ADB:Steinmar von Klingnau, Berthold
Rudolf von Habsburg befreundeten Walther v. Klingen im Thurgau. Er tritt in Urkunden von 1251–1290 oder 1293 auf, in der Regel gemeinschaftlich mit einem Bruder Konrad. 1276 nimmt er Theil an dem Zug Rudolf’s von Habsburg gegen Ottokar; daß er im Winter 1289, wie Meißner vermuthet, oder 1294, wie Wackernagel annahm, andere Feldzüge mitgemacht habe, ist nicht wahrscheinlich. – Er scheint nicht verheirathet und soll zuletzt Deutschordensritter in Beuggen gewesen sein.
Steinmar: Berthold Steinmar v. Klingnau, Minnesinger der Verfallzeit. – Der Dichter entstammt dem niederen Adel; sein Geschlecht gehört zu den Ministerialen des mächtigen, mitSteinmar’s charakteristische Dichterpersönlichkeit steht in der Berührung zweier [747] sehr verschiedener Kreise. Einerseits ist er ein Gefolgsmann Walther’s v. Klingen, dessen Ehrgeiz es war, noch einmal das alte, von der Zeit längst überholte Ritterideal zu voller Wirklichkeit zu machen. Dazu gehört aber auch der Minnesang; Walther hat daher selbst Gedichte verfaßt, besonders aber Dichter begünstigt und in seiner Umgebung gehalten. Wahrscheinlich ward er selbst für den begabten Sänger in seinem Gefolge zum Vermittler der höfischen Dorfpoesie jüngeren Stils, wie sie am Hofe des schwäbischen Prinzen Heinrich von Dichtern wie Hohenfels und Winterstetten (die mit Klingen verkehren) und besonders von Neifen gepflegt wurde. – So kommt eine Fülle höfischer Einflüsse, traditioneller Manieren an St. heran. Auf der andern Seite ist er ein Schweizer, kein Mitglied des französisch-internationalen hohen Adels, sondern ein rechter Sohn der derben Heimath. Seine ganze Poesie erwächst aus dieser Mischung. Parodistisch ist sie nur, soweit sie hohlen Auswüchsen der alten Art gilt; sonst bricht er mit dieser keineswegs, sondern sucht die alten Formen mit neuem Inhalt zu füllen. St. ist ein, weniger bedeutendes, Gegenbild zu Neidhart v. Reuenthal: wie dieser, sucht er höfische Formgebung mit volksthümlichem Stoff zu vereinigen, aber er nimmt dabei nicht den Standpunkt des hochmüthigen Bauernspötters, sondern den eines fröhlich-gesunden Landjunkers ein.
Man hat seine Lieder chronologisch zu ordnen gesucht, wozu das Material doch nicht ausreicht. Zugeben kann man, daß ein von allen charakteristischen Eigenheiten seiner Muse noch fast ganz freies Lied (Swenne ich komen wil von swaere) den Anfang seiner poetischen Laufbahn bedeuten wird. Hervorzuheben ist ein Zug reiner, kindlicher Frömmigkeit, wie ihn sonst nur etwa Johansdorf zeigt. – Wahrscheinlich war es dann die schwäbische Hofpoesie und besonders der Ton Neifen’s, welcher St. aus einem Mitsinger Walther’s v. Klingen, zu einer dichterischen Individualität machen half. Er stimmt sich auf den Ton des Volksliedes, cultivirt besonders den Kehrreim; sein Lied von der „süezen selderin“ ist völlig in Neifen’s Manier. – Eine weitere Epoche mag der Zug nach Oesterreich gemacht haben. Hier war die Lyrik ganz vom Einfluß Ulrich’s v. Liechtenstein beherrscht, der in dem österreichischen Dichterkreise persönlich ebenso bestimmt den Mittelpunkt bildete, wie Klingen in der Dichtergemeinschaft des Thurgaus, der aber durch viel größeres Talent in viel weitere Bezirke wirkte. Der Gegensatz gegen den Don Quijote der Ritterpoesie scheint St. zu Parodien desselben getrieben zu haben, von denen jedoch nur eine Strophe (Als ein swîn in einem sacke) die von Ortner in übertriebenem Maaß behaupteten Beziehungen auf Verse Liechtenstein’s bestimmt aufweist. Die von Ulrich aufgeworfene Streitfrage nach der Zulässigkeit des Tageliedes hat auch St. beschäftigt. Zunächst nimmt er – wie der Oesterreicher – theoretisch Stellung gegen diese bedenkliche Fiction; dann dichtet er, mit Benutzung altvolksthümlicher erotischer Liedchen, ein höchst realistisches Tagelied: Knecht und Dirne werden auf der Streu durch den Ruf des Hirten geweckt. – Erst nachdem er so durch den Gegensatz zu der längst unwahr gewordenen Minnepoesie in den Ton der spätneidhartischen Lieder gedrängt war, wird er seine originellste Specialität, das Herbstlied, gefunden haben. Wahrscheinlich war es (nach Neumann’s Vermuthung) ein fahrender Clericus Gebewîn, der ihm den Anstoß gab, das in lateinischer Sprache längst gepflegte Tafellied in deutscher Dichtung zu eröffnen. Er hat darin zuerst bei Buwenburc, dann bei Hadloub Nachfolge gefunden.
St. gehört seiner Begabung nach zu jener zahlreichen und glänzenden Epigonenschar, mit der der Minnesang abstirbt. Wie Neifen und Liechtenstein ist er in der Form sicher und gewandt, aber nirgends originell, außer wo er volksthümliche Klänge mit höfischer Art zu neuen Mischungen verbindet. Mit jenen beiden theilt er dafür die Neigung, im Inhalt des Liedes Neues und Ueberraschendes [748] zu bringen. Eine bescheidene Eitelkeit verräth sich, wie bei vielen von Neidhart direct oder indirect beeinflußten Sängern, in der Liebhaberei, seinen Namen in den Gedichten anzubringen. Entschiedener Witz ist den Liedern, die höfischen Ton auf Gegenstände der „niederen Minne“ übertragen (besonders „Diu vil liebiu sumerzit“), nicht abzustreiten. Eine große Empfänglichkeit endlich thut sich in seiner herzlichen Naturfreude so gut wie in den mannigfachen Reminiscenzen (an Winterstetten, Neifen, auch den Tanhäuser und verwandte Naturen) kund. Für die Aufnahme des fränkischen Minnesangs in der Schweiz ist er ein charakteristischer Typus: erst Nachahmung, dann realistische Umdeutung. Seine Beliebtheit bezeugt die Aufnahme von verhältnißmäßig vielen Liedern in die Stammhandschrift der sog. Manessischen Sammlung; auch ist eins seiner freien Gedichte in geistlicher Umgestaltung verbreitet worden.
- Die beste Ausgabe in Bartsch’ Schweizer Minnesängern XIX, 170 f. Der Text auch bei Meißner, Berthold Steinmar v. Klingnau. Paderborn u. Münster 1886. Erklärende Anmerkungen und Parallelstellen in beiden Ausgaben sowie bei A. Neumann, Ueber das Leben und die Gedichte des Minnesingers Steinmar. Leipzig 1886. – Biographisches: v. d. Hagen, Minnesinger IV, 468. Bartsch a. a. O. CVI. Grimme in Pfeiffer’s Germania XXXV, 323. Zu den angeführten Schriften von Meißner und Neumann vgl. Wilmanns, Anz. f. d. Alterth. XIII, 410 und besonders Berger, Zts. f. d. Phil. XX, 116. – Zur Metrik und Stilistik Bartsch, Meißner, Neumann; Beziehungen zu Liechtenstein: Ortner in Pfeiffer’s Germania XXXII, 120. – Allgemeine Charakteristik: Uhland, Schriften V, 245. – Scherer, Litteraturgeschichte S. 215. – Bächtold, Gesch. d. deutsch. Dichtung in der Schweiz S. 156. (Für Walther v. Klingen vgl. Wackernagel, Kleine Schriften II, 327; Wilmanns, A. D. B. XVI, 189.)