ADB:Steiner, Wernher
Wernher St., der von 1485 an während dreißig Jahren fast beständig des Gemeinwesens Haupt und Vertreter unter den Eidgenossen war, 1499 seine Mitbürger im Treffen bei Dornach führte und ihre kleine Schaar bei Marignan zu Sieg oder Tod weihte. Als der angesehene, wohlhabende Mann 1517 starb, waren sein Sohn Wernher und die kleine Tochter eines der auf der Wahlstatt gebliebenen Söhne des Ammanns Erben. Wernher, geboren am 20. Januar 1492, zum Geistlichen bestimmt, zog 1515 als Feldprediger oder als Freiwilliger mit dem Zuger Banner ins Mailändische, hörte in Monza die kühne Predigt Zwingli’s vor dem Heer der Eidgenossen, die (nach seiner eignen späteren Aussage) tiefen Eindruck auf ihn machte, und trat dann, wol 1516 bis 1518, auch in persönliche Beziehungen zu dem jetzt in Einsiedeln wirkenden nachmaligen Reformator. Indessen gehörte St., dem der Titel eines protonotarius apostolicus zu theil wurde, noch Mitte 1519 ganz der bestehenden Kirche an. In Verbindung mit 20 angesehenen Männern aus Luzern, Freiburg, Glarus, Zug, unter welchen der Freiburger Schultheiß Peter Falk (s. A. D. B. VI, 551) hervorragte, unternahm er damals eine Wallfahrt nach Jerusalem. Glücklich heimgekehrt, stiftete St. einen neuen Altar in der Hauptkirche in Zug, beschenkte Kirchen und Capellen und erhielt von der Regierung von Luzern eine Chorherrnpfründe in Beromünster. Aber bei der Einschiffung nach dem Heiligen Lande hatte er sich in Venedig eine lateinische Bibel gekauft, machte sich mit ihrem Inhalt auf der Reise bekannt, jetzt mehr und mehr vertraut, erbat sich von Zwingli 1519 Belehrung über den Ablaß, und trat in Verbindung mit dessen Freunden, dem Administrator Diebold v. Geroldseck (s. A. D. B. IX, 43) und Leo Judä (s. A. D. B. XIV, 651) in Einsiedeln und dem Comthur Konrad Schmid in Küßnach (s. A. D. B. XXXI, 684), als dieser 1522 in Luzern und [708] in Einsiedeln predigte. Mit Zwingli wohnte St. am 12. October 1522 der Einsegnung Valentin Tschudi’s ins Pfarramt in Glarus bei. Bereits theilte St. die Ueberzeugungen dieser Freunde. Er befürwortete und unterschrieb in Einsiedeln am 2. Juli 1522 die Bittschtift an den Bischof von Constanz, zu welcher Zwingli sich mit zehn Priestern aus der Eidgenossenschaft vereinigte, um Gestattung freier Predigt des Evangeliums und Abschaffung des Cölibates vom Bischofe zu erlangen. Vom Erlaß einer Zuschrift gleichen Inhaltes an die weltlichen Obrigkeiten der Eidgenossenschaft rieth St. hingegen ab. Denn bereits bestand entschiedene Trennung unter diesen, infolge der Bewegung, welche in der Schweiz wie in Deutschland die Geister ergriffen hatte, und immer schärfer und bitterer wurde der Zwiespalt zwischen Zürich und der Mehrheit der Orte, die Zwingli’s kirchliche und politischen Lehren verwarf. In Zug wie in Luzern und den Waldstätten bildeten die Freunde des Reformators eine kleine Minderzahl, gegen welche die Volksstimmung, von den meisten Vornehmen und den Anhängern des ausländischen Kriegsdienstes sorgfältig genährt, sich allmählich feindselig aussprach. Für St. und Gleichdenkende begann damit eine Zeit schwerer Prüfung. Schon konnte auf einer Tagsatzung in Zug im Juli 1524 der Abgeordnete der reformirten Stadt St. Gallen, Vadian, nur durch die Dazwischenkunft von Steiner’s Oheim, Lienhard St., eines milde gesinnten Mannes, Schutz vor Mißhandlung finden, welcher er sich schließlich doch durch heimliche Flucht ins Zürcherische entziehen mußte. Gegen St. selbst war Mißtrauen und Feindschaft erwacht. Verdächtig erschienen seine Verbindungen mit Zürich und mit Cappel, wo der junge Bullinger (s. A. D. B. III, 513) lehrte; 1527 verbot man St. während Monaten nach Zürich zu gehen; gegen wiederholte Beschimpfungen und Kränkungen suchte er umsonst beim Rathe Schutz. Er hatte sich, wie seine Freunde, vermählt, sich eignen Heerd und Familie gegründet, der er lebte, setzte seine Beschäftigung mit der heil. Schrift fort, legte historische Aufzeichnungen an, sammelte schweizerische geschichtliche Lieder, erscheinende Druckschriften und erbat sich von Bullinger eine Anleitung zu planmäßigen Studien, las aber nicht mehr Messe. Immer schwieriger wurde seine Lage. 1529 kündigte Luzern ihm seine Pfründe in Beromünster auf, und als er bei dem nahenden Ausbruch eines Religionskrieges unter den Eidgenossen, sich mit Gedanken einer Uebersiedlung tragend, eine Reise nach Solothurn und Bern unternahm, benutzten Gegner seine Abwesenheit, ihn eines Theiles sorgfältig aufgehobener Schriften und Correspondenzen zu berauben, die sie gegen ihn auszubeuten sich bemühten. Von Zürich aus, wohin er gegangen war, kam er nach dem Friedensschlusse vom 25. Juli 1529 und erhaltener Zusage von Sicherheit nach Zug zurück. Allein der Rath belegte ihn nun „wegen eidbrüchigen Entfernens“ mit schwerer Geldstrafe und ertheilte ihm endlich nur gegen Entrichtung einer weiteren beträchtlichen Zahlung die Erlaubniß zu freiem Wegzuge. Am 26. August 1529 (einst dem Tage seines Ausmarsches mit dem Zuger Banner ins Mailändische) verließ St. seine Vaterstadt für immer, ging nach Zürich, erwarb sich daselbst sofort ein Haus und das Bürgerrecht, und vier Wochen später folgten ihm die Gattin und die Kinder nach in die neue Heimstätte. Enge schloß sich St. jetzt an Zürichs Häupter an, während die Zeit sich immer ernster gestaltete. Am 10. August 1531 begleitete er mit Collin (s. A. D. B. IV, 410) Zwingli nach Bremgarten zu jenem letzten Besuche bei Bullinger und war Zeuge des ergreifenden Abschiedes zwischen Beiden. Er theilte mit Zürich die schweren Tage der Katastrophe von Cappel, nahm Bullinger, der nun aus Bremgarten entfliehen mußte, in seinem Hause in Zürich auf, wo Bullinger die Berufung zur Nachfolge in Zwingli’s Amt empfing, und er blieb mit dem neuen Vorsteher der zürcherischen Kirche und dessen Gehülfen innig befreundet. Ihm, St., widmete Bullinger 1536 [709] seinen Commentar zu den Timotheusbriefen, ihm Leo Judä die deutsche Uebersetzung von Zwingli’s letzter Arbeit, der an König Franz I. gerichteten Expositio fidei. Noch einmal besuchte St., auf empfangene Einladung hin, 1535, seine ursprüngliche Heimath und fand daselbst ihm wohlthuende Aufnahme. Im 51. Jahre starb er, befallen von der damals in Zürich herrschenden Pest. – Die ernste, fromme, vaterlandsliebende Denkungsart und muthige Ueberzeugungstreue, die aus Steiner’s Leben spricht, athmet auch in den wenigen schriftlichen Denkmalen seiner Hand, die auf uns kamen: der Darstellung seiner Erlebnisse in den Jahren 1521–1529 und seines Uebertrittes zur Reformation, die er seinen Nachkommen widmete, in einer schweizerischen Chronik, von der ein Bruchstück (Jahr 1506–1516) in Zürich und eine Copie in Zurlauben’s Sammlungen („Historien Zürich und Zug betreffend“) in Aarau übrig blieb, und in Steiner’s Liederbuch, d. h. einem kurzen chronologischen Verzeichniß der wichtigsten kriegerischen und politischen Ereignisse der schweizerischen Geschichte, vom Jahre 1315–1531, in welches sorgfältig überall die auf die einzelnen Begebenheiten bezüglichen Lieder eingeschaltet sind. Von dieser „ersten eigentlichen Liedersammlung“ schweizergeschichtlichen Inhalts liegt das von St. 1532–1536 angefertigte Original in der Stadtbibliothek von Luzern, eine getreue Abschrift von Stumpf’s Hand in der Stadtbibliothek Zürich. Die Texte Steiner’s sind für die Recension der Lieder von vorzüglicher Bedeutung.
Steiner: Wernher St., Chronikschreiber in Zürich, † am 6. October 1543. St., der Ahnherr eines angesehenen Geschlechtes in Zürich, war geboren in Zug, mit dessen Geschichte der Name seiner Vorfahren rühmlich verknüpft ist. Zwei derselben fielen 1422 auf dem Schlachtfelde von Arbedo; Ulrich, Wernher’s Großvater, 1476 bei Granson; zwei Brüder und ein Vetter Wernher’s 1515 bei Marignano. Unter den Augen seines Vaters hatten sie daselbst gekämpft, des Zuger-Ammanns- Steiner’s Handschriften. – M. Kirchhofer, Wernher Steiner, Bürger von Zug und Zürich. Winterthur 1818. – K. Pestalozzi, Heinrich Bullinger’s Leben und ausgewählte Schriften. Elberfeld 1858. – v. Liliencron, Historische Volkslieder der Deutschen I. Leipzig 1865. – J. C. Mörikofer, Ulrich Zwingli. 2 Bde. Leipzig 1867/69. – Th. v. Liebenau, Aus Wernher Steiner’s Leben und Schriften (Auszug aus Steiner’s Schrift für seine Nachkommen), im Anzeiger f. schw. Geschichte, Jahrg. 1885, S. 432. – J. Bächtold, Geschichte der deutschen Litteratur in der Schweiz. Frauenfeld 1892.