sofort erkannte, wurde von nun an einer der eifrigsten Vermittler zwischen den streitenden Parteien. Zweifellos war er seiner Ueberzeugung nach ebenso wie die Straßburger Prediger und die meisten seiner Mitbürger mehr der zwinglischen als der lutherischen Lehre zugethan; allein er vergaß nie, daß für die Ausbreitung der Reformation nichts hinderlicher war als Zwietracht im eigenen Lager, und war deshalb stets bemüht, kleinere dogmatische Meinungsverschiedenheiten auszugleichen und die großen evangelischen Grundgedanken, welche beiden Parteien gemein waren, möglichst hervorzukehren. Er stimmte darin ganz mit dem Landgrafen überein, den er bei Veranstaltung des Marburger Religionsgesprächs durch Bekämpfung der [11] auf schweizerischen Seite entgegenstehenden Bedenken und Schwierigkeiten lebhaft unterstützte. Der Mißerfolg des Gesprächs, welchem er selbst mit Bucer und Hedio beiwohnte, schreckte ihn von weiteren Unionsbestrebungen ebenso wenig ab wie die Schroffheit, mit welcher Sachsen im November 1529 zu Schmalkalden die Hand der „zwinglischen“ Oberländer zurückstieß. Die phantastischen Entwürfe Zwingli’s, der bekanntlich eine große europäische Coalition aller Gegner Karl’s V. bilden wollte, um die kaiserliche Uebermacht zu erdrücken, konnten wol den heißblütigen Landgrafen, nicht aber den ruhig überlegenden S. blenden und verführen. Abgesehen von der Schwierigkeit ihrer Verwirklichung widerstrebten sie ihm schon durch die ihnen zu Grunde liegende Anschauung, daß das Kaiserthum nicht weniger als das Papstthum der Todfeind jeder christlichen Reformation sei. Denn er hielt im Gegensatz zu Zwingli mit unwandelbarer Treue an dem Reichsgedanken wie überhaupt an den Einrichtungen und Traditionen des Reichs fest. So unterstützte er die Bemühungen Philipp’s und Zwingli’s nur insoweit, als er das sogen. „Burgrecht“ zwischen Hessen, Straßburg und den evangelischen Schweizern zustande bringen half, und behielt im übrigen trotz aller Ungunst der Verhältnisse das Project eines evangelischen Gesammtbundes unter Führung Sachsens fest im Auge. Bei Beginn des Augsburger Reichstags 1530 schienen die Aussichten dafür trostloser denn je. Von den Lutheranern verleugnet und preisgegeben, standen die Oberländer hier dem mächtigen Kaiser hülflos gegenüber. Dabei waren sie nicht einmal unter sich einig und nur Konstanz, Memmingen und Lindau schlossen sich dem von Bucer und Capito verfaßten und von St. den kaiserlichen Räthen überreichten Bekenntniß, der sog. Tetrapolitana, an. Wie überzeugend St. damals die Sache des Glaubens vertrat, zeigt die von Capito überlieferte Aeußerung eines angesehenen katholischen Fürsten: „Daemonium illum habere et daemonium ex eo loqui, adeo urgent eius verba“. Zum Glück schlugen die Bemühungen der Lutheraner, einen Sonderfrieden für sich vom Kaiser zu erlangen, fehl; nur diesem Umstand war es zuzuschreiben, daß Sachsen endlich auf Verhandlungen mit den Straßburgern einging. Immerhin brauchten St. und Bucer noch ihre ganze Gewandtheit und Beredtsamkeit, um das Mißtrauen der Lutherischen soweit zu beschwichtigen, daß Weihnachten 1530 in Schmalkalden die Grundlegung des protestantischen Bündnisses nach dem Muster des von St. und Philipp vorgelegten „Burgrechts“ stattfinden konnte. Trotzdem stand die Vereinigung zunächst noch auf sehr schwachen Füßen und drohte ganz auseinander zu fallen, als Sachsen die von den Oberländern geforderte Aufnahme der Schweizer aus religiösen Bedenken verweigerte. Niemand anders als St. verhütete in diesem kritischen Augenblick einen neuen Bruch.
Während er auf der einen Seite den hitzigen Landgrafen besänftigte, der die Verbindung mit den Schweizern unter Ausschluß Sachsens herstellen wollte, wußte er auf der andern durch eine äußerst geschickte Politik die Lossagung der Oberländer von Sachsen zu hintertreiben. Schließlich wäre allerdings die Trennung in der einen oder andern Weise wol doch erfolgt, wenn nicht die Niederlage der Züricher bei Kappel und der Tod Zwingli’s im October 1531 die Oberländer von der Rücksicht auf die Schweizer entbunden hätten. Jetzt endlich stand der so nothwendigen näheren Organisation des Schmalkaldischen Bundes kein ernstliches Hinderniß mehr im Wege. Wenn St. bei den Verhandlungen über die Vertheilung der Bundesbeiträge nicht dulden wollte, daß die Städte stärker belastet würden als die Fürsten, so war dies eine berechtigte Wahrnehmung der ihm anvertrauten Interessen. An Eifer für die Förderung der gemeinsamen Angelegenheiten und an Gewissenhaftigkeit in der Erfüllung der übernommenen Pflichten wurde er sonst von Niemandem übertroffen. Fast [12] auf jeder Tagsatzung erschien er, unermüdlich thätig für den Ausbau und die Erweiterung des Bundes, freilich unter strenger Wahrung des defensiven und religiösen Charakters der Vereinigung. Noch mehrmals galt es, die schwer errungene Einigkeit der Protestanten gegen die Hetzereien der Gegner zu vertheidigen; denn immer von neuem wiederholten sich die Versuche, die Lutherischen mit den als „Sacramentirer“ verdächtigten Oberländern zu entzweien. So mußte sich St. 1532 in Schweinfurt dazu bequemen, die Augsburgische Confession neben der Tetrapolitana als der Lehre Straßburgs entsprechend anzuerkennen, und selbst dies konnte nicht verhindern, daß der Sacramentsstreit 1534 bei der Reformirung Württembergs durch die hinterlistige Religionsclausel des Kadaner Vertrags abermals angefacht wurde. Die wahrhaft liberale Gesinnung und das kluge Verhalten Sturm’s half jedoch über alle Gefahren hinweg und die Wittenberger Concordie, das Werk des gewandten Bucer, machte dem schädlichen Zwist für längere Zeit ein Ende, indem selbst die Schweizer unter gewissen Vorbehalten der vermittelnden Formel ihre Zustimmung gaben.
In Glaubenssachen verfocht St. seit dem Augsburger Reichstag mit zäher Beharrlichkeit die protestantische Forderung: Duldung der evangelischen Lehre bis zur Entscheidung des religiösen Streits durch ein freies christliches Concil in deutschen Landen. Doch war er praktischer Staatsmann genug, um einzusehen, daß die Erreichung dieses Ziels – wenigstens auf friedlichem Wege – nicht sofort und ohne alle Einschränkungen möglich sei, und hat sich deshalb 1532 bei den Nürnberger Friedensverhandiungen schneller und leichter als der Landgraf in die Thatsache gefunden, daß eine ausdrückliche Ausdehnung der Duldung auf alle, welche sich künftighin den Evangelischen anschließen wollten, füglich beim Kaiser nicht durchzusetzen sei, daß man vielmehr zufrieden sein müsse, die künftigen Glaubensgenossen nicht ausdrücklich vom Frieden ausgeschlossen zu sehen. Die Erweiterung des Schmalkaldischen Bundes durch Aufnahme neuer Mitglieder hielt St. für wohl vereinbar mit den Bestimmungen des Nürnberger Anstands und trug damit viel dazu bei, die Bedenken des Kurfürsten in dieser Hinsicht zu zerstreuen und die Aufnahme Württembergs, Augsburgs und Frankfurts durchzusetzen. Er glaubte mit Recht, daß eine allzu ängstliche Auslegung des Nürnberger Vertrags seitens der Protestanten umsoweniger angebracht sei, als der Kaiser sich seinerseits ja in schmählichster Weise der Erfüllung des Versprechens entzog, die religiösen Processe des Kammergerichts zum Stillstand zu bringen. Die Straßburger waren es denn auch, welche angesichts der unaufhörlichen gerichtlichen Plackereien 1534 die Anregung zu der Recusation des Kammergerichts in Religionssachen gaben. Zugleich waren St. und seine Freunde immer hülfreich bei der Hand, den Genossen Rathschläge zur Abwendung gerichtlicher Angriffe und Executionen zu erteilen. Daß St. bei aller dieser Opposition gegen den Kaiser die Wohlfahrt des Reiches doch nicht aus dem Auge verlor, zeigt unter anderm seine Haltung in der Türkenfrage. Bekanntlich war die Drohung, sich an der Hülfe gegen die Türken nicht betheiligen zu wollen, eins der Hauptmittel, womit die Protestanten den Kaiser zur Nachgiebigkeit gegen ihre religiösen Forderungen zu bewegen suchten. Auch St. war ein Anhänger dieser Politik; kam es aber, wie im J. 1532, wirklich zum Kriege, so vermochte er es doch nicht über sich zu gewinnen, jenen Standpunkt festzuhalten, sondern befürwortete auch ohne religiöse Bürgschaften den Kampf gegen den „Erbfeind der Christenheit“.
Der Feldzug des Landgrafen 1534 gegen Württemberg zur Restitution des vertriebenen Herzogs Ulrich war für St., der in den Anschlag nicht eingeweiht worden, eine völlige Ueberraschung, und zwar zunächst keine angenehme; denn solche Gewaltstreiche widerstrebten seiner Natur. Nach dem glücklichen Ausgang [13] des Unternehmens aber war Niemand eifriger als er bemüht, den für die Befestigung und Ausbreitung der Reformation in Süddeutschland so wichtigen Sieg nach Kräften auszubeuten und Württemberg dem Evangelium dauernd zu sichern. Zwar konnte er sich nicht entschließen, den Bitten Ulrich’s und Philipp’s nachzugeben, welche ihn veranlassen wollten, ganz in den Dienst Württembergs überzutreten, doch hat er sich dem Herzog und seinem Lande stets als ein aufmerksamer Freund und Berather erwiesen, so gleich im Anfang durch seine Befürwortung des Kadaner Vertrags, den Ulrich wegen der Degradirung Württembergs zu einem österreichischen Lehen anzuerkennen zögerte, sodann in der Vermittlung zwischen dem Herzog und seinem Sohn Christoph. Die Aussöhnung der beiden war, wie man weiß, deshalb von großer Wichtigkeit, weil von ihr die religiöse Zukunft des Landes abhing; denn wenn Christoph mit Hülfe katholischer Mächte seinen Vater verdrängte, so war der Fortbestand der neuen Lehre in Württemberg zum mindesten stark gefährdet. Aus ähnlichen Rücksichten betrieb St. auch die Verheirathung von Ulrich’s Bruder Georg, der nächst Christoph der präsumtive Thronerbe war, mit einer evangelischen Prinzessin.
Die durch den kaiserlichen Vicekanzler Held veranlaßte Gründung eines katholischen Gegenbundes 1538 versetzte die Protestanten in begreifliche Erregung, welche bei dem Landgrafen einen solchen Grad annahm, daß er wieder einmal ernstlich mit sich zu Rathe ging, ob es nicht an der Zeit sei, den Gegnern durch einen Angriff zuvorzukommen. Allein St. rieth wie immer mit eindringlichen Worten davon ab, indem er u. a. geltend machte, daß ein Angriffskrieg selbst bei glücklichem Ausgange den Evangelischen keinen dauernden Frieden verbürgen, wol aber dem Ansehen ihrer Sache schaden würde. Mehrfach mahnte er in dieser Zeit, den Gegnern keinen Anlaß zu dem häufig erhobenen Vorwurf zu geben, daß die Kirchengüter für eigennützige und unkirchliche Zwecke vergeudet würden. Zu diesem Behuf solle man sich über einheitliche Grundsätze zur gewissenhaften Verwendung der Güter vergleichen. Leider hatten diese von Bucer emsig unterstützten Mahnungen bei der Mehrzahl der Bundesgenossen keinen Erfolg, obwol Straßburg unter Sturm’s Leitung ein leuchtendes Beispiel dafür lieferte, welcher Segen durch eine zielbewußte Verwendung des Kirchenguts für die Zwecke des Unterrichts und der Wohlthätigkeit gestiftet werden konnte. Sturm’s größtes Verdienst in dieser Richtung war die Gründung des noch heute blühenden protestantischen Gymnasiums, aus dem später die Akademie und Universität hervorgewachsen ist. Schon in den zwanziger Jahren bestanden in Straßburg aus kirchlichen Mitteln unterhaltene Schulen, denen es aber an rechter Organisation und einheitlicher Leitung mangelte. So kam es denn, daß St. 1538 im Einvernehmen mit Bucer und den übrigen Geistlichen nach sorgsam durchdachtem Plan ein Gymnasium schuf und als Rector desselben den ausgezeichneten, aus Schleiden gebürtigen und in Paris gebildeten Humanisten und Pädagogen Johannes Sturm berief. So hat St. in glänzender Weise einen Lieblingsgedanken seines Lehrers Wimpfeling verwirklicht, der schon 1501 in seiner „Germania“ die Gründung einer solchen Lehranstalt angeregt hatte. Die Stiftung gewann schnell eine große, weit über die Grenzen der Stadt hinausreichende Bedeutung und pflegt noch heute dankbar das Andenken ihres edlen Urhebers, der ihr bis zu seinem Tode die wärmste und verständnißvollste Theilnahme bewahrte und sie noch in seinem Testament reich bedachte.
Die Religionsgespräche, welche Karl V. seit 1540 zur Herbeiführung eines Ausgleichs veranstaltete, suchte St. in jeder Weise zu fördern, weniger allerdings aus Zuversicht auf Erreichung ihres eigentlichen Zwecks, als weil er ebenso wie Bucer der Ansicht war, die Protestanten müßten jede sich bietende Gelegenheit zur öffentlichen Rechtfertigung und Verbreitung ihres Glaubens benutzen. Daneben [14] hörte er nicht auf, in den Reichsversammlungen für die Freiheit und Sicherstellung der neuen Lehre zu kämpfen. So war es ganz wesentlich seinen Anstrengungen neben denen des hessischen Kanzlers Feige zu danken, daß Karl V. sich 1541 zu der den Protestanten günstigen „Declaration“ des Regensburger Abschieds herbeiließ. Auch war St. nach wie vor als erster auf dem Platze, wenn es galt, die Gleichberechtigung der Reichsstädte mit den anderen Ständen bei den Berathungen und Beschlüssen der Reichstage zu verfechten. Die Klugheit und Festigkeit, mit der er in dieser Frage namentlich zu Speier 1542 und zu Worms 1545 vorging und selbst dem persönlichen Drängen König Ferdinand’s widerstand, wurde denn auch seitens der Städte freudig anerkannt. Als äußeres Zeichen des Dankes verehrte ihm Nürnberg Namens der Gesammtheit im Juli 1542 ein kostbares Trinkgeschirr und drei Jahre später vereinigten sich die rheinischen Städte zu einem Ehrengeschenk für ihn im Werthe von 1000 Gulden. Diese Erfolge konnten ihm jedoch nicht über die tiefe Trauer und Verbitterung hinweghelfen, womit ihn die seit Beginn der vierziger Jahre zu Tage tretende Zerfahrenheit der protestantischen Politik und der Verfall des Schmalkaldischen Bundes erfüllten. Mit Recht erkannte er den Grund des Uebels in der Verblendung, mit der die einzelnen Stände mehr und mehr ihre Sonderinteressen der religiösen Sache voranstellten; allein seine Mahnungen und Warnungen fanden kein Gehör. Das Schlimmste war, daß Landgraf Philipp, bisher die zuverlässigste und kraftvollste Stütze des Protestantismus, sich infolge der Verlegenheiten, welche ihm durch seine leidige Doppelehe bereitet wurden, genöthigt sah, bei katholischen Ständen Rückhalt zu suchen und vor allem sich den Kaiser geneigt zu machen. Dadurch gerieth natürlich seine evangelische Politik, die wenigstens an Energie bisher nichts zu wünschen übrig gelassen, bedenklich ins Schwanken: ein Fehler, der durch die Heftigkeit, mit der er seine Glaubensgenossen hie und da zur Offensive trieb, nicht ausgeglichen werden konnte. Man begreift, daß unter solchen Umständen eine Entfremdung zwischen Philipp und St. eintreten mußte; denn der Straßburger war ja der eifrigste Verfechter des Grundsatzes, die religiösen Interessen der Protestanten mit keinerlei fremdartigen verquicken zu lassen und unter keiner Bedingung die Defensive aufzugeben, welche nach seiner Ansicht einer Vereinigung von der Art des Schmalkaldischen Bundes einzig und allein frommen konnte. Besonders bezeichnend ist sein Verhalten in der braunschweigischen Fehdesache, die am meisten dazu beigetragen hat, ihn mit dem befreundeten Fürsten zu veruneinigen. Als Sachsen und Hessen, durch den Uebermuth Heinrich’s von Braunschweig und seine unausgesetzten Plackereien gegen das verbündete Goslar aufs äußerste gereizt, Anfang 1542 den Entschluß faßten, den lästigen Gegner durch einen raschen Angriff unschädlich zu machen, wurde auch St. ins Vertrauen gezogen, da man ja wußte, wie „die Oberländer an ihm gemeiniglich alle hingen“, und merkwürdiger Weise zeigte er sich dem Anschlage nicht ganz abhold. Vermuthlich nahm er an, es handle sich nur um die Sicherstellung Goslars und die Fürsten ließen ihn in diesem Glauben. Nun endigte aber der Kriegszug, wie man weiß, mit der Vertreibung Herzog Heinrich’s und mit der Eroberung seines ganzen Landes: ein Erfolg, der, von den Protestanten anfangs bejubelt, bald zu einer Quelle bitterer Zwietracht und Verlegenheit für sie werden sollte. Schon die Vertheilung der Kriegskosten auf die Bundesglieder verursachte Schwierigkeiten, da manche mit dem ganzen Handel nichts zu schaffen haben wollten und sich weigerten, ihren Antheil zu bezahlen; am heftigsten aber entbrannte der Streit über die Frage, was mit dem eroberten Gebiet anzufangen sei. Sachsen und Hessen wollten die Frucht ihres Sieges nicht preisgeben und verlangten, daß Braunschweig im Besitz des Schmalkaldischen Bundes verbleibe; die meisten andern Stände dagegen wünschten aus Furcht [15] vor den großen Unkosten der Verwaltung und Vertheidigung des Landes und aus rechtlichen Erwägungen die Restitution des vertriebenen Herzogs, allerdings gegen möglichste Sicherstellung vor künftigen Uebergriffen desselben. Zu der letzteren Partei gehörte namentlich St., der sich in seinem strengen Rechtsgefühl nicht verhehlen mochte, daß die Grenze der Nothwehr gegen Heinrich doch überschritten worden sei, und daß dieser Fehler durch Wiedereinsetzung des legitimen Landesherrn oder wenigstens seiner Erben gut gemacht werden müsse. Auch sah er als gewiegter Jurist ein, daß die Protestanten von dem ihnen so feindlichen Kammergerichte keinenfalls eine günstige Entscheidung des braunschweigischen Streits erwarten durften, zumal wenn der Fall, wie es wahrscheinlich war, nach Römischem Recht beurtheilt wurde. Er rieth deshalb entschieden zu einem gütlichen Vergleich und zur vorläufigen Sequestration des Landes. Er verkannte hierbei nicht die Gefahr, welche mit der Rückkehr des unruhigen Herzogs von Braunschweig verknüpft war, hielt sie aber mit Recht für geringfügig im Verhältniß zu der zersetzenden Wirkung, welche die Behauptung des Landes auf die Einigkeit der verbündeten Evangelischen bereits ausgeübt hatte und noch ausüben mußte. War es doch offenbar, wie die Unzufriedenheit im protestantischen Lager ständig wuchs und wie die Furcht vor der Ungnade des Kaisers und vor den drückenden Lasten, die mit der Verwaltung Braunschweigs zusammenhingen, dem Bunde mehr und mehr Anhänger entfremdete! Leider hatte St. mit seinen eindringlichen Vorstellungen bei Sachsen und Hessen keinen Erfolg; ja er zog sich sogar durch seine Offenheit den Unwillen des Landgrafen zu und mußte schließlich noch den Schmerz erleben, daß seine eigene Stadt sich gegen ihn zu Gunsten der sächsischen und hessischen Anschauung erklärte. Wahrscheinlich geschah dies unter dem Einfluß Bucer’s, der in der braunschweigischen Frage auf Seiten des Landgrafen stand, im übrigen aber immer bemüht war, den Fürsten zu überzeugen, daß Sturm’s Opposition nicht auf „Kleinmüthigkeit“ beruhe, sondern durchaus ehrenwerthe Beweggründe habe. So charakterisirte er den Freund einmal mit den treffenden Worten: „Er ist getreu und fürchtet sich wahrlich mehr vor dem Unrecht als vor Gewalt. – Er sieht gar tief in die Sachen und fürchtet sich vor Gottes Ungnade, wenn nicht alle Dinge ordentlich gehen und im Rechten Bestand haben“.
Ihren Höhepunkt erreichte Sturm’s Mißstimmung auf dem Speierer Reichstage 1544, als die Häupter des Schmalkaldischen Bundes den großen Fehler begingen, dem Kaiser die Hülfe der Protestanten gegen Frankreich zuzusagen, ohne dafür auf religiösem Gebiete etwas anderes als leere Versprechungen zu erhalten. Die Schuld an diesem groben Mißgriff, den die Evangelischen zwei Jahre später schwer büßen mußten, trug – wie St. richtig erkannte – lediglich die verkehrte Rücksichtnahme der Fürsten auf ihre Sonderinteressen und nicht zum wenigsten auf die fatale braunschweigische Angelegenheit. „Ein Jeder“, sagt er, „hat eine particulare Sache, die betreibt er und, wenn er sie zu erhalten hofft, läßt er das Ewige hingehen“. Eine Zeit lang versuchte St. in Speier, dem Kaiser wenigstens die Hülfe der Städte gegen Frankreich vorzuenthalten; allein bald erkannte er die Aussichtslosigkeit dieser Politik und brachte es nun über sich, seinem Magistrat die Bewilligung der kaiserlichen Hülfsforderungen nachdrücklich zu empfehlen. Die Stadt sträubte sich lange gegen diese Zumuthung, da sie auch aus Rücksicht auf ihre Handelsbeziehungen einen Bruch mit Frankreich scheute; zuletzt aber gab sie wohlweislich nach und bewahrte sich dadurch vor dem Zorn des Kaisers, dem sie sonst schwerlich entronnen wäre. Die damals von dem Braunschweiger – vielleicht infolge einer Verwechslung mit Johannes St. – bei dem Kaiser vorgebrachte Anklage, daß Jakob mit [16] Frankreich in heimlichem Einverständniß stehe, konnte dieser mit ruhiger Entschiedenheit als völlig unbegründet erweisen.
Wie wenig Karl V. daran dachte, den Protestanten ihre Hülfsbereitschaft zu lohnen, offenbarte sich bald nach Beendigung des französischen Feldzugs auf dem Reichstage zu Worms 1545 in erschreckender Deutlichkeit. Umsonst haben hier die Protestanten noch einmal durch vereinte Anstrengungen die Erneuerung und endgültige Bestätigung der Speierer Zusagen des Vorjahres durchzusetzen gesucht. Am Schluß des Reichstages konnte St., der bei diesen Verhandlungen wieder hervorragend thätig war und von den kaiserlichen Ministern mehrfach vertraulich zu Rathe gezogen wurde, kaum noch einen Zweifel hegen, daß die Evangelischen demnächst gezwungen sein würden, ihre Sache mit den Waffen in der Hand zu verteidigen. Er that deshalb, was in seinen Kräften stand, um die Genossen auf der gegen Ende des Jahres abgehaltenen Versammlung in Frankfurt zu einer vernünftigen Reorganisation des Schmalkaldischen Bundes zu bewegen, dessen Mängel Niemand besser kannte als er; allein das gegenseitige Mißtrauen und die Verbitterung unter den Verbündeten war im Laufe der letzten Jahre derart gewachsen, daß es an der Fähigkeit gebrach, sich zum Heil des Ganzen über kleinliche Bedenken hinwegzusetzen und zu den nothwendigen Reformen aufzuraffen, und so ging die Versammlung ohne Ergebniß auseinander. Es läßt sich denken, wie schwer dieser Mißerfolg unsern St. erschüttern mußte, der längst mit tiefer Bekümmerniß den Gang der Dinge verfolgt hatte. War er doch schon, wie uns Bucer berichtet, zu Anfang des Jahres 1545 so unzufrieden und verzagt, daß er den Gedanken aussprach, „davon zu fliehen und das Bürgerrecht aufzusagen“.
Wohl nur aus dieser Stimmung schmerzlicher Resignation läßt es sich erklären, daß der sonst so thatkräftige Mann im Frühjahr 1546 beim Ausbruch des Entscheidungskampfes unthätig in seiner Vaterstadt verharrte und sich durch keine Bitten und Mahnungen bewegen ließ, auf dem Schauplatz des Krieges zu erscheinen. Wenn er auch kein Kriegsmann war, so hätte er doch an der Seite der Bundeshäupter durch seinen Rath manches Gute wirken können; statt dessen überließ er sich in Straßburg trüben Betrachtungen. Besonders bezeichnend ist von den wenigen Aeußerungen, die wir von ihm aus dieser bewegten Zeit besitzen, ein Brief, den er unmittelbar vor Beginn des Krieges an den Landgrafen richtete. Darin legte er ausführlich seine Ueberzeugung dar, wie die Reformation allmählich wider den Willen der Mächtigen von den breiten Schichten des Volkes aus zum Siege gelangen werde. Nicht die leiseste Andeutung dagegen von dem bevorstehenden Entscheidungskampf! Vielleicht werden weitere Forschungen noch mehr Licht über dieses auffällige Verhalten Sturm’s verbreiten. Erst im Spätherbst des Kriegsjahres 1546, als das Bundesheer, welches dem Kaiser an der Donau gegenüberstand, auseinander zu gehen drohte, ohne daß eine Schlacht geschlagen war, raffte sich St. aus seiner Unthätigkeit auf und eilte ins Lager, um den Landgrafen zum Angriff zu drängen oder wenigstens die Oberländer zu bestimmen, daß sie den Truppen in ihren Gebieten Winterquartiere gewähren sollten, aber beides umsonst! Zu letzterer Maßnahme fehlte es den meisten Städten an der Opferwilligkeit, durch welche Straßburg noch während des Feldzugs sich ausgezeichnet hatte. So erfolgte denn die Auflösung des Bundesheeres, welche den Sieg des Kaisers – in Süddeutschland wenigstens – entschied. Frankfurt und die zunächst bedrohten schwäbischen Städte nebst Württemberg unterwarfen sich nach und nach in Sonderverträgen. Dadurch kam das ohnehin ziemlich isolirte Straßburg in eine sehr peinliche Lage, die sich noch trostloser gestaltete, als der Landgraf offen seine Hülflosigkeit eingestand und der weit entfernte Kurfürst nichts als leere Versprechungen zu geben wußte. Trotzdem [17] hat Straßburg lange gezögert, seine norddeutschen Verbündeten im Stich zu lassen und ebenfalls einen Separatfrieden zu schließen. Die Mehrheit der Bevölkerung und ein großer Theil des Raths wollten in blindem Glaubenseifer nichts von Nachgiebigkeit wissen und waren bereit, es auf eine Belagerung ankommen zu lassen; schließlich siegte aber doch die von St. und andern bedächtigen Politikern vertretene Ansicht, daß es nach Lage der Dinge für die Stadt ganz unmöglich sei, dem Kaiser auf die Dauer mit Erfolg die Stirn zu bieten, und daß man daher einen Vertrag, der namentlich in religiöser Hinsicht keine allzudrückenden Bedingungen auferlege, nicht ablehnen dürfe. Mit blutendem Herzen entschloß sich St., auf die inständigen Bitten seiner Anhänger, im Februar 1547 persönlich zur Einleitung der Unterhandlungen in das kaiserliche Hoflager nach Ulm zu reiten. Es war, wie er selbst sagt, der schwerste Ritt seines Lebens. Wurde ihm doch die Selbstüberwindung, welche er durch die Uebernahme der demüthigenden Gesandtschaft bekundete, von der fanatischen Menge der Bevölkerung mit Undank und Verleumdungen gelohnt! Indessen hatte er die Genugthuung, Straßburg unter so günstigen Bedingungen mit dem Kaiser versöhnen zu können, wie sie kaum eine andere Stadt erlangt hatte. Allerdings mußte dem Bündniß mit den Fürsten entsagt werden, in religiöser Hinsicht aber wurde den Gewissen kein Zwang auferlegt. Am drückendsten war die vom Kaiser verlangte Huldigung und fußfällige Abbitte. Für letztere Ceremonie konnten in Straßburg kaum die erforderlichen drei Gesandten zusammengebracht werden; denn Jeder fürchtete, sich durch die Betheiligung Haß und Ungunst der Bürgerschaft zuzuziehen. Nur St. stellte sich von Anfang an in gewohnter Aufopferung auch für diese undankbare Mission seiner Vaterstadt zur Verfügung. Am 21. März 1547 erfolgte zu Nördlingen in feierlicher Audienz der Fußfall und die Abbitte, worauf der Kaiser den Gesandten zum Zeichen der Versöhnung die Hand reichte.
So durfte denn Straßburg wieder aufathmen und neue Hoffnung schöpfen; freilich währte die Beruhigung nicht lange, denn der Augsburger Reichstag von 1548 brachte das berüchtigte Interim, welches bis zur Entscheidung des Concils im ganzen Reich die Wiedereinführung des katholischen Gottesdienstes anordnete und den Protestanten nur Priesterehe und Laienkelch einräumte. Sturm’s redliche Bemühungen, den Erlaß des Interims abzuwenden und die Berufung eines Nationalconcils zu veranlassen, scheiterten und Straßburg behielt nur die Wahl, das Edict auszuführen oder den ganzen Zorn des Kaisers auf sich zu laden. In dieser schwierigen Lage zeigte St. wieder seine diplomatische Meisterschaft. Es gelang ihm, allen Schwierigkeiten zum Trotz beim Kaiser die Vergünstigung zu erwirken, daß den Protestanten wenigstens einige Kirchen der Stadt zur ferneren Ausübung ihres Gottesdienstes belassen wurden. Dadurch wurde die gewaltige Erregung in der evangelischen Bürgerschaft wenigstens soweit gedämpft, daß es nicht zu offenem Aufruhr kam. Gleichzeitig sah sich der Magistrat allerdings durch die Rücksicht auf den Kaiser genöthigt, die Prediger Bucer und Fagius, die am heftigsten gegen das Interim eiferten, zum Verlassen der Stadt zu bewegen. Die Härte dieser Maßregel erscheint ja gewiß in etwas milderem Lichte, wenn man bedenkt, daß es im eigenen Sicherheitsinteresse der beiden Theologen lag, sich aus einer Stadt zu entfernen, die ihnen vor dem Zorn des Kaisers keinen hinreichenden Schutz mehr bieten konnte; trotzdem war es für St. jedenfalls ein überaus schmerzlicher Moment, als er im Auftrage des Magistrats den überzeugungstreusten und unermüdlichsten Vorkämpfer des Evangeliums, Martin Bucer, zum Verlassen seines langjährigen Wirkungskreises bereden mußte.
Nach all diesen Enttäuschungen und traurigen Erfahrungen beschied das Schicksal dem edlen Manne an seinem Lebensabend noch eine Gelegenheit, seine [18] Umsicht und Thatkraft in einer Art zu bewähren, die ihm weit über Straßburgs Grenzen hinaus in ganz Deutschland ehrenvollste Anerkennung eintrug: ich meine seine Verdienste um die Sicherung Straßburgs vor den Eroberungsgelüsten Frankreichs im J. 1552. Die vorsichtige und dabei doch entschlossene Haltung, durch welche die Stadt sich damals davor bewahrte, ebenso wie Metz von den Franzosen überrumpelt zu werden, war wesentlich sein Werk. Glänzender konnte er die früher angedeutete Verdächtigung, als ob er zu Frankreich neige, nicht widerlegen. Auch haben der Kaiser und seine Minister die von ihm in jener kritischen Zeit bewiesene Klugheit und Treue unumwunden anerkannt und belobt. Als Karl V. dann in demselben Jahre noch Straßburg besuchte, hatte St. die Ehre, ihn an der Spitze des Magistrats begrüßen zu dürfen und in reichem Maaße die kaiserliche Huld zu genießen. Dieser Empfang war das letzte wichtige Ereigniß im politischen Leben Sturm’s. Am 30. October 1553 ereilte der Tod den erst 64jährigen, rüstigen Mann, den bis dahin niemals eine Krankheit in der Ausübung seiner Pflichten gestört hatte. Er starb in seinem 1542 erworbenen Hause in der Brandgasse zu Straßburg, tief betrauert von seinen drei Geschwistern, die, unverheirathet wie er selbst, bis zuletzt sein Heim mit ihm getheilt hatten. Am 31. October geleitete man ihn unter Betheiligung des gesammten Stadtregiments zur letzten Ruhestätte. Wol hatte der regierende Ammeister recht, als er bei Verkündigung der Trauernachricht vor versammeltem Rath den Verstorbenen als pater patriae et ornamentum reipublicae pries. In der That werden selbst diejenigen, welche in der Reformationsepoche nicht den ruhmreichsten Abschnitt Straßburgischer Geschichte zu erkennen vermögen, zugeben müssen, daß die Stadt weder früher noch später jemals eine so Achtung gebietende Stellung unter den Mächten des Reichs, ja Europas, eingenommen hat, wie zu Lebzeiten Jakob Sturm’s. Wie eng aber dieser Aufschwung mit der Persönlichkeit Sturm’s verknüpft war, beweist der nach seinem Tode eintretende jähe Niedergang der Straßburger Politik. Nicht minder bedeutsam als auf die Gestaltung der äußeren Beziehungen hat St. auf die innere Entwicklung und das geistige Leben seiner Vaterstadt eingewirkt. Davon konnte hier freilich nur das Wichtigste, wie die Gründung des Gymnasiums, angedeutet werden, zumal da diese Seite seiner Thätigkeit noch lange nicht genügend erforscht ist. Es sei nur noch auf sein Freundschaftsverhältniß zu Sleidan hingewiesen, der durch ihn nach Straßburg gezogen wurde und durch seine und Bucer’s Vermittlung vom Schmalkaldischen Bunde den Auftrag zur Abfassung einer Geschichte der Reformation erhielt. Mit lebhaftester Theilnahme hat St. die Entstehung dieses ausgezeichneten Werkes verfolgt und durch Zuwendung von Actenmaterial sowie durch Correcturen unterstützt. Sleidan hat ihm denn auch Zeit seines Lebens die herzlichste Verehrung und Dankbarkeit bewahrt.
St. war keine geniale Natur, dazu berufen, gleich einem Luther dem Geist des Jahrhunderts neue Bahnen zu erschließen; aber bei wenigen seiner Zeitgenossen haben die großen, reformatorischen Gedanken, die von Wittenberg ausgingen, ein so reines und tiefes Verständniß gefunden wie bei ihm. Mit der ganzen Kraft und Wärme, deren sein von echter Religiosität erfülltes Gemüth fähig war, hat er den Kern und das Wesen der evangelischen Lehre erfaßt, gleich weit entfernt von der Engherzigkeit und Unduldsamkeit der starren Lutheraner wie von dem revolutionären Uebereifer der Schwärmer und Wiedertäufer. Nicht um gewisser dogmatischer Eigenheiten willen wurde er ein so eifriger Verfechter der neuen Lehre, sondern weil er in ihr das Fundament erblickte, auf dem die Menschheit zu wahrhaft christlicher Frömmigkeit und sittlichem Lebenswandel zurückgelangen könnte. In diesem Sinne hat er unermüdlich für die Sache des Evangeliums gekämpft und gelitten. Wenn dabei der Erfolg weit hinter seinen [19] Hoffnungen zurückblieb, so lag die Schuld theils an der geringen äußeren Macht, auf die sich der Vertreter einer Reichsstadt stützen konnte, theils daran, daß die große Menge ebenso wie die meisten Fürsten und Stände der idealen Auffassung Sturm’s nicht zu folgen vermochten oder es doch an der Entschiedenheit fehlen ließen, die ihm in der Verfolgung seiner hohen Ziele eigen war. Immerhin hat St. auf die Entwicklung der Dinge einen überraschenden Einfluß geübt, der zu der Größe und Bedeutung Straßburgs in gar keinem Verhältniß steht und sich nur durch die seltenen Eigenschaften erklären läßt, die sich in diesem Manne vereinigten. Schon seine äußere Erscheinung, wie sie uns von Zeitgenossen geschildert wird und durch Porträts überliefert ist, verbunden mit der würdevollen und doch so bescheidenen Art seines Auftretens, mußte ihm die Sympathie Aller gewinnen, die mit ihm in persönliche Berührung kamen, und wer ihm näher trat, gleichviel ob Katholik oder Protestant, dem flößte seine Ueberzeugungstreue, seine Uneigennützigkeit und die fleckenlose Reinheit seiner Gesinnung und Lebensführung unwillkürlich Achtung, ja Bewunderung ein. St. besaß kein rasches, leicht bewegliches Temperament, sondern ging in allen Dingen mit großer Gründlichkeit und reiflicher Ueberlegung zu Werke; ja, in rein politischen Fragen legte er hier und da eine an Unschlüssigkeit grenzende Vorsicht und Bedächtigkeit an den Tag. So charakterisirte ihn Bucer 1540 gegenüber dem Landgrafen mit den Worten: er sei „ein vernünftiger Mann, welcher in so wichtigen Händeln nicht bald sich endlich erkläre; er sehe die Läufte an und thue gleich wie einer, der uf vielen Wegen sehe und nicht wisse, welchen Weg er gehen wolle“. Niemals aber verlor er im Wirrwarr der Ereignisse sein Hauptziel, die Sicherstellung und Ausbreitung des Evangeliums aus dem Auge, wenn er sich auch gelegentlich gezwungen sah, vorübergehend der politischen Lage Concessionen zu machen. Stets leitete ihn das tief eingewurzelte Gefühl der Verantwortlichkeit vor Gott und die Ueberzeugung, daß sich die Evangelischen den dauernden Schutz des Allmächtigen nur durch Vertrauen auf ihre Sache und durch wahre Frömmigkeit erhalten könnten. Ergänzt wurden seine hervorragenden sittlichen und geistigen Eigenschaften durch eine ungemein gründliche und umfassende Bildung, die ihn in den verschiedenartigsten Angelegenheiten zu einem der geschätztesten Berather machte. Besonders auf dem Gebiet der Reichs- und Territorialgeschichte, sowie der oft recht verwickelten staatsrechtlichen Fragen besaß er erstaunliche Kenntnisse, die durch ein bewunderungswürdiges Gedächtniß unterstützt wurden. Erwägt man ferner, daß er eine Beredtsamkeit zu entfalten wußte, welche die Hörer weniger durch feurigen Schwung und glänzendes Pathos als durch Wahrheit und Kraft der Ueberzeugung mit sich fortriß, so begreift man den Einfluß dieses bedeutenden Mannes, der zweifellos zu den vornehmsten und anziehendsten Erscheinungen des 16. Jahrhunderts gehört.
- Das Leben und Wirken Sturm’s hat bis jetzt noch keine erschöpfende Darstellung gefunden. An kleineren Skizzen fehlt es dagegen nicht. Ich erwähne in erster Linie das Schriftchen von Johannes Sturm: Consolatio ad senatum Argentinensem de morte etc. Jacobi Sturmii, Argent. 1553. – Ferner Lehr, Mélanges de littérature et d’histoire alsatiques, Strasb. 1870, p. 147–225. Die beste Charakteristik bietet H. Baumgarten, Jacob Sturm, Straßb. 1876 (Rectoratsrede). Ueber die älteren Quellen mag man sich in der Dissertation von F. A. Stein (Jakob Sturm von Sturmeck, 1878), die sonst recht oberflächlich ist, orientiren. Von neuerem Quellenmaterial kommt vor allem in Betracht: Politische Correspondenz der Stadt Straßburg im Zeitalter der Reformation Bd. I (1517–30) u. II (1531–39) (Straßb. 1882 u. 1887). Von dem in Vorbereitung befindlichen dritten Bande dieses Werkes (1540–45) konnte ein Theil des Materials bereits in obigem Artikel verwerthet [20] werden. – Max Lenz, Briefwechsel Landgraf Philipp’s des Großmüthigen von Hessen mit Bucer, 3 Bde.; Leipzig 1880–91. – H. Baumgarten, Sleidans Briefwechsel, Straßb. 1881. – Von neueren Monographien, welche die Kenntniß über St. bereichert haben, seien noch genannt: Adolf Baum, Magistrat und Reformation in Straßburg bis 1529, Straßb. 1887. – Otto Winckelmann, Der Schmalkaldische Bund 1530–32, Straßb. 1892. – De Boor, Beiträge zur Gesch. des Speierer Reichstags von 1544, Straßb. 1878. – Paul Kannengießer, Der Reichstag zu Worms vom J. 1545, Straßb. 1891. – Alcuin Hollaender, Straßburg im Schmalkaldischen Kriege, Straßb. 1881; – Derselbe, Straßburg im französischen Kriege 1552, Straßb. 1888.