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ADB:Roscher, Wilhelm

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Artikel „Roscher, Wilhelm“ von Karl Bücher in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 486–492, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Roscher,_Wilhelm&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 17:36 Uhr UTC)
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Roscher: Wilhelm Georg Friedrich R., Nationalökonom, geboren am 21. October 1817 in Hannover, † am 4. Juni 1894 in Leipzig, entstammte einer seit einer Reihe von Generationen im Militär- und Civildienst bewährten Beamtenfamilie. Seinen Vater, der zuletzt Oberjustizrath im hannoverschen Justizministerium gewesen war, verlor er schon 1827; die Mutter leitete seine fernere Erziehung; ihr ist wohl neben dem Einflusse seines späteren Religionslehrers Petri der tief religiöse Zug im Charakterbilde des Sohnes zuzuschreiben, mit dem sie bis zu ihrem 1847 erfolgten Tode den Haushalt theilte. Wilhelm R. besuchte das Lyceum in Hannover, das damals unter der Leitung des bekannten Keilschriftentzifferers Grotefend stand, verließ es aber vor Beendigung des Cursus, um dem Studium der Geschichte mehr Zeit widmen zu können. Nach wohlbestandener Reifeprüfung bezog er im Herbst 1835 die Universität Göttingen, um sich unter Leitung von Karl Otfried Müller, Dahlmann, Gervinus historisch-philologischen Studien zu widmen. Am 10. September 1838 promovirte er mit einer Dissertation „De historicae doctrinae apud sophistas maiores vestigiis“, besuchte aber dann noch in Berlin die Vorlesungen von August Böckh, Karl Ritter und L. Ranke und arbeitete in dem historischen Seminar des Letzteren.

Im J. 1840 habilitirte sich R. für Geschichte und Staatswissenschaften an der Universität Göttingen; aber eine im gewöhnlichen Sinne historische Vorlesung hat er nur im ersten Semester gehalten: über „historische Kunst nach Thukydides“, zweifellos eine Frucht seiner eingehenden Beschäftigung mit diesem Geschichtschreiber, deren Ergebnisse er in dem 1842 erschienenen Werke: „Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides“ niederlegte. Immer entschiedener wandte er sich den von jeher in Göttingen umfassend gepflegten Staatswissenschaften zu. Er las über Staatswirthschaft (nach Hermann’scher Nomenclatur; vom Sommersemester 1845 ab zeigte er die Vorlesung unter dem Titel „Nationalökonomie“ an), Geschichte der politischen Theorien, Politik und Statistik, Finanzen. Bereits 1843 wurde er zum außerordentlichen und zu Neujahr 1844 zum ordentlichen Professor ernannt. Im Frühjahr 1848 folgte er einem Rufe nach Leipzig und blieb dieser Universität – trotz glänzender Berufungen nach München, Wien, Berlin – bis an sein Ende getreu. Zu den in Göttingen gehaltenen Vorlesungen kamen hier hinzu: die Volkswirthschaftspolitik, die er später als „praktische Nationalökonomie und Wirthschaftspolizei“ bezeichnete und seit 1871 eine Specialvorlesung über landwirthschaftliche Politik und Statistik. Außerdem ließ er der Statistik (im altgöttingischen Sinne der vergleichenden Staatenkunde) eine besondere Pflege angedeihen, die sich in zahlreichen Vorlesungscursen (über vergleichende Statistik, vergleichende Staatskunde der sechs großen Mächte, vergleichende Statistik und Staatskunde von Deutschland, von Großbritannien und Frankreich, der europäischen Völker etc.) zwischen 1851 und 1869 bekundete. Endlich pflegte er als „Einleitung in das Studium der gesammten Rechts-, Staats- und Cameralwissenschaft“ bald „Geschichte der politischen (und socialen) Theorien“, bald „Geschichte des Naturrechts, der Politik und Nationalökonomie“, bald „Grundlehren der praktischen Politik“, bald auch „Naturlehre des Staats“ anzukündigen. An die Stelle dieser Disciplin trat seit 1870 die „Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie als Vorschule jeder praktischen Politik“.

Im J. 1889, kurz nach Vollendung seines 71. Lebensjahres, ersuchte R. Facultät und Ministerium, ihn von seinen Hauptvorlesungen zu entbinden und einen weiteren Professor seines Faches zu berufen. Er hielt von da ab nur noch öffentliche Vorlesungen, hauptsächlich die politischen, denen er noch [487] eine neue über „Armenpolitik und Armenpflege mit einer Einleitung über Socialismus und Communismus“ hinzufügte. Am 23. April 1894 feierte er an der Seite seiner vortrefflichen Gattin und im Kreise von Kindern und Enkeln seine goldene Hochzeit. Kurz darauf entschloß er sich auf das Drängen der Seinen, seine Vorlesungen für den Sommer auszusetzen. Er sollte sie nicht wieder aufnehmen.

Es ist hier zunächst der Vorlesungen ausführlicher gedacht worden, weil sie an sich schon den wissenschaftlichen Interessenkreis bezeichnen, der R. Jahr für Jahr immer wieder von neuem beschäftigte. Dieser Interessenkreis wird im Verlaufe einer 54jährigen Lehrthätigkeit planmäßig erweitert, ähnlich dem allmählichen Ausbau eines im Grundplane entworfenen Gebäudes, und dieselbe Planmäßigkeit kennzeichnet auch R.’s litterarische Thätigkeit, deren Ziel die Begründung einer Staatswissenschaft auf historischer Methode war. Zunächst handelte es sich dabei um die Nationalökonomie, dann aber auch um die Politik oder genauer die Lehre von den Verfassungsformen des Staates.

Wie eine Art Programm steht an der Spitze seiner Werke der 1843 erschienene „Grundriß zu Vorlesungen nach der geschichtlichen Methode“. R. wollte mit dieser Methode „für die Staatswissenschaft etwas Aehnliches erreichen, wie die Savigny-Eichhorn’sche Methode für die Jurisprudenz erreicht habe“. Die historische Methode zeige sich nicht bloß äußerlich in der möglichst chronologischen Aufeinanderfolge der Gegenstände, sondern vornehmlich in folgenden Grundsätzen: 1. Die Staatswirthschaft sei nicht bloße Chrematistik, eine Kunst reich zu werden, sondern eine politische Wissenschaft. Was die Völker in wirthschaftlicher Hinsicht gedacht, erstrebt und erreicht haben, solle gezeigt werden. Eine solche Darstellung sei aber nur möglich im engsten Bunde mit den andern Wissenschaften vom Volksleben, insbesondere der Rechts-, Staats- und Culturgeschichte. 2. Das Volk sei nicht bloß die Masse der heute lebenden Individuen; wer die Volkswirthschaft erforschen wolle, müsse auch die früheren Wirthschaftsverhältnisse studiren, aus denen Lehren für die ersten Völker der Gegenwart gewonnen werden könnten. 3. Die Behandlung müsse eine vergleichende, auf alle dem Forscher irgend erreichbaren Völker ausgedehnte sein. Insbesondere lehrreich seien die alten Völker, deren Entwicklungen beendigt vor uns lägen. 4. Die historische Methode lehre die wirthschaftlichen Institutionen in ihrer zeitlichen und räumlichen Bedingtheit kennen. Eine ihrer Hauptaufgaben sei nachzuweisen, weshalb sie einstmals eingeführt werden mußten, wie und warum später allmählich „aus Vernunft Unsinn, aus Wohlthat Plage“ geworden seien, wann, wo und warum sie abgeschafft werden müßten. Die Doctrin solle überhaupt nicht die Praxis bequemer machen, sondern erschweren. Das Urtheil über diese Methode will R. so lange aufgeschoben haben, bis er „in größeren Werken das bloße Gerippe mit Fleisch und Blut bekleidet habe“.

In der That war der größte Theil seiner weiteren wissenschaftlich-litterarischen Thätigkeit der Lösung dieser Aufgabe, zunächst für die Nationalökonomie, gewidmet. Der erste Band seines „Systems der Volkswirthschaft“, die Grundlagen der Nationalökonomie enthaltend, erschien 1854, der zweite Band: „Nationalökonomik des Ackerbaus und der verwandten Urproduktionen“ 1859, der dritte: „Nationalökonomik des Handels und Gewerbfleißes“ 1881, der vierte: „System der Finanzwissenschaft“ 1886, und der letzte: „System der Armenpflege und Armenpolitik“ 1894 nach seinem Tode. Zwischen dem „Grundrisse“ und dem ersten Bande seines „Systems“ liegen 11, zwischen diesem und dem letzten Bande 40 Jahre: es ist also im wahren Sinne eine Lebensarbeit.

[488] Allerdings hat R. dazwischen noch mancherlei kleinere Untersuchungen und auch einige größere Werke geschrieben. Er hatte die Gewohnheit angenommen, die er bis zum Ende seines Lebens festhielt, größere Arbeiten zuerst bruchstückweise in Zeitschriften oder in den Abhandlungen der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften erscheinen zu lassen, ehe er sie in Buchform herausgab. Auf diese Weise entstanden: „Ueber Kornhandel und Theuerungspolitik“ (in Buchform zuerst 1847), „Kolonien, Kolonialpolitik und Auswanderung“ (1856), „Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland“ (1874), „Politik: Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie“ (1892); eine Reihe kleinerer Aufsätze wurde in den „Ansichten der Volkswirtschaft vom geschichtlichen Standpunkte“ (1861) zusammengefaßt. Von sonstigen größeren Arbeiten sind noch zu nennen: „Zur Geschichte der englischen Volkswirthschaftslehre im 16. und 17. Jahrhundert“ (1851; Nachträge dazu 1852) und „Versuch einer Theorie der Finanzregalien“ (1884) – beide in den Abhandlungen der philos.-histor. Classe der Gesellschaft der Wissenschaften.

Aber alle diese Schriften, die zusammen selbst für ein langes Leben, wie es R. beschieden war, eine gewaltige Arbeitsleistung darstellen, sind von einer gemeinsamen Grundanschauung beherrscht und gleichen sich in der Behandlung des Stoffes und in der Weise der Darstellung. Worin liegt nun das Eigenthümliche seiner „historischen Methode“, durch das er sich im Gegensatze fühlte zu der „philosophischen Methode“ seiner Vorgänger?

Die sog. classische Nationalökonomie der Engländer und Franzosen hatte sich wie ihre Staatstheorie jener „philosophischen Methode“ bedient. Ausgehend vom Individuum, das sie sich in unbehinderter gesellschaftlicher Bethätigung vorstellte, hatte sie sich dessen Handeln von einem einzigen Beweggrunde, dem des Selbstinteresses beherrscht gedacht und angenommen, daß von dieser Kraft getrieben, Menschen und Dinge sich frei in Raum und Zeit bewegten. Sie waren damit auf dem Boden der Volkswirthschaft im wesentlichen zu einer nur hypothetisch gültigen Theorie der Verkehrserscheinungen gelangt, die unter der Voraussetzung einer Gesellschaft mit Freiheit der Person und des Eigenthums und rein vertragsmäßiger Beziehungen der Individuen unter einander stand. Die Gesetze, welche sie aus diesen Voraussetzungen ableitete, waren für sie „Naturgesetze“, weil sie nach ihrer Auffassung durch die natürlichen Seelenkräfte des Menschen von selbst gegeben sind und überall Geltung beanspruchen, wo immer man die menschliche Natur frei walten läßt. Wo das aber geschieht, da stellt sich von selbst das Wohl der Gesammtheit, die volkswirthschaftliche Harmonie der Interessen ein. Daraus ergab sich ein absoluter Maßstab für die Beurtheilung der gesellschaftlichen Institutionen, und für die Wirthschaftspolitik jener „Absolutismus der Lösungen“, den kein Zweifel bedrückte, daß alle Hindernisse der freien Concurrenz schlechthin verwerflich seien.

R. dachte nicht daran, diese Theorie umstoßen zu wollen. Zwar stellte er der Nationalökonomie die Aufgabe, „die Lehre von den Entwicklungsgesetzen der Volkswirthschaft“ zu sein, ähnlich wie er die Politik als „die Lehre von den Entwicklungsgesetzen des Staates“ bezeichnete. Aber diese Entwicklungsgesetze waren ihm nicht minder „Naturgesetze“ wie den classischen Nationalökonomen die Gesetze des Geschehens innerhalb der heutigen Wirthschaftsorganisation. „Auch in der Volkswirthschaft giebt es Harmonien; oft von wunderbarer Schönheit, die lange bestanden haben, als noch kein Mensch sie ahnte; unzählige Naturgesetze, die nicht erst auf jeweilige Anerkennung durch den Einzelnen warten, und über welche nur derjenige Macht gewinnen [489] kann, der ihnen zu gehorchen versteht“ (System I § 13). Von Naturgesetzen aber redet er überall, wo er „eine in weiterem Zusammenhang erklärbare Regelmäßigkeit wahrnehme, die nicht auf menschlicher Absicht beruhe“. Da er zur Erläuterung das Sprachgesetz der Lautverschiebung und die statistisch nachweisbare Constanz in den Maßverhältnissen der scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen (Heirathen, Verbrechen) heranzieht, so ergibt sich, daß er einen logischen Unterschied zwischen den Gesetzen der ökonomischen Bewegung in der heutigen Gesellschaft und denen des Ablaufs der Erscheinungen in der Geschichte nicht annahm.

Worin das ihm Eigenthümliche und für die Wissenschaft unverlierbar Werthvolle seiner Methode lag, das war: 1. die Erweiterung des Beobachtungsgebietes der Volkswirthschaftslehre über das Bereich der modernen Gesellschaft hinaus auf alle Völker und Zeiten; 2. das Ausgehen nicht vom wirthschaftenden Individuum, sondern vom Volk oder den Völkern, die er einer parallelisirenden, vergleichenden Betrachtung unterstellt und 3. als Consequenz dieses Verfahrens, die Ablehnung der absoluten Gültigkeit von Normen des Handelns auf dem Gebiete der Volkswirthschaftspolitik und der Politik überhaupt. Es ist eine empirische, organische, relativistische Auffassung, die er der rationalistisch atomistischen, absolutistischen der Ricardo’schen Richtung entgegenstellt.

Das Volk ist ihm eine organische Gesammtheit, nicht ein Haufen von Individuen. Die Volkswirthschaft entsteht mit dem Volke, wie Sprache, Religion, Sitte, Recht und entwickelt sich mit ihm. Diese Entwicklung kann in der Gesetzmäßigkeit ihres Verlaufs erkannt werden, indem man viele, womöglich alle Völker beobachtet, von den durch die Eigenart eines jeden bedingten Zufälligkeiten absieht und das bei allen Wiederkehrende vergleichend feststellt. Man gelangt damit zur Auffindung von Regelmäßigkeiten und ihrer Verursachung im Völkerleben überhaupt, und diese Gesetze gelten nicht, wie die der „philosophischen“ Methode, „im luftleeren Raum“; sie sind Wirklichkeit und lassen sich auf „das Volk“ überhaupt als Gattungsbegriff anwenden. Man kann aus ihnen die Wirklichkeit auch für noch unerforschte Völker ableiten. Allerdings nicht die ganze Wirklichkeit. Denn zu den letzten und höchsten Gesetzen alles Geschehens können wir ebenso wenig vordringen, wie „jede universal-historische Construction, um die einzelnen Völker und Zeiten unterzubringen, ein Luftschloß“ ist. Es fehlt dem historischen Geschehen, wie wir es bei den einzelnen Völkern erkennen, die Nothwendigkeit; es bleibt immer ein unerklärter Hintergrund, der allein den Zusammenhang des Ganzen herstellt. Ob man diesen „Lebenskraft oder Gattungstypus oder Gedanken Gottes“ nenne, sei gleichgültig; Aufgabe der Forschung sei es, ihn immer weiter zurückzuschieben.

Damit ist der religiöse Standpunkt Roscher’s berührt, der in allen seinen Werken hervortritt und auch in den nach seinem Tode erschienenen „Geistlichen Gedanken eines Nationalökonomen“ einen oft überraschenden Ausdruck gefunden hat. Die Religion ist ihm „das höchste Ziel und der tiefste Grund alles geistigen Lebens überhaupt“, und so liegen für ihn die Grenzen der historischen Erkenntniß auch da, wo die Rathschlüsse Gottes wirksam werden, die unerforschlich sind. Er meinte darum, gegenüber der Unendlichkeit Gottes die Schranken aller irdischen Entwicklung im Auge behalten zu müssen, denen jedes Volk ebenso gut unterliege wie jeder einzelne Mensch. Auch die Völker waren ihm Organismen mit typischem Lebensverlauf; es mußte sich bei ihnen nach des Schöpfers Willen immer die gleiche Lebensentwicklung vollziehen, unbeschadet der nationalen Besonderheiten, die ihm nur zufällige und wissenschaftlich gleichgültige Momente sind.

[490] Nichts liegt ihm darum ferner als der evolutionistische Gedanke einer zu immer höheren Daseinsformen fortschreitenden Gesammtentwicklung der Menschheit. Ja man kann zweifeln, ob der Begriff der Entwicklungsstufen für die einzelnen Perioden, in die er die Geschichte der Völker zerlegt, anwendbar sei. In leicht erkennbaren biologischen Analogien spricht er von einem Kindes-, Jünglings-, Mannes- und Greisenalter der Völker, von einer aufsteigenden Periode, einer Reifezeit und einer sinkenden Periode; ja er nimmt wieder Untertheilungen dieser Perioden vor, unterscheidet rohe und halbrohe Völker, eine Entwöhnungs- und Zahnungsperiode, ein frühes und spätes Mittelalter, eine nachmittelalterliche Zeit, eine erste und zweite Hälfte der wirthschaftlichen Blüthezeit, eine Davids- und Salomonsperiode, cultivirte und übercultivirte, reife und überreife, endlich sinkende und verfallende Völker. Ueberall schweben ihm in erster Linie die Griechen und Römer als Beispiele vor. Das Hauptergebniß der historischen Erfahrung war ihm das, daß es bei jedem Volke einen Culminationspunkt gebe, nach dessen Erreichung fast nothwendig ein unerfreulicher Stillstand und dann leicht ein trauriger Rückschritt eintrete, also die Unvermeidlichkeit des schließlichen Sinkens der Völker. Die Frage nach dem Grunde des Alterns und Sterbens der Völker erschien ihm eben so wenig als lösbar, wie sich ein naturgesetzlicher Grund für die ausnahmslose Nothwendigkeit des Todes beim Menschen angeben lasse. Beide Erscheinungen waren ihm unerklärbare Räthsel der göttlichen Weltordnung.

R. stellt jene auf- und absteigende Stufenfolge für den Lebensverlauf der Völker zwar zunächst für die Nationalökonomie auf; aber es ergibt sich schon aus ihrem unökonomischen Charakter, daß er sie auch für die übrigen kulturellen Lebenserscheinungen anwendbar dachte. Er wollte die Volkswirtschaft „im engsten Bunde mit den anderen Wissenschaften vom Volksleben“ behandelt wissen und ist unerschöpflich in der Aufdeckung interessanter Beziehungen zwischen Wirthschaft, Recht, Sitte, Cultur. Daneben hat er auch eine eigentlich ökonomische Periodenfolge aufgestellt, die er in drei Stufen, je nach dem Vorherrschen von den „Factoren“ Natur, Arbeit, Capital, verlaufen ließ und von der er annahm, daß sie bei jedem vollständig entwickelten Volke sich müsse nachweisen lassen. Viel häufiger aber sind solche „Gesetze“ von ihm für die einzelnen Wirthschaftszweige aufgedeckt und mit einer Fülle historisch-ethnographischer Thatsachen erwiesen worden.

Die gleiche Methode hat er auf die Politik angewandt, die er als „geschichtliche Naturlehre“ der staatlichen Organisationsformen behandelte. Aus dem ursprünglichen Geschlechterstaat läßt er das patriarchalisch-volksfreie Urkönigthum hervorgehen; die Stelle des letzteren nimmt später eine ritterlich-priesterliche Aristokratie ein, die wieder mit dem Emporkommen eines gebildeten Mittelstandes von der absoluten Monarchie abgelöst wird; diese macht dann der Demokratie Platz; letztere endet in Plutokratie, welche dem Cäsarismus die Wege ebnet. Zwar durchlebt nicht jedes Volk alle diese Formen staatlichen Daseins; manches zeigt nur die früheren Entwicklungsperioden, wie mancher Einzelne schon als Knabe oder Jüngling ins Grab sinkt; ein anderes überspringt die eine oder andere Stufe. Aber sie sind Ausnahmen, welche die Regel nicht aufheben. Auch hier die Vorstellung typischer Altersstufen, die das „Volk“ als Gattungswesen erlebt, anschaulich gemacht an einem umfassenden Geschichtsstoff, namentlich aus dem Leben antiker Völker, der in lebendiger, morphologischer Schilderung vorgeführt wird.

Während aber R. in der Politik auf eine philosophische Begründung der staatlichen Organisation überhaupt verzichtet, ließ sich ein gleiches Verfahren in seinem „System der Volkswirthschaft“ nicht aufrecht erhalten. Wie sich die [491] Einzelwirthschaften zu dem planvollen Ganzen der Volkswirthschaft zusammenfügen und in ihm typisch nach dem Gesetze der großen Zahl verlaufende Verkehrserscheinungen erzeugen, war darzulegen und zu erklären. Er hat sich dabei im Ganzen und in den meisten Einzelheiten seinen englisch-französischen Vorgängern angeschlossen und die Gesetze des Verlaufs der volkswirthschaftlichen Erscheinungen aus den gleichen individualpsychologischen Voraussetzungen abgeleitet wie diese. Auch ihm war das Selbstinteresse der Einzelnen die Triebfeder, welche das ökonomische Uhrwerk in Bewegung setzt. Aber neben ihm läßt er ein zweites Moment wirksam sein, die „Liebe Gottes“, welche „die Ideen der Billigkeit, des Rechts, des Wohlwollens, der Vollkommenheit und inneren Freiheit umfaßt und bei niemandem völlig fehlt“. Und auch eine innere Verknüpfung beider wußte sein religiöser Sinn zu finden: der verständige Eigennutz, meint er, treffe in seinen Forderungen immer näher mit denen des Gewissens zusammen, je größer der Kreis sei, um dessen Nutzen es sich handle und je weiter dabei in die Zukunft geblickt werde. „Er wird zum irdisch verständlichen Mittel für einen ewig idealen Zweck verklärt.“ Freilich war mit dieser Formulirung die Aufgabe nicht gelöst, festzustellen, in welchem Verhältniß beide Kräfte bei der Entstehung der volkswirthschaftlichen Vorgänge und Erscheinungen wirksam werden. Auch hier bleibt ein unerklärbarer Hintergrund, dem wir uns um so schwerer nähern werden, als in den wirthschaftlich-socialen Vorgängen alle Erscheinungen in dem Verhältniß wechselseitiger Bedingtheit stehen, bei dem sich Ursache und Wirkung nicht von einander scheiden lassen.

Die Wirthschaftspolitik tritt in dem Roscher’schen „System“ sehr zurück. Zwar hat er in seiner „Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland“ die einzelnen Fachschriftsteller vorzugsweise auf ihre Stellung zu praktischen Fragen geprüft; aber in den Bänden seines Systems, welche die einzelnen Zweige des Wirthschaftslebens behandeln, hat er nicht wie K. H. Rau ökonomische Politik vorgetragen, sondern specielle Nationalökonomik des Ackerbaues, des Handels, des Gewerbfleißes. Er will untersuchen, wie die allgemeinen Gesetze der Volkswirthschaft auf diesen Sondergebieten wirksam werden. Und hier erringt denn auch seine „historische“ Methode die größten und bleibendsten Erfolge. Er kann zeigen, unter welchen Bedingungen die einzelnen Betriebs- und Verfassungsformen der verschiedenen Wirthschaftszweige historisch geworden, welche Wirkungen sie gehabt, welche Abwandlungen sie erlitten haben, wie sie sich heute gestalten; er kann die Pathologie und Therapie der auf diesen Gebieten auftretenden Krankheitszustände darlegen, das Wesen und den Werth der gesetzlichen Institutionen erörtern, die Vorzüge und Nachtheile dieser oder jener Maßregel auseinandersetzen – alles belegt mit anschaulichen Beispielen aus Litteratur und eigener Erfahrung. Allseitigkeit der Betrachtung ist ihm hier oberster Grundsatz. Er will nicht „nach Art eines Wegweisers, sondern nach Art einer Landkarte“ die Fragen seiner Leser beantworten. Er will feststellen, unter welchen Bedingungen diese oder jene Wirkung eintritt, nicht aber den Willen des Wirthschaftspolitikers nach der einen oder andern Richtung bestimmen. Daß es objective Normen für das Handeln des letzteren unter bestimmten thatsächlichen Voraussetzungen nicht gebe, soll damit ebenso wenig gesagt sein, als daß es R. an einem Ideal für die staatliche Einwirkung auf das Wirthschaftsleben gefehlt hätte. „Das Ideal würde erreicht sein, wenn alle Menschen nur wahre Bedürfnisse fühlten, aber die wahren auch vollständig und alle Befriedigungsmittel derselben klar einsähen und mit so vieler Anstrengung, wie für ihre leiblich geistige Entwicklung am heilsamsten ist, erlangen könnten.“

[492] R. ist neben Karl Knies und Bruno Hildebrand der Begründer der „historischen Schule“ in der deutschen Nationalökonomie, und er vor allem. Er hat damit für diese Wissenschaft eine der folgenreichsten wissenschaftlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts hervorgerufen. Gewiß war er nicht ohne Vorgänger: man braucht nur an Gervinus in der Politik, an Friedrich List in der Nationalökonomie zu erinnern. Sein Verdienst liegt darin, daß er die Historisirung dieser Wissenschaften mit unermüdlicher Ausdauer und mit einer fast naturwissenschaftlichen Unbefangenheit bis ins Kleinste durchgeführt und sie mit einer Fülle der feinsten Einzelbeobachtungen bereichert hat. Es widerstrebte seinem conservativen Sinne, das ältere System der rationalistisch abstracten Volkswirthschaftslehre einzureißen und an seiner Stelle auf rein historisch-empirischer Grundlage einen Neubau zu errichten. Ja man kann kaum von einem Umbau sprechen. Die oft getadelte Zwiespältigkeit seines methodischen Verfahrens ist auch von der durch ihn hervorgerufenen Richtung des Neohistorismus nicht überwunden worden. Keiner der Gleichstrebenden hat auch nur annähernd in demselben Maße anregend auf seine Zeitgenossen gewirkt. An dem lauten Streite des Tages hat er sich nicht betheiligt, obwohl er sich über jede neu auftauchende Frage eine auf sorgfältiger und allseitiger Erwägung beruhende Meinung zu bilden pflegte. Auch seine Stellung zu den socialpolitischen Fragen der Gegenwart war eine zurückhaltende, obwohl er sich an der Gründung des Vereins für Socialpolitik 1872 betheiligt hatte. Er betonte gelegentlich, daß er der Religion bei Lösung jener Fragen eine bedeutendere Stellung zudenke als andere Fachgenossen.

Eine stille, zurückhaltende Natur, feind allem falschen Schein und aller Selbstsucht, überzeugungstreu und lieber überzeugend als überredend, voll lebendigen Mitgefühls für materielles und sittliches Elend, stets beobachtend, prüfend, wägend, mit dem gleichen lebendigen Interesse für die Erscheinungen der Gegenwart wie für diejenigen der Vergangenheit, sich begeisternd an den classischen Schriften der Griechen und Römer wie an den Besten der Neuzeit, dabei erfüllt von jener tiefen Religiosität, welche die „doppelte Buchhaltung“ im Leben und in der Wissenschaft verschmähte: so lebt Wilhelm Roscher in der Erinnerung derjenigen, welche das Glück hatten, ihm persönlich nahe zu treten. Die allseitige Theilnahme bei seinem Tode hat gezeigt, wie weithin er auf seine Zeitgenossen gewirkt hat.

Verzeichnisse der Schriften Roscher’s im Handwörterbuch der Staatswissenschaften (2. Aufl.) VI, 464 und im Anhang zu v. Miaskowki’s Nekrolog in den Berichten über die Verhdlg. der Kgl. sächs. Ges. der Wiss. XLVI (1894), S. 222 ff. – Ueber Roscher selbst vgl. K. Arnd, Das System Roscher’s gegenüber den unwandelbaren Naturgesetzen der Volkswirthschaft, Frankfurt 1862. – G. Schmoller, Zur Litteraturgeschichte der Staats- u. Socialwissenschaften, Leipzig 1888. – K. Bücher, Wilhelm Roscher † in den „Preuß. Jahrb.“ LXXVII (1894), S. 104 ff. – A. Schäffle in der „Zukunft“ VIII, Nr. 40. – V. Böhmert, W. Roscher’s Stellung zur Volkswirthschaftslehre und Arbeiterfrage im „Arbeiterfreund“, 1894, S. 161 ff. – W. Neurath, Wilh. Roscher und die historisch-ethische Nationalökonomie, Wien 1894. – Karl Roscher im Vorwort zu W. Roscher’s Geistliche Gedanken eines Nationalökonomen, Dresden 1895. – O. Hintze, Roschers politische Entwicklungstheorie im „Jahrb. f. Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft“ XXI (1897), S. 1 ff. – Max Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie in demselben Jahrbuch XXVII (1903), S. 1181 ff.; XXIX, S. 1323 ff.; XXX, S. 81 ff.