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ADB:Glüsing, Johann Otto

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Artikel „Glüsing, Johann Otto“ von Carl Bertheau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 258–262, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gl%C3%BCsing,_Johann_Otto&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 06:51 Uhr UTC)
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Glüsing: Johann Otto G., bekannter Separatist, † 1727, ist der Sohn des M. Johannes G., der seit 1654 Pastor zu Altenesch im Stedinger Lande in der Grafschaft Delmenhorst war und im J. 1679 starb. Da er aus der zweiten Ehe seines Vaters stammt, die derselbe im J. 1674 mit Margaretha Elisabeth, einer Tochter des gewesenen Voigts Schuhmacher zu Esens, schloß, so muß er etwa ums J. 1676 geboren sein, wozu seine eigene Angabe aus dem J. 1726, daß er ungefähr 50 Jahre alt sei, stimmt. Es scheint, als wenn die Mutter als Wittwe mit den Kindern nach dem benachbarten Bardewisch gezogen sei, da unser G. sich bei seiner Inscription in Jena 30. Mai 1696 als Bardewischa Oldenb. bezeichnete. Von 1696–1700 studirte er in Jena Theologie. Daß die Grafen von Oldenburg, seine Landesherren, denen auch Delmenhorst gehörte, damals Könige von Dänemark und Norwegen waren, mag ihm den Weg in diese Reiche geöffnet haben. Bald nach Beendigung seiner Studien finden wir ihn nämlich als Hauslehrer in Kopenhagen thätig. Mit einem Freunde Namens Eberhard, wahrscheinlich dem Band V, S. 566, besprochenen Christoph Eberhard, war er hierher gekommen; beide wurden bald Leiter der collegia pietatis, welche bei den Kopenhagener Bürgern Peder Svanö und Maurids Samsö gehalten wurden. Hier erscheint G. zunächst als Pietist; er [259] wird als ein Mann von guten Gaben bezeichnet, der besonders in der Kirchengeschichte Kenntnisse besaß. Die Bewegung, welche von diesen collegia pietatis ausging, war keine geringe; sie nahm bald einen antikirchlichen Charakter an. Die, welche an diesen Versammlungen Theil nahmen, hielten sich von der Kirche und dem Abendmahl fern. Um diese Zeit schon soll von G. eine Satire auf das Leben der damaligen orthodoxen Geistlichen erschienen sein, nämlich eine Lebensbeschreibung des falschen Apostels Homiletici; ob diese gleich anfänglich oder erst später einer kleinen Schrift: „Die Geburt, Leben und Tod des Herrn Christi und seiner Apostel“ als Anhang hinzugefügt ward, muß dahingestellt bleiben; jedenfalls ist die genannte Satire hernach mit dieser Schrift, die zu nicht üblen Kupferstichen, die den Herrn und die Apostel darstellen, den Text bildet, verbreitet worden. (Ein Abdruck dieser Schrift ist bezeichnet als „gedruckt zu Jerusalem auf Unkosten des armen Lazari nachgelassener Erben“, ohne Jahrszahl, 62 S. 8°; zu einem späteren Druck aus dem J. 1733 soll Dippel eine Vorrede geschrieben haben.) Bald brach nun ein Kampf seitens der Kopenhagener Prediger gegen G. aus. Doch ehe noch am 21. Oct. 1706 das „Plakat gegen die Sondergesinnten“, welches die pietistischen Versammlungen verbot, erschien, hatte G. Kopenhagen verlassen. Er hatte nämlich bei dem Generalmajor Hausmann in Christiania die Stelle eines Hauslehrers erhalten. Auch hier leitete er bald fromme Zusammenkünfte und verbreitete pietistische und separatistische Schriften, die ihm Eberhard aus Kopenhagen nachsandte. Unter denen, die in Christiania gegen ihn auftraten, ist der Stiftspropst Jakob Lodberg besonders zu nennen, auf dessen Empfehlung Hausmann ihn zum Hauslehrer angenommen hatte. Lodberg wandte sich endlich an die theologische Facultät in Kopenhagen; er gibt dabei die folgende Schilderung von G.: er „ist weder unseres Glaubens, noch Papist, noch Reformirter, sondern hat eine Lehre, die aus den größten Ketzereien besteht, und breitet dieselbe aus; er gebraucht nie das Sacrament aus Furcht, wie er vorgiebt, es möchte von Menschen befleckt werden, mit denen ein rechter Christ nicht umgehen darf; er setzt die Christenversammlungen in der Kirche herunter, verachtet die Taufe und lacht nur darüber, daß man Kinder tauft, läugnet Christi Genugthuung und die Ewigkeit der Höllenstrafen; er glaubt, daß ein Mensch so vollkommen werden kann, daß er nicht mehr sündigt, und meint, daß das Christenthum, welches jetzt herrsche, das Reich des Antichrist sei, und daß es bald untergehen werde, wenn das tausendjährige Reich komme“. Falls diese Schilderung richtig ist, war G. schon damals aus einem Pietisten zu einem Spiritisten und Separatisten geworden, ein Weg, den zu jener Zeit bekanntlich viele gingen. G. hatte übrigens eine große Anzahl von Anhängern, wie Lodberg klagt; unter ihnen waren auch die beiden Candidaten Jürgen Hammer aus Dänemark und Christian Funch aus Halle. Ein Rescript des Königs vom 28. Sept. 1706 gab dem Vicestatthalter v. Gabel auf, gegen „Johann Otto G. aus unserer Grafschaft Oldenburg, der ein Erzquäker sein soll“, eine Untersuchung einzuleiten, in der G. eidlich angeben sollte, an wen er seine ärgerlichen Bücher ausgetheilt habe und wer seine Anhänger seien. Am 11. Decbr. 1706 erschien dann eine königliche Ordre, nach welcher G. innerhalb drei Tagen die Lande und Reiche des Königs meiden und sich in ihnen nachmals nie wiederfinden lassen sollte. G. ging nun über Friedrichsstadt nach Hamburg. Ob er bei dieser Anwesenheit im J. 1707 in Friedrichsstadt oder bei einer späteren dort getraut ist, ist nicht sicher; jedenfalls ist er um diese Zeit in Friedrichsstadt „mit seiner aus Dänemark gebrachten Braut“ copulirt worden. Am Ende des J. 1707 lebte er in Hamburg; hier ward im Januar 1708 auf Antrag des Ministeriums eine Untersuchung gegen ihn veranlaßt, weil er über Kirchengehen, Beichte und Abendmahl sich ungebührlich geäußert, [260] auch einen jungen Menschen zur Sectirerei verführt hatte. Er begab sich darauf nach Altona, wo ihm im J. 1711 oder 12 seine Frau starb; sie hinterließ ihm zwei Töchter, die er hernach selbst unterrichtete, auch in der Musik und im Singen unterwies. Nachdem er in Altona bei der Einäscherung der Stadt durch die Schweden im J. 1713 abgebrannt war, bei welcher Gelegenheit er auch seine nicht unbedeutende Bibliothek einbüßte, begab er sich wieder nach Hamburg. Hier scheint er bis zum J. 1725 unangefochten gelebt zu haben. Ob er erst seit diesem Jahre Conventikel in seiner Wohnung hielt oder ob man früher nicht Anlaß fand, gegen diese Versammlungen einzuschreiten, – vielleicht hielt er sie meistens in Altona, wo allen Sectirern mehr oder weniger Freiheit gelassen wurde, – läßt sich nicht mehr ausmachen; gewiß ist, daß sich in Hamburg und Altona ein Kreis von Anhängern um ihn bildete, deren Zusammenkünfte er in der Stille leitete und die ihn als ihr Haupt ansahen. Er galt um diese Zeit für einen Schüler Gichtel’s und ward zu den Engelsbrüdern, wie die Gichtelianer genannt wurden, gerechnet. Ob er Gichtel selbst, der am 21. Jan. 1710 gestorben war, früher persönlich kennen gelernt oder mit ihm in Briefwechsel gestanden, läßt sich nicht mehr feststellen; mit Gichtel’s Schüler und Nachfolger, Ueberfeld, stand er anfangs, etwa bis zum J. 1718, in Correspondenz; hernach sagte er sich von ihm los, wahrscheinlich weil auch ihm, wie so manchen anderen, Ueberfeld’s immer schroffer werdende Meinungen zu weit gingen und die Herrschaft, die er sich anmaßte, unerträglich wurde. Mit Gleichgesinnten außerhalb Hamburgs stand er in vielfachem schriftlichen und persönlichen Verkehr; er machte oft Reisen und erhielt vielen Besuch. Man hat ihn wahrscheinlich auch von auswärts mit Mitteln für seinen Lebensunterhalt unterstützt. In Altona und Hamburg beschäftigte er sich mit litterarischen Arbeiten, außerdem aber auch mit der Verfertigung von Uhren und Instrumenten. Für seine Studien schaffte er sich nach 1713 wieder eine große Bibliothek an, wie er denn ohne Frage belesen und gelehrt gewesen ist. Ein eigenes System hatte er nicht und seine Aussprüche sind oft nicht recht deutlich; von den Meinungen Gichtel’s wichen die seinen theilweise ab. Wie alle Sectirer, hielt er von der äußeren Gestalt der Kirche, von ihren Ordnungen und namentlich von den Sacramenten nichts; am Gottesdienst nahm er nicht theil; vom Lehrbegriff der lutherischen Kirche wich er stark ab, doch behauptete er, daß er nicht dem evangelischen Glauben zuwiderlaufender Meinungen überführt werden könne. Die Hauptsache war ihm das brüderliche Gemeinschaftsleben, wobei es sich wol von selbst ergab, daß diese Brüder, die in ihm „ihren väterlichen oder parentalischen Bruder“ verehrten, sich für eine Art ecclesiola in ecclesia, eine besonders heilige Gemeinschaft, hielten. Oeffentliche Angriffe gegen die Kirche hat er sich, wenigstens in Hamburg und Altona, nicht zu Schulden kommen lassen; in der Stille frommen Sinn und liebevolles Zusammenhalten zu pflegen und die, welche sich an ihn wandten, aus Gottes Wort und eigener Meinung zu berathen, darin bestand seine Thätigkeit unter ihnen, wie er selbst ohne Frage ein frommer und schlichter Mann gewesen ist; in dieser Hinsicht ist zwischen ihm und anderen Sectenhäuptern jener Tage ein großer Unterschied. Die von ihm herausgegebenen Schriften sind, wenigstens seit seinem ersten Aufenthalte in Hamburg, wol alle von Hermann Heinrich Holle gedruckt, der mit ihm befreundet gewesen zu sein scheint; Holle druckte zuerst in Hamburg, im J. 1710 in Wandsbeck und seit dem J. 1711 in Schiffbeck, einem kleinen Dorfe südlich von Wandsbeck und östlich von Hamburg. Unter Glüsing’s Aufsicht und Leitung erschienen bei Holle zunächst verschiedene deutsche Bibelausgaben, welche alle darin sich gleichen, daß ihnen unter dem Titel „Apocrypha neues Testaments“ eine deutsche Uebersetzung der sogen. apostolischen Väter beigegeben ist; diese Uebersetzung ist ursprünglich [261] die von G. Arnold; später hat G. die apostolischen Väter auch selbständig übersetzt und auch als ein Werk für sich herausgegeben, 1723. Dem Alten Testament sind, wie das in jener Zeit oft geschah, auch das 3. und 4. Buch Esra und das 3. Buch der Maccabäer hinzugefügt. Auch die „Biblia pentapla“, d. h. eine Zusammenstellung von vier deutschen (im Alten Testament der lutherischen, reformirten, katholischen und jüdischen, im Neuen Testament der lutherischen, reformirten, katholischen und der von Johann Heinrich Reitz) und der holländischen Uebersetzung in drei Quartanten, ein sehr nützliches, aber in einer eigenen Gegenschrift des Pastor Michael Berns in Wandsbeck als ein synkretistisches Werk verdächtigt, ist von G. besorgt. Außerdem gab er im J. 1715 in einem schönen Druck in Quart Jakob Böhme’s sämmtliche Werke heraus; in den „Unschuldigen Nachrichten“ vom J. 1720 wird erzählt, daß ein reicher Kaufmann in Hamburg, Namens Poppe, diesen Druck bezahlt und jedem Engelsbruder ein Exemplar geschenkt habe; über diese Ausgabe vgl. Bd. III. S. 71. Glüsing’s eigene Schriften, meistens Auszüge aus Gottfried Arnold’s Werken, können hier übergangen werden; ein Verzeichniß derselben findet sich bei Bolten (vgl. unten). Unter ihnen ist der „Catechismus unseres Herrn Jesu Christi aus den vier Evangelien gezogen“, eine Zusammenstellung der Hauptlehren des Christenthums in Worten Jesu, für Glüsing’s Auffassung derselben nicht ohne Interesse; er füllt nur wenige Seiten und ist einzeln und auch als Anhang zu der schon genannten Ausgabe der apostolischen Väter vom J. 1723 gedruckt. In diesem Catechismus erlaubt sich G. einzelne Abweichungen von Luther’s Uebersetzung, z. B. Matthäi 23, 8 „ihr sollt euch nicht Doctor nennen lassen“. – Vom J. 1725 an ward G. wieder wegen seines sectirerischen Treibens verfolgt; ob er um diese Zeit vielleicht wieder mehr hervorgetreten war oder was sonst den Anlaß bot, scheint nicht mehr zu ermitteln. Er hatte in Friedrichsstadt einen kleinen Kreis von Anhängern, es sollen nur sechs Familien gewesen sein, die er von Zeit zu Zeit besuchte; hier wurde zuerst eine Untersuchung gegen ihn angestellt und durch das Urtheil einer königlichen Commission vom 5. Juni 1725 wurde er abermals „bei Vermeidung harter Leibesstrafe“ aus den Reichen des Königs von Dänemark ausgewiesen und jedermann verboten, mit ihm Correspondenz zu führen und seine Schriften zu verbreiten. Im August desselben Jahres wurde dann auch in Hamburg wieder eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet; zunächst forderte im Auftrage des Ministeriums der bekannte Pastor Johann Christopher Wolf, der Verfasser der Curae, ihn vor sich; dann wurde die Sache dem Senat übergeben, weil sich herausgestellt hatte, daß G. ein Schwärmer sei und Conventikel halte. Man hatte gerade in jenen Tagen mit allerlei Schwarmgeistern, zum Theil recht phantastischen und unlautern, zu thun gehabt und hatte Ursache, gegen die antikirchlichen Bestrebungen nicht zu nachsichtig zu sein. Im Anfange des J. 1726 hatte G. dann ein zweimaliges richterliches Verhör zu bestehen; mehrere, die nachweislich zu seinen Anhängern gehörten, wurden gleichfalls vernommen; und das Resultat war, daß durch Senatsdecret vom 25. Jan. 1726 der Vertrieb seiner Bücher verboten und am 6. Februar ihm selbst aufgegeben wurde, innerhalb 4 Wochen sich aus Hamburg fortzubegeben. Er wandte sich darauf nach Altona, wo er wegen der dieser Stadt verliehenen Privilegien trotz der doppelten Ausweisung aus den dänischen Landen sich sicher fühlen mußte. Hier starb er nach Bolten am 2. Aug. 1727. Seine Bibliothek vermachte er dem Altonaer Gymnasium.

Vgl. Joh. Adr. Bolten, Historische Kirchen-Nachrichten von der Stadt Altona, II. Bd., Altona 1791. S. 102–11. – Wo die vorstehenden Angaben von Bolten abweichen oder denselben ergänzen, beruhen sie meistens auf handschriftlichen Quellen und archivalischen Acten. Zu vergl. ist auch [262] Sekterisge Bevaegelser i Kristiania omkring 1706 af Oluf Olssen, in Theologisk Tidsskrift for den evangelisk-lutherske Kirke i Norge; ny raekke, I. 1, Christiania 1869, S. 190–205.