ADB:Schrautenbach, Ludwig Karl Freiherr von
Zinzendorf’s, geboren am 18. Februar 1724, † am 12. August 1783. S. wurde zu Darmstadt als Sohn des hessen-darmstädtischen Regierungsrathes Karl Ernst v. S. (geboren 1691 zu Darmstadt) und seiner Gemahlin Rebecca Theodore Freiin v. Oeynhausen geboren, welche ihrem Manne das Gut Lindheim in der Wetterau, unweit Hanau, als Heirathsgut mit in die Ehe gebracht hatte. Vater und Mutter hielten sich zur Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse zu den Erweckten, welche seit dem Jahre 1733 in der Wetterau immer mehr Boden gewannen. Durch einen Freund ihres Hauses, einen Herrn v. Stein, auf Zinzendorf und seine Gemeindegründung in Herrnhut aufmerksam gemacht, boten sie Zinzendorf, als er im Frühjahr 1736 nach seiner Vertreibung aus Sachsen in der Wetterau Zuflucht suchte, ihr Schloß zu Lindheim als Wohnungsstätte an. Die persönliche Bekanntschaft mit Zinzendorf bestimmte sie, der Brüdergemeine beizutreten und ihren Sohn Ludwig der Obhut Johann Nitschmann’s des Mähren anzuvertrauen, welcher ihn und den Sohn des Grafen, Christian Renatus v. Zinzendorf, sowie den gleichaltrigen Karl v. Schachmann aus Königshain in der Oberlausitz († 1789 zu Herrnhut. Vgl. den „Brüderboten“, 13. Jahrg., 1875, S. 131) als Mentor nach Jena begleitete, wo die drei Jünglinge von erweckten Studenten unterrichtet wurden. Im J. 1738 kehrten die Genannten gemeinschaftlich nach der Wetterau zurück, wo ihre Erziehung unter der ferneren Leitung Nitschmann’s in dem Seminar der Brüdergemeine zu Marienborn vollendet wurde. S. trat hierauf in den Dienst der Gemeine und war seit dem Jahre 1747 Mitarbeiter im Chor der Jünglinge zu Herrenhaag. Im J. 1748 begleitete er Zinzendorf nach Herrnhut und vermählte sich dann am 16. August desselben Jahres mit Sophie Auguste, Gräfin Reuß-Ebersdorf, einer Tochter des regierenden Grafen Heinrich XXIX. von Reuß-Ebersdorf, dessen Schwester Erdmuth Dorothea die Gemahlin des Grafen Zinzendorf war. So durch nahe Familienbande an die Person des Grafen gefesselt, folgte er Zinzendorf im J. 1749 nach England, um als Deputirter der Brüdergemeine den Parlamentsverhandlungen über ihre Anerkennung im britischen Reiche beizuwohnen. Von England nach Herrnhut zurückgekehrt, zog er sich nach [462] dem Tode seines Vaters (Karl Ernst v. S. ist auch als Liederdichter der Brüdergemeine aufgetreten. Von ihm rührt das Lied: „Der arme Sünderstand ist Jesu nach verwandt“ [Nr. 849 des alten Brüdergesangbuches, in das neue nicht aufgenommen] her), welcher am 19. Februar 1750 zu Herrnhut erfolgte, auf sein Gut Lindheim zurück, wohin ihn die Nothwendigkeit, seine Vermögensverhältnisse zu ordnen, rief. Auf diese Weise wurde er Augenzeuge der Auflösung des Herrenhaag und der Uebersiedelung der Brüderanstalten aus der Wetterau nach Herrnhut. Zinzendorf wollte auch jetzt noch seiner Mitwirkung nicht entbehren und übertrug S. die Vertretung der schlesischen Gemeinen bei der Provinzialregierung und beim Ministerium in Berlin. S. zeigte jedoch keine Neigung, auf den Antrag des Grafen einzugehen, und hielt sich namentlich seit dem Tode seiner Gemahlin im J. 1753 äußerlich und innerlich von der Brüdergemeine fern, ohne jedoch jemals die Verbindung mit ihr ganz abzubrechen oder gar aus ihrer Gemeinschaft auszutreten. Im J. 1758 fand noch einmal in Barby eine Begegnung Zinzendorf’s und Schrautenbach’s statt. Doch scheint es nicht, als ob sie eine Erneuerung des gegenseitigen Vertrauens unter den beiden Freunden wieder herbeigeführt hätte. Im J. 1765 finden wir S., der wiederholt seine Uebersiedelung nach Herrnhut in Aussicht gestellt hatte, zum letzten Male daselbst zu Besuch, wo er am 12. (oder 13.?) Februar dem Heimgang seiner Mutter beiwohnte und noch im Juli anwesend war. Als das Unitäts-Directorium mit dem Grafen v. Büdingen im J. 1768 um Wiederherstellung des Herrenhaags unterhandelte, bot S. ihm sein Gut Lindheim für eine neue Gemeinegründung an, hatte aber nicht die Genugthuung, daß sein Plan zur Ausführung kam. Da er ein Darlehn von den Brüdern erhalten hatte, das er nicht zurückzahlen konnte, blieb er mit ihren Leitern fortwährend in Correspondenz. Besonders lebhaft entwickelte sich sein Briefwechsel mit seiner Schwägerin Charlotte Luise Gräfin Reuß in Herrnhut, welcher jedoch nur bis zum Jahre 1772 auf uns gekommen und im Tone inniger Liebe und Freundschaft gehalten ist. Im übrigen wandten sich in den späteren Lebensjahren Schrautenbach’s Interessen auch noch anderen Personen und Dingen zu. Seit seiner Rückkehr in die Heimath verkehrte er viel in Darmstadt, wo ein Onkel von ihm lebte, mit dem Kriegsrath Joh. Heinrich Merck und am Hofe der großen Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt, in deren Gefolge er im Frühjahr 1773 nach Petersburg reiste, wo er von der Kaiserin Katharina II. durch mancherlei Beweise der Hochachtung ausgezeichnet wurde. Auch bei anderen Fürsten und Staatsmännern stand S. in hohem Ansehen, z. B. beim König Friedrich II. von Preußen und Herzog Karl August von Sachsen-Weimar, dem er durch seinen Freund Merck bekannt geworden war. Ebenso hielt Goethe große Stücke auf S. Er stand mit ihm im Briefwechsel, wie wir aus einem Brief an Merck vom 7. April 1780 ersehen, und beklagte Merck wegen des Verlustes eines der „besten Menschen“. Am wohlsten aber scheint S. sich in stiller Einsamkeit befunden zu haben, die ihm sein Gut Lindheim bot. Deshalb hat ihm auch Joh. Georg Zimmermann in seinem Buche über die „Einsamkeit“ (IV, Frankf. u. Leipz. 1785, S. 221) ein schönes Denkmal gesetzt. Zimmermann nennt S. einen „politischen Karthäuser“ und bemerkt dann weiter: „Ein größerer Kopf lebte damals vielleicht an keinem Hofe in Deutschland. Nirgends fand ich einen scharfsinnigeren Beobachter der Menschen und ihrer Thaten, einen genaueren und billigeren Prüfer der Welt und aller Menschen, die in der Welt eine große Rolle gespielt haben. Er kannte einige der größten Personen auf den Thronen von Europa aus persönlichem Umgang. Nirgends fand ich eine freiere, offenere, redlichere, stärkere und sanftere Seele, nirgends ein Auge, das wahrer und richtiger in allem durchsah, wohin Menschenaugen reichen, und nirgends einen Mann, an dessen Brust ich lieber [463] hätte mögen leben und sterben. Einfach und bescheiden war sein Landhaus und kunstlos sein Garten und ländlich sein Mahl. Ein wahrer Himmel war mir die Einsamkeit in der Wetterau, wo er, der Freiherr v. S., dem Himmel lebte.“ Der Zurückgezogenheit Schrautenbach’s in Lindheim verdanken wir zwei Werke, deren eines wenigstens ihm für alle Zeiten das Andenken der Brüdergemeine und ihrer Freunde erhalten wird. Wir meinen sein Werk:. „Der Graf v. Zinzendorf und die Brüdergemeine seiner Zeit“, herausgegeben von F. W. Kölbing. Gnadau 1851; 2. Aufl. 1871. Die Lectüre von Spangenberg’s Lebensbeschreibung des Grafen Zinzendorf veranlaßte S., seine Erinnerungen an den Grafen niederzuschreiben, zunächst nur, um sich die Gestalt seines Freundes noch einmal recht lebhaft zu vergegenwärtigen, keineswegs aber, um sie durch den Druck zu veröffentlichen. Vielmehr sollte das Werk, das S. im J. 1782 der damals in Berthelsdorf versammelten Synode der Brüdergemeine vorlegte, nach seiner Bestimmung stets Manuscript bleiben. Daraus erklärt sich seine späte Veröffentlichung, welche übrigens ohne Beigabe der von S. gesammelten „Originalstücke“ veranstaltet wurde. S. sagt von seiner Arbeit ausdrücklich, daß sie „keine Brüderschrift“ sei. In der That nimmt er in ihr einen viel freieren Standpunkt ein als Spangenberg und die übrigen zeitgenössischen Biographen Zinzendorf’s, und gestattet sich, bei aller Bewunderung für seinen Helden einzelne seiner Schritte ungünstig zu beurtheilen. Auch heute, nachdem die Forschung über Zinzendorf erhebliche Fortschritte gemacht hat, bleibt das Urtheil Tholuck’s zu Recht bestehen, daß „die Charakteristik Schrautenbach’s das Merkwürdigste sei, was bis jetzt über Zinzendorf erschienen ist“. – In dem gleichen Jahre, in dem S. seine Biographie Zinzendorf’s aus der Hand legte, im J. 1782, vollendete er auch seine „Religionsideen eines Ungelehrten“ (mit einer biographischen Einleitung im Auszug herausgegeben von Hermann Plitt, Gotha 1876). Auch zu Abfassung dieser Schrift wurde er durch die Lectüre einer Aufsehen erregenden litterarischen Erscheinung veranlaßt. Er hatte die von Lessing herausgegebenen „Wolfenbüttler Fragmente“ gelesen und fühlte sich gedrungen, seine starken Bedenken gegen diese rationalistische Gottesbetrachtung in einer fortlaufenden Reihe von religionsphilosophischen Erwägungen mit apologetischer Tendenz, aber ohne streng logische Ordnungen, für sich und ohne die Bestimmung für die Oeffentlichkeit niederzuschreiben. Offenbar müssen die Freunde Schrautenbach’s von der Existenz dieser Schrift, sowie von der seiner Arbeit über Zinzendorf Kenntniß gehabt haben, da der Herzog Karl August nach Schrautenbach’s Tod Merck beauftragte, sich nach ihnen umzusehen, damit sie nicht verloren gingen. Durch testamentarische Verfügungen Schrautenbach’s kamen die Manuscripte jedoch in das Brüderarchiv nach Herrnhut, während Schrautenbach’s Verwalter Rösch alle übrigen Papiere und Privatbriefe ungelesen auf den Wunsch seines Herrn verbrennen mußte. Seine Bibliothek hatte S. testamentarisch für die Bibliothek der Brüdergemeine zu Barby bestimmt. Er starb zu Stade bei Lindheim im Hause seines Freundes, des Herrn v. Löw, am 12. August 1783 im Alter von 59 Jahren.
Schrautenbach: Ludwig Karl Freiherr v. S., hervorragendes Mitglied der Brüdergemeine und Biograph- Vgl. Erinnerungen an den Grafen Zinzendorf. Berlin 1828. S. 29–41. – Hermann Plitt in seiner Ausgabe von Schrautenbach’s Religionsideen. Gotha 1876. S. 1–28. – Der Brüderbote. 1875. 13. Jahrgang. Herrnhut o. J. S. 123. 130. 191 ff. 273–283. 306–318. – Briefe an Joh. Heinr. Merck. Hrsg. von Karl Wagner. Darmstadt 1835–1838 und Leipzig 1847. I, 212. 230. 248. 338 ff. 345. 395–397. II, 219. 226. III, 87 ff. – Georg Zimmermann, Joh. Heinr. Merck. Frankfurt a. M. 1871. S. 31 ff. 38. – Goethe’s Werke (Ausgabe der Großherzogin v. Sachsen). Abth. Briefe. III, 214, 21. IV, 204, 21. VI, 35, 4. 192, 12. – Ph. A. F. Walther, Die „große Landgräfin“ Caroline von Hessen. Darmstadt 1873. S. 37. 42. [464] 76. – Briefwechsel der „Großen Landgräfin“ Caroline von Hessen. Hrgg. von Ph. A. F. Walther. Wien 1877. Bd. I. 124. 126. 339. 340. 390. 392. 393. 402. 416. 420. 431. 438. 467. 469. Bd. II. 271. – Im neuen Reich. Jahrg. 1877, I. S. 902.