Zum Inhalt springen

ADB:Rau, Carl

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Rau, Karl Heinrich“ von Emanuel Leser in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 380–385, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rau,_Carl&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 06:04 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Rau, Johann Eberhard
Nächster>>>
Rau, Leopold
Band 27 (1888), S. 380–385 (Quelle).
Karl Heinrich Rau bei Wikisource
Karl Heinrich Rau in der Wikipedia
Karl Heinrich Rau in Wikidata
GND-Nummer 118787942
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|27|380|385|Rau, Karl Heinrich|Emanuel Leser|ADB:Rau, Carl}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118787942}}    

Rau: Karl Heinrich R., einer der hervorragendsten deutschen Nationalökonomen, war geboren in Erlangen am 29. November 1792, † in Heidelberg am 18. März 1870. Er stammte aus einer Theologenfamilie. Der Vater Johann Wilhelm R. (geb. zu Rodach am 9. März 1745, † zu Erlangen am 1. Juli 1807) war seit 1779 Professor der Theologie an der Erlanger Universität und Pfarrer an der Altstädter Kirche. Karl Heinrich R., der jüngste von acht Geschwistern, zeigte frühzeitig vorzügliche Begabung und Lernbegierde. Diese Eigenschaften, unterstützt durch die geistigen Anregungen, die er im Elternhause empfing, und durch einen ausgezeichneten Privatunterricht, den er gemeinsam mit einigen andern Professorenkindern genoß, förderten seine Entwicklung so rasch, daß er schon 1808 als Student an der Erlanger Universität immatriculirt werden konnte. Gleichzeitig bemühte er sich, durch das Ertheilen von Unterrichtsstunden für den Unterhalt der Seinigen, die durch das Ableben des Familienhauptes in [381] ungünstigere Verhältnisse gekommen waren, auch seinerseits beizutragen. Nachdem er vier Jahre studirt hatte, wurde er am 19. März 1812 zum Doctor promovirt und zugleich als Privatdocent für Staatswirthschaft an der Universität aufgenommen. Er bekleidete daneben eine Lehrstelle am Gymnasium, wo er in verschiedenen Fächern, namentlich auch im Französischen und in der Mathematik, unterrichtete. 1814 löste er eine von der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften gestellte Preisfrage über die Verhütung der durch die Aufhebung des Zunftwesens entstehenden Nachtheile. 1816 wurde er zum außerordentlichen Professor und zum zweiten Bibliothekar der Universität befördert. 1817 ertheilte ihm die Regierung einen längeren Urlaub und eine materielle Unterstützung zu einer größeren Studienreise durch Deutschland. Ende 1818 wurde er, kurz nachdem er sich mit der Tochter des Oberpostmeisters Fischer in Bayreuth verheirathet, zum ordentlichen Professor ernannt. 1820 wurde seine Arbeit „Ueber die Ursachen der Armuth“ von der Harlemer Gesellschaft der Wissenschaften mit einem Preise gekrönt. Nachdem er schon mehrfach Berufungen an andere Universitäten abgelehnt hatte, folgte er einer solchen, die im J. 1822 von Heidelberg aus an ihn erging. Hier wurde er alsbald zum Hofrath ernannt und empfing dann im Laufe seiner langjährigen Wirksamkeit die mannichfachsten staatlichen Auszeichnungen und akademischen Ehren. 1832 wurde er Geheimer Hofrath, 1845 Geheimrath; hohe Orden wurden ihm nicht nur von Baden, sondern auch von Preußen und Rußland verliehen. 1831 und 1847 war er Prorector. Jahrzehnte hindurch war er als ständiger Referent oder als Director das maßgebendste Mitglied der mit der ökonomischen Verwaltung der Universität betrauten Commission, wie er auch lange durch nahe persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Regierung einen starken Einfluß besaß. 1833, 1835 u. 1837 vertrat er die Universität in der ersten badischen Kammer und 1839 gehörte er derselben Körperschaft durch landesherrliche Berufung an. Er hat sich an den Verhandlungen und an den Commissionsarbeiten der Kammer, namentlich auch bei den wichtigen volkswirthschaftlichen Vorlagen, wie der Zehntablösung, dem Eisenbahnbau, in thätiger und erfolgreicher Weise betheiligt. 1848 gehörte er dem Frankfurter Vorparlament an. Auch für die Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten, für die er immer ein großes Interesse zeigte, das auch durch den besonders intimen Umgang mit seinen theologischen Collegen genährt wurde, wurde er in verschiedener Weise, besonders aber als Mitglied der Generalsynode, in Anspruch genommen; er gehörte auch zu den Stiftern des Protestantenvereins. Seine Wirksamkeit als akademischer Lehrer war eine sehr bedeutende; der größte Theil des badischen Beamtenthums empfing durch ihn seine Ausbildung in den staatswirthschaftlichen Disciplinen. Außer über die nationalökonomischen Fächer las er lange Jahre Technologie und Landwirthschaft. Mit den hervorragendsten deutschen Fachmännern trat er auch dadurch in Beziehung, daß er im J. 1835 eine Zeitschrift, das „Archiv der politischen Oekonomie und Polizeiwissenschaft“ begründete; dieselbe wurde bis 1852 fortgeführt und dann mit der Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft verschmolzen. Auch im Ausland unterhielt er mit bedeutenden Persönlichkeiten, einem Quetelet, einem Senior, rege Verbindung; eine außerordentlich große Zahl fremder gelehrter Gesellschaften, darunter die Akademieen von Wien, Paris und Brüssel, ernannten ihn zum Mitglied. In seinen späteren Tagen war ihm beschieden, eine Reihe Erinnerungsfeste unter der Theilnahme weiter Kreise zu begehen, namentlich 1862 sein fünfzigjähriges Doctorjubiläum und 1868 seine goldene Hochzeit. Geistige Frische, die sich mit jugendlicher Haltung und kräftigem Aussehen verband, bewahrte er sich bis in das hohe Alter; aber seine letzten Lebensjahre waren doch durch ein Herzleiden getrübt, das sich bei ihm ausbildete und ihn endlich nöthigte, seine Vorlesungen aufzugeben. Er erlag der Krankheit am Abend des [382] 18. März 1870, als gerade das 58. Jahr seit seiner akademischen Habilitation zu Ende ging.

R. hat seine erste staatswissenschaftliche Ausbildung unter Harl und Lips und nach der alten cameralistischen Methode erhalten. Wenn er sich später weit erhoben hat über diese Anschauungsweise, so hat er den Fortschritt vor allem dem Studium der ausländischen Litteratur zu danken gehabt. In Verbindung aber mit dieser neuen Erkenntniß ist die Grundlage, auf der sich seine Fachbildung aufbaute, ein eigenthümlicher Vorzug geworden, die ihn zu seinen trefflichsten litterarischen Leistungen befähigte. Namentlich in der Beurtheilung landwirthschaftlicher Verhältnisse aus einem allgemeinen Gesichtspunkt hat er sich immer als Meister bewährt. Schon 1818 hat er über die „Größe der Landgüter“, womit er sich in allen Perioden seiner wissenschaftlichen Entwicklung immer aufs neue beschäftigt hat, eine Abhandlung veröffentlicht, und in seiner bedeutendsten Arbeit aus der Erlanger Zeit, den „Ansichten der Volkswirthschaft“ vom Jahre 1821 sind unzweifelhaft die werthvollsten Ausführungen diejenigen, die sich auf agrarische Zustände und agrar-politische Fragen beziehen. In der Erörterung dieser Gegenstände zeigte er auch damals schon freiere Anschauungen, während er in Bezug auf andere wirthschaftliche Fragen noch stark in den überlieferten Vorurtheilen befangen erscheint. Auch in der Folge sind diejenigen seiner Monographieen, die ihm den begründetsten Anspruch auf dauernden Nachruhm gewähren, dem nämlichen Gebiete entnommen. Es sind drei vorzügliche Arbeiten, die hier namhaft zu machen sind. Zunächst die zwei Schriften „über die Landwirthschaft der Rheinpfalz und insbesondere in der Heidelberger Gegend“, zuerst 1830 erschienen, dann nochmals als Festschrift für die Versammlung der deutschen Landwirthe im J. 1860, und die „Geschichte des Pfluges“ (1845). Durch die glückliche Wahl des Gegenstandes, der ebenso wichtig und dankbar wie wenig bearbeitet sich erweist, durch die knappe, ausschließlich Bedeutendes bietende Darstellung, endlich durch den reichen Inhalt, der die Fragen erschöpft, haben die beiden Büchlein einen Werth, wie ihn ihr bescheidener Umfang kaum ahnen läßt. Ebenso besitzt eine dritte Arbeit, die nur äußerlich weniger abgeschlossen ist, eine bleibende Bedeutung, die Untersuchung „Ueber den kleinsten Umfang eines Bauerngutes“, von der ein Theil im Archiv für politische Oekonomie, ein zweiter 1856 in der Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft veröffentlicht wurde, und die auch durch die angewandte Methode höchst schätzbar erscheint. Die letztere erinnert an die neuerdings so fruchtbar gewordenen privatstatistischen Erhebungen, zugleich aber an das große Muster des die Einzelbeobachtungen zu allgemeiner Erkenntniß erhebenden Thünen’schen Verfahrens. Die genannten sind nicht die einzigen Schriften, die uns Rau’s technische Sachkunde zeigen; vielmehr ist namentlich noch der eingehende Bericht über „Die landwirthschaftlichen Geräthe der Londoner Ausstellung“ zu erwähnen, den er 1851 im Auftrag der Zollvereinsstaaten den Regierungen erstattete und mit Zusätzen im Buchhandel erscheinen ließ. Die Kenntnisse, die ihn selbst so sehr förderten, wollte er auch zum Nutzen des Staates den Dienern desselben zugeführt wissen. Mit der Frage der Ausbildung der Verwaltungs- und Finanzbeamten hat er sich wiederholt schriftstellerisch beschäftigt, besonders in einem Aufsatz von 1836 „Ueber die wissenschaftliche Vorbildung der Beamten zum Administrativfach“. Hier wird großer Werth auch auf den Besitz naturwissenschaftlicher und technologischer Kenntnisse gelegt und deßhalb ein Bildungsgang gefordert, wie er gerade in Baden noch jetzt wenigstens den Candidaten des Finanzfaches thatsächlich vorgeschrieben ist.

Die besondere Art seiner Vorbildung, die den Blick auf das Praktische und Einzelne gelenkt, ist dann allerdings für R. lange Zeit ein Hinderniß gewesen [383] zur treffenden Beurtheilung theoretischer Fragen und überhaupt zur Gewinnung der richtigen allgemeinen Gesichtspunkte. Er hat alsbald mit dem Beginne seiner akademischen Thätigkeit, so sehr ihn diese in Anspruch nahm, sich der wissenschaftlichen Forschung zugewandt und gerade in Erlangen mit bewundernswerthem Fleiße eine stattliche Anzahl von Schriften veröffentlicht. Dieselben sind sämmtlich ein imponirendes Zeugniß für die Begabung des Autors, der nicht bloß eine reiche allgemeine Bildung und ausgedehnte fachmäßige Belesenheit, sondern auch Reife und Ueberlegenheit des Urtheils zeigt, die seinen Jahren weit vorausgeeilt waren. Allein seine Vorzüge treten hauptsächlich in Einzelbemerkungen und in der Art der Beweisführung entgegen, während die schließlichen Resultate vielfach unserer heutigen Anschauung die richtige Entscheidung zu verfehlen scheinen. So ist R. in der Schrift „Ueber die Aufhebung des Zunftwesens“ von 1816 noch ein entschiedener Gegner der Gewerbefreiheit; so hat selbst die im gleichen Jahr veröffentlichte schwungvolle und an schönen Betrachtungen reiche Abhandlung „Ueber den Luxus“ doch einen stark mercantilistischen Charakter, indem sie einen Hauptnachdruck auf die Industrieblüthe und auf den Verkehr und Absatz legt. Auch in den „Ansichten der Volkswirthschaft“ ist noch einer ziemlich weitgehenden Beschränkung des Getreidehandels das Wort geredet, namentlich aber der Aufsatz „Ueber die Handelsbilanz“ leidet an einer gewissen Ueberschätzung des Geldes und der Bedeutung der Zollausweise und bewegt sich vielfach in den unklaren Vorstellungen und Ausdrucksweisen der älteren deutschen Theoretiker, deren eingehendes Studium R. schon 1816 zur Skizze einer „Historia politices sive civilis doctrinae“ verwerthet hatte. Scharfe und wohlbegründete Einwürfe gegen die hergebrachten Anschauungen, denen er anhing, mußten ihm entgegentreten, als er mit der ausländischen Litteratur genauer bekannt wurde. Zunächst hat die Beschäftigung mit der letzteren ihm zu zwei nützlichen Publicationen Veranlassung gegeben, 1819 zur Uebersetzung des „Cours d’économie politique“ von Storch und 1821 zu der Schrift „Malthus und Say über die Ursachen der jetzigen Handelsstockung“. Seinen eigenen wissenschaftlichen Standpunkt aber gab er nicht allzuleicht auf. So polemisirt er gegen Storch zu Gunsten des Zunftzwangs, und was die zweite Schrift angeht, worin es galt, zwischen den Aussprüchen zweier fremder Autoritäten zu wählen, so hat er sich für diejenige entschieden, die den ohnehin in Deutschland herrschenden Lehren am nächsten kam. In Wirklichkeit war die tiefere, wissenschaftlichere Auffassung der Streitfrage auf Seiten Say’s; Malthus vertritt die mehr an den äußeren Schein sich anschließende, dem Praktiker naheliegende Meinung und R. hat sich im Wesentlichen dem Urtheil des Letzteren angeschlossen.

Große und im ganzen heilsame Bedeutung hat R. für die Systematik der Nationalökonomie gewonnen. Schon in der Zeit, als er noch die Cameralwissenschaft als eine einheitliche Disciplin auffaßte, in welcher seine wissenschaftlichen Bemühungen ganz aufgehen sollten, ohne andrerseits ihren Umfang vollständig umfassen zu können, hat er doch in selbständiger Weise diesem Wissensgebiet wenigstens eine vernünftige Gliederung zu geben versucht. Das von ihm empfohlene System ist bereits erkennbar in seinem 1822 veröffentlichten, zunächst zum praktischen Gebrauch bei der Vorlesung bestimmten „Grundriß der Kameralwissenschaft oder Wirthschaftslehre für encyklopädische Vorlesungen“; er hat dasselbe dann Ende 1827 noch näher begründet in einer gewandten und durchdachten Auseinandersetzung „Ueber Kameralwissenschaft; Entwickelung ihres Wesens und ihrer Theile“. R. unterscheidet in diesen Schriften zwischen der Lehre von der Privatwirthschaft und von der öffentlichen Wirthschaft und schickt beiden Theilen eine allgemeine Wirthschaftslehre voraus. Was wir heute unter dem vollständigen Gebiet der Nationalökonomie begreifen, ist durch diese Anordnung des [384] überlieferten Stoffes entstanden, indem nur der mittlere Theil, der die Privatwirthschaft enthielt, ausgeschieden wurde. R. selbst war es, welcher diesen weiteren Schritt vollzog. Dann verband er die allgemeine Wirthschaftslehre mit dem theoretischen Theil der Lehre von der öffentlichen Wirthschaft zur sogenannten Volkswirthschaftslehre und unterschied den angewandten Theil der öffentlichen Wirthschaftslehre in eine Lehre von der Volkswirthschaftspflege und eine solche von der Finanz. Das ganze, demgemäß in drei Theile zerlegte Gebiet nannte er politische Oekonomie.

Die in solcher Weise nach ihren Grenzen und ihren Aufgaben bestimmte Wissenschaft hat er dann auch vollständig in einem Compendium zur Darstellung gebracht. Dieses „Lehrbuch der politischen Oekonomie“ war das Werk, welches ihm bei seinen Zeitgenossen einen allbekannten Namen und das größte Ansehen verschaffte. Die vier Bände, aus denen die erste Bearbeitung desselben besteht, erschienen in den Jahren 1826, 1828, 1832 und 1837. Vielfach umgeändert, erweitert und zuletzt auf sechs Bände ausgedehnt, wurde es in einer großen Anzahl von Auflagen immer aufs neue veröffentlicht; auch erfolgten Uebersetzungen in acht verschiedene Sprachen. Mehr als ein Menschenalter hindurch war es in Deutschland die maßgebende Darstellung der Materie. Besonders drei Vorzüge, die dem Verfasser eigen sind, haben ihm zu diesem großen Erfolg verholfen. Vor allem seine gründliche Kenntniß der praktischen Einzelheiten des gewerblichen Lebens. Dadurch wurde ihm nicht nur möglich, seine allgemeinen Ausführungen durch die belehrendsten Beispiele, die er mit großem Fleiße zusammentrug, zu beleben und zu erläutern, sondern auch seine Lehrsätze selbst erlangen eine größere Bestimmtheit und erwecken stärkeres Zutrauen. Der Abschnitt insbesondere, der innerhalb des Systems die einzelnen productiven Beschäftigungen nach ihrer technischen Natur schildert, ist noch heute unsrer Jugend mit ihrer einseitig formalen Ausbildung dringend zum Studium zu empfehlen. Der zweite Charakterzug, den R. in seinem Lehrbuch in hohem Grade bewährt, ist eine große Mäßigung und Besonnenheit des Urtheils. Eine ausgeprägte Klarheit, Ruhe und Würde der Sprache beruht auf jener Eigenschaft. Sachlich allerdings hat die letztere zuweilen auch ungünstigere Wirkungen. Sie tritt hindernd entgegen, wenn es sich darum handelt, neue wissenschaftliche Entdeckungen rückhaltlos anzuerkennen, in das System aufzunehmen oder sie gar noch zu erweitern und zu verallgemeinern. Bei den wirklich zweifelhaften Fragen aber oder in den zahlreichen Fällen, wo je nach den näheren Umständen bald die eine, bald die andere Entscheidung die angemessene ist, da ist Rau’s vorsichtiges Abwägen der einander entgegengesetzten Gesichtspunkte von großem Werth. Was aber endlich dem Werke den größten Theil seiner Bedeutung verschafft hat, ist die im wirthschaftlichen Sinn liberale, moderne Gesinnung, die dasselbe erfüllt. Je mehr er mit der Litteratur in ihrem weiten Umfang vertraut wurde, und je mehr die Zeit selber fortschritt, desto vollständiger hat R. die alten Vorurtheile abgelegt, die er zu Gunsten staatlicher Beschränkung und überhaupt der kleinlichen, gebundenen Verhältnisse der Vergangenheit ursprünglich hegte. Mit jeder neuen Auflage mehr hat er in seinem Lehrbuch jene freien, die Gegenwart optimistisch beurtheilenden Anschauungen zum Ausdruck gebracht, die in der Wissenschaft fremder Nationen schon herrschten, aber auch in Deutschland vom Zeitalter begriffen und gefordert wurden. Die Vorzüge des Werkes treten in den praktischen Theilen am meisten hervor, und die betreffenden Abschnitte haben deshalb am längsten ihre Herrschaft in der Litteratur behauptet, ja sie sind noch immer nicht in allen Theilen durch neuere Darstellungen überflüssig gemacht. Auch die theoretische Nationalökonomie Rau’s aber hat einen bedeutenden Einfluß auf die Litteratur geübt. Es genügt, einen Punkt als Beleg anzuführen. Wenn in [385] Deutschland die ökonomischen Grundbegriffe viel weitläufiger behandelt werden als anderwärts, so entspricht dieser Thatsache der historische Umstand, daß R. der allgemeinen Wirthschaftslehre vom Ende des 18. Jahrhunderts sein ganzes Leben lang große Wichtigkeit beigemessen und derselben deshalb in seinem System Aufnahme gewährt hat. Durch die Vermittelung Rau’s ist die deutsche Theorie im Zusammenhang geblieben mit den abstracten Begriffserörterungen eines Klipstein, Völlinger und ähnlicher Schriftsteller, die im übrigen bei den heutigen Vertretern des Faches bis auf den Namen vergessen sind.

Den principiellen Standpunkt in wirthschaftlichen Fragen, zu dem R. allmählich fortschritt, hat er nicht bloß im Lehrbuch, sondern daneben auch in mancher andern öffentlichen Aeußerung behauptet. So ist er in einer Kritik, die allgemeinste Beachtung fand, den List’schen Theorieen mit Festigkeit entgegengetreten; so hat er in seiner Rectoratsrede von 1847 „Ueber Beschränkungen der Freiheit in der Volkswirthschaftspflege“ sich doch in allem wesentlichen zu den Grundsätzen der freien Concurrenz bekannt. Das freihändlerische Princip erscheint auch als das maßgebende in seiner bedeutenden publicistischen Abhandlung „Ueber die Krisis der deutschen Zollvereins im Sommer 1852“, worin er vor der handelspolitischen Vereinigung mit dem protectionistischen Oesterreich warnt. Und selbst noch in seiner letzten litterarischen Arbeit, dem kleinen Aufsatz „Ueber die Volkswirthschaftslehre und ihr Verhältniß zur Sittenlehre“ stellt er es sich zur Aufgabe, das Walten wirthschaftlicher Naturgesetze und die siegreiche Macht derselben hervorzuheben.

R. gehört zu einem kleinen Kreis bevorzugter Persönlichkeiten in der Geschichte der deutschen Nationalökonomie. Bei seinen Zeitgenossen hat er gegolten und auf ihre Anschauungen und Handlungen erheblich gewirkt. Der Wissenschaft hat er Aufgaben vorgezeichnet und einzelne Bereicherungen zugeführt. Endlich aber fehlt es unter seinen zahlreichen litterarischen Erzeugnissen nicht völlig an solchen, die Aussicht haben, mit einer ganz beschränkten Zahl von Schriften des Fachs lange fortzuleben und noch nach Generationen verständnißvollen Forschern Befriedigung zu gewähren und Anerkennung abzunöthigen.

D. H. Meier in Badische Biographieen II, 147–160. – Roscher, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland, S. 847–860. – Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 23. März 1870. – Weber, Heidelberger Erinnerungen, S. 164–167.